Heimliche Liebe

Ein Ratschlag zur Rettung der Ehe

Hans Erich Troje

- Durchgesehene und korrigierte Fassung, März 2001 -

Hören Sie, vorweg, Wilhelm Busch:

"Du fragtest mich früher so mancherlei.
Ich sagte dir alles frank und frei.
Du fragtest, wann ich zu reisen gedächte,
welch ein Geschäft ich machen möchte.
Ich sagte dir offen: dann und dann!
Ich gab Dir meine Pläne an.
 
Oft hat die Reise mir nicht gepaßt;
Dann nanntest Du mich 'n Quirlequast;
Oft ging's mit dem Geschäfte krumm;
Dann wußtest Du längst, es wäre dumm.
Oft kamst Du mir auch mit List zuvor;
Dann schien ich mir selber ein rechter Tor.
 
Nun hab ich, weil mich dieses quält,
Mir einen hübschen Ausweg erwählt.
Ich rede, wenn ich reden soll,
Und lüge dir die Jacke voll."

Lügen ist häßlich, aber was dann? Ist vielleicht Reden Silber und Schweigen Gold? Oder gilt, was Samuel Beckett seinen Molloy sagen läßt:

"Zu der Zeit, als ich noch sprach, ist es mir oft passiert, daß ich zu viel gesagt habe, während ich glaubte, zu wenig gesagt zu haben, und daß ich zu wenig gesagt habe, während ich glaubte, zu viel gesagt zu haben...Ich will sagen, daß bei nachdenklicher Betrachtung (...) mein übermäßiges Reden sich als lauter Armut enthüllte und umgekehrt (...) Anders ausgedrückt: was ich auch sagen mochte, es war nie genug, nie wenig genug."

Sie kennen wohl auch aus Museen und Ausstellungen jene "Bilder", die nur aus weißer Fläche oder fast weißer Fläche bestehen. Das wäre wohl auch das richtige Verfahren für das Thema "Heimliche Liebe". Tatsächlich, am liebsten würde ich schweigen. Aber wie lange würden Sie einem Vortrag lauschen, der nur aus Schweigen bestünde?

Doch glauben Sie niemandem, der behauptet, er könne "was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren". Natürlich haben auch Sie Ihre Probleme mit Liebe, Ehe, Treue, aber für deren Lösung gibt es kein Rezept, außer dem, was Sie selbst für sich entdecken, und es ist richtig für Sie, aber was es für andere bedeutet, ist eine ganz andere Sache.

"Ein Käfig ging einen Vogel suchen" ist einer der rätselhaftesten Aphorismen Kafkas. Goethe hat das alle Kinder meiner Generation ängstigende Bild der "wandelnden Glocke" erfunden, die dem Knaben nachläuft, um ihn zum Besuch des Gottesdienstes "in Person zu laden". Natürlich ist es das Kind selbst, dessen schlechtes Gewissen der Glocke Beine macht, um dem Kind nachzulaufen. Kafkas Aphorismus "Ein Käfig ging einen Vogel suchen" steigert dieses Bild des Grauens um die weitere Dimension der Paradoxie. Kirche und Ehe, die auch heute noch viel enger zusammenhängen, als uns bewußt ist, sind Käfige, nein sind ein-und-derselbe Käfig, dem wir selbst Beine machen, damit er uns nachlaufen, einfangen, einsperren kann. Der Käfig ist aber nicht nur Gefängnis, er ist auch Heim, bietet Schutz und Versorgung. Das hat Kafka natürlich gewußt und an vielen Stellen ausgesprochen. Eine Ehe und Familie, ein Heim haben, heißt wissen, wo man hingehört, auch und gerade in Zeiten der Not. Heim ist dadurch definierbar, daß, wenn ich komme, müssen sie mich auch reinlassen.

Aber nun haben wir nicht nur Schutzbedürfnisse, sondern auch Freiheitsbedürfnisse, die uns Ehe und Familie als unerträgliche Fessel, als Gefängnis erscheinen lassen. Mit dieser Einsicht ist schon viel gewonnen. Oft machen wir ja den anderen, den Gatten, die Gattin für das ganze Unglück verantwortlich. Er oder sie hat uns zugrundegerichtet, mit jemand anders wäre alles ganz anders geworden. Aber das ist meist ein Irrtum. Es ist die Institution, die uns wechselseitig zu Gefängniswärtern macht: ich dein Wärter, du mein Häftling, du mein Wärter, ich dein Häftling, undsoweiter, wobei in diesem doppeltwechselseitigen Häftlingsverhältnis selbstverständlich auch gefoltert werden darf. Insofern die Ehe in der gefängnisartigen Gesellschaft, die uns umgibt nein: die wir sind, nur pars pro toto, Teil fürs Ganze ist, könnte man den Themenzusammenhang natürlich noch ausdehnen.

Wir müssen uns hier auf "Ehe" beschränken, aber bitte vergessen Sie dabei nicht: bei der Gleichsetzung von Ehe mit Gefängnis meine ich nicht die Ehe als eigene, wirklich angeeignete Lebenswelt, als Lebensraum individueller Selbstverständlichkeit, die Leben zuallererst ermöglicht und fundiert, jene Ehe also, die uns im Laufe der Geschichte abhanden kam und die so schwer wiederzufinden ist. Bei der Gleichsetzung von Ehe mit Gefängnis meine ich die Ehe als durch staatliches Recht strukturierte und gemäß Artikel 6 unseres Grundgesetzes dem staatlichen Wächteramt unterstellte Institution, die auch nach Ende der kirchlichen Ehejurisdiktion, also nach Einführung der sogenannten obligatorischen Zivilehe die Grundstrukturen des Konzeptes der christlichen Ehe bewahrt hat. In den bizarren Diskursen der mittelalterlichen Theologen und Juristen und bei deren zwangsweiser Umsetzung in Lebenspraxis ist die Ehe - verstanden als soziale Lebensform, als Lebensraum individueller Selbstverständlichkeit, die Leben ermöglicht und fundiert - den Menschen weitgehend genommen,. entfremdet, zugedeckt mit allen möglichen Lasten. Dem Konzept der christlichen Ehe, so großartig es ist, sind die eigentlichen Möglichkeiten der Ehe zum Opfer gebracht, ist die Ehe in ihren eigentlichen Möglichkeiten geopfert.

Diese Ehe ist es, bei deren Eingehungszeremonie wir weinen, als sei es ein Begräbnis und folgerichtig jenes Lied "So nimm denn meine Hände..." singen, das als Begräbnislied gedichtet wurde und nun bei Trauungen wie Begräbnissen Verwendung findet. Diese Ehe ist es, von der es in Schillers "Lied von der Glocke" heißt:

"Lieblich in der Bräute Locken
Spielt der jungfräuliche Kranz,
Wenn die hellen Kirchenglocken
Laden zu des Festes Glanz.
Ach! des Lebens schönste Feier
Endigt auch den Lebensmai,
Mit dem Gürtel, mit dem Schleier,
Reißt der schöne Wahn entzwei."

Nun glauben ja viele, die Scheidung sei die Rettung aus der unglücklichen Ehe. Gottseidank ist deren Möglichkeit in unseren Gesetzen derzeit noch vorgesehen. Natürlich ist Scheidung zunächst einmal ein Ausweg aus dem Gefängnis, zumal heute, wo nicht mehr "Verschulden" erforderlich ist, sondern "Zerrüttung" und "Scheitern" genügen. Natürlich muß Scheidung, und zwar als Zerrüttungsscheidung, ein Ausweg bleiben, und sie kann es oft tatsächlich sein. Es gibt auch Zweitehen, die wenn nicht gerade immer glücklich, so jedenfalls etwas weniger unglücklich als die geschiedenen Erstehen sind. Aber glauben Sie mir, oft sind gerade Scheidung und Scheidungsfolgen, also Streit um Unterhalt, Zugewinn, Versorgungsausgleich, elterliche Sorge und Besuchsrecht die Hölle, die schlimmer ist als die geschiedene Ehe es je war. Die schrecklichen Worte Thomas Bernhards von der Aussichtslosigkeit des Lebens, von der Vergeblichkeit jeden Fluchtversuchs scheinen dafür genau angemessen.

Ich bin Jurist, praktiziere sogar in freilich höchst bescheidenen Grenzen als Scheidungsfolgenrichter, bilde Juristen aus, insbesondere im Familienrecht, denn ich finde es sehr wichtig, daß es sachkundige und gut ausgebildete Juristen für Familiensachen gibt. Andererseits muß man natürlich zugeben, daß der eigentliche Konflikt des einstmals so hoffnungsvollen und jetzt so unglücklichen Paares in Verfahren, die mit rechtlichen Mitteln arbeiten, schwerlich gelöst werden kann, oft sogar noch weiter eskaliert. Im nachehelichen Unterhaltsrecht spielt das "offensichtlich schwerwiegende, eindeutig bei dem Unterhaltsberechtigten liegende Fehlverhalten gegen den Verpflichteten" mehr und mehr wieder die entscheidende Rolle.

In der Mehrzahl der Fälle sind es heimliche Liebesgeschichten, die ein Hamburger Gericht mit einer oft wiederholten Wendung als "mutwilliges Ausbrechen aus durchschnittlich harmonischer Ehe" bezeichnete. Also müssen solche Dinge behauptet und bewiesen werden, und wir Richter müssen darauf abstellen, obwohl wir wissen, daß kein einzelnes Ereignis vom Himmel fällt, sondern immer eine längere oder kürzere Vorgeschichte hat. Wir wissen auch, daß das einzelne jetzt als so schrecklich dargestellte Ereignis im Lebensprozeß selbst vielleicht gar nicht so schlimm, vielleicht sogar mehr oder weniger normal war, zum Leben irgendwie dazugehörte wie die Würze zur Speise, und erst jetzt im Verfahren durch Behaupten, Bestreiten, Beweisen als schreckliches Fehlverhalten isoliert und stilisiert wird.

Aber gibt es denn Alternativen zu Scheidung? Nun, ich weiß es nicht, und wer will das wissen? Das einzige, was ich weiß, ist schon gesagt: es gibt keine fertigen Rezepte, die man sich von anderen verschreiben lassen und dann anwenden kann. Aber darf man vielleicht nicht doch - ohne nun gleich als Besserwisser, Schulmeister oder gar Richter aufzutreten - vor bestimmten typischen Fehlern warnen? Ich denke, man darf, wenn es vorsichtig, unaufdringlich und so indirekt wie möglich geschieht. Ein häufiger typischer Fehler scheint mir nun zu sein, daß über Angelegenheiten geredet wird, über die man eigentlich nicht reden kann, jawohl: über die man eigentlich nicht reden kann, weil, wenn wir es tun, wir sofort in jene Dynamik geraten, die wir aus Verfahren kennen, die mit rechtlichen Mitteln arbeiten. Über Ehe, Liebe, Treue haben wir in dieser insoweit immer noch zutiefst christlich geprägten Kultur sehr normative und überdies meist doch sehr konservative Vorstellungen. Unser Reden nimmt daher sehr leicht den Ton der Anklage, des Verhörs oder des Geständnisses und der Verurteilung an. Das ist im Rahmen dieser Kultur und im Rahmen dieser Sprachwelt kaum vermeidbar. Die Sprache, die wir in Prozessen mehr oder weniger gewaltsamer und schrecklicher Erziehung lernen, die in diesen Prozessen nicht nur verankert ist, sondern Gewalt und Schrecken immer wieder repräsentiert und evoziert, ist das erste und zugleich letzte unserer Gefängnisse. Sie ist das eigentliche Gefängnis der Seele. Sie ist das eigentliche Gefängnis, das den Vogel suchen geht, vom Vogel selbst gemacht wurde.

Je komplizierter die Situation, desto gefährlicher das Sprechen. Wenn die Situation also kompliziert wird: Holen Sie tief Luft, reden Sie nicht, schweigen Sie, und überlegen erst einmal. Ein Schweigen kann immer gebrochen, aber ein einmal gesagtes Wort kann nie wieder aus der Welt geschafft werden. Ich weiß wohl, wie schrecklich schweigen sein kann, und jemand, der sich über Wochen, Monate und Jahre in Schweigen hüllt, verübt Terror ohnegleichen. Aber andererseits muß man doch wirklich nicht immer über alles sofort reden. Den ganzen Tag tun wir von früh bis spät viele Dinge, ohne sie jetzt oder später oder jemals zum Gegenstand von Gesprächen zu machen. Wir tun sogar, Tag für Tag, von der Nacht ganz zu schweigen, eine Menge Dinge, ohne später zu wissen, daß wir sie taten, eine Menge unbewußter Handlungen, oder solche, die wir sofort vergaßen. Man kann träumen, ohne sich an den Traum zu erinnern, und schlafen, ohne zu wissen oder zu erinnern, daß es geschah und wie einem geschah. Ein ganz normaler Arbeitstag - zum Beispiel dieser jetzt, an dem Sie diesen Vortrag hören - ist voller Verworrenheiten in den kleinen, mittleren und großen Dingen. Immerzu geschehen Dinge, die nicht zur Sprache kommen.

Warum um Himmels Willen der Geständniszwang in Liebesangelegenheiten? Nun, ich kann Ihnen sagen, warum: weil im Mittelalter in der christlichen Kultur die Untersuchung und Kontrolle des Begehrens und die sogenannten "Geständnisse des Fleisches" zum wichtigsten Mittel der Ausbeutung und Beherrschung der Menschen durch die Kirche, also zum Mittel der Selbsterhaltung der Kirche wurden und mehr oder weniger bis heute blieben. Natürlich ist Sexualität auch in anderen Kulturen problematisch, aber doch in ganz anderer Weise. Für die alten Griechen war das Bemühen um den rechten "Gebrauch der Lüste" eine Frage der Aesthetik, der Lebensgestaltung. Später - und dann auch bei den Römern - ist es die "Sorge um sich selbst", also Sorge um die Glaubwürdigkeit in der angestrebten sozialen Rolle, die zu Strategien der Einschränkung und Kontrolle des Sexualverhaltens führt. Aber erst im Christentum "rezentrieren sich" ,- wie Michel Foucault es formulierte - "alle Künste der Existenz um die Analyse des Begehrens selbst, um die Selbstentzifferung als begehrender Mensch, um Reinigungsprozeduren und um Kämpfe gegen die Begehrlichkeit". Darin werden wir - von beiden Kirchen - noch immer festgehalten, das hat sich in uns als unabänderlich festgesetzt, und daran halten wir unerschütterlich fest.

Also warum um Himmels Willen der Geständniszwang in Liebesangelegenheiten? Gerade im Versuch, über Liebesangelegenheiten zu sprechen zeigt doch die Sprache ihre gewaltsame Seite. Jeder Versuch einer Berichterstattung verfälscht sofort, was wirklich vorgefallen ist. Die Sprache dieser Kultur - ganz anders zum Beispiel als die chinesische - unterliegt dem Gesetz der Objektkonstanz, A gleich A, ja gleich ja, nein gleich nein. War es nun so oder so, gilt dies oder das? Du kannst es doch nicht getan und nicht getan haben. Du kannst Dich doch nicht so in Widersprüche verwickeln, entweder stimmt dies, und das nicht, und dann hast du mich aber da belogen, oder das stimmt, dann hast du mich aber da belogen, undsoweiter. Sprache unterliegt dem Gesetz der Objektkonstanz, und jedes Sprechen erneuert die Geltung dieses fundamentalen Gesetzes. In jedem Sprechen üben wir uns in seiner Befolgung, bekräftigen seine Geltung.

Mit dem Zusatz "Aufsätze gegen Monogamie" notiert Kafka ins Tagebuch:

"Alle schönen Worte vom Hinauswachsen über die Natur erweisen sich als wirkungslos gegenüber den Urmächten des Lebens."

Wenn es also wahr ist, wie unsere Sänger immer wieder, zum Beispiel auch im ersten Lied von Schuberts "Winterreise" singen: "Die Liebe liebt das Wandern", dann ist eben in der Welt unserer Gefühle die Konstanz nicht garantiert und damit auch die Konstanz der Subjekte wie der Objekte in Frage gestellt. Nun ist es passiert und war vielleicht, in der vorgegebenen Situation, wundervoll, unvermeidlich, beinahe zwangsläufig. Aber wer kann denn wissen, wie sich die Dinge nun, ins normale Leben zurückgekehrt, weiter entwickeln werden, ob in diese oder jene Richtung? Über die Dinge sprechen, heißt doch unweigerlich auch, sie dramatisieren. Was damals, bei dieser verworrenen Geschichte, wirklich vorgefallen ist, kann in dieser unserer Sprache doch nicht unverfälscht mitgeteilt werden. In der Berichterstattung, im Verhör, im Geständnis, in der Verurteilung wird etwas ganz anderes daraus.

Ob Dir - liebe Hörerin, lieber Hörer - nun Affären gegönnt oder versagt waren, sprich weder über Deine Treue noch über Deine Untreue. Frage auch niemanden aus, und auf Ausspionieren, mit und ohne Detektiv, steht Todesstrafe. Behalte möglichst auch Deine Phantasien und Ängste für Dich. Der Mensch hat immer irgendwelche Phantasien: man kann nicht nicht Phantasien haben, aber wehe wenn sie ausgesprochen! Ich kenne eine Ehepaar, das sich nach 30 Jahren wechselseitig treuer und "durchschnittlich harmonischer" Ehe immer noch durchschnittlich drei Abende pro Woche mit furchtbaren Gesprächen über mögliche und unmögliche Affären der Ehefrau quält.

Immer wieder wacht das Mißtrauen des Mannes auf, immer wieder wird der Versuch unternommen, der Sache auf den Grund zu gehen, und schließlich wird um Mitternacht der frühere jüngere Kollege der Frau aus dem Schlaf geklingelt und soll die Frage beantworten, ob auf jener gemeinsamen Dienstreise nicht doch etwas gewesen sei. Oh Gott, wie furchtbar. Gabriel Garcia Marquez läßt die junge Witwe Nazaret über ihren toten und tief unter der Erde begrabenen Mann, dessen einzige Untreue es war, ohne sie gestorben zu sein, ausrufen:

"Ich bin glücklich, denn erst jetzt weiß ich mit Sicherheit, wo er ist, wenn er nicht zu Hause ist."

Oh Gott, wie schön. Und wenn im gleichen Roman der Ehemann und Held Doktor Juvenal Urbino nach seinem erbärmlichen, weinerlichen Fehltritt-Geständnis stöhnt:

"Ich glaube, ich sterbe bald",

so findet die Eheheldin Fermina Daza die schöne Antwort:

"Das wäre das beste, dann hätten wir beide unsere Ruhe."

Wie schön und wie schrecklich.

Aus der Verzweiflung an dieser Welt, aus der wir so leicht nicht entrinnen können, rettet wohl wirklich nur der Tod. Aber aus der Unfähigkeit, in der Welt der Sprache nicht Mitteilbares gleichwohl in der Welt der Sprache mitzuteilen, retten sich und damit auch uns doch bisweilen die Dichter. Goethe hat die wundervoll tragischen Romane "Werthers Leiden'' und später dann "Die Wahlverwandtschaften" zur Rettung aus eigener Krise geschrieben, aber auch, um - wie er bezüglich der "Wahlverwandtschaften" wortwörtlich sagt - "soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbolisch gefaßt darzustellen". In den "Wahlverwandtschaften" sehen wir das unglückliche Ende von Ehe und Liebe im Tod der Liebenden. Das hat er veröffentlicht.

Aber derselbe Dichter hat in seiner unglaublich kühnen und lebenslang verheimlichten Dichtung "Das Tagebuch" auch Möglichkeiten der Rettung der Ehe aufgezeigt, die sich allerdings nur in den dort benutzten Symbolen, Metaphern, Metonymien und sonstigen Verschlüsselungen zeigen lassen. Wenn man einzelne Verse herausbricht, also etwa jene, zu Beginn der 19. Strophe, über den glücklichen, aber noch verbotenen Verlobtenbeischlaf:

"Und wie wir oft sodann im Raub genossen, nach Buhlenart des Ehstands heilige Rechte";

wenn man solche Stellen herausbricht und für sich nimmt, erzeugt es nur Mißverständnisse. Aber lassen Sie es sich gesagt sein:

"nach Buhlenart des Ehstands heilige Rechte",

genießen, das ist eine Möglichkeit der Rettung der Ehe und der Wiederentdeckung der Liebe in der Ehe. Und wenn die Dichtung auch kein Rezept verschreiben kann, so eröffnet sie uns doch mit der fundamentalen Kritik, hier also am herkömmlichen Ehekonzept, die Dimension der Hoffnung auf Alternativen.

Durchgesehene Schriftfassung einer Rundfunksendung, die am 2. September 1990 in der Reihe "Glaubenssachen" des Norddeutschen Rundfunks erstmals ausgestrahlt wurde. Internetpublikation mit freundlicher Genehmigung des Autors.


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Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee