Isolde

Leitbilder für das Verhalten von Paaren in Krisensituationen II

Hans Erich Troje

- Durchgesehene Fassung, 29. April 2003 -

Zu Homer, zur Odyssee zumal führt ein gebahnter, bequemer, durch keinen Bildungsanspruch zu verleidender Weg. Zu Gottfried von Straßburgs Tristan dagegen ist durch den Wagnerkult und durch die Vereinnahmungen des "Deutschen Mittelalters" für bestimmte Reichsideen der Zugang etwas verstellt. Die Odyssee ist Lesestoff der Schul- und Lehrjahre; Tristan liest man meistens in den Wander-, in den Pilgerjahren oder danach. Die Gefühlswelt der homerischen Protagonisten ist relativ grobschlächtig, verglichen mit der abgründigen Zwiespältigkeit der Menschen des Tristanromans. Odyssee macht nüchtern-zuversichtlich, Tristanlektüre macht hoffnungslos, mutlos, depressiv.

Die populärste moderne Nacherzählung des alten Erzählstoffes stammt von einem Romanisten an der Sorbonne, Joseph Bedier.l Wir wollen dagegen eine für Studien- und Lesezwecke angefertigte, schlichte und doch recht kultivierte, zeilengetreue Prosaübersetzung des Romanes Gottfried von Straßburgs zugrundelegen.2 Dieser große Dichter schrieb sein um 1210 abgeschlossenes Werk nach der französischen Vorlage des Thomas de Bretagne für die an den Themen höfischen Lebens und Liebens interessierten adligen wie bürgerlichen Straßburger. Es ist eine tieftraurige, von Anfang an auf Schmerz, Trauer und Verzweiflung intonierte Geschichte einer leidenschaftlichen unglücklichen Liebe. Denis de Rougemont, auf den wir uns insoweit gern beziehen, hat die Bedeutung des Tristan-Motivs für das Konzept "Liebe und Abendland" herausgearbeitet.3 In der Tat, die Wirkungsgeschichte ist ungeheuer, aber zunächst einmal erschließt uns der Roman die Welt der Höfe des 12. Jahrhunderts, das in seiner Liebesauffassung sehr differenziert, komplex, vieldeutig und alles andere als ein "finsteres Mittelalter" war.

Trauriges liegt schon im Namen. In "Tristan" steckt 'tristis' - traurig. Er wird von seinem Pflegevater so genannt, weil er Vollwaise war, seine Eltern eine heimliche, leidenschaftliche Liebe beide mit dem Leben bezahlten. Seine Mutter Blancheflur war die Schwester von Marke, dem König in Kurneval. Sein Vater war Riwalin, der König von Lohnois, ein Kriegsverbündeter Markes. Blancheflur hatte den in einem Kriege zu Hilfe geeilten, im Kampf lebensgefährlich verletzten fremden König gepflegt, ihn im erwarteten Sterben mit ihrer Nähe getröstet. Dabei waren Riwalins verlöschende Lebensgeister neu erwacht und Blancheflur schwanger geworden. Ein nichteheliches Kind wäre Familienschande. Vor dem möglichen Zorn des Bruders flieht Blancheflur mit dem vom Totenbett und Liebeslager wieder auferstandenen Riwalin in dessen eigenes Land. Dort wird "vor der Öffentlichkeit der Verwandten und Lehensleute" Blancheflur Riwalins Frau. Die Ehe wird "in der Kirche, wo es Geistliche und Laien sehen, nach christlichem Brauch" geschlossen. Noch während der Schwangerschaft fällt Riwalin im Kampf gegen seinen Angreifer Morgan, der nach dem Sieg das Land besetzt. Blancheflur stirbt nach einer qualvollen Entbindung. Morgan wird später behaupten, Tristan sei unehelich und ohne Anspruch auf das königliche Erbe, woraufhin ihn Tristan erschlagen und das Land wieder an sich bringen wird.

Doch noch ist Tristan ein Kind, ein schönes, kluges, wohlerzogenes Kind, von seinen Pflegeeltern, die er für die wahren Eltern hält, in allen Bereichen der höfischen Bildung, einschließlich der Fremdsprachen und des Musikunterrichts, ausgebildet. Aber schöne, kluge, hochgebildete Kinder leben gefährlich. Tristan wird gekidnapt, übers Meer verschleppt, kann aber schließlich entkommen. Er beeindruckt die Jäger des Königs Marke und bald auch den König selbst durch eine dort bisher unbekannte Kunstfertigkeit im Zerlegen der Jagdbeute und wird noch als Kind zum königlichen Jagdmeister ernannt. Noch wissen Marke und Tristan nicht, daß sie Onkel und Neffe sind. Sie erfahren es erst, als der Pflegevater nach fünfjähriger Suche zu Tristan findet und mit den sichersten Beweisen dessen wahre Abstammung aufdeckt.

Tristan hat nun ein Trauma. Die Ungewißheit aller Vaterschaft hat sich an ihm schrecklich bewahrheitet. "Ach, Vater und der Glaube, einen Vater zu haben, wie seid ihr mir auf diese Weise genommen worden! Als ich von dem einen Mann sagte, mein Vater sei gekommen, so verliere ich nun in ihm zwei Väter, ihn und den, den ich nie gesehen habe." Später kam er "nach kluger Überlegung zu dem Entschluß, daß er sich für seine zwei Väter so genau teilen wollte, als ob man ihn durchschneiden würde. Er teilte sich selbst in zwei genau gleiche Teile, und gab jedem den Teil, von dem er wußte, daß er am besten zu ihm paßte".

In Tristans Gestalt und Leben verdichten sich die gegensätzlichen Möglichkeiten des Menschen. "Wenn irgendjemand beständiges Leid bei beständigem Glück hat, dann hatte Tristan immer beständiges Leid bei beständigem Glück. Wie ich es Euch erklären werde, für ihn war endgültig beides bestimmt, Leid und Glück. Denn alles, was er begann, dabei hatte er immer Glück, und dennoch war immer Leid bei dem Glück, wie wenig das zusammenpaßt. So waren die beiden einander entgegengesetzt, beständiges Glück und anhaltendes Leid, vereint in dem einen Mann."

Von nun an ist die Geschichte in groben Zügen bekannt. Der Jüngling Tristan kämpft gegen den als unschlagbar eingeschätzten Morolt, den Bruder von Isot, der Königin von Irland, der Mutter der gleichnamigen Prinzessin. Morolt wird geschlagen, Tristan wird verwundet. Morolts Schwert war von seiner Schwester vergiftet, und sie allein kennt das Gegengift. Also muß sich Tristan als schiffbrüchiger Reisender mit einer Lügengeschichte bei der Frau, deren Bruder er erschlug, einschmuggeln, einnisten und gesund pflegen lassen. Während seiner Genesung befreundet er sich mit der Prinzessin, der er insbesondere Musik und Sprachunterricht gibt. Man will ihn dort behalten, und mit einer neuen Lügengeschichte kommt er davon. Diesmal muß die Idee der ehelichen Treue herhalten. Er erzählt seiner königlichen Pflegerin, er sei verheiratet und sehne sich nach seiner Frau, und sie läßt ihn ziehen. In dieser erfundenen Geschichte sind Ehe und Liebe, die sich im Fortgang der Handlung verhängnisvoll trennen, noch traulich beieinander. Die Lieblingsphantasie entwaffnet. Die Täuschung gelingt.

"Nein, edle Königin, bedenkt, wie es um die von Gott eingesetzte Ehe und um die von Herzen kommende Liebe steht. Ich habe zu Hause eine Gattin, die liebe ich wie mich selbst, und ich weiß genau, daß sie glaubt und auch nicht daran zweifelt, daß ich gewiß tot sei. Es ist meine Angst und Sorge, wird sie einem anderen gegeben, so ist meine Hoffnung, mein Leben und all die Freude verloren, auf die ich hoffe, und ich werde niemals mehr Freude haben". - "Wirklich", sprach die kluge Königin, "die Sorge besteht zu Recht. Eine solche Gemeinschaft soll kein guter Mensch trennen. Gott sei Euch beiden gnädig, Deiner Gattin und Dir!"

An Markes Hof erzählt er von der schönen Prinzessin Isot. Marke ist unverheiratet. Er will auch nicht heiraten, sondern sich von seinem Neffen Tristan beerben lassen, was aber den Ratgebern und Lehnsleuten nicht gefällt, die längst gegen Tristan arbeiten. Schließlich läßt sich Marke überreden, und Tristan bietet sich als Brautwerber an. Der Auftrag ist schwierig, denn die Königreiche sind schließlich verfeindet, und Tristan als Bezwinger Morolts, des Schwagers des Königs, seines gefährlichsten Kriegers, ist dort der bestgehaßte Mann. Wieder muß Tristan eine neue Identität annehmen, darf weder als Besieger Morolts noch als früherer Pflegling der Königin und als Lehrer der Prinzessin erkannt werden. Er landet heimlich und macht sich als erstes verdient, indem er das Land von seiner schlimmsten Plage, einem unschlagbaren Drachen befreit. Dem Drachentöter war die Prinzessin ausgelobt worden, und den Damen ist Tristan zunächst willkommen. Inzwischen wurden aber durch ein unglückliches Beweisstück die wahren Zusammenhänge aufgedeckt. Die Prinzessin höchstpersönlich hatte entdeckt, daß der in der Schädeldecke Morolts, ihres Onkels, gefundene Eisensplitter in die Scharte von Tristans Schwert paßt. Ihrem ersten Impuls, den schlafenden Tristan mit seinem eigenen Schwert zu töten, gibt sie unter gutem Zureden ihrer Mutter schließlich doch nicht nach. Die Mutter sagt, sie hätte den Tod des Bruders längst verwunden. Daraufhin erbittet Tristan nicht für sich, sondern für Marke, seinen Onkel, die Hand der Prinzessin. Da die Königin versöhnungsbereit ist, sieht auch der König kein Hindernis mehr, die zwei feindlichen Königreiche durch eine Ehe seiner Tochter mit König Marke zu einigen.

Unter Tränen verläßt Isolde mit ihrer Freundin Brangäne ihr Elternhaus und ihr Land. Ihre Beziehung zu ihrem Reisebegleiter Tristan, anfänglich noch sehr zwiespältig, verbessert sich unterwegs, zumal Tristan ihr bei den Leiden der Seekrankheit Abwechslung und Ablenkung verschafft. Bei einer Zwischenlandung trinkt man gemeinsam etwas, aber es war kein gewöhnlicher Wein, sondern der Liebestrank, den die Brautmutter, die bekannte Giftmischerin, dem jungen Ehepaar zugedacht hatte, um sie in glücklicher ehelicher Liebe und unverbrüchlicher Treue aneinander zu binden. Leider hatte Brangäne trotz ernstester Ermahnungen die Flasche herumstehen lassen. Zauberei, in guter Absicht, hat nun böse Folgen. "Bedenkt, wie es um die von Gott eingesetzte Ehe und die von Herzen kommende Liebe steht" hatte der Dichter Tristan zur Königin sagen lassen. Damals waren in der Lügengeschichte Liebe und Ehe eins. Jetzt werden sie entzweit. Liebespaar und Ehepaar, die ein magisches Band ewig vereinen sollte, werden durch mißglückten Zauber unheilvoll endgültig getrennt.

Nun nimmt das Unglück seinen Lauf. War Penelope der Prototyp der treuen Gattin, so wird Isolde zum Vorbild der listigen Ungetreuen, eine Alternative freilich zu Klytaimnestra, eine weit bessere, insofern wenigstens Mord und Totschlag vermieden werden, eine imponierendere, weil sie sehr viel Geistesgegenwart, Klugheit, Mut, Phantasie und Reaktionsvermögen zeigt, eine sittlich höher stehende, weil das meist seltene Liebesglück durch sehr viel Einschränkungen, Selbstbeherrschung, Respekt und Verzicht erkauft wird. Marke wird zum Prototyp des getäuschten, in Liebesverblendung erst vertrauenden, dann von bösen Zungen mißtrauisch und eifersüchtig gemachten und nunmehr von Zweifeln geplagten Ehemannes. Die Ehe von Marke und Isolde, wie sie in den folgenden Versen ausführlich geschildert wird, ist ein Handbuch und Lehrstück des amor furtivus, der Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer heimlichen Liebesgeschichte einer verheirateten Frau. So betrachtet, ist die Heldin des Tristanromans von nun an Isolde. Sie ist es, die in nächster Nähe mit Marke leben, ihn betrügen und sein Vertrauen erhalten oder zurückgewinnen muß. Von ihm raffiniert in Fallen gelockt und ausgehorcht, muß sie in immer neuen Manövern ihr Gesicht wahren. Sie tut dies mit schwindelerregender Willenskraft. In alltäglichen und erst recht in extremen Situationen zeigt sie einen Mut, vor dem man nur erschlottern kann, der dem von Tristan bei seinen Heldentaten, seinen Kämpfen gegen Riesen und Drachen gezeigten Mut gleichwertig, wenn nicht gar überlegen ist. Held auch dieses Stückes ist - so gesehen - nicht der Mann, sondern die Frau.

Man stelle sich nur vor, was diese Frau, ein halbes Kind noch, bei der Vermählung mit Marke fertig bringt. Marke erwartet eine Jungfrau. Isolde ist aber unterwegs schon Frau geworden. Brangäne, tollkühn auch sie und voller Schuldgefühle wegen des von ihr fahrlässig verursachten unrettbaren Liebeszaubers, übernimmt die erste Runde der Hochzeitsnacht. Die drei Verschworenen, Isot, Brangäne und Tristan, hatten sich vorher darum bemüht, "Ort und Gelegenheit klug und umsichtig vorzubereiten." Das Gift macht wohl liebestrunken, aber raubt nicht den Verstand. Im Gegenteil: Not macht erfinderisch. Nur ganz am Anfang der Liebesgeschichte schien es Tristan, als hätten er und Isot "durch einen seltsamen Schmerz den Verstand verloren." Aber das war noch in der Zeit der unerfüllten Sehnsucht und ändert sich mit dem ersten gemeinsamen gegenseitigen Genießen. Seit Brangäne eingeweiht ist, rät sie zur Verschwiegenheit. "Wenn Ihr es weiter bekannt macht, schadet es Eurem Ansehen." Auf dem Schiff geht es ihnen gut. "Sie fühlten sich außerordentlich wohl auf der Reise und der Fahrt. Als sie sich nicht mehr fremd waren, hatten sie viele und schöne Geheimnisse miteinander. Das war klug und vernünftig." Vor anderen mußten sie sich verstecken, aber voreinander mußten sie es nicht. Ist amor furtivus einmal in seinem Versteck angelangt, so erlaubt er den Liebenden dort die größte Offenheit.

Denn die sich voreinander verstecken, nachdem sie sich einander hingegeben haben, sich dann schämen und sich vor ihrer Liebe verstecken, die bestehlen sich selbst. Je mehr sie sich dann voreinander verstecken, umso mehr bestehlen sie sich selbst und vermischen Liebe mit Leid. Diese zwei Liebenden versteckten sich nicht. Mit Worten und mit Blicken tauschten sie ihr Geheimnis aus. So verbrachten sie die Reise sehr glücklich und doch nicht ganz ungetrübt. Sie fürchteten sich vor dem Kommenden.

Die eigentlichen Schwierigkeiten stehen in der Tat noch bevor. Anfangs ging alles gut. Aber nun kommt die Hochzeitsnacht. Die Verschworenen fassen ihren tollkühnen Plan.

Wenn der Liebe an unerfahrenen jungen Leuten ihr Spiel gelingt, so können wir an den jungen Leuten Vernunft und Einfallsreichtum finden. Kurz gesagt: Isot hatte in ihrer Jugendlichkeit einen vernünftigen Einfall, den besten in dieser Lage, nämlich Brangäne zu bitten, daß sie in der ersten Nacht wortlos und leise bei Marke ihrem Herren liegen und sich ihm hingeben sollte. Er konnte nicht besser getäuscht werden, denn sie war schön und war auch Jungfrau. So lehrt also die Liebe, daß rechtschaffene Gedanken sich auf Falschheit richten, die doch nicht wissen sollten, was zu solchem Betrug und zu Falschheit führt.

Nun sind also Ort und Gelegenheit klug und umsichtig vorbereitet.

In Markes Schlafgemach waren sie nun zu viert, der König und sie drei. Nun hatte sich Marke schon hingelegt. Brangäne hatte die Kleider von der Königin angelegt. Sie hatten die Kleider getauscht. Tristan führte Brangäne dorthin, die Qual und Not zu erleiden. Unterdessen löschte die Herrin Isot die Lichter. Marke zog Brangäne an sich. Ich weiß nicht, wie ihr der Anfang dieser Sache gefiel. Sie duldete es so ergeben, daß alles lautlos geschah, was ihr Gefährte mit ihr machte. Sie erfüllte und gewährte alles, was er von ihr wünschte . . . Wahrhaftig, ich würde dafür wohl mein Leben einsetzen, daß seit Adams Zeiten nie eine so edle falsche Münze geprägt noch je ein so lieblicher Betrug an die Seite eines Mannes gelegt wurde.

Der König ist zufrieden. Der Brauch verlangt, nun gemeinsam Wein zu trinken, den Tristan bringt. Es ist gewöhnlicher Wein.

In der zweiten Runde der Hochzeitsnacht übernimmt Isot selbst die Rolle der Braut.

Als sie nun dem Brauch gefolgt waren und beide von dem Wein getrunken hatten, legte sich die junge Königin Isot mit großem Kummer und geheimem Schmerz in ihren Gedanken und ihrem Herzen zu dem König, ihrem Gemahl. Er begann aufs neue das, was ihm Freude machte. Er zog sie nahe an sich heran. Eine Frau schien ihm wie die andere. Er fand auch diese sogleich sehr angenehm: ihm war eine wie die andere ... Auch leistete sie ihm ihre Pflicht vorher wie jetzt, so daß er gar nichts bemerkte.

So wird also diese Ehe perfekt, ohne Liebestrank, aber mit List, Betrug, Angst und Kummer seitens der Braut, mit einer dumpfen, stumpfen, undifferenzierten Wahrnehmung für das Spezifische dieser Frauen vom König.

Nun hat Isolde zwei Männer, und Marke hatte, allerdings ahnungslos, zwei Frauen. Wo zwei Menschen gleichen Geschlechts in einem dritten Menschen des anderen Geschlechts wissentlich gemeinsame Intimität gefunden haben, wird auch deren Beziehung häufig etwas delikat. König Marke ahnt noch nichts von dem erfolgreichen Mitliebhaber. Aber Isot sieht in Brangäne eine Gefahr, nicht nur als Mitwisserin, sondern als mögliche Rivalin. Schon während der ersten Runde der Hochzeitsnacht hatte sie befürchtet: "Wenn sie dieses Liebesspiel etwas zu lang und zu viel spielt, so fürchte ich, es gefällt ihr so gut, daß sie bleibt, bis es hell wird: so geraten wir alle in Schmach und Schande." Obgleich, wie der Dichter versichert, "Brangänes Absichten rein und gut waren", bleibt die Königin besorgt.

Sie sorgte sich und fürchtete sehr, daß Brangäne, wenn sie sich in Marke verliebt hätte, ihm ihre Schmach mitteilte und die Geschichte, wie sie sich zugetragen hatte. Die besorgte Königin zeigte dabei, daß man Schmach und Schande mehr fürchtet als Gott.

Isolde ist nun nicht zimperlich. In der Beziehung zu ihrer Geschlechtsgenossin zeigt sie sich von einer ihrer gefährlichsten Seiten. Sie will Brangäne töten lassen. Aber die zwei mit dem Mord beauftragten Knappen haben Mitleid. Sie lassen das Mädchen leben und täuschen die Königin mit falschen Beweisstücken. Damit retten sie außer Brangänes schließlich auch ihr eigenes Leben. Denn bei ihrer Vollzugsmeldung will Isot von keinem Mordauftrag mehr wissen und fordert von den Knappen bei Todesstrafe die lebendige Brangäne zurück, die dann auch wohlbehalten herbeigeschafft werden kann und Isolde alsbald den Anschlag auf ihr Leben verzeiht. Nach diesem Zwischenfall sind die beiden jungen Frauen erst recht gute Freundinnen. Unterdessen hält sich Isolde gut als Königin. Sie wird bewundert, verehrt und von Marke nach der abwechslungsreichen Hochzeitsnacht auch ohne Liebestrank abgöttisch geliebt. Das hindert ihn allerdings nicht, seine Gattin einem unverschämten Rabauken feige auszuliefern, gegen dessen Herausforderung niemand antreten mochte. Zum Glück kommt Tristan in letzter Sekunde, kann den frechen Entführer noch einholen und Isolde dem Gatten und König zurückbringen.

Ob sie unterwegs irgendwo miteinander glücklich waren und auf einer Wiese Rast machten, darüber will ich keine Vermutungen anstellen. Ich für meinen Teil werde Vermutungen und Mutmaßungen beiseite lassen.

Marke hat seine Gattin also zum zweiten Mal aus den Händen Tristans erhalten. Dieser aber nimmt sich seinen Teil. Des Nachts, wenn alle schlafen, schleicht Tristan heimlich zu Isolde. Lange Zeit geht alles gut. Er behält das Vertrauen Markes, obgleich viele Höflinge weiterhin gegen Tristan arbeiten. Er wird ein Opfer nicht seiner Feinde, sondern seines Freundes Marjado, eines Schlafzimmergenossen, des Königs Truchsess, mit dem er bis zum Einschlafen spät in der Nacht Gespräche führt. "Gott beschütze mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden will ich mich wohl selbst in acht nehmen"' Marjado hatte einen guten Schlaf, aber auch der beste Schlaf kann einmal von einem bösen Traum gestört sein. Der erwachte Freund findet das Bett neben sich leer, findet auch eine Spur, schleicht hinterher, erspäht den Grund der Abwesenheit, stellt sich bei Tristans heimlicher Rückkehr schlafend, fühlt sich aber in der Freundschaft gekränkt und berichtet dem König nicht etwa von seiner Entdeckung, sondern von angeblich üblen Gerüchten am Hofe. Nun sind Zweifel und Argwohn geweckt, und wir hören einen sehr interessanten, bedenkenswerten Exkurs über deren zerstörerische Wirkungen.

Was kann auch die Liebe mehr gefährden als Zweifel und Argwohn? Was bedroht die Gefühle eines Liebenden so sehr wie der Zweifel? Dabei weiß der Liebende nicht, wohin er soll. Denn jetzt würde er schwören, wenn er durch einen unglücklichen Zufall etwas hört oder sieht, er sei am Ende. Noch im selben Augenblick wendet es sich ins Gegenteil. Sieht er etwas, das ihn zweifeln läßt, dann wird er aufs Neue verwirrt. Auch wenn es die ganze Welt tut, so ist es sehr unklug und sehr töricht, daß man an der Liebe zweifelt. Denn keiner liebt wirklich den anderen, an dem er zweifeln muß. Es ist aber noch schlechter, wenn Zweifel und Vermutungen zur Gewißheit werden. Wenn das erreicht ist, daß der Zweifel zur Wahrheit geworden ist, dann sind die vorangegangenen Bemühungen um die Wahrheit weniger schmerzvoll als die Gewißheit. Die beiden früheren Sorgen, die ihm vorher Kummer bereitet hatten, erschienen ihm dann geradezu gut. Könnte er sie wieder zurückholen, würde er Zweifel und Verdacht in Kauf nehmen, damit er die Wahrheit niemals erführe. So kommt es, daß Böses wieder Böses hervorbringt, bis noch Schlimmeres kommt. Wenn dies dann schlimmer wirkt, so erscheint das Böse gut. Wie schmerzlich auch Zweifel in der Liebe ist, so ist er doch nicht so schmerzlich, daß man ihn nicht eher und besser ertragen könnte, als den durch die Wahrheit entstandenen Haß. Auch kann das niemand bestreiten, daß die Liebe Zweifel hervorbringen muß. Zur Liebe gehört Zweifel, ihn muß sie überwinden. Solange sie den Zweifel hat, kann sie gerettet werden. Wenn sie die Wahrheit erkennt, dann ist sie zerstört.

Nun stellt der König seiner Frau die raffiniertesten Fallen, die er sich mit Marjado ausdenkt, dem daran gelegen ist, daß Marke die Wahrheit erfährt. Marke wird jetzt zum Prototyp des liebevollen Quälgeistes. Um aus Isoldes Antworten Schlüsse zu ziehen, führt er Unterhaltungen, die immer irgendwie Tristan betreffen. Diese Gespräche finden auch nachts während der ehelichen Zärtlichkeiten statt. Dieses Ehebett muß die Hölle gewesen sein. Isolde ihrerseits wird beraten und in ihren Bemühungen unterstützt durch die Freundin Brangäne, die aus ihrer Erfahrung mit Marke ja auch ganz gut einschätzen kann, wie man ihn täuschen muß. Isots stärkste Waffe sind die Tränen.

Sie begann so bitterlich zu klagen und zu weinen, daß sie dadurch dem gutgläubigen Mann alle seine Zweifel nahm und er geschworen hätte, daß ihr Kummer von Herzen kam. Denn in allen Damen ist nicht mehr Bosheit als das, was sie aussprechen. Sie sind weder betrügerisch noch falsch, außer daß sie weinen können ohne wirklichen Grund, so oft es ihnen gut erscheint.

Einmal gehen Tristan und Isot beinahe in eine Falle. Sie haben einen geheimen Treffpunkt im Garten, aber Merlot, der Zwerg und Wahrsager des Königs, ist ihnen auf die Schliche gekommen. Nun sitzen der König und Merlot oben im Baum. Wie üblich ist Tristan als erster dort und gibt mit einer Art Flaschenpost das geheime Zeichen für die wartende Isolde. Dann entdeckt Tristan die Aufpasser, kann aber Isolde nicht mehr warnen. Sie kommt, erkennt jedoch, bevor ein Wort gesprochen wird, aus seinem veränderten Benehmen, daß sie in Gefahr sind. Nun vollbringen die beiden geistesgegenwärtig und einfallsreich ein solches Meisterwerk der Verstellung, daß sie Marke wieder einmal von ihrer Unschuld überzeugen. Sie vertrauen in dieser hochgefährlichen Situation nicht nur auf ihren Verstand, sondern auch auf Gott den Herrn, dessen Schutz sie sich beide, jeder für sich, unterstellen. Tristan betet still für sich:

Gott und Herr, nimm uns beide durch Deine Güte in Deinen Schutz! Bewahre Isot auf diesem Weg, lenke ihre Schritte. Warne die vollkommene Isot mit irgendetwas vor diesem bösartigen Hinterhalt, den man uns beiden gelegt hat, bevor sie irgendetwas spricht oder macht, das schlecht ausgelegt werden könnte.

Ja, Gott und Herr, erbarme Dich über sie und über mich! Unser Ansehen und unser Leben stehen heute nacht in Deinem Schutz!

Isolde findet, ebenfalls still für sich, ähnliche, nur kürzere Worte:

Beschütze uns, Gott und Herr! Hilf uns, daß wir mit Anstand von hier fortkommen. Herr, bewahre Tristan und mich.

Die Hilfe Gottes wird Isolde denn auch in jener anderen äußersten Gefahr zuteil, in der Gott selbst das entscheidende Wort über Isoldes wieder einmal in Frage gestellte Unschuld sprechen soll. Die Höflinge haben ein Gerichtsverfahren in Gang gebracht, Isolde soll sich freischwören, und das glühende Eisen soll dabei ihre Schuld oder Unschuld erweisen. Nun gelingt es ihr, mit einem tollkühnen Wagnis alles so einzurichten, daß sie an der Anlegestelle des Schiffes von dem als verkleideter Pilger hierher bestellten Tristan an Land getragen wird. Sie weigert sich einfach, an diesem Schicksalstage in irgendjemand anderes Armen liegen zu wollen als in denen des zufällig anwesenden frommen Mannes. Nun sagt sie vor dem Gericht zu ihrem Gatten:

Kein Mann hat mich je erkannt, noch ist jemals, abgesehen von Euch, ein lebender Mann in meinen Armen noch bei mir gelegen außer demjenigen, für den ich diesen Eid nicht leisten kann und es bestreite, den Ihr mit eigenen Augen in meinen Armen gesehen habt, den armen Pilger. Gott und alle Heiligen, die es gibt, mögen mir bei dieser Entscheidung zu Glück und Heil verhelfen!

In dieser Weise schwört sie den Eid und trägt unverletzt das glühende Eisen. Dabei hilft ihr ein festes Gottvertrauen.

Sie begann ihre beiden Sorgen dem gnädigen Christus zu überlassen, der in der Not hilfreich ist. Ihm befahl sie inständig mit Gebeten und Fasten ihre ganze Angst und Not ... Nun hatte Isot Leben und Ehre völlig Gottes Gnade anheim gegeben. Sie bot furchtsam ihr Herz und Ihre Hand, wie es von ihr verlangt wurde, dem Eid auf das Heiligtum. Beides Herz und Hand ergab sie in Gottes Segen zu bewahrendem Schutz.

Wieder einmal haben die Liebenden eine Zeitlang Ruhe, müssen sich aber mehr zusammennehmen als je zuvor. Sie lernen, sich mit wenigen günstigen Gelegenheiten zu begnügen, und machen die Erfahrung, daß im Falle äußerer Hindernisse notfalls schon der Gedanke, die Phantasie, die bloße Vorstellung einer Vereinigung Befriedigung verschaffen kann.

Als die Verliebten, Isot und Tristan, keine Gelegenheit finden konnten, begnügten sie sich mit der gemeinsamen Absicht. Die Absicht schlich zwischen ihnen lieblich und angenehm mit großem Eifer hin und her: Gemeinsame Zuneigung, gemeinsame Absicht erschienen ihnen angenehm und gut.

Durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf gewisse innere Realitäten kann man in der Tat Schmerz wie Lust in ihrem ganzen Reichtum voll erleben, ohne dabei einen einzigen Muskel mehr als höchstens andeutungsweise zu bewegen. Auch kann man innerlich irgendwo anders sein und der äußeren Wirklichkeit nur die für das einwandfreie Funktionieren unbedingt erforderliche Aufmerksamkeit schenken.

Gleichwohl, der Frieden hält nicht lange vor. Es nützt alles nichts.

Nun ist aber der Argwohn in der Liebe und sein Samen so beschaffen, daß er, wo er hingeworfen wird und Wurzeln schlägt, so fruchtbar, ertragreich und widerstandsfähig ist, daß er nicht vergeht, solange er keine Feuchtigkeit hat, und auch niemals vergehen kann. Der eifrige Argwohn begann aber sogleich um Tristan und Isot zu wuchern und zu sprießen.

Der König, "wie zornig er auch war, so liebte er doch seine geliebte Frau mehr als sein eigenes Leben." Schließlich hält er die Situation nicht mehr aus, wirft gewissermaßen das Handtuch. Der Ehemann kapituliert vor der stärkeren heimlichen Liebe.

Faßt einander an den Händen und verlaßt mir Hof und Land. Soll mir Kummer von Euch zugefügt werden, so will ich ihn weder hören noch sehen. Die Gemeinschaft zwischen uns dreien kann nicht länger bestehen. Ich will Euch zwei zusammen lassen und will allein aus ihr fortgehen, wie immer ich mich aus ihr löse. Diese Gemeinschaft ist schlecht, ich will gern auf sie verzichten. Ein König, der wissentlich in der Liebe Gesellschaft hat, ist ein großer Tölpel. Geht Ihr beide mit Gott, lebt Eurer Zuneigung und Euer Leben, wie Ihr wollt, diese Gemeinschaft hört auf!

Nun haben Tristan und Isolde ihre schönste gemeinsame Zeit. Sie wird in den herrlichsten Farben und Tönen ausgemalt und ausgeschmückt. "Es war . . . nichts so klar und rein wie ihr Spiel miteinander. Sie verbrachten die Zeit der Liebe so schön wie nie Liebende zuvor: sie taten nur das, was ihnen ihr Herz eingab." Auch in der jetzigen Situation entpuppt sich Gott als Förderer der Liebe, denn er läßt das Wunder geschehen, daß die beiden für Wochen und Monate außer ihrer stets neuen Liebe keine andere Nahrung brauchen.

Sie sahen beide einander an, damit ernährten sie sich. Die Frucht, die das Auge hervorbrachte, war ihr beider Nahrung. Sie aßen davon nichts anderes als Zuneigung und Liebe. Das liebevolle Zusammenleben war ihre Nahrung mit wenig Kummer. Sie trugen unter ihrer Kleidung verborgen den besten Lebensunterhalt, den man in der Welt haben kann. Er bot sich ihnen umsonst an und stets neu und frisch. Das war die reine Treue. Die balsamische Liebe, die auf Leib und Sinne zutiefst angenehm wirkt und das Herz und die Gesinnung anfeuert, war ihre beste Nahrung.

Freilich, viele sagen, "zu solchem Spiel gehöre andere Speise auch dazu."

Ich weiß nicht genau, ob das der Fall ist. Mir scheint es zu genügen. Gibt es aber jemand, der eine bessere Nahrung bei dieser Lebensweise entdeckt hat, der sage, wie er es weiß. Ich habe auch einmal ein solches Leben geführt; mir schien es damals zu genügen.

Aber auch dieses Glück währt nicht ewig. Jäger stören ihren Frieden. Die Liebenden hören von Ferne den Lärm und wissen, daß man sie entdecken wird. Wieder erfinden sie mit unglaublicher Verwegenheit die kühnste aller Listen. Sie schaffen eine Situation, in der sie nicht reden, sich nicht mit Worten verteidigen brauchen und die den König zunächst einmal so verwirren wird, daß es ihm die Sprache verschlägt und er nur noch beten kann. Sie legen sich zu Bett, aber mit gehörigem Abstand und durch ein blankes Schwert getrennt, und so schlafen sie auch tatsächlich ein. Der Jagdmeister entdeckt sie als erster, und dieser holt den König.

Er erkannte den Neffen und die Gattin: sein Herz in ihm und sein ganzer Leib wurden vor Schmerz und auch vor Zuneigung kalt. Daß sie voneinander entfernt lagen, war ihm angenehm und schmerzlich: angenehm meine ich wegen der Hoffnung, sie seien ohne Schuld; schmerzlich meine ich, weil er unsicher wurde. In seinem Herzen sprach er: "Gnädiger Gott, was soll das bedeuten? Ist zwischen ihnen das geschehen, was ich lange erwartet habe, warum liegen sie dann so? Eine Frau soll doch in den Armen des geliebten Mannes eng an seiner Seite liegen: warum liegen diese Liebenden so?

Nachdem er diskret das Fensterchen verdunkelt und von außen gut getarnt hat, entfernt er sich mit zweifelndem Herzen. Dem von ihm einberufenen Kronrat trägt er den Fall vor und versichert, er sei von der Unschuld überzeugt. Man rät, er solle den beiden die Versöhnung anbieten, "weil er da nichts entdeckt hatte, was gegen die Ehre verstieß, und er nie mehr etwas Schlechtes von ihnen annehmen würde."

Nach der Rückkehr an den Hof geht es wieder eine Zeitlang einigermaßen gut. Der Dichter schaltet hier einen tiefsinnigen Exkurs über die Wahrheitsliebe und die Täuschungsbereitschaft des Liebenden ein. Freilich gibt es in diesem Roman keine Ovid-Zitate, aber wir dürfen annehmen, daß der im französischen Humanismus des 12. Jahrhunderts gebildete Dichter auch den tiefsinnigen Vers falli muneris instar` ("Täuschung als Geschenk") aus Ovids unten analysiertem Gedicht gekannt hat.4

Das war die einfältige herzlose Blindheit, von der ein Sprichwort sagt: "Die Blindheit der Liebe macht äußerlich und innerlich blind. Sie macht Augen und Verstand blind. Was sie genau sehen, das wollen sie nicht sehen." So war es Marke ergangen: Er wußte es so sicher wie den Tod und sah es genau, daß seine Frau Isot mit ihrem Herzen und ihrem Verstand völlig nach Tristans Liebe strebte, und er wollte es dennoch nicht wahrhaben. Wem kann man nun die Schuld geben für das ehrlose Leben, das Marke mit ihr führte? Denn in Wahrheit würde derjenige falsch handeln, der Isot Betrug vorwerfen würde: weder sie noch Tristan betrogen ihn. Marke sah es doch mit eigenen Augen und wußte hinreichend, auch ohne es zu sehen, daß sie ihn liebte. Dennoch liebte er sie ... viele sind mit Blindheit so geschlagen, daß sie nicht wahrhaben wollen, was ihnen vor Augen liegt und das für Lügen halten, was sie genau wissen und was sie sehen. Wer kann etwas für diese Blindheit? ... Damit aber die Rede beendet sei: er war so gern mit ihr zusammen, daß er alles übersah, was sie ihm an Leid zufügte.

Die Rede ist aber noch nicht zu Ende, sie geht auf nochmals erweitertem Themenfelde weiter. Es geht jetzt um die allgemeine Frage, wie man sich zu Rivalen stellt. Ovid hatte als höchste aller seiner Weisheiten geraten, ihn geduldig zu ertragen: 'Rivalem patienter habe'. Gottfried geht nicht ganz so weit, aber er wendet sich entschieden gegen die "verwünschte Bewachung, die Feindin der Liebe". Je mehr man Liebende bewacht, desto enger bindet man sie aneinander. Je größer das Hindernis, desto heißer die Liebe. Auch all dies ist bei Ovid schönstens ausgeführt. Bewachung verdirbt eine Frau "in ihrer Ehre und in ihrer Gesinnung".

Deshalb soll ein kluger Mann oder jeder, der der Frau ihr Ansehen gönnt, ihre gute Gesinnung in ihren persönlichen Angelegenheiten nicht bewachen, sondern nur lenken und leiten, sie liebevoll und gütig behandeln: dadurch soll er sie beschützen. Er soll wissen, daß er sie in Wahrheit nicht besser schützen und bewachen kann. Denn ob sie gut oder schlecht ist, wenn ihr jemand zu großes Unrecht zufügt, fällt ihr leicht etwas ein, auf das man gerne verzichten kann. Somit soll jeder rechtschaffene Mann und derjenige, der überhaupt eine männliche Gesinnung sich erworben hat, seiner Frau und auch sich selbst vertrauen, daß sie alles, was das richtige Maß übersteigt, aus Rücksicht auf seine Zuneigung unterläßt.

Nun, König Marke hat nicht solches Format. Er setzt seine Hoffnung aufs Bewachen, um damit schließlich eine für Isolde nicht länger aushaltbare Situation zu schaffen. Als ihr alle Möglichkeiten der heimlichen Liebe verbaut sind, gibt sie sich in einer Flucht nach vorn geschlagen, riskiert die Entdeckung, die Tristan zum Fliehen zwingen und die endgültige Trennung der Liebenden verursachen wird.

Das letzte Blatt der Geschichte der leidenschaftlichen, verzweifelten, unglücklichen Liebe wird aufgeschlagen. Isolde, die in der Nähe mit dem liebenden Quälgeist Marke schließlich auch am meisten auszuhalten hatte, gibt als erste die gewohnte Vorsicht auf. Am hellen Tage, zur Mittagsstunde, läßt sie an einen allerdings schattigen Platz ihres Gartens ein Bett bringen und "prächtig und schön herrichten", legt sich "in ihrem Hemd hinein", schickt Brangäne fort und läßt Tristan kommen. Bald naht der König, läßt sich durch Brangäne auch nicht lange zurückhalten und findet Frau und Neffen "eng umschlungen, ihre Wange an seiner Wange, ihr Mund an seinem Mund.... Tristan und die Königin schliefen ganz friedlich nach, ich weiß nicht, welcher Tätigkeit". Der diskrete Dichter schaltet an dieser delikaten, dramatischen, spannenden Stelle einen weiteren, letzten Exkurs über Gewißheit, Verdacht und Zweifel ein, den er mit einer abschließenden persönlichen Stellungnahme verbindet. "In Wahrheit glaube ich aber, ein Vermuten hätte ihm da viel besser getan als ein Wissen!'

Nun ist die Geschichte schnell am Ende. Wortlos geht der König fort, um Zeugen zu holen. Unterdessen kann Tristan, der ihn weggehen sah, nach einem wechselseitigen Treueschwur entkommen. Die mit dem König eintreffenden Zeugen finden nur Isolde und machen dem König Vorwürfe:

Herr, Ihr tut großes Unrecht Eurer Frau und Eurer Ehre, daß Ihr sie so oft zu schmachvoller Beschuldigung zieht und zerrt, völlig grundlos und wegen nichts. Ihr haßt Ehre und Frau und am meisten Euch selbst. Wie könnt Ihr jemals froh werden, solange Ihr Eure Freude so an Eurer Frau herabsetzt und sie bei Hof und im Land ins Gerede bringt, solange Ihr an ihr nichts gefunden habt, was gegen ihre Ehre gehen könnte. Was werft Ihr der Königin vor? Warum entehrt Ihr sie, die Euch nie entehrt hat? Herr, um Eures Ansehens Willen, macht das niemals mehr: vermeidet eine solche Schmach um Eurer selbst und um Gottes Willen.

Der König gibt nach, läßt ab von seinem Zorn, verzichtet auf Rache, und es scheint so, als könne die Ehe nun fortgesetzt werden. Die Ehe triumphiert sogar über die durch unglückseligen Zauber gestiftete Liebe. Ein schlimmes Ende.

Tristan sucht seinerseits sein Glück und Unglück in einer verlogenen Ehe, mit einer anderen, gleichfalls wegen Schönheit und Bildung vielgerühmten Isolde. Natürlich wird es eine unglückliche Ehe. "Das Mädchen Isot hatte ihre Sehnsucht, ihre Treue und ihre Aufrichtigkeit ungeteilt Tristan zugewandt: sie begehrte den, der sich von ihr zurückzog, und verfolgte den, der vor ihr floh. Das war seine Schuld, sie war betrogen." Er denkt unablässig an die erste, die eigentliche, heimliche Isolde. Am Ende sind es bittere Gedanken, Gedanken der Enttäuschung. Denn er glaubt, Isolde sei ihm treulos geworden,. sie hätte von sich hören lassen können. Damit endet der Bericht. Auch der Leser wird über Isoldes Schicksal nichts weiter erfahren. Stirbt sie? Oder lebt sie weiter mit Marke, dem königlichen Gatten? Das wäre eine Möglicheit: Die Liebe ist tot. Es lebe die unglückliche Ehe. Was könnte es Christlicheres geben? Aber was wird das für ein Leben sein, das Marke und Isolde dann führen? Das Ende ist also offen. Vielleicht gehen sie unter. Vielleicht finden sie zur "christlichen Ehe".

Gottfried macht es also den Beurteilern und Verurteilern seiner Dichtung durch deren "offenes Ende" nicht ganz so klar und einfach, wie es nach den Worten von Edmond Vermeil erscheinen könnte: "Das 12. Jahrhundert hat der Ehe eine gewisse Verachtung entgegengebracht und sich darin gefallen, die unvernünftige Leidenschaft zu verherrlichen, die Leiden zufügt und die schlimmsten Verheerungen anrichtet. Es hat sich gegen das Sakrament aufgelehnt und die freie Liebe in jeglicher Form, Konkubinat und Ehebruch gepriesen. Seine verzehrende Glut war einem Gott geweiht, den die Kirche von Grund auf verdammt. Ein gleichsam angeborenes oder ererbtes Heidentum lebte so in den Seelen weiter und glühte unter der Asche der Leidenschaften fort, die eine jahrhundertelange Christianisierung nur scheinbar besänftigt hatte."5

Es scheint so, als würde für Isolde schon gelten können, was Jacob Burckhardt in der "Kultur der Renaissance" über Frauengestalten des italienischen Quattro- und Cinquecento zu sagen weiß, über eine Weiblichkeit nämlich, "die im Bewußtsein ihrer Energie, ihrer Schönheit und einer gefährlichen, schicksalsvollen Gegenwart" steht, etwas, "das unserem Jahrhundert wie Schamlosigkeit vorkommt", weil wir uns "die mächtigen Persönlichkeiten der dominierenden Frauen nicht mehr vorstellen können.6

Für Denis de Rougemont7 ist das Tristanmotiv der Angelpunkt auch aller künftigen Verwirrungen der abendländischen Gemüter. Seine große Untersuchung zur Wirkungsgeschichte des Mythos der leidenschaftlichen Liebe endet mit einer neuen Erlösungslehre: Eros müsse durch Agape erlöst werden8. In der Treue, die als eine Art Werktreue gegen sich selbst verstanden wird, gründet die "Person": "Ich sage, eine solche Treue gründe die Person. Denn die Person offenbart sich wie ein Werk im weitesten Sinne des Wortes. Sie wird aufgebaut wie ein Werk ... Person, Werk und Treue: Diese drei Wörter sind weder voneinander zu trennen noch gesondert faßbar. Und alle drei setzen einen gefaßten Entschluß voraus, eine schöpferische Grundhaltung." Die Treue erst bringt Sinn in das Dasein: "So führt das Treueversprechen in das bescheidenste Leben eine Chance ein, ein Werk zu vollbringen und sich auf die Ebene der Person zu erheben. ... Jedes Leben, und sei es auch das allerärmste, enthält eine unmittelbare Möglichkeit zur Größe, und in der 'absurden' Treue kann sie realisiert werden." Eine solche "optimistische" oder "idealistische" Auffassung, der wir im nächsten Kapitel (Cinderella) noch weiter nachgehen werden, steht bei mehr realistischen, vielleicht auch mehr sachkundigen Autoren im verdacht der Korruption. "Gäbe es eine soziale Organisation, die die Einmaligkeit von Liebesbeziehungen, die Beständigkeit des Familienlebens und den Verzicht auf jegliche Begehrlichkeit außerhalb der Legitimität förderte, so wäre es evident, daß eine solche Organisation aus der Weitergabe und Entwicklung dieser Phantasmen ihren Nutzen zöge."9

Anmerkungen

1. Joseph Bedier: Tristan und Isolde (1979). Diese, also die moderne, mehr an Thomas de Bretagne als an Gottfried von Straßburg orientierte Romanfassung liegt der Tristan-Interpretation zugrunde, die kürzlich Sudhir Kakar und John Ross vorgelegt haben, vgl. S. Kakar/J. Ross: Über die Liebe und die Abgründe des Gefühls (1986).
2. Gottfried von Straßburg: Tristan. Übersetzt von Xenja Ertzdorff, Doris Scholz und Carola Voelkel (1979). In dieser Form ist der Roman Gottfrieds gut leserlich, leicht zugänglich und darum populär geworden. Vgl. nunmehr aber auch die neue "zweisprachige" Reclamausgabe, also Gottfried von Straßburg: Tristan. Text mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch, übersetzt von Rüdiger Krohn, 2 Bände (1985). Sie ist insgesamt wohl noch zuverlässiger, wurde auch zur Kontrolle der hier durchweg nach der zuerst genannten Übersetzung angeführten Zitate herangezogen. - Die besonderen Akzente auf einigen Namen, z.B. Isöt, wurden aus satztechnischen Gründen weggelassen - in einer nicht primär philologisch orientierten Studie ausnahmsweise wohl vertretbar.
3. Denis de Rougemont: L'amour et 1'occident (1939); deutsch: Die Liebe und das Abendland (1987).
4. Vgl. unten im 9. Kapitel (Corinna).
5. Edmond Vermeil: "Revolutionäre Hintergründe in Goethes Faust".
6. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. S. 197 der von mir benutzten Ausgabe Frankfurt (Büchergilde Gutenberg) 1956, im Kapitel "Die Geselligkeit und die Feste".
7. Vgl. Anm. 3
8. Über die Relation Eros-Agape und den Topos der Erlösung des Eros durch die Agape vgl. auch die philosophische Studie von Marie O. Metral: Die Ehe. Analyse einer Institution (1981).
9. Lucien Israel: Die unerhörte Botschaft der Hysterie (1983). Dieses Zitat steht stellvertretend für eine Reihe kritischer Äußerungen, die unter anderem auch den Verwertungsaspekt des Eheunglücks thematisieren, also Eheunglück und Ehescheidung als Einnahmequelle für alle möglichen Dienstleistungsberufe (Juristen, Ärzte, Therapeuten, Heiratsvermittler, Freizeitindustrie, Produzenten und Verteiler von Alkohol, Nikotin und sonstigen Drogen und schließlich die verschiedenen tröstenden Gewerbe). Israel meint es aber wohl in dem tieferen Sinne, daß die Existenz einer ganzen, und zwar einer beinahe weltbeherrschenden Institution "aus der Weitergabe und Entwicklung dieser Phantasmen" ihren Nutzen zieht und deshalb alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen muß, die Menschen weiterhin zur Ehe zu motivieren und notfalls auch zur Ehe zu zwingen. Der daraus entstehende gesamtgesellschaftliche Schaden (Neurosen, psychosomatische Leiden, Drogenabhängigkeit, körperlicher und seelischer Verfall, gesteigerte Aggressivität, Mißhandlung von Familienangehörigen oder Surrogaten und schließlich der alltägliche Mord und Totschlag in den Familien) geht ins Unermeßliche. So zahlen wir alle als Opfer für die zerstörerischen Lebensbedingungen, an denen wir andererseits als Dienstleister und Unternehmer der verschiedenen Branchen der Folgenverarbeitung profitieren.

Aus: Hans Erich Troje, "Gestohlene Liebe - zum Problem der Rettung der Ehe", Stuttgart 1988, Kapitel "Penelope" S. 45-62. Eine Taschenbuchausgabe dieses Buches (Stuttgart 1992) wird von "Berliner Buchdienst", Littenstraße 106/107, 10179 Berlin unter Best. Nr. 92405 für 4.90 Euro angeboten. E-Mail: berliner.buchdienst@freenet.de.


[Zurück] [Glaube]
Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee