"Verjage die Zweifel"

Über Wahrheit, Lüge und Verführbarkeit bei Catull, Ovid und Mozart

Hans Erich Troje

- Durchgesehene und korrigierte Fassung, Mai 2001 -

Die Römer, die eine Sprache für das Recht, die "Bibel des Egoismus" (Heine), früh entwickelt hatten, tun sich schwer mit dem Gedicht. Lukrez ringt mit der Sprache, klagt über die Unübersetzbarkeit der Botschaft Epikurs. Und dann war die Sprache, als die Dichter dichten wollten, schon zur großen Lüge verkommen. Die Republik, die res publica, ging unter und mit ihr civitas, deus, religio, fides, ius, fas, salus, lex und vieles andere. Pietas, officium, virtus waren leere Worte, ohne jede Wirklichkeit. Sie wurden nur noch lügenhaft beschworen, in einer Weise benutzt, die der alte, seinerzeit sinnstiftende und seinerzeit wirklichkeitsbezogene Kontext nicht erlaubte. Der Abgrund zwischen Wort und Wirklichkeit war vollkommen. Meister dieses lügenhaften Sprachgebrauchs ist der große Caesar, in jeder Zeile seiner Schriften, insbesondere auch dann, wenn er sich zur Begründung seines entscheidenden Schrittes am Rubikon auf dignitas beruft, also auf einen der wichtigsten Werte, die er selbst längst nicht mehr respektierte und jetzt, im Überschreiten des Rubikon, endgültig zu vernichten unternimmt. Catull, größter Dichter seiner Zeit, will nichts mit dieser Welt der Korruption und Lüge gemein haben, will nichts tun, dem Diktator zu gefallen: "Nil nimium studeo Caesar tibi velle placere / Nec scire utrum sis albus an ater homo" - Nichts, aber auch gar nichts unternehme ich, Caesar, um Dir zu gefallen und um zu wissen, ob Du ein Weißer oder Schwarzer bist.

Schneidender, verächtlicher, vernichtender, grausamer kann man es nicht sagen. Aber diese völlige Abwendung, wohl auch von manchen "alten Freunden", ist unvermeidlich. In dieser entscheidenden Lebens- und Überlebensfrage ist jeder Kompromiß tödlich. Wird man einmal weich, tut man einmal dem Starken oder Schwachen den geforderten oder erflehten kleinen Gefallen, ist die Glaubwürdigkeit doppelt verloren, ist die ganze übrige Anstrengung umsonst gewesen, ist das Stück Neuland wieder untergegangen, die Hoffnung vollends dahin. So unternimmt Catull seinen Versuch der Neubegründung von Werten allein aus der Authentizität des persönlichen Fühlens. Alles andere zählt nicht. Das ist die denkbar größte Verachtung, die unbeugsamste Entschlossenheit, die hartnäckigste, unerbittlichste Kampfansage gegen die Werte der Korruption. Allein aus der Authentizität des persönlichen Fühlens lassen sich neue Standards von Wissen und Wahrheit begründen. Catull sucht und findet sie nicht mehr im öffentlichen Leben, sondern nur in der "privaten" Beziehung von (meist) Mann und Frau als der Grundlage der Glaubwürdigkeit des augenblicklichen Erlebens. Allein die augenblicklich wahre Beziehung ist Wirklichkeit, Wert und Ziel. Werte im Leben beurteilen sich nach denselben Standards wie Werte der Kunst: nur insoweit Glaubwürdiges, Authentisches gilt. Caesar bewunderte den Dichter, fürchtete ihn, ließ ihn leben und arbeiten trotz dessen "Nil nimium studeo".

Augustus zieht die Konsequenzen, unter Augustus werden Nägel mit Köpfen gemacht. Jetzt soll auch alle Kunst, unter den Dichtern vor allem Vergil, im Dienst der Verlogenheit, der Restauration des Niegewesenen und erst recht nicht Wiederherstellbaren stehen. Ovid, kein unerbittlicher Kämpfer, aber doch immerhin ein respektloser Spötter, manchmal sogar leiser Kritiker, wird verbannt.

Das große Thema Ovids ist die Verführbarkeit des Menschen: "Fasse zuerst im Geist das Vertrauen, du könntest sie alle / Fangen; dann fängst du sie auch".1) Alle sind verführbar, weil keiner der übrigen im Menschenleben zugänglichen Genüsse an die wechselseitig gegebenen und genommenen Freuden der Liebe ("mutua gaudia Veneris") auch nur von Ferne heranreicht. Die in der griechischen Mythologie zwischen Zeus und Hera diskutierte Frage nach der quantitativ größeren Genußfähigkeit, die Teiresias als ein zeitweise zweigeschlechtlicher Kenner dann der Frau zuschreibt, stellt sich für Ovid zum Glück nicht. Der Genuß ist qualitativ gleich und sei möglichst auch gleichzeitig: "ich hasse Zusammensein, das nicht beide erlöst".

Gemeinsam sollen sie zum Ziel streben, es gemeinsam erreichen. Das weibliche Verlangen freilich ist stärker, steiler, schroffer, wilder, in ihrer "libido" ist noch mehr "furor" als beim Mann, dessen "libido" etwas gemäßigter, aber immerhin noch "furiosa" ist. Freilich kann der Mann sein Begehren schlechter verbergen als die Frau.

Alle Frauen sind zu haben. Jedenfalls kann man es versuchen. Das Ablehnungsrisiko ist gering. Unter vielen Gebetenen sind wenig Abweisende. Auch die zunächst anders Eingeschätzten sind in der Regel schnell bereit. Die wenigen Ablehnenden freuen sich, immerhin gefragt worden zu sein. Die herkömmliche Rollenverteilung, nach der Männer um Liebe fragen und Frauen sich fragen lassen, ist reine Konvention und könnte auch anders sein; und: die Liebe gefällt beiden Geschlechtern. Im Kontext lautet die Stelle (I 269-282):

Prima tuae menti veniat fiducia, cunctas
Posse capi. capies, tu modo tende plagas.
Vere prius volucres taceant, aestate cicadae
Maenalius lepori det sua terga canis,
Femina quam iuveni blande temptata repugnet.
Haec quoque, quam poteris credere nolle, volet.
Utque viro furtiva venus, sic grata puellae:
Vir male dissimulat, tectius illa cupit.
Conveniat maribus, ne quam nos ante rogemus,
Femina iam partes victa rogantis agat.
Mollibus in pratis admugit femina tauro:
Femina cornipedi semper adhinnit equo.
Parcior in nobis nec tam furiosa libido.
Legitimum finem flamma virilis habet.
Fasse zuerst im Geist das Vertrauen, du könntest sie alle
Fangen; dann fängst du sie auch, wenn du die Fallen nur stellst.
Eher ja schweigen die Vögel im Lenz, im Sommer die Grillen,
Und vor dem Häslein flieht eher des Mänalus Hund,
Eh' ein Weib sich sträubt, wenn derJüngling schmeichelnd ihr nachstellt.
Sie auch, von welcher du nicht dachtest, sie wolle - sie will.
Und wie dem Mann der geheime Genuß, so gefällt er dem Mädchen.
Schlecht nur verstellt sich der Mann; jene verbirgt, was sie wünscht.
Würden wir Männer nur eins, niemals zuerst sie zu bitten,
Sicher, wir siegten: die Frau bäte von selber zuerst.
Brüllt auf grünenden Au'n doch die lüsterne Gattin den Stier an;
Zum starkhufigen Hengst wiehert die Gattin zuerst.
Ruhiger ist bei uns und nicht so heiß die Begierde,
Und ein gemessenes Ziel ist in der männlichen Glut.

Ovid hat die Liebe ("Venus") hier noch mit den Worten "furtiva" charakterisiert. Er spricht also von der heimlichen, "diebischen", verstohlenen Liebe. Die neue Lust ist willkommen. Ist es, daß man sich mehr am Fremden erfreuen kann als am Eigenen? Auch diese Stelle nun im Kontext (I 341-350):

Omnia feminea sunt ista libidine mota.
Acrior est nostra, plusque furoris habet.
Ergo age, ne dubita cunctas sperare puellas.
Vix erit e multis quae neget, una tibi.
Quae dant quaeque negant, gaudent tamen esse rogatae.
Ut iam fallaris, tuta repulsa tua est.
Sed cur fallaris, cum sit nova grata voluptas,
Et capiant animos plus aliena suis?
Fertilior seges est alienis semper in agris,
Vicinumque pecus grandius uber habet.
Alle die Taten, sie sind durch Weiberbegierde veranlaßt,
Der an Glut und Wut nimmer die unsrige gleicht.
Darum zweifle mir nie, du könntest nicht alle gewinnen.
Kaum aus der größesten Zahl schlägt es dir eine nur ab.
Doch ob sie nein, ob ja sie dir sagen: es freut sie die Bitte.
Täuschtest du wirklich dich auch: ohne Gefahr ist der Korb.
Doch, wie täuschtest du dich, da ein neuer Genuß so erwünscht ist,
Und da Fremdes den Sinn mehr als das Eigene reizt?
Sind fruchtbarer doch stets auf fremden Gefilde die Saaten,
Trägt doch des Nachbars Vieh voller die Euter daher.

Mozarts drei große italienische Opern atmen in der himmlischen Musik den Geist Ovids, wie ihn Lorenzo Da Ponte in den drei Libretti eingefangen und aufbewahrt hat. Ovids Botschaft hat, um auch musikalisch zu erklingen, gewissermaßen auf Mozart und Da Ponte gewartet, die ihrerseits ohne Ovid nicht die großen Opern hätten schaffen können. Mozarts Verführer sind in der Situation der Verkleidung, der Verstellung, der Täuschung weit inniger, glaubwürdiger, unwiderstehlicher als in der Situation der Echtheit, Offenheit, Aufrichtigkeit. Obwohl in der Versöhnungs- und Verhöhnungsszene zu Beginn des zweiten Teiles von Don Giovanni der Verführer und sein Diener sich über die gekränkte Donna Elvira doch nur lustig machen und sie durch ihr bodenlos freches Verstellungsspiel erst recht kränken und verletzen werden, beginnt doch eine Quelle zartester Liebestöne zu fließen, und es erklingt aus dem Munde des betrügerischen Spötters eines der schönsten Liebeslieder der Mozartopern. Ebenso lassen auch die "komisch" gemeinten schauerlichen Auftritte des versteinerten Komtur tatsächlich das Herz erschauern. Damit Susanna Figaro in der Rosenarie endlich einmal ihr Herz offenbaren kann, muß sie erst eine Situation der Täuschung herstellen. In der Verstellung kommt Echtes und Ernstes hervor, das in dieser Kunstform oft auch noch nach Generationen und Jahrhunderten zu Herzen geht, während die Stilmittel eines tiefernst gemeinten Stückes wie Wagners Tannhäuser nach kurzer Zeit schon abgenutzt sind.

Die Möglichkeit der Verführung, der Verstellung, der Wahrheit in der Lüge, des Echten in der Verstellungssituation ist nämlich nicht nur Thema von Cosi fan tutte, sondern auch der beiden vorangehenden italienischen Opern Le nozze di Figaro und Don Giovanni. Sie sind nie so aufgeführt worden, wie sie es verdienen. In der Kunst ist es so: Wir verstehen so viel, wie wir verstehen können. "Unser Auge sieht, was unser Geist liest" (Edgar Wind). In der Musik ist es nicht anders. Unser Ohr kann hören, was unser bewußter wie unbewußter Geist entziffern kann. Das Verständnis der Opern Mozarts verlangt, auch was die "bloße Musik" betrifft, die es nicht gibt, eine ganz genaue Kenntnis der Gehalte der Dichtung Da Pontes und der Dynamik der Szenen. Darüber hinaus braucht man auch gewisse Kenntnisse über die Künstler selbst. Da Ponte seinerseits ist faszinierend und unergründlich, seine Memoiren eine historisch-biographische Quelle von höchstem Rang. Wir beschränken uns hier auf den Komponisten, genauer auf einen Aspekt in seinem Leben, nämlich die Quälerei des Wunderkindes durch den verliebten Vater und die Entwicklung von Strategien, das Unaushaltbare zu ertragen: in der größten Verzweiflung die vom väterlichen Quälgeist geforderte Lustigkeit "glaubwürdig" präsentieren zu müssen. Wir suchen lediglich eine Erklärung dafür, daß sich bei Mozart allzuoft das Echte nur im Falschen zeigen kann: keine Theorie des Genies als solchem, sondern nur eines Momentes seiner Arbeitsweise.2)

Mozart hat die großen Opern in den letzten Lebensjahren geschaffen (Uraufführung Figaro l. Mai 1786; Don Giovanni 29. Oktober 1787; Cosi fan tutte 26. Januar 1790; Zauberflöte 30. September 1791). Er ist am 5. Dezember 1791 im sechsunddreißigsten Lebensjahr gestorben, aber es ist ein Wunder, daß er immerhin so alt wurde.

Daß die Anstrengungen, denen Leopold das Kind aussetzte, lebensgefährlich waren, haben offenbar "viele einsichtsvolle Personen" bemerkt und den Vater auch wissen lassen. Man hat aber anscheinend dieses "Produktionsverhältnis" zwischen Vater und Sohn - also die vom verliebten und dennoch eigennützigen Vater veranlaßte Überanstrengung des Sohnes nur als "Eigenschaft" des Kindes, als einen Konflikt zwischen seinem Geist und seinem Körper wahrnehmen und beschreiben können. In den ersten der erhaltenen Huldigungs-Gedichte auf das Mozartkind, von einem gewissen, nicht zuverlässig identifizierbaren "Puffendorf", anläßlich eines Konzertes in Wien am 25. Dezember 1762, heißt es: "Bewundrungswerthes Kind! ... / Du kannst in kurzer Zeit der gröste Meister werden. / Nur wünsch ich, daß Dein Leib der Seele Kraft aussteh, / Und nicht, wie Lübecks-Kind, zu früh zu Grabe geh." Zu "Lübecks-Kind" macht der Dichter selbst die folgende Anmerkung: "Dieses Wunder von einem gelehrten Kinde aus Lübeck, welches ganz Teutschland von sich reden gemacht, und in seinem sechsten Jahre viele Sprachen und Wissenschaften in seiner Gewalt hatte, starb nach etlichen Jahren, und bewiesen leyder mit seinem Beyspiel den Grundsatz: Fructus esse idem diuturnus ac praecox nequit."

Gefährlich lebten damals nun nicht nur überanstrengte Wunderkinder. Überall starben Kinder wie die Fliegen, mehr in armen, aber auch in reichen Häusern. Goethe hat fünf nach ihm geborene Geschwister überlebt. Die Wahrnehmungsschwelle für bewußte und unbewußte Schuldgefühle wegen der Vernachlässigung des Kindeswohls lag wohl allgemein ziemlich hoch. Aber in einem so krassen, extremen Falle wie dem Mozarts mag der Schwellenwert wohl auch bei Leopold Mozart überschritten worden sein. Man wird aus dem väterlichen Schuldgefühl, das Kind über Jahre aus Eigennutz in Todesgefahr gebracht zu haben, sowohl die übertriebene "Fürsorge" für den Erwachsenen wie die unleidliche Selbstgerechtigkeit erklären können, mit der Leopold diese Vorgänge in Erinnerung bringt. In einem Brief vom 16. Februar 1778 an Frau und Sohn in Mannheim hat er die Unverfrorenheit, das eigene frühere, letztlich doch selbstsüchtige Fehlverhalten dem Sohn jetzt als kindlichen Charakterfehler vorzuwerfen. Leopold will nämlich nicht sich selbst, sondern dem Sohn die Verantwortung dafür zuschieben, "daß viele Einsichtsvolle Personen in verschiedenen Ländern wegen dem zu frühe aufkäumenden Talente und Deiner immer ernsthaft nachdenckenden Gesichtsbildung für Dein langes Leben besorgt waren".

In seiner langen Eingabe an den Kaiser Joseph II. vom 21. September 1768 über Schwierigkeiten mit der Wiener Opernintendanz bezeichnet der Vater selbst seinen Sohn als das "arme Kind". Diesen Titel verdiente Mozart ganz sicher, hauptsächlich aber wegen der Behandlung durch seinen eigenen Vater, der von ihm immer ein bestimmtes, lobenswertes, vorführbares Verhalten erwartete. Obwohl die Geschichte der Kindheit bisher wenig erforscht ist, dürften doch aus dieser Zeit und aus ähnlichem Sozialmilieu wenig Fälle bekannt und insoweit nachweisbar sein, wo ein Vater seinem Sohn in ähnlich schrecklicher und quälender Weise bis weit ins Erwachsenenalter mit Lob und Tadel, mit Anteilnahme und "Fürsorge" wie mit Ansprüchen, Bitten und Forderungen im Nacken gesessen hat. Dabei ist der durch ständige Lobsprüche ausgeübte Terror wohl der schlimmste, weil man sich gegen ihn am schlechtesten zur Wehr setzen kann. So muß er wohl das Kleinkind und den Jungen traktiert haben. Den jungen Mann, der sich ablösen will und muß, bombardiert er mit Vorhaltungen und Vorwürfen. Die Briefe aus der Zeit der Brautwerbung und bis zur Hochzeit sind haarsträubend. Die nach der Hochzeit geschriebenen, die Constanze vernichtet hat, werden nicht viel anders gewesen sein. In der an einen autoritären Erziehungsstil wohl gewöhnten Zeit ist es doch einigen verständigen und einfühlsamen Zeitgenossen aufgefallen, was der Sohn von diesem Vater auszuhalten hatte. Wir hören unverhohlene Kritik daran in dem italienisch geführten Briefwechsel zwischen dem Komponisten Johann Adolf Hasse und Giovanni Maria Ortes vom Herbst 1769. Hasse liebte Mozart. Er beschreibt ihn (30. September 1769) als schön, lebhaft, graziös und voll guter Manieren. Es sei, wenn man ihn kennt, schwierig, ihn nicht zu lieben. Wenn er mit den Jahren noch die nötigen Fortschritte mache, werde er zweifellos ein Wunder sein. Das einzige, was zu befürchten sei: daß der Vater ihn zu sehr hätschelt und durch Beweihräuchern mit übertriebenen Lobsprüchen verdirbt. Auch als Vater und Sohn im März 1771 in Venedig sind, äußern Hasse und Ortes in ihrem recht offenherzigen Briefwechsel entschiedene Kritik am Vater. Hasse schreibt am 23. März 1771 aus Wien nach Venedig, daß der junge Mozart zweifellos für sein Alter wunderbar sei, daß er ihn unendlich liebe, daß aber der Vater ihn etwas zu sehr vergöttere und alles tue, was in seiner Kraft stehe, ihn zu verderben. Er aber habe eine so gute Meinung von der Veranlagung des Jungen, daß er hoffe, Mozart werde trotz der Lobhudelei seines Vaters ein braver Mensch werden ("ma io ho tanta buona opinione del naturale buon senso del ragazzo, che spero, che a dispetto degl'incensi del Padre non si guasterà ma diventerà un brav'uomo").

Daß Mozart körperlich klein, unauffällig, "unansehnlich" war, ist eine der wenigen wirklich gut gesicherten Tatsachen. Am krassesten sagt es vielleicht Ludwig Tieck, der 1789 als Sechzehnjähriger den dreiunddreißigjährigen Mozart sah, in seinen Erinnerungen von 1855: "Er war klein, rasch, beweglich und blöden Auges, eine unansehnliche Figur im grauen Überrock." Zur "äußeren Erscheinung" haben Maximilian Zenger und Otto Erich Deutsch in ihrem schönen Buche Mozart und seine Welt in zeitgenössischen Bildern ( 1961) im Einleitungstext einige Zeugnisse zusammengestellt. Es gibt aber natürlich noch viel mehr als die dort gesammelten. So schreibt zum Beispiel der Arzt Dr. Joseph Frank, der ein paar Klavierstunden bei Mozart hatte, in seinen Denkwürdigkeiten von 1852: "Mozart, ein kleiner Mann mit dickem Kopf und fleischigen Händen." Da das Körperbild den "Primärstatus" des Menschen bedingt, wird "Unansehnlichkeit" vom Selbst immer als Mangel, als Defizit erlebt. Freilich kann das Unzulänglichkeitsgefühl dann als Motivationsquelle für kompensatorische Leistungen ins Positive gewendet werden. Ohne sonst ein Anhänger der Anthropologie Arnold Gehlens zu sein, wird man das für Mozart annehmen dürfen. Es ist unter anderem belegt durch den Brief an den Vater aus Mannheim vom 31. Oktober 1777: "ich habe geglaubt ich kan das lachen nicht enthalten wenn man mich den leüten vorgestellet hat. einige, die mich per Renomé gekant haben, waren sehr höflich, und voll achtung. einige aber, die weiter nichts von mir wissen, haben mich gros angesehen, aber auch so gewis lächerlich. sie dencken sich halt, weil ich klein und jung bin, so kann nichts grosses und altes hinter mir stecken; sie werden es aber bald erfahren." Als endlich verheirateter Mann hat er dann im ersten Ehejahr mit dem Gegensatz zwischen Ruhm und Unansehnlichkeit auch kokettieren können, z. B. in dem fröhlichen Brief an die Baronin Waldstätten am 2.Oktober 1782, den er mit "Mozart magnus, corpore parvus" (Mozart der Große, von kleinem Körper) unterschrieb.

Auch Mozarts Wachstumsstörung wird nicht etwa dem für die Torturen der Kindheit schließlich verantwortlichen Vater, sondern ihm selbst, seiner "frühen Geistesanstrengung" zugeschrieben. So liest man in Mozarts erster Biographie, in Franz Xaver Peter Niemetscheks Leben der K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart: "Die Körperbildung dieses außerordentlichen Menschen hatte nichts Auszeichnendes; er war klein und sein Angesicht, wenn man das große feurige Auge ausnimmt, kündigte die Größe seines Genies nicht an. Der Blick schien unstet und zerstreut, außer wenn er bey dem Klavier saß; da änderte sich sein ganzes Antlitz! --- Das Unansehnliche in seinem Äußeren, der kleine Wuchs seines Körpers kam von seiner frühen Geistesanstrengung her und von dem Mangel an freyer Bewegung in der Zeit seiner Kindheit." In Nissens Biographie von 1828 liest man, "dass sein Geist sich auf Kosten des Leiblichen ausbildete".

Das Motiv vom großen Geist im kleinen Körper, vom Gegensatz zwischen "äußerer Erscheinung" und "innerem Wesen" übernimmt Mozart selbst in abgewandelter Form bei der bekannten Darstellung der Vorzüge Constanzes in dem berühmten Brief an den Vater vom l5. Dezember 1781. Constanze war in ihrer Herkunftsfamilie als "nicht hübsch" etikettiert worden und mußte immer schlecht gekleidet herumlaufen, weil die zum Sparen gezwungene Mutter bei der Kleiderausstattung zwei als hübsch geltende Schwestern angeblich bevorzugte. Mozart läßt seiner Braut als Bestandteile äußerer Schönheit neben den "zwey kleinen schwarzen augen" immerhin ein "schönes Wachsthum", was doch nach damaligen wie heutigen Maßstäben gewiß nicht wenig wäre. Aber gleichwohl sagt er, sie sei zwar "nicht häßlich", "aber auch nichts weniger als schön". Nun zeigt aber das Porträt, das ihr Schwager Josef Lange um 1782 gemalt hat, doch ein durchaus schönes, jedenfalls sehr ausdrucksvolles, interessantes, gewinnendes Gesicht. Sie war zweifellos schön genug, nur war ihr eben in dieser Familie von ihrer Mutter die Rolle des weniger schönen Mädchens zugeteilt worden. Constanze selbst blieb wohl nichts anderes übrig, als in dieser Familie mit diesen Eltern und Geschwistern die offenbar anderweitig nicht besetzbare, im Familienskript aber vorgesehene Rolle zu spielen. Obwohl Mozart es im Unbewußten besser wußte, scheint er diese Etikettierung auf der Ebene des bewußten Geistes akzeptiert zu haben. Constanze, die natürlich wie jede Frau gern als die Schönste, und zwar auch körperlich Schönste gegolten hätte, scheint sich gleichwohl in ihrer Beziehung zu dem schönen Leopold aus guten Gründen auf die rätselhafte Sichtweise Mozarts eingelassen zu haben, daß ihre äußere Schönheit hinter der inneren zurückbleibe, woraus sich ja ergäbe, daß ihre innere Schönheit die äußere noch überrage. Mozart jedenfalls schreibt am 12. Juli 1783 dem Vater: "Meine Frau hat immer eine kleine Sorge sie möchte ihnen nicht gefallen, weil sie nicht hüpsch ist - allein - ich tröste sie so gut ich kann damit daß mein liebster vatter nicht so viel auf äußerliche als auf innerliche Schönheit geht."

Ist das eine gute Strategie, die Braut vor dem verliebten und rücksichtslos dominierenden Vater in Sicherheit zu bringen? Ob Constanze sich selbst so gesehen hat, sich selbst damit tröstete, ob sie überhaupt trostbedürftig war, ob sie selbst die Lage vielleicht ganz anders einschätzte - wir wissen es nicht.

Als erwachsener Briefeschreiber war Mozart einigermaßen frei. Aber was kann eigentlich den während der Reisen geschriebenen und vom Vater wahrscheinlich doch kontrollierten Briefen an Mutter und Schwester wirklich entnommen werden? Was durfte, was konnte der Junge schreiben und was nicht? Wie hat er seine Botschaften verschlüsselt? Wie hat er klargemacht, was von dem zu Papier Gebrachten zu halten, wie es zu lesen sei? Sigmund Freud hat ein ihm von den Nazis als Bedingung seiner Freilassung zur Unterschrift vorgelegtes Schreiben, er sei immer gut behandelt worden, durch einen berühmten "bestärkenden" Zusatz ins Gegenteil verkehrt: "Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen." Was Freud bewußt tat, scheint der Knabe intuitiv anzuwenden. Auch Mozart mußte auf Drängen oder Kommando einer übermächtigen Instanz, gegen die Widerstand zwecklos war, stets sein Wohlbefinden mitteilen. Ob es so war oder nicht so war, er mußte jedenfalls schreiben, wie schön die Reise und wie glücklich er sei. Er tut dies aber in einer so übertriebenen Weise, daß die Wahrheit des Gegenteils durchscheint. Wenn ein an so enge Gemeinschaft mit der Gesamtfamilie gewöhnter Junge im vierzehnten Lebensjahr mit einem solchen Vater auf monate-, vielleicht jahrelange Reisen geht, wird es außer Freude doch wohl auch etwas Abschiedsschmerz und Heimweh geben. Offenbar durfte er das in den vom Vater "diktierten" Briefen nicht ausdrücken. Er darf in der Traurigkeit doch nur seine Lustigkeit vorführen. Das erste Lebenszeichen nach der Abreise am 13. Dezember 1769 enthält eine Nachschrift zum Brief des Vaters vom 14. Dezember: "Allerliebste mama. Mein herz ist völig entzücket, aus lauter vergnügen, weil mir auf dieser reise so lustig ist, weil es so warm ist in den wagen, und weil unser gutscher ein galanter kerl ist, welcher, wen es der weg ein bischen zuläst so geschwind fahrt. die reis-beschreibung wird mein papa der mama schon erckläret haben, die ursache daß ich der mama schreibe ist, zu zeigen, daß ich meine schuldickeit weis, mit der ich bin in tiefsten Respect ihr getreürer sohn Wolfgang Mozart."

Ich denke, hier sind gewisse "Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" im letzten Satz doch verschlüsselt mitgeteilt. Wie soll man es verstehen, wenn Mozart von unterwegs, aus Mailand, einmal seine Logiersituation folgendermaßen beschreibt: "oben unser ist ein violinist, unter unser auch einer, neben unser ein singmeister der lection gibt, in dem lezten Zimmer gegen unser ist ein hautboist, daß ist lustig zum Componiern! giebt einen viell gedancken." Werden die Frauen zu Hause den Klartext dieser verschlüsselten Botschaften verstanden haben? War ihnen mehr nach Lachen oder Weinen zumute? Die von den Biographen gebrachten Beispiele für Mozarts "Witz und Humor" lassen doch allesamt die Depression und Schwermütigkeit nur allzu deutlich durchscheinen. Die Versicherung, er sei immerzu lustig, wird denn auch fester Bestandteil der fast formelhaften Nachschriften zu den väterlichen Reiseberichten, z.B. aus Neapel, 16. Juni 1770: "Ich bin auch noch lebendig, und bin beständig lustig wie allzeit." Je trauriger jemand ist, desto größere Mühe muß er sich geben, eine nicht vorhandene Lustigkeit wirklich überzeugend vorzuführen. Das ist Mozarts Überlebensstrategie geworden. Er hat gelernt, die Dauerdepression mit ständiger Arbeit kurz zu halten und in der tiefsten Traurigkeit den Lustigen zu spielen.3) Summa laetitia summa tristitia, größte Freude, größte Trauer: das ist neben einem unerschöpflichen Einfallsreichtum und einer außerordentlich sorgfältigen, geschulten, korrekten wie gewagten Kompositionstechnik insoweit das Geheimnis auch seiner Musik.

Hier liegt, denke ich, auch eine der Wurzeln für die in den Opern so auffällige Technik, gerade die simulierten, "unwahren" Gefühle besonders glaubwürdig, innig, hingebungsvoll aufzubauen. Je unverschämter die Lüge, desto "glaubwürdiger" wird der Lügner: summa falsitas - summa veritas. Ein gutes Beispiel dafür, das beste vielleicht, ist die erwähnte Verhöhnung von Donna Elvira durch die von Don Giovanni gesungene, von Leporello mimisch und szenisch untermalte Versöhnungs- und Verhöhnungsarie. Hier ist die herzzerbrechende Kraft, die aus der vollkommenen Verlogenheit strömt, erfolgreich auf die äußerste Probe gestellt. In Cosi fan tutte wird die Täuschung, das Darstellen, Vorspielen der Liebe unter der Verkleidung bis zur Nahtstelle des Übergangs in "echte" Liebe vorangetrieben und zum Leitprinzip des ganzen Handlungsaufbaues. Aber auch Figaros Hochzeit ist voll von solchen Szenen. Susanna ist ganz besonders verführerisch, als sie dem Grafen das Stelldichein vorschlägt, zu dem sie gar nicht gehen will, weil sich die Gräfin dort in Susannas Kleidern einfinden soll. Dort schließlich, in der Schlußszene, zur Zeit und am Ort des Stelldicheins, gibt es dann nur noch einen einzigen Wirrwarr aus Täuschung, Lüge, Wahn, Verblendung und Verkennung, und gleichwohl erklingen inmitten aller Verstellung die ergreifendsten, überzeugendsten Gefühlsäußerungen. Im 18. Jahrhundert, in dem eben alles auf Darstellung ausgerichtet ist, kommt es auf die Wahrheit der Darstellung als Darstellung mehr an als auf irgend etwas anderes. Es gibt so etwas wie eine wahre Lüge, eine echte Unechtheit.

In Le nozze di Figaro ist Verwirrung, Verworrenheit, Wirrwarr auf unter schiedlichen Ebenen, in mehrfachen Dimensionen entfaltet.4) Der Graf wird überall hereingelegt, tappt nur noch im dunkeln und kommt sogar gewaltsam nicht mehr durch. Aber Figaro, dem Antihelden, geht es letztlich nicht sehr viel besser. Figaro glaubt, er durchschaut die Situation, aber oft genug tut er es nicht. Die Situation hat sich geändert, und er hat es noch nicht gemerkt. Er glaubt, er ist in alles eingeweiht, aber er ist es nicht. Die Entdeckungen, wie es wirklich war und ist, gehören zu den szenischen Höhepunkten der Handlung. Die größte aller Überraschungen - überraschend für alle Beteiligten ist natürlich (im dritten Akt) die Entdeckung der wahren Eltern Figaros. Seine gefährlichen Gegner werden nun seine besten Helfer. Seine Mutter muß und kann die Heiratspläne mit dem endlich wiedergefundenen Sohn aufgeben und schließt die bisher bekämpfte Rivalin Susanna als künftige Schwiegertochter in die Arme. Der Vater, der die frühere, längst lästig gewordene Geliebte loswerden und - auch aus Rache - an den Sohn verheiraten wollte, entschließt sich nun selbst zur Heirat der Mutter des Sohnes. So bekommt Figaro in der Doppelhochzeit endlich ein verheiratetes Elternpaar. Schlimmer könnte man die Ehe eigentlich kaum verhöhnen.

Von dieser schicksalhaften, an letzte Ungewißheiten rührenden Spannung hat die Überraschungsszene im zweiten Akt (nach Cherubins Fenstersprung) nur wenig zu bieten. Hier handelt es sich um mehr oder weniger harmlose Situationskomik. Aber das Spiel des Wahren und Falschen wird doch grandios entfaltet, entwickelt, auf die Spitze getrieben, zur Lösung gebracht, die keine Lösung ist. Stefan Kunze beschreibt sie sehr gut: "Im folgenden G-dur-Duettino Nr. 14 springt Cherubino, der sich im Kabinett verborgen hatte, aus dem Fenster; Susanna, die vor dem Terzett von Graf und Gräfin unbemerkt eingetreten war, die Auseinandersetzung zwischen dem gräßlichen Paar aus ihrem Alkoven-Versteck verfolgt hatte, schließt sich im Kabinett ein, so daß bei der Wiederkehr von Graf und Gräfin die Konstellation hergestellt ist, die der Graf aufgrund der (falschen) Auskunft der Gräfin im Terzett erwarten mußte, zu Beginn des Finales aber nicht mehr erwarten konnte, weil er inzwischen von der Gräfin reinen Wein eingeschenkt erhielt. Sie hatte gestanden, daß eigentlich Cherubino sich im Kabinett befände. Jetzt hat sich die Situation zugespitzt, der Graf ist noch aufgebrachter als vorher. Dies gibt den Anstoß zum Finale. Die Verwicklung und der Witz liegen darin, daß der Graf beide Male desorientiert ist, und zwar dergestalt, daß er zuerst für wahr hält, was nicht wahr ist, und dann, als er die Wahrheit erfährt, diese nicht mehr wahr ist, sondern das ursprünglich für wahr Gehaltene. Ähnliches stößt der Gräfin zu: Sie sagt zuerst (verständlicherweise) die Unwahrheit, und als sie schließlich in ihrer Bedrängnis die Wahrheit sagt, ist es bereits die Unwahrheit, bzw. es ist bereits wahr, was vorher unwahr gewesen war. Ein Spiel mit Wahrheit und Trug, Selbsttäuschung und Irreführung, vermeintlichem und wirklichem Faktum, dem man nicht leicht auf den existentiellen Grund kommt, das aber wie ein Lehrstück ist über die Gebrechlichkeit menschlicher Verhältnisse."5)

Ähnliches stellt Kunze bezüglich der Täuschung fest, der Figaro in der Schlußszene erlegen ist: "Indem Figaro den Trug des Scheins zu durchschauen meint, täuscht er sich erst recht". Aber wie ist es hier mit der Schlußszene? Was geht hier vor sich'? Wer ist der Adressat der letzten großen Liebesarie Susannas? Die Hypothese, die Rosenarie sei ursprünglich der echten Gräfin zugedacht gewesen und nur wegen Mozarts "Beziehung" zu der ersten Susanna-Sängerin an Susanna geraten, verdient keine ernsthafte Diskussion. Die Textsequenz verlangt sehr genaue Interpretationen. Die Situation ist in der Tat kompliziert. Susanna weiß sich von Figaro belauscht, der sie in der Dunkelheit offenbar nicht sehen, nach ihrer Verkleidung folglich auch nicht für die (falsche) Gräfin halten, sich also nur nach der bekannten Stimme orientieren kann und sie demnach richtig für Susanna hält, von der er freilich glaubt, daß sie den Grafen erwartet (was in Wahrheit die als falsche Susanna verkleidete Gräfin tun wird). Sie hatte sich von der Gräfin mit folgenden, mit gedämpfter, für Figaro nicht hörbarer Stimme gesprochenen Worten verabschiedet: "II birbo è in sentinella. Divertiamoci anche noi. Diamogli la merce' de' dubbi suoi" - Der Schelm liegt auf der Lauer; machen auch wir uns einen Spaß; geben wir ihm den Lohn für seine Zweifel. Schon diese "Vorbemer kung" spricht gegen die Annahme Kunzes, "daß Susanna ihm ohne jede Verstellung ihr Innerstes kundgibt, ihrer Liebe zu Figaro Sprache verleiht". Gewiß ist Figaro derjenige, der allein die Arie hören soll, und gewiß ist es letztlich auch wohl Liebe zu Figaro, der Susanna hier Ausdruck verleiht. Aber sie tut das auch hier mit den Mitteln der Verstellung. Figaro soll glauben, sie erwarte den Grafen und freue sich auf das Zusammensein mit ihm. Das ergibt sich eindeutig aus dem von Kunze übersehenen oder insoweit verkannten letzten Satz des Rezitativs: "come la notte i furti miei seconda!" - Wie die Nacht meine Schandtaten (Diebstähle) begünstigt. Das Wort "furti", vom lateinischen "furtum", Diebstahl, benutzt Da Ponte hier, mit erkennbarer Anspielung auf den Sprachgebrauch Ovids, im Sinne einer heimlichen, den Rechten der Ehe abgestohlenen Liebe. Gerade mit diesem Wort, das sich nur auf das als bevorstehend gedachte Zusammensein mit dem Grafen beziehen kann, konnte Susanna Figaro besonders provozieren und reizen, wie es ja auch ihrer in der Vorbemerkung leise mitgeteilten Absicht entsprach. Zwar gibt es auch die von Goethe in Das Tagebuch dann ausgemalte Möglichkeit eines "amor furtivus" in der Ehe und zwischen Eheleuten ("nach Buhlenart des Ehstands heilige Rechte genießen")6). Auch muß man natürlich bedenken, daß Figaro und Susanna bisher bloß das Zeremoniell vor dem Feudalherren, noch nicht aber die eigentliche Trauung hinter sich hatten, daß den Verlobten also zu diesem Zeitpunkt die Tür, die letzte Chance zu einem vorehelichen "amor furtivus" noch offen stand. Dennoch kann aus dem Kontext von Vorbemerkungen, Rezitativ und Arie die Möglichkeit, das "furtum" auf ein bevorstehendes Zusammensein mit Figaro zu beziehen, mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Ergebnis: Mozart läßt auch in dieser Arie die schönsten, wahrsten Liebestöne unter der Form einer hier sogar auf die Spitze getriebenen Verstellung erklingen.

Während die Aufdeckung des "Betrugs" zu einer "echten" Versöhnung Figaros mit Susanna führt, gewährt die Gräfin auf Bitten des Grafen Versöhnung keineswegs von Herzen, sondern aus Resignation und Klugheit: "più docile io sono, e dico di si". Ob dies wirklich als "Wiederherstellung der Gemeinschaft" (Kunze) angesehen werden kann? Der Graf gibt sich vorübergehend geschlagen, wird seine Ziele aber um so beharrlicher weiter verfolgen. Auch die Schlußszene ist mehr eine Verhöhnung der Gemeinschaft als eine wirkliche Versöhnung.

Zweifel und Mißtrauen sind in dieser Welt nur allzu berechtigt. Das war ja auch das Lehrstück in Cosi fan tutte, wo Guglielmo seinem Freund die bittere Pille der verlorenen Wette beizubringen beginnt: "Eppur un dubbio ... non saria mal, se tu 1'avessi ... E sempre bene il sospettare un poco in questo mondo." Zweifel, Verdächtigungen, Mißtrauen sind berechtigt: in der Welt der Außenbeziehungen. Für die Innenwelt der Liebe dagegen, die - mit Catull in der Epoche vollkommener Korruption und Lüge die einzige Wirklichkeit darstellt, sind Zweifel und Verdächtigungen zerstörerisch. Das sagt Susanna schon im Eröffnungsduett zu ihrem Geliebten und Verlobten: "Discaccia i dubbi, i sospetti, che torto mi fan" - Verjage die Zweifel, die Verdächtigungen, die mich quälen. Sie weiß, er kann es nicht lassen, und bis zum Schluß, bis zur Rosenarie und darüber hinaus hat sie es darauf angelegt, ihm eine Lehre zu erteilen.

Das Ziel, das wir nicht kennen, aber im Prozeß des Hingelangens schrittweise erfahren, ist wohl nicht "Aufklärung" oder "Toleranz" oder "Skepsis" oder "Pragmatischer Pessimismus", so sympathisch und anstrebenswert auch alle diese Positionen erscheinen mögen. Es ist auch nicht mit den Techniken eines "artifex dissimulandi", den Mitteln der "Symptomverschreibung" oder im Bezugsrahmen von "Paradox und Gegenparadox" erreichbar, wie nützlich und hilfreich solche Strategien auch immer sein mögen. Das Ziel ist, aus dem Munde der Susanna und als Imperativ an ihren Verlobten formuliert, wenigstens der Richtung nach bezeichnet: Verjage die Zweifel, die Verdächtigungen, die mich quälen. Wer das erreichen, diesen Imperativ wirklich befolgen kann, ist endgültig am anderen Ufer. "Irrtum, Verkennung und Wahn als Eintrittspreis zum Gefilde der Seligen".7) Hat man das erreicht, ist der "höchste Augenblick" gekommen. Der Lebenskampf ist überstanden. Er findet sein Ende in einer Seligkeit, die den Kampf nicht mehr sucht, ihn aber auch nicht mehr bestehen könnte.

Anmerkungen

1. Ovid. Liebeskunst. Ars amatoria. München: Heimeran 1964.

2. Einige andere Momente sind im Kapitel "Constanze" meines Buches Gestohlene Liebe (Stuttgart: frommann-holzboog 1988) ausgearbeitet.

3. Georgi W Tschitscherin zitiert in seiner Studie Mozart (Reinbek: Rowohlt 1987) einen Ausspruch Giordano Brunos: "in tristitia hilaris, in hilaritate tristis".

4. Vgl. das Kapitel "Rosina" in Troje, Gestohlene Liebe.

5. Stefan Kunze, Mozarts Opern. Stuttgart: Reclam 1984.

6. Vgl. das Kapitel "Maria" in Troje, Gestohlene Liebe.

7. Kurt R. Eissler, Wette, Vertrag und Prophetie in Goethes Faust. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, 1984.

Erschienen in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Jg. 43 (1989), S. 576-587.


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Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee