Die Moral des Kindes und das Leben der Eltern

Gedanken über eheliche Treue

Hans Erich Troje

- Durchgesehene und korrigierte Fassung, Februar 2001 -

In seiner von Richard Strauss vertonten Dichtung "Ariadne auf Naxos" läßt Hugo von Hofmannsthal zwei verschiedene Frauen einander gegenübertreten: Ariadne, die heroische, oder wenn man so will, kindlich gebliebene Frau, die nur einmal lieben und, einmal enttäuscht, nur noch trauern kann, und Zerbinetta, die menschliche, oder wenn man so will, erwachsene Frau, die sich viele Male geben konnte und kann, die es gelernt hat, über Enttäuschungen hinwegzukommen, zu leben, weiterzuleben, nicht heroisch, sondern eben menschlich. Die unerfahrene, an ihrer kindlichen Trauer kindlich festhaltende Ariadne erhält von der erfahrenen lebenslustigen und lebenstüchtigen Zerbinetta folgende Belehrung über die Beständigkeit der Männer:

Treulos - sie sind's!
Ungeheuer ohne Grenzen!
Eine kurze Nacht,
Ein hastiger Tag,
Ein Wehen der Luft,
Ein fliessender Blick,
Verwandelt ihr Herz!

Doch Zerbinetta kennt die Frauen mindestens ebensogut, Sie fährt nämlich fort:

Aber sind denn wir gefeit
Gegen die grausamen - entzückenden,
Die unbegreiflichen Verwandlungen?
Noch glaub` ich dem einen ganz mich gehörend,
Noch mein' ich mir selber so sicher zu sein,
Da mischt sich im Herzen leise betörend
Schon einer nie gekosteten Freiheit
Schon einer neuen verstohlenen Liebe
Schweifendes freches Gefühle sich ein!
 

Noch bin ich wahr, und doch ist es gelogen,
Ich halte mich treu und bin schon schlecht,
Mit falschen Gewichten wird alles gewogen
Und halb mich wissend und halb im Taumel
Betrüg' ich ihn endlich und lieb' ihn noch recht!
Ja, halb mich wissend und halb im Taumel
Betrüg' ich endlich und liebe noch recht!

Wie erleben heutige erwachsene Menschen diese grausam-entzückenden, unbegreiflichen Verwandlungen und wie können sie damit weiterleben? Ich gehe davon aus, daß die Mehrzahl heutiger erwachsener Menschen Kinder hat, daß diese Menschen also, anders als Ariadne und Theseus, nicht nur an sich selbst sowie an den Verlorenen, Verlassenen und Geliebten denken, sondern auch das Wohl der Kinder der beteiligten Erwachsenen im Auge haben. Ich gehe sogar davon aus, daß diese Kinder nicht mehr die kleinsten sind, sondern in einem Alter stehen, in dem sie besonders viel Zuwendung von den Eltern verlangen: Kurz vor oder in oder nach der Pubertät. Diese zusätzliche Voraussetzung mache ich deshalb, weil für viele Elternpaare eheliche Treue gerade dann noch einmal zum Problem werden kann, wenn ihre Kinder zu pubertieren beginnen. Die Pubertät der Kinder läßt in den Eltern scheinbar längst begrabene Gefühle aufsteigen. An alten Festungen wird gerüttelt. Neue Gefühlswelten werden geboren. Darum sind, stärker vielleicht als je zuvor, viele Eltern in dieser Zeit zu neuer Liebe und Verliebtheit bereit.

Das Wort "Liebe" ist rätselhaft und vieldeutig wie die Prozesse und Zustände selbst, die wir damit meinen. In der Verbindung "alte Liebe" meint es jenes lebendige, keineswegs nur von den Erinnerungen der ehemals neuen Liebe zehrende Dauerverhältnis, das durch langjähriges gemeinsames Leben, womöglich in gemeinsamer Elternschaft entstanden ist. In der Verbindung "neue Liebe" meint es zunächst etwas ganz anderes, nämlich den empirisch ziemlich eindeutigen, jedermann bekannten Zustand (oder vielleicht besser Prozeß) des Verliebtseins, jenen himmlisch-höllischen Zustand also, in dem man sich, in Gedanken zumindest, ständig mit dem anderen Menschen beschäftigt, durch jede seiner Lebensäußerungen entzückt ist, jede (auch die gewöhnlichste) Eigenschaft an ihm für einzigartig hält, um seinetwillen alle anderen Bindungen aufgeben und ihn ganz für sich allein haben möchte. Von "neuer Liebe" wird sodann aber auch gesprochen, wenn jene Verliebtheit - sie überdauert nämlich selten zwei Jahre - sich zu einem neuen, zweiten Dauerverhältnis etabliert hat. Das Wort "Ehebruch" werde ich kaum benutzen. Es ist für eine Erörterung der Frage, ob neue Liebe die gute alte Ehe automatisch zerstört, deshalb ungeeignet, weil es diese Frage vorweg zu bejahen scheint. So darf man natürlich nicht verfahren. Unzählige Ehen unserer und vieler vergangener Zeiten haben eine neue Liebe überdauert. Zur Zeit der Pubertät der ältesten Kinder ist eine Ehe rund fünfzehn Jahre gelebt worden. Durch ungezählt viele Freuden und Leiden, Höhen und Tiefen, Sorgen und Nöte, Wunder und Verzauberungen all dieser Jahre ist in der alten Liebe neben allem Trennenden ein solcher Schatz gemeinsamer und verbindender Erlebnisse aufgehäuft worden, daß - von den Kindern einmal abgesehen keine neue Liebe damit konkurrieren kann. Die Chance der neuen Liebe besteht darin, daß man einander neu entdecken kann. Die damit verbundene Hoffnung, man könne noch einmal von vorne anfangen, ist natürlich eine Täuschung: Jedes neue Verhältnis ist irgendwie Wiederholung und Fortsetzung aller alten. Die Chance der alten Liebe besteht darin, schon viele Erfahrungen aneinander und miteinander gemeinsam zu haben. Gerade dies macht aber die alte Liebe auch zur Last. Mit den Jahren gemeinsamen Lebens wächst die Vertrautheit - damit aber auch die Verletzbarkeit, wächst die Nähe - damit aber auch das Distanzierungsbedürfnis, wächst die Fähigkeit zur Rücksicht - damit aber auch die Fähigkeit zu gezielter Rücksichtslosigkeit, wächst das Verständnis, damit aber auch das Bedürfnis nach Verhältnissen, in welchen mangels Kenntnis der Empfindlichkeiten und Verletzbarkeiten des anderen das Verständnis weniger strapaziert wird. Zu den vielen gemeinsamen Erfahrungen gehört gewiß auch die Erfahrung zeitweiliger Enttäuschung, ja Verzweiflung, des scheinbar endgültigen Bruchs - und die Erfahrung der Versöhnung. Diese alte, komplizierte, belastete, aber auch belastungsfähige, widersprüchliche, störungsanfällige und doch unzerstörbare, unverbrüchliche Bindung ist das Riskanteste, was Menschen miteinander wagen, und das Kostbarste, was sie erleben, durch gemeinsames Leben aufbauen können. Ehen und Familien sind höchst delikate, riskante Menschheitsversuche. Die Quellen der Lebensfreude können sich weit, weit öffnen - und sie können sich ganz eng verschließen. Das wirkliche Leben besteht, solange die Quellen nicht verstopfen und versiegen, aus einem Wechsel von beiden.

Zugegeben, es gibt zerrüttete, also allzu widersprüchliche, pathologische Eheverhältnisse. Es gibt gestörtes Familienleben. Familienleben heute ist eben nichts Einfaches. Familie ist die schwierigste, komplizierteste, anspruchsvollste und damit störungsanfälligste Lebensform dieser Welt, größtes Wagnis der Menschheit, oder, wenn man so will, der Schöpfung. Nichts ist falscher und grausamer als jemandem, der sich an sehr, sehr schwierigen Aufgaben abarbeitet, zu erklären, alles sei im Grunde doch ganz einfach. Natürlich ist alles irgendwo, irgendwann auch ganz einfach. Aber das erfahren, fühlen und wissen wir ohnehin, ohne alle Belehrung. Worüber gesprochen werden muß, das sind die Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten bestreiten und verharmlosen bedeutet Unsinn und Betrug, Wecken falscher Hoffnungen. Geholfen werden kann nur durch Aufklärung darüber, daß Ehe- und Familienleben nicht nur schön, sondern bisweilen und insgesamt auch schwierig ist. Was von den Eltern verlangt wird, will gelernt und gekonnt sein. Gute Eltern, gute Lehrer in Elternschaft waren zu allen Zeiten knapp. Hilfreich ist es, darüber aufzuklären, daß ein gewisses Maß "pathologischer" Momente des Familienlebens ganz normal ist und im allgemeinen auch gut verkraftet werden kann. Kein Außenstehender weiß, wie es der Familie wirklich ergeht. Gehässige und enttäuschte Betrachter sehen und zeichnen häufig nur die Züge des Widersprüchlichen und Pathologischen. In aller Regel aber sind die alten Verhältnisse erträglicher, als die Kritik der Ahnungslosen und Gescheiterten uns glauben machen will.

Warum aber sehnen sich, wenn doch die alte Liebe so kostbar ist, gleichwohl so viele Menschen nach einer neuen Liebe? Nun - Lieben ist offenbar nichts einmaliges. Der Mensch lebt lange. Er kann mehr als einmal lieben. Wohl sind seine Kräfte begrenzt, seine Tage gezählt. Aber ganz sicher kann er sich mehr als einmal verlieben. Ein Menschenleben scheint oft zu lang zu sein, um mit einem einzigen Verliebtsein auszukommen. Auf der Fähigkeit, sich mehrmals zu verlieben, beruhen Glück und Verhängnis der Menschen. Verhängnis: Die neue Liebe bedeutet Bedrohung und manchmal Zerstörung für die alte Liebe und damit Bedrohung und Zerstörung des Kernstücks aller bisherigen Lebensleistung, der Leistung der Hervorbringung einer Familie und der Einrichtung einer Lebensgrundlage und eines Lebensraumes für diese. Glück: Denn Verliebtsein und neue Liebe sind eben Glück, halten die Gefühle in Atem, beleben den ganzen Menschen, alle seine Tätigkeiten, alle seine Beziehungen zu anderen Menschen. Man kann sagen, daß Menschen nur solange wirklich leben, wie sie sich neu verlieben können. Wir alle kennen das berühmte "Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt". Vielen scheint das Zu-Tode-Betrübtsein stets viel zu lange zu dauern, das himmelhohe Jauchzen also zu teuer bezahlt zu sein. Doch darüber gibt es keine verläßlichen Statistiken, Über die vielen stillen Genießer, die Stillen im Lande, die aber die Welt zusammenhalten, wissen wir recht wenig. Wer die Todesbetrübnis vermeiden und dem Verhängnis entgehen will, mag versuchen, seine Gefühle einzukerkern. Ihm wird bei solchen Maßnahmen aber leicht auch die alte Liebe absterben. Wer sich nicht neu verlieben kann, wird der die alte Liebe noch erneuern können?

Solcher Erneuerungen scheint die alte Liebe aber hin und wieder zu bedürfen. Im Rahmen der alten Liebe kann die Fähigkeit, ein guter Liebhaber zu sein, leicht abhanden kommen, Es ist eine häufige, altbekannte Situation: Vor der Ehe und jetzt vielleicht außerhalb der Ehe ist jeder von beiden ein ungenierter, erfindungsreicher, genußfähiger Liebhaber. In der Ehe aber wird alle Freude und Ausgelassenheit streng unterdrückt. Warum ist das so? Ich will einige Gründe nennen:

Das Paradies, in welchem das biblische erste Menschenpaar lustwandeln durfte, ist uns verschlossen. Seither macht sich jedes dauerhaft aneinandergebundene Menschenpaar wechselseitig dafür verantwortlich, daß wir Menschen weder im Paradies noch im Schlaraffenland noch in sonst einem Lande unbegrenzter Möglichkeiten leben, daß vielmehr Zeit, Geld, Kraft, Potenz, die Anzahl der Verhältnisse, die intensiv gelebt werden können, daß überhaupt alles begrenzt ist. Wenn Mann und Frau zusammen durch die Jahre gehen, machen sie einander dafür verantwortlich, daß Erwachsenenleben kein Kinderleben mehr ist, daß Erwachsene der Wirklichkeit ausgesetzt sind, Pflichten und Sorgen haben und oft genug, wie die Bibel sagt, im Schweiße ihres Angesichtes die Nahrung oder das Geld dazu heranschaffen. Schließlich machen sie sich noch für ihr Altern wechselseitig verantwortlich. Zur Strafe für den dem anderen angelasteten Freiheitsentzug setzen Eheleute dann das bekannte Zuchtmittel des Liebesentzugs ein. Obwohl sie einander noch recht gern haben, halten sie es für nötig, einander die Rationen der Liebeszuwendung zu verkürzen. Damit bestrafen sie sich natürlich zugleich auch selbst.

Die Fähigkeit zum rechten Liebhaben kommt uns sodann aus folgendem weiteren Grunde abhanden: Freude an Sexualität findet nur, wer seiner Sinnlichkeit ein wenig ihren Lauf lassen, ja gar - eine Zeit lang zumindest - Macht über sich gewinnen lassen kann. Erwachsene Leute, die in gemeinsamen Pflichtenkreis stehen, sehen sich selbst aber gern als Wesen, die ihrer Sinne mächtig sind, die ihre Sinnlichkeit beherrschen. Aus guten Gründen liegt ihnen viel daran, daß sie von ihren Mitmenschen als solche selbstbeherrschten Wesen gesehen werden. Lassen wir unserer Sinnlichkeit ihren Lauf, so geben wir uns Blößen. Das macht verletzbar und angreifbar, auch über die Stunde des Zusammenseins hinaus. Eine zusätzliche gefährliche Blöße geben wir uns dann, wenn allzu deutlich wird, daß wir um Freude an Sexualität zu entfalten, auf den anderen angewiesen sind. Dadurch riskieren wir, von ihm abhängig, vielleicht gar von ihm ausgenützt zu werden. Wo zwei Menschen sich die knappen Güter und die reichliche Arbeit teilen müssen - darunter viel unangenehme Arbeit, die jeder gern dem anderen oder einem Dritten oder einfach ungetan ließe - entsteht notwendig auch ein Stück Arbeitskampf, also Kampf darüber, wer sich besser drücken, besser bedienen lassen, den anderen besser für sich arbeiten lassen kann. Sie werden deshalb vermeiden, sich Blößen zu geben, dem anderen das, was als Schwachheit und Laster gilt, sichtbar zu machen.

Damit ist eine weitere Schwierigkeit, sich in der Ehe die Kunst des Liebhabens zu erhalten, schon angedeutet. Das Leben wird anstrengender. Pflichten und Verantwortung nehmen von Jahr zu Jahr zu. Die Nächte werden kürzer. Unzählige Nächte sind von kranken Kindern gestört. Das frühe Aufstehen beginnt für die ehemals glücklichen Langschläfer spätestens wieder dann, wenn die Kinder schulpflichtig werden. Mit Zahl und Alter der Kinder wachsen Sorgen, Pflichten und Verantwortung. Kommt schließlich die Entlastung dadurch, daß vielleicht die Älteren die Jüngeren betreuen und erziehen, und wird schließlich auch das Jüngste selbständig, so warten andere Pflichten. Der Selbstbehauptungskampf der Eltern gegen halberwachsene und fasterwachsene Kinder beginnt. Es nehmen nicht nur Pflichten und Sorgen, es nehmen auch glücklicherweise die anderen Interessen zu.

Alte Liebe lebendig halten und erneuern heißt: Miteinander Abwechslungen, aber auch Wiederholungen erleben. Wiederholung ist nur möglich, nachdem es so etwas wie einen Verlust, einen Abschied, ein Weglaufen, ein Wegschicken gegeben hat. Das schlichte Wort "wiederholen" verrät also schon das Geheimnis des Wechsels von Distanz und Nähe, Nähe und Distanz, Kommen und Gehen, Willkommen und Abschied. Mit diesem Geheimnis bringen sich die geheimen nichtehelichen Verhältnisse über die Jahre und Jahrzehnte. Im äußeren Getrenntsein, im Angewiesensein auf die seltenen Wiederbegegnungen, ohne die Last gemeinsamer Pflichtenkreise ist es nicht schwierig, füreinander jahrzehntelang attraktiv zu erscheinen. Der lebenswichtige Wechsel von Distanz und Nähe kann kaum erlebt und entfaltet werden, wenn sich Eheleute ständig bewachen, durch die Lebensumstände plus Telefon unter ständiger lückenloser Kontrolle haben, wenn sie sich zusammen und doch jeder einzeln wie in einem Käfig eingesperrt fühlen und durch zu enge Wohnungen und zu kleine Freiheitsspielräume oft genug auch tatsächlich eingesperrt sind. Ehepaare, die durch berufliche Pflichten häufiger voneinander getrennt werden, halten es leichter miteinander aus. Kommen und Gehen ins Geschäft und hin und wieder eine Dienstreise reichen aber nicht.

All dies und noch viel anderes macht es den Eheleuten schwer, füreinander gute Liebhaber zu sein. Sie sehnen sich nach Verhältnissen, in denen sie guten Liebhabern begegnen und selbst wieder gute Liebhaber sein können. Andererseits sind und bleiben sie zutiefst aneinander gebunden. In ihrem jahrzehntelangen, vielleicht lebenslangen Arbeitsbündnis werden Eltern letztlich doch nur durch das zusammengehalten, was dieses Bündnis allererst entstehen ließ: durch Sexualität mit all ihren Abkömmlingen. Jene Kraft, die zwei freie Menschen dadurch aneinander kettete, daß sie sie zu Eltern eines Kindes machte, ist und bleibt auch noch am Werke, wenn es gilt, die zwanzig, dreißig Jahre (und dann kommen die Enkel - und bald kommen Alter und Tod) durchzuhalten. Auf das erste Kind folgt ein zweites und folgen vielleicht noch weitere. Um die erste Kette, die erste Schwangerschaft, die die späteren Eltern vielleicht ganz ahnungslos und unfreiwillig über sich kommen sahen, legt sich so in einem zweiten, schon bewußteren und fast freiwilligen Prozeß eine zweite. Sexualität ist auch noch längst nicht am Ende ihrer Funktionen, wenn keine weiteren Kinder mehr kommen dürfen oder kommen können. Die Kraft, die das ahnungslose Paar freier Menschen zur Elternschaft verkettet, bleibt weiter am Werke, um die Kette zu erhalten und erträglich zu machen. Kinder haben und aufbringen, ist ja nicht nur ein Müssen, sondern ein Dürfen; nicht nur das lästigste, was es gibt, sondern auch das schönste. Der triviale Satz, daß die Freude an den gemeinsamen Kindern die Eltern vereint, ist auch in dem tieferen Sinn wahr, daß durch das Vorhandensein gemeinsamer Kinder die geschlechtliche Anziehungskraft zwischen den Eltern länger als bei irgendeinem Paare, das es unter sonst vergleichbaren Umständen miteinander aushalten muß, erhalten bleibt.

Umgekehrt wissen und spüren wir aber auch, daß Eltern durch ihre Kinder immer wieder getrennt werden. Wie damals Glück und Frieden des selbstgenügsamen Paares durch das erste Kind bedroht und gestört wurden, wie damals Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit endgültig dahingingen (ein Elternpaar gehört nie mehr nur sich selbst), so ist jedes Kind den Eltern jeden Tag neu ein neuer Störungs- und Trennungsfaktor. Es will und kann die Eltern binden und vereinen, gewiß. Aber ebenso und gleichzeitig will und kann es auch, um endlich einen Elternteil ganz für sich zu haben, die Eltern spalten und trennen. Der verführte Elternteil ist zum Bündnis mit dem Kind gegen den anderen Elternteil nur allzu leicht bereit. Kinder trennen und vereinigen, vereinigen und trennen ihre Eltern. Sie halten damit die Eltern in Atem und die Elternbindung am Leben. Sie tun dies auf täglich neue Weise. Denn in dem Maße, wie sie (die Kinder) täglich neu hervorgebracht werden, sind sie wirklich täglich neue Menschen. Nicht nur Eltern halten Kinder am Leben und erzeugen sie neu, sondern umgekehrt halten auch Kinder Eltern am Leben, erzeugen sie neu durch all das Neue, das sie in ihrer Entwicklung täglich bieten und sind und auf das die Eltern reagieren müssen.

Kinder haben von Anfang an ein Geschlecht. Von Anfang an sind Eltern mit der Geschlechtlichkeit des Kindes, die ja dem Kinde selbst alsbald auch Erlebnis wird, konfrontiert. Die Geschlechtlichkeit des Kindes ist ein großer Teil seiner Lebendigkeit. Aus ihr geht viel, wenn nicht alles von jenem Neuen, das die Kinder in ihrer Entwicklung täglich bieten und sind, hervor. Die Eltern haben an der Entwicklung der Geschlechtlichkeit ihrer Kinder von Anfang an teil. Aus solchem Teilnehmen entstehen viele Freuden und Leiden des Familienlebens. Sie spitzen sich vor und während des großen Reifeschubs der Pubertät dramatisch zu. Alle Beteiligten, Kinder und Eltern, werden einem Ansturm von Gefühlen ausgesetzt, den ich etwas respektlos den "großen Spuk" nennen möchte - respektlos, denn es handelt sich immerhin um das feierlichste Menschheitstrauma, um das ehrwürdige Ödipusschicksal. Der große Spuk hat für jeden Teil des Elternpaares seine je spezifische Thematik, je nachdem ob ein Kind vom eigenen oder vom anderen Geschlecht pubertiert. Während in der Pubertät eines Kindes vom gleichen Geschlecht gleichgeschlechtliche Inzestwünsche hervordrängen, verarbeitet und abgewehrt sein wollen, insgesamt also das Thema "Gleichgeschlechtlichkeit" zur Bearbeitung ansteht, ist für den anderen Elternteil das Arbeitsthema gerade umgekehrt auf Zweigeschlechtlichkeit gestellt. Die Zweigeschlechtlichkeit der Welt ist ja ohnehin Quelle lebenslanger Mißverständnisse: Da die Eltern ungleich fühlen und erleben, kann keiner den anderen ganz verstehen. Solche Mißverständnisse und die daraus aufsteigenden Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Trauer und Verlassenheit spitzen sich aber in der kritischen Phase der Pubertät der Kinder in oft recht gefährlicher Weise zu. Die Pubertät der Kinder wird deshalb für die Elternbindung zur bisher größten Zerreißprobe, stellt die Eltern vor eine Prüfung ihrer Reife, treibt sie ihrerseits in einen Reifeschub, gewissermaßen in eine zweite Pubertät. In einer Zeit, in welcher sie der Kinder wegen besonders kooperieren müßten, werden die Eltern dadurch voneinander gefühlsmäßig entfernt, daß ein jeder von ihnen sich auf die ihm gesetzte Aufgabe, hier das Thema Gleichgeschlechtlichkeit, dort das Thema Zweigeschlechtlichkeit, konzentrieren möchte. Jeder der beiden ist von der Bearbeitung seines Themas jeweils so sehr mitgenommen, daß er für die Nöte und Sorgen des anderen nicht nur kein Verständnis hat, sondern sich durch das, was der andere durchmacht, im Erleben der eigenen Nöte und Sorgen gestört und zusätzlich belastet sieht. Für Eltern, die Junge und Mädchen, also gewissermaßen zwei erste Kinder und damit die Chance haben, vom Reifeschub der zweiten Pubertät die beiden Hälften zu erleben, wiederholt sich der ganze Kampf beim zweiten Kind mit jetzt vertauschten Rollen. Der Elternteil, der damals zweigeschlechtlich involviert war und dem Arbeitsthema "Gleichgeschlechtlichkeit" nicht nur verständnislos gegenüberstand, sondern von ihm irritiert und abgestoßen war, wird jetzt von einer mehr oder weniger deutlich hervortretenden Verstrickung in gleichgeschlechtliche Gefühle heimgesucht, für die der andere im Moment kaum Verständnis aufbringen kann. Es ist also nicht verwunderlich, wenn der eine oder andere Elternteil oder vielleicht beide in solchen verwirrten schweren Zeiten außerhalb der Familie Menschen suchen, mit denen sie leichter einig werden können.

Damit haben wir einen der Angelpunkte von "Ehebruch" und Ehekrise herausgearbeitet, nämlich den Zusammenhang zwischen Pubertät des Kindes, beziehungsweise der Kinder, und neuer Liebe eines Elternteiles. Gottseidank ist es ja so, daß die in der Pubertät der Kinder erstarkenden wechselseitigen Inzestwünsche in aller Regel nicht mit den eigenen Kindern ausgelebt werden. Die meisten Eltern gehen in ihrer Ahnungslosigkeit mit ihren für harmlos gehaltenen Zärtlichkeiten und Stimulierungen wahrscheinlich schon gefährlich weit, aber vor Beischlaf und ähnlichem scheuen sie Gottseidank zurück. In der Regel wird der Inzestwunsch in einem Delegationsverhältnis, also mit einem Dritten ausgelebt, der absichtlich-absichtslos, wissentlich-ahnungslos dem Elternteil das durch das Inzesttabu entzogene Kind vertritt, und der dabei meist seinerseits verdeckte inzestuöse Wünsche zu den eigenen Eltern oder eigenen Kindern unter Benutzung von Stellvertretern auszuleben versucht.

Wenn ich nun genauer über die Komplikationen der - wie wir gelernt haben, häufig durch die Pubertät der Kinder ausgelösten - neuen Liebe spreche, so muß ich das Beziehungsgefüge etwas schematisieren, nämlich auf nur drei Beteiligte reduzieren und für diese drei bestimmte Namen einführen. Den Ehegatten, den Glück und Verhängnis neuer Liebe getroffen hat, nenne ich den Liebenden, den anderen Ehegatten den Verlassenen, den beteiligten Dritten den Geliebten. Diese Terminologie vereinfacht die Verständigung, aber sie vergröbert natürlich stark. Der Liebende will den Verlassenen ja gar nicht verlassen und tut dies in aller Regel auch nicht, denn er liebt ja, wenn auch auf andere Weise, trotz der neuen in der alten Liebe weiter. Obwohl also dem Dritten die Bezeichnung Geliebter gar nicht allein zusteht, muß sie ihm doch aus Gründen terminologischer Zweckmäßigkeit vorbehalten bleiben. Indem wir ferner den Namen "Liebender" in der festgesetzten Weise verwenden, setzen wir uns darüber hinweg, daß die beiden anderen an dieser Affäre Beteiligten im Rahmen dieser Affäre (von anderen Affären einmal ganz abgesehen) ja auch etwas tun, was man lieben nennen darf. Im übrigen kann man von anderen Affären nicht lange absehen, denn früher oder später ist der Liebende auch einmal Verlassener. Wenn der Geliebte seinerseits verheiratet ist, so ist er im Rahmen seiner Ehe "Liebender" (und irgendwann also auch einmal "Verlassener"). In Wirklichkeit kann jeder Beteiligte, ob Mann oder Frau, zugleich liebend, geliebt oder verlassen sein. In diesem Durcheinander, könnte man meinen, läge eine Chance dafür, daß die Beteiligten in ihrem Tun und Leiden sich verstehen, tolerieren, gelten lassen, vielleicht sogar ein wenig Humor aufbringen. Das würde allerdings voraussetzen, daß ein jeder seinen Fall für ganz normal, für jedermanns Fall hielte. In Wirklichkeit hält sich aber jeder wenn nicht für den lieben Heiland selbst, so doch für die große Ausnahme und seinen Fall für einzigartig. Er ist deshalb keinesfalls zu ertragen bereit, was er anderen antut.

In einer derartigen Situation, in welcher ein jeder den anderen gewissermaßen übers Ohr hauen will, empfiehlt es sich, Konventionen und Regeln aufzustellen, die das zu verhindern suchen und die sicherstellen, daß alle Beteiligten ihr Leben weiter über die Runden bringen.

Die beste Konvention und Regel wäre sicherlich, wenn die neue Liebe in einen Rahmen und auf einer Ebene jenseits der Sexualität im engeren Sinne gestellt würde, in einen Raum also, in welchem sie wachsen und sich erfüllen, die Beteiligten auch beglücken kann, ohne daß nun unbedingt zusammen geschlafen werden muß. Zum Glück gibt es für Menschen jenseits der Jugend viele Möglichkeiten intensiven gemeinsamen Erlebens jenseits des Beischlafes. Sie erscheinen dem jungen Menschen und folglich auch dem, dessen Wunsch es gerade ist, wieder einmal jung zu sein, oft als unzulänglich. Wo Sexualität sich starkmachen will, durchkreuzt sie unsere schönsten Pläne, Konventionen und Regeln.

Wir müssen uns also wieder einmal mit den zweitbesten Konventionen bescheiden. Sie sind immer noch anspruchsvoll genug. Ich fasse sie zunächst zusammen mit der Formel "Geduld, Rücksicht und Takt". Wer verheiratet ist und Kinder hat und diese Herrlichkeit in Ewigkeit sich erhalten will, kann sich der neuen Liebe eben nicht so bedingungslos, intensiv und total, wie er es möchte und als junger Mensch vielleicht konnte, überlassen. Er kann sich seinen Wunsch nach dauerndem Zusammensein schwerlich erfüllen, muß Trennungen aushalten, vielleicht sogar mit wenigen seltenen Zusammenkünften zufrieden sein. Zu seinem Glück ist er in einem Alter, in welchem er erfahren haben müßte, daß geduldiges Warten auf den rechten Augenblick zumeist weiter führt als der Ansturm zur Unzeit. Zu seinem Glück kann er sich in seiner Verliebtheit anders benehmen als der Teenager oder Twen. Kann er es nicht, hat er Pech gehabt: Man wird seine neue Liebe und Verliebtheit schwerlich lange tolerieren. Der erste Eklat wird bald da sein. Ihm bleibt die Hoffnung, daß er es beim nächsten Male besser machen, mehr Geduld üben wird. Rücksicht und Takt sind dann verletzt, wenn Zärtlichkeiten oder gar Beischlaf mit der neuen Liebe vor der Nase der alten Liebe stattfinden. Diese Regel gilt unbedingt und unerbittlich. Wie hoch immer technische Schwierigkeiten sich türmen mögen, sie können Rücksichts- und Taktlosigkeiten dieser Art, also vor der Nase des Verlassenen, nicht rechtfertigen. Aber nicht nur von dem Liebenden, auch von dem Verlassenen werden Rücksicht und Takt und Geduld verlangt. Erwachsene sollten in ihrer Entwicklung und Selbständigkeit so weit gekommen sein, daß ihnen nicht mehr die Welt zusammenbricht, wenn der andere Ehegatte einmal einen Dritten gern hat, liebt und in Gott`s Namen auch mit ihm schläft. Gewiß ist es nicht angenehm und zunächst wohl auch unerträglich, den Menschen, den man liebt und vielleicht noch oder gerade jetzt wieder liebt, den man geheiratet, von dem man Kinder hat, mit einem anderen vereinigt zu wissen. Es gibt im Leben aber viel Unangenehmes, Unerträgliches, das gleichwohl ertragen werden will und auch ertragen werden kann.

Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen,
Alle Lust und alle Qual,
Alles kann ein Herz ertragen
Einmal um das andere Mal.

Das sind Worte der Lebenserfahrung, die Hugo von Hofmannsthal in der erwähnten Dichtung dem Harlekin in den Mund legt. Die Welt, die dem Verlassenen zusammenzubrechen droht, ist eine Kinderwelt - und die müßte dem Erwachsenen doch längst zusammengebrochen sein. Die Verlassenheitsängste, die so häufig aufkommen, sind Kinderängste: Mama geht fort und kommt nie wieder. Erwachsene sollten wissen, daß solche Ängste in aller Regel unbegründet sind. Sie sollten eine kürzere oder längere Verlassenheit aushalten können. Sie sollten wissen: Es gibt keine ewige Liebe, wenig ewige Treue, die Schwelgerei in der Romantik vom "Richtigen", den man wahrhaft und in ewiger Treue lieben könnte, ist ein Kindertraum. Sie sollten im Laufe der Ehejahre die Erfahrung gemacht haben, daß die Ehepaar- und Elternbindung nicht alleine in Sexualität (wie wichtig diese auch ist) besteht, sondern ein Bündel aus vielen Einzelsträngen ist, von denen, wenn der Strang Sexualität einmal herausgefädelt und anderweitig eingespannt ist, all die anderen Stränge (gemeinsame Interessen, gemeinsames Leben, gemeinsame Kinder, gemeinsame Erinnerungen) relativ unbeschädigt bleiben.

Rücksicht und Takt werden also von beiden verlangt. Vom Liebenden fordern sie, nichts vor der Nase des Verlassenen zu tun. Vom Verlassenen fordern sie, das kindliche Schnüffeln einzustellen. Damit ist die schwierige Frage gestellt, ob und in welcher Weise sich Eheleute einweihen sollen. Gegen das Bereden der durch die neue Liebe entstandenen Situation läßt sich einiges anführen. Worte trügen und verleiten zu Betrugsmanövern. Worte kann man setzen und drehen, mit ihnen täuschen und in falscher Münze zahlen oder dies zumindest versuchen. Daß in dem Liebenden irgendetwas vorgeht, läßt sich dem Verlassenen aber kaum verheimlichen. Vielleicht ist dieses "irgendetwas geht vor" schon Mitteilung genug? In der Welt der Gefühle gibt es viel Ungewisses, Mehrdeutiges, Widersprüchliches, aber keinen Betrug und keine falsche Münze - oder alles ist Betrug und falsche Münze. Gefühle lassen sich nicht steuern, nicht verbergen und nicht vortäuschen. Sie äußern sich, wie sie sind. Sie werden auch wahrgenommen, wie sie sind. Nur: Gefühle in Worte zu fassen ist stets heikel und mißlingt fast immer oder jedenfalls recht oft. Insoweit gilt wirklich: Reden ist Silber; Schweigen ist Gold. Im allgemeinen sind wir gar nicht fähig, unseren Gefühlen Worte zu geben. Dies liegt nicht so sehr am Mangel der Worte, sondern am Mangel der Eindeutigkeit von Gefühlen. Durch die Erziehung zur sogenannten Wahrheit, nach dem Motto: "Deine Rede sei Ja Ja - Nein Nein, alles weitere ist vom Übel", die in Wahrheit eine Erziehung zur Unwahrheit ist, haben wir die Fähigkeit, widersprüchliche Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen, weitgehend verloren. Jedenfalls ist sie uns wenig stark entwickelt. Die Fähigkeit, widersprüchlichen Gefühlen sprachlichen Ausdruck zu geben, macht den großen Dichter aus. Das widersprüchliche Gefühl, trotz der alten Liebe neu zu lieben, den Partner der alten Liebe zu verlassen und ihn gleichwohl weiter zu lieben, hat Hugo von Hofmannsthal durch den Mund der Zerbinetta aussprechen lassen, und wenn er sie sagen läßt "mit falschen Gewichten wird alles gewogen", so meint er nicht Zerbinettas Gefühle, die immer ganz wahr sind ("Niemals Launen; immer ein Müssen"), sondern die Worte, die die anderen und vielleicht auch sie selbst über die Gefühle machen. Nicht die Gefühle sind die Falschmünzer (wie könnten sie es sein, sie sind ja einfach da), sondern die Worte und die Redeweise.

Ein weiterer Grund, die "Mitteilungen" in der echten Münze schweigsamen Goldes zu machen, liegt in folgendem: Was mir formell mitgeteilt wird, muß ich zumindest zur Kenntnis nehmen. Das Unangenehme, schwer Erträgliche, vielleicht Unerträgliche wollen wir oft aber gar nicht zur Kenntnis nehmen. Die Devise "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" hilft noch am besten, am Unerträglichsten vorbei zu sehen und vorbei zu leben. Gewiß gibt es eine starke Kraft der Neugier, des Verdachts, des Wissenwollens. Es gibt aber, glücklicherweise, eine ebenso starke und manchmal stärkere Kraft der Arglosigkeit, der Blindheit, des Nichtwissenwollens, und in Wirklichkeit sind beide Kräfte zur gleichen Zeit und gleichermaßen am Werke. Zumindest kann man sagen: Wovon ich nicht offiziell informiert werde, dazu muß ich nicht Stellung nehmen, dagegen muß ich mich auch nicht wehren.

Dem Liebenden fällt das Schweigen allerdings häufig schwer. Er möchte sich mit einem Geständnis Entlastung verschaffen. Er will versuchen, durch ein verbales, aber notwendig trügerisches Einverständnis des Verlassenen seine Schuldgefühle zu beschwichtigen. Dieser Versuch muß mißlingen. So lange die alte Liebe lebendig ist (und sie wird zumeist in solchen Affären wieder lebendig), kann der Verlassene die Entlastung und Entschuldigung, die der Liebende sucht oder verlangt, nicht gewähren. Er kann sich zusammennehmen (und sollte dies von 30 aufwärts einigermaßen gelernt haben), aber es kann ihm unmöglich recht sein, den Gatten in den Armen des Dritten zu wissen. Unmöglich? Es gibt doch echte Zustimmung, hier und dort sogar Ermutigung und Bestätigung, Hilfestellung, Vermittlung, Händchenhalten, von Kuppelei einmal ganz abgesehen! Ja, aber genau davor ist zu warnen. Dann nämlich hat man einen in vielen Beziehungsgefügen schlummernden Wurm erweckt und zur Wühlarbeit aufgerufen. Der Verlassene kann nämlich nur dann echt zustimmen, wenn er selbst den Dritten begehrt und liebt, dies aber aus Angst vor der Gleichgeschlechtlichkeit nicht selbst ausleben kann. Wenn der Verlassene dem Liebenden echte Zustimmung und vielleicht gar Unterstützung gewährt, macht er den Liebenden insoweit zu seinem Stellvertreter: Er läßt ihn tun, was er selbst gerne täte, aber nicht tun kann. Er genießt (und leidet) über die Ecke. Derartige Konstellationen ergeben sich recht häufig. Momente davon sind möglicherweise bei jedem "Fremdgehen" vorhanden. Wo sie aber zu stark und tonangebend sind, wird es früher oder später sehr wahrscheinlich Unglück geben: Der Verlassene findet über die Ecke nicht das Erhoffte. Früher oder später fühlt er sich durch die Einigkeit der anderen doppelt (nämlich von jedem der beiden) verlassen. Der Liebende mag sich die Beteiligung des Verlassenen, den er ja im Grunde gar nicht verlassen will, immer wieder wünschen. Aber er tut nach allen Überlegungen, die wir hier angestellt haben, am besten, sich diesen Wunsch nicht zu erfüllen. Er muß die Hoffnung auf Entlastung, Entschuldigung und Zustimmung, da sie der Verlassene ihm, wenn überhaupt, nur unter jenen gefährlichen Bedingungen gewähren kann, begraben. Er ist zum Schweigen verurteilt. Er muß seine Schandtaten - um nichts anderes handelt es sich ja - auf eigene Verantwortung tun, auf die eigene Kappe nehmen.

Zur Familie gehören Kinder. Im Fall einer durch die Pubertät eines Kindes ausgelösten neuen Liebe ist das Kind, beziehungsweise sind die Kinder schon recht wachsame, verständige und ihrerseits Gefühlsverwirrungen ausgesetzte Wesen. Dadurch entstehen weitere, zusätzliche Schwierigkeiten und Probleme, die sich im Falle der neuen Liebe von Kinderlosen nicht stellen. Von den beteiligten Erwachsenen werden weitere Einschränkungen verlangt. Die Formel "Rücksicht und Takt" genügt nicht mehr. Die Vorsicht muß hinzukommen. Kinder dürfen nämlich bis weit über die Pubertät und Adoleszenz hinaus nichts Konkretes über neue Lieben und Verliebtsein der Eltern wissen. Nicht verheimlichen lassen sich natürlich gewisse Stimmungsschwankungen der Eltern. Das schadet auch nichts. Es gibt ja nicht nur Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, sondern neue Fröhlichkeit und Zuversicht. Daß irgendetwas in und zwischen den Eltern vorgeht, kann und muß nicht verheimlicht werden. Alles andere aber muß aufs strengste verborgen und darf auch nicht andeutungsweise zum Thema gemacht werden. Das verlangt von den Eltern allerdings viel. Ihr Schweigen darf ja kein belastendes Schweigen sein. In der Krise müssen sie noch kooperieren, nämlich gemeinsam die zwischen ihnen entstandene Distanz, Rat- und Hilflosigkeit überspielen können. Daraus darf kein schlechtes Theater werden. Das alles ist, zugegeben, sehr schwierig. Andererseits wird nichts Unmögliches verlangt. Verhältnisse der Eltern lassen sich verbergen. Allen guten Eltern ist das gelungen. Auch (und gerade) für die Kinder gilt: Jener Kraft der Neugier und des Wissenwollens steht eine Kraft im Wege, die nichts wissen will, den Argwohn nicht aufkommen lassen, das Bild des vereinten Elternpaares nicht gestört sehen und über Anhaltspunkte und Verdachtsmomente hinweggehen und hinwegleben will.

Warum diese Forderung, die neue Liebe, wenn sie sich schon ereignen muß, als Angelegenheit der Erwachsenen und nur der Erwachsenen zu behandeln?

Erstes Argument: Die Kinderwelt muß, damit sich die Kinder selbst einige Unordnung leisten können, von den Erwachsenen in Ordnung gehalten werden. Verfrühte Konfrontation mit Unordnung, die aus der Erwachsenenwelt stammt, schafft frühes Leid - und spätes Leid. Kinder brauchen vor allem die Vorstellung eines einigen Elternpaares. Sie ist unbedingt erforderlich, damit sich das hoffentlich einmal gefaßte Urvertrauen weiter entfalten und zu einem Vertrauen in Umwelt und Welt stärken kann. Kinder müssen vor allem in ihre Herkunft Vertrauen fassen, Sicherheit über ihren bisherigen Weg und damit Zuversicht für ihren weiteren Weg gewinnen. Dabei müssen sie sich die Zusammenhänge dieser Welt notwendig einfacher vorstellen, als diese es sind. Ihr naiver Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn erlaubt nur die Vorstellung einfacher Verhältnisse. Sie können die Unvollkommenheit, Widersprüchlichkeit, Unvernunft, geheime List und Weisheit der menschlichen Einrichtungen nicht fassen. Ihr Weltverständnis, ihre Fähigkeit, Widersprüche, Kompromisse, Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen zu ertragen, ist noch zu wenig entwickelt, um begreifen und akzeptieren zu können, daß ihre Eltern trotz neuer Liebe ein vereintes Elternpaar sind, daß sie, obwohl vereintes Elternpaar, doch in Glück und Verhängnis neuer Liebe geraten können. Jeder Versuch, ihnen die Welt, wie sie wirklich ist, zu vermitteln, überfordert und schädigt sie dadurch, daß er ihnen die Möglichkeit nimmt, zunächst einmal Zutrauen zu Welt, Umwelt und Zukunft zu fassen.

Die Frage nach der Herkunft, die Frage: Bin ich das Kind dieser Eltern, ist diese Frau da meine Mutter, dieser Mann mein Vater, beschäftigt sie im Pubertätsalter ohnehin bis an die Grenze des Erträglichen. Erführen Kinder von neuer Liebe oder gar, konkreter, von außerehelichem Geschlechtsverkehr ihrer Eltern, so werden sie sofort zusammenreimen: Wenn es so etwas heute gibt, gab es das vielleicht auch damals, als ich entstand? Von wem stamme ich dann? Wenn diese, auf den Weg des Mißtrauens und der Unsicherheit bezüglich aller Lebensverhältnisse führende Frage zu viel Nahrung erhält, kann sich das Kind nicht oder nicht hinreichend den Aufgaben widmen, die in der Pubertät noch vor ihm stehen.

Es kann insbesondere, dies wäre das zweite Argument, sich gar nicht oder sehr viel schwieriger aus der Verstrickung in die Elternliebe, von der ich vorhin schon ein wenig sprach, lösen. Wir haben gesehen: In der Pubertät werden die frühkindlichen Inzestwünsche nicht nur mit vielfacher Kraft wiedererweckt, sondern sie treten jetzt erstmals gezielt und wirklichkeitsbezogen in das Leben der Beteiligten, Das Kleinkind war unfähig, mit einem Erwachsenen Geschlechtsverkehr zu haben. Wenn das bisher kleine Kind in der Pubertät mehr oder weniger plötzlich, gleichsam über Nacht diese Fähigkeit erwirbt, so läßt das die Eltern natürlich nicht gleichgültig, sondern ihre Gefühle sind mit diesem neuen Faktum heftig beschäftigt, ganz gleich, ob die Eltern nun von Inzestwünschen im allgemeinen etwas wissen oder nicht und von ihren eigenen etwas wissen wollen oder nicht. Für das Kind, das sich über Nacht mit dieser erstaunlichen Fähigkeit ausgestattet sieht, gilt nichts anderes. Pubertierende Kinder spüren, daß sie verführerisch und daß die Eltern nicht gänzlich unverführbar sind. Die Vorstellung vom einigen, vereinten Elternpaar läßt sie aber von allen Verführungsgedanken absehen. Wenn die Eltern wirklich vereint und einig sind, ist ein Elternteil für sich allein nicht zu haben. Legt man sich mit dem einen an, bekommt man es auch mit dem anderen zu tun. Erfahren aber Kinder von außerehelichen sexuellen Beziehungen ihrer Eltern, so sind sie aufgrund ihrer geringen Fähigkeit zu komplexem Weltverständnis genötigt, sich diese wiederum so vorzustellen, daß der Liebende nur noch nach außen liebt, der Verlassene ganz und gar verlassen ist. In ihren Augen ist der Verlassene nun für jede, also auch für eine von ihnen selbst ausgehende Verführung freigegeben. Der durch die Vorstellung des vereinten Elternpaares gegebene Schutz vor der inzestuösen Verführung darf also nicht entfallen. Erfährt ein pubertierendes Kind, daß ein Elternteil einen neuen Menschen liebt, so weiß, sieht und spürt es - all dies zumeist natürlich nur im Unbewußten und Vorbewußten - daß es selbst der eigentlich Gemeinte und Beteiligte ist. Dadurch erhält der Inzestwunsch neue kräftige Nahrung. Der wirkliche Inzest, der durch das Hinaustragen des Inzestthemas aus der Familie verhindert werden sollte, wird durch das Hineintragen der Nachricht von der Existenz eines Geliebten wieder in greifbare Nähe gerückt. Die Tochter denkt: Schläft der Vater mit jener, warum nicht mit mir? Was jene kann, das kann ich auch! Die entsprechenden Gedanken entwickelt der Sohn, der von einem Verhältnis seiner Mutter erfährt. Auch ohne daß diese Verdichtung der inzestuösen Atmosphäre nun zur Entladung im Hause führt - das tut sie Gottseidank in aller Regel nicht - wird auf jeden Fall das Kind in der Bewältigung seiner Aufgabe, den inzestuösen Wunsch aufzugeben und sich überhaupt von derartigen Verstrickungen in die Elternverhältnisse zu lösen, schwer gestört.

Das dritte Argument, das ich anführen möchte, ist vielleicht das stärkste und muß auch von denjenigen akzeptiert werden, die den Annahmen über eine inzestuöse Verführungskraft der Kinder und potentielle Verführbarkeit der Eltern (und umgekehrt) nicht folgen können. Mein drittes Argument bestebt im Kern in folgender Überlegung: Kinder, die ihre Eltern oder einen Elternteil in außereheliche Sexualität verstrickt wissen oder dies gar vor ihrer Nase miterleben müssen, sind des Schutzes beraubt, auf den sie angewiesen sind, um sich vor völliger oder jedenfalls zu starker Überwältigung durch die unbekannte Kraft der Sexualität retten zu können. Sexualität ist überwältigend. Sie überwältigt auch Erwachsene. Aber der Erwachsene lernt früher oder später im eigenen Ich eine Kraft aufzubauen, die ihn der andauernden, totalen Überwältigung entzieht. Diese Kraft entwickelt sich mit dem Reifen des Charakters. Die Ausreifung des Charakters besteht zu guten Teilen in der Entwicklung dieser Kraft. Erst im Bewußtsein der Verfügung über diese Kraft des eigenen Ichs kann vorübergehend die volle Auslieferung an Sexualität gewagt, kann der Überwältigung durch Sexualität relativ angstfrei ins Auge geblickt werden. Das Kind hat diese Kraft noch nicht, kann sie nicht haben, weil sein Charakter noch nicht ausgereift ist, die dafür erforderliche Zeit noch nicht verstrichen, das erforderliche Alter noch nicht erreicht ist. Es kommt hinzu, daß das Kind infolge größerer Reizbarkeit und größerer Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für sexuelle Stimulierungen der totalen Absorption und Erschütterung durch sexuelle Erlebnisse weit stärker ausgesetzt ist als der abgebrühte Erwachsene. Das Kräfteverhältnis zwischen Sexualität und Abwehr ist also doppelt ungünstiger als beim Erwachsenen: Der schwächeren Regulierungs- und Abwehrkraft steht eine weit größere Überwältigungsmacht gegenüber - eine hoffnungslose Lage für das Kind, wäre es auf sich selbst und auf seine eigenen Kräfte angewiesen. Zum Glück ist es das dort, wo die Welt einigermaßen in Ordnung ist, nicht. In seinem Versuch, eine hinreichend starke Abwehr aufzubauen, wird das Kind von den Eltern unterstützt. Eltern tun dies, indem sie den Freiraum der kindlichen Sexualität relativ eng halten, die Kindersexualität nur in den Grenzen der Kinderverstecke tolerieren. Wir schnüffeln ihren Sexualspielen nicht nach, verlieren auch wenig Worte über Masturbation und dergleichen, aber wir geben den Kindern keinen offiziellen Segen, keine Erlaubnis zu jenen Spielen zumal, in denen die überwältigende Kraft der Sexualität sich erst voll entfaltet: dem Geschlechtsverkehr. Was den Kindern im Kinderraum, in der Subkultur der Pubertierenden und Adoleszenten, was ihnen zwischen Partykeller und Parkgebüsch an Möglichkeiten ersten Spielens bleibt, ist allemal genug. Des Komforts des häuslichen Bettes, vielleicht gar des von den Eltern geräumten Ehebettes und Badezimmers bedarf es nicht. Vielmehr scheint es umgekehrt so, daß es einiger Hindernisse und Beschränkungen bedarf, um die ersten Eroberungen zu wagen, sie als eigene Abenteuer verbuchen zu können - und dann jederzeit die Flucht ins Elternhaus zu finden. Wir nötigen also die Kinder mit ihren Spielen und Versuchen ihrerseits in die - kindliche - Geheimsphäre. Damit reduzieren wir die Gelegenheit zu solchen Spielen und Versuchen. Kommt ein Erwachsener, sind sie augenblicklich unterbrochen. Trotzdem wird es immer wieder einmal geschehen, daß Kinder mit ihren Geliebten im Elternhause zärtlich sind und, wenn das Alter dazu gekommen ist, gar zusammen schlafen. Aber es macht einen riesengroßen Unterschied, ob dies heimlich geschieht, als Ausnahme übersehen oder bestenfalls ausnahmsweise toleriert, oder ob es gefördert, von den Eltern bejubelt und damit früher oder später regelrecht gefordert wird. Wo Kinder sich auf solche Wege locken lassen und solchen elterlichen Anforderungen genügen wollen, sind die hoffnungslos überfordert. Häufig ziehen solche Unglücklichen die Konsequenz, sich überhaupt nicht an Sexualität wirklich heranzuwagen, da sie nicht wissen, wie sie, einmal gefangen, wieder herausfinden sollen. Kinder, die wissen, wie sie ihr entkommen, nämlich spätestens beim Betreten des Elternhauses, können draußen viel mehr wagen. Wir Erwachsenen haben ja oft gerade das Wichtigste aus unserer Kindheit vergessen, aber vielleicht erinnert sich dieser oder jener doch noch an das Aufatmen, wenn man nach dem Eintauchen in das Zauberrreich der Sinnlichkeit, nach dem Auskundschaften der Grenzzonen der Verwahrlosung, nach der Erfahrung der tausend Gefahren des Abstürzens und Abrutschens die Festung Elternhaus in der Ferne liegen sah, sie erreichte und in sie eintreten konnte, wissend, dort relativ sicher zu sein.

Mit unseren Restriktionen und manchmal vielleicht auch Interventionen tun wir den Kindern also nichts Böses und Schlimmes an, vielmehr erweisen wir ihnen eine Wohltat: Durch unser - letztlich natürlich nicht durchsetzbares - Verbot und durch Schaffung eines Raumes, in welchem man immerhin die Haltung des Verbotsgehorsams annehmen muß, schaffen wir den Kindern die Möglichkeit des einigermaßen sicheren Rückzugs aus der Gefahr, in die sie sich begeben wollen - und auch begeben müssen, aber nur begeben können, wenn sie eines derartigen Refugiums sicher sein können. Indem wir ihnen die Möglichkeit des sicheren Rückzugs geben, setzen wir sie erst instand, sich Abenteuern und Wagnissen auszusetzen. Unser Verbot erst eröffnet ihnen den Weg zur Erfahrung des Verbotenen. Derartige Paradoxien sind im Eltern-Kind-Verhältnis an der Tagesordnung. Ein Elternhaus, in dem Kindersexualität allzu sehr toleriert wird, ist kein solcher Rückzugsort mehr.

Desgleichen, und darauf kommt es hier besonders an, ist ein Elternhaus , in dem die außereheliche Sexualität der Eltern offen gelebt wird, in dem Kinder über die Verhältnisse ihrer Eltern informiert sind, kein solcher Rückzugsort mehr. Vater und Mutter, die vor der Nase der Kinder Verhältnisse haben, können jenes Verbot, auf das Kinder mangels einer hinreichend starken Inneninstanz angewiesen sind, nicht mehr aufrichten. Den verbietenden Eltern werden die Kinder entgegenhalten: "Und was tut ihr?" Eltern, die ihre Kinder wissen lassen, was sie tun, haben sich der Möglichkeit begeben, notwendige Verbote aufzurichten.

Es bleibt die Frage: Dürfen Eltern denn verbieten, was sie selbst nicht lassen können oder lassen wollen? Antwort: Sie dürfen, weil sie müssen. Erwachsene sind zur doppelten Moral und somit in gewisser Hinsicht auch zum Doppelleben verurteilt. Die Notwendigkeit eines solchen Doppellebens ist nach allem, was ich schon ausgeführt habe, schnell bewiesen. Wegen der Unfertigkeit ihres Charakters, der Unfähigkeit zur Einsicht und der Unfähigkeit, den Einsichten zu folgen, sind Kinder auf Gebote und Verbote der Eltern angewiesen. Um sich der Sexualität überlassen und ihr wieder entkommen zu können, brauchen sie die Einschränkung von außen. Ja mehr noch: Um selbst mit den Gefahren, Unordnungen und Lastern die ersten Erfahrungen wagen zu können - und das müssen sie ja tun - müssen sie sich an die Vorstellung halten können, daß dadurch die Welt nicht über ihnen zusammenstürzt, weil diese ja durch ein ordnungsstiftendes, den Gefahren trotzendes, lasterfreies Elternpaar zusammengehalten wird. Dies nötigt die Eltern nun nicht, in Wirklichkeit so zu sein, wie die Kinder sie sehen wollen und sehen müssen. Es nötigt sie aber zum Doppelleben. Sie müssen ein Leben führen einerseits angesichts der Kinder, in welchem sie sich Haltungen auferlegen und durchzuhalten lernen. Und sie führen ein Leben für sich und unter Erwachsenen. An ihrem zweiten, dem Erwachsenenleben, können sie die Kinder - leider und zum Glück - nicht teilhaben lassen, weil Kinder nur unordentlich sein können im Vertrauen auf eine ordnungsstiftende Instanz und weil Kinder den Reifeunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern nicht verstehen können - verstünden sie ihn, wären sie keine Kinder mehr. Folglich können sie die sich aus dem Reifeunterschied ergebenden Konsequenzen nicht akzeptieren und tolerieren. Im Rahmen ihres Weltbildes, das nach einfachen, übersichtlichen Erwachsenenverhältnissen und nach Kinderverstecken verlangt, können sie Verstecke für Erwachsene und die Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit auch der Erwachsenenmoral nicht billigen. Kinder verlangen von Erwachsenen eine unbedingte, nicht eine bedingte, eine einfache, nicht eine doppelte, eine gerade, nicht eine gebrochene Moral. Welcher Winkelzüge sie sich selbst hinter ihrer Anständigkeitsfassade bedienen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Daß aber das wirkliche Leben auch der Erwachsenen ohne all diese Listen, Spaltungen, Fiktionen, Paradoxien und Zugeständnisse nicht auskommt, können sie den Erwachsenen nicht zugestehen und müssen es, wenn sie zu frühen Einblick erhalten, ablehnen und verwerfen. Gerade das, was der gereifte Mensch als Zugeständnis an menschliche Schwäche und Unvollkommenheit, somit als Krönung seiner Humanität erfahren hat, gilt in ihren Augen als Korruption und Verkommenheit.

Erwachsene sind deshalb zum Doppelleben verurteilt. Bei genauerer Betrachtung ist alles natürlich noch viel komplizierter. Auf dem für die Kinder bestimmten 'I'eil jenes Doppellebens gibt es wiederum ebensoviele Abstufungen, wie es Kinder gibt, denn für jedes Alter muß und kann man sich anders darstellen, andere Haltungen einnehmen und durchhalten. Aber jene Abstufungen liegen relativ nahe beieinander, verglichen mit dem großen Sprung und Abstand zum Eigenleben, in welchem der Erwachsene, vertrauend auf die Kräfte seines Ich, aber wissend von seiner Unvollkommenheit und von der Unvollkommenheit aller menschlichen Regelungen sich erlaubt, seinen Schwächen auch einmal nachzugeben.

Zum Schluß möchte ich noch zwei Punkte nachtragen. Der eine betrifft nur eine Klarstellung: Was Kinder beunruhigt, stört und schädigt, sind Informationen über außereheliche Verhältnisse der Eltern. Die Sexualität zwischen den Eltern selbst gehört zwar auch nicht gerade vor die Augen und Ohren der Kinder, aber daß sie mehr oder weniger vor der Nase der Kinder stattfindet, ist unvermeidlich und muß und kann von den Kindern durchaus verkraftet werden. Daß die Eltern miteinander schlafen, vereintes Elternpaar sind, hält ja, wie gezeigt, gewissermaßen die Kinderwelt - und nicht nur diese - in Ordnung, bestätigt immer wieder die Hoffnung des Kindes auf seine legitime Herkunft und zwingt es, sich damit abzufinden, daß der begehrte Elternteil insoweit gebunden ist und als Sexualpartner nicht zur Verfügung steht. Die Vorstellung von Sexualität zwischen den Eltern und in der Ehe kann in die kindliche Vorstellungswelt recht früh eingebaut werden und hat auch für die Pubertierenden mindestens ebenso viele Momente der Beruhigung wie Momente der Beunruhigung. Mein Reden von Verbergen, Doppelleben, doppelter Moral, etc. betraf nur die neue Liebe.

Im zweiten Nachtrag mache ich eine kleine pragmatische Anmerkung. Die Geheimhaltung der neuen Liebe empfiehlt sich, außer durch die Gesichtspunkte "Rücksicht, Takt, Vorsicht" noch aus einer Reihe von anderen, mehr pragmatischen Gründen. Ich möchte nämlich meinen, die Beteiligten fahren am besten, je weniger Öffentlichkeit und Mitwisser sie haben. Um jede neue Liebe bildet sich leicht eine üble Kulisse gelangweilter Schaulustiger, die als Voyeure teilhaben wollen, woran sie sich selbst im Moment oder niemals wagen. Eine solche Kulisse ist für die Beteiligten in jeder Hinsicht äußerst lästig. Die Belästigungen durch Klatsch, Geheimnisbruch, Andeutungen, Sticheleien, etc. sind noch relativ harmlos. Schlimmer ist folgendes: Die neue Liebe ist zunächst einmal nicht mehr als eine Episode. Was die Ehe betrifft, schafft sie einen Zwischen- und Schwebezustand: Was wird nun wohl werden? Wird die Ehe diese Zerreißprobe aushalten? Werden die Beteiligten die Nerven behalten? Wird es sich wieder einrenken oder ist es endgültig aus? Der Verlassene handelt in solchen Schwebezuständen am klügsten, wenn er abwartet, gar nichts tut. Jede Maßnahme schafft Öffentlichkeit. Jede Öffentlichkeit schafft mit den Zeugen etwas Endgültiges. Der Schwebezustand, der die Beteiligten in Atem hält, kann von den Voyeuren, von der Kulisse, von der Öffentlichkeit, der Gesellschaft schwerlich lange ausgehalten werden. Sie wollen die Welt dadurch wieder in Ordnung bringen, daß sie den vorläufig Verlassenen zum endgültig Verlassenen stempeln und das neue Paar einander viel enger und dauerhafter zuordnen, als jene Liebenden es vielleicht gemeint und gewollt haben. Durch die Kulisse wird, was die Beteiligten als Versuch und Schwebezustand begannen, viel zu früh zum Endgültigen, gerinnt aus dem Schwebezustand zum Unwiderruflichen. Jeder Mitwisser ist ein potentieller Verräter. Jeder Verräter gefährdet die Möglichkeit, daß sich nach genossener Episode alles in Wohlgefallen auflöst und die alten Paare beieinander bleiben.

Es stellt sich die Frage, was denn eigentlich noch für Möglichkeiten, die neue Liebe auszuleben, bleiben. Die Frage ist berechtigt, und die Antwort muß lauten: Es gibt in der Tat herzlich wenig, entmutigend wenig Möglichkeiten. Das Glück, Kinder aufbringen zu dürfen, heißt eben auch: Verurteilung zu mindestens zwanzig Jahren. Es gibt zugleich aber sehr viele, überreichlich viele Möglichkeiten. Die Welt ist nicht nur voller Verstecke, sondern voller Möglichkeiten, die neue Liebe aus den Bereichen der Sexualität in andere, neue, erst dem Erwachsenen sich voll erschließende Räume intensiven gemeinsamen Erlebens zu geleiten, in denen sie sich ungestört und unbedenklich entfalten kann.

Prof. Dr. iur. Hans Erich Troje
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt M., Fachbereich Rechtswissenschaft

Durchgesehene Schriftfassung einer Rundfunksendung, die am 13. April 1976 in der Sendung "Abendstudio" des Hessischen Rundfunks erstmals gesendet wurde. Eine Kurzfassung davon wurde im Norddeutschen Rundfunk am 21. Oktober 1979 und am 7. April 1991 unter dem Titel "Die alte Liebe und die neue Liebe. Ist eine doppelte Moral erlaubt?" ausgestrahlt. Internetpublikation mit freundlicher Genehmigung des Autors.


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Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee