Penelope

Leitbilder für das Verhalten von Paaren in Krisensituationen I

Hans Erich Troje

- Durchgesehene Fassung, 15. März 2003 -

Wagen wir also den Versuch einer Analyse der Grundlagen und Wurzeln von Vorstellungen, Konzepten, Normen und Ansprüchen, die der "Ehe" des "abendländischen" Menschen der "Neuzeit" ihr besonderes, einzigartiges Gepräge gegeben haben: Archäologie des modernen Ehebildes! Das hier metaphorisch gebrauchte Wort "Archäologie" bezeichnet streng akademisch genommen die Kenntnis und Wissenschaft von den Ruinen, den Trümmern und Splittern aus alter Zeit, die vorsichtig aus der Erde freizuschaufeln, auszugraben und durch behutsames Suchen der zueinander passenden Stücke soweit möglich zu rekonstruieren sind. "Modernes Ehebild" meint die Summe der Erfahrungen und Entwürfe, die im Laufe der Geschichte bis hin zu dem im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschriebenen Komplex der "Bürgerlichen Ehe" eingewirkt haben. Von dieser Gesamtheit historischer Lebensformen sind freilich nur noch Trümmer und Ruinen vorhanden. Unser Beitrag zu dieser "Archäologie" - die natürlich nur arbeitsteilig vor sich gehen kann - richtet sich in strikter Beschränkung gezielt auf ganz wenige und ausnahmslos auf den Leitbegriff 'amor furtivus' bezogene Teilbereiche.1

Die Untersuchung kann und will nicht beitragen, Ruinen und Trümmer zu erneuter Anwendung und Benutzung zu sanieren. Archäologie ist nicht Altstadtsanierung, nicht Wohnraumbeschaffung. Im Gegenteil, oft vertreibt sie die Einwohner aus noch belebtem, noch bewohntem Gelände, um die Ruinen als Ruinen freizulegen und sie als Museum einzurichten, in dem Objekte besichtigt werden, in dem aber nicht mehr gelebt wird. Das ausgestellte Museumsstück will kritisch und nicht nostalgisch betrachtet sein. Es soll gelernt werden, daß das Leitbild und Modell "Ehe" vielleicht so nie lebensfähig und lebensfreundlich gewesen ist, daß möglicherweise alle in der Ehe Gescheiterten ganz einfach an einer falsch gestellten Aufgabe gescheitert sind, noch scheitern und auch weiter scheitern werden, weil wenig Hoffnung besteht, daß es seine Macht über die Herzen und Gemüter verliert.

Ich beginne die Archäologie des amor furtivus mit "Odysseus und Penelope".2 Dieser Anfang ist keineswegs willkürlich. Die Odyssee ist das wichtigste Großepos der alten Griechen und wird zum Vorbild fast aller späteren Epen. Es ist in der verläßlichen, "kongenialen" Prosaübersetzung Wolfgang Schadewaldts zugänglich, der auch alle Zitate entstammen.3

Der Archäologe Bernhard Andreae hat in dem Einzelmenschen Odysseus den Prototyp des modernen Menschen erkannt und beschrieben.4 Unsere Untersuchung ist unter Einbeziehung der Figur der Penelope auf die Ehe fokussiert. Aus dieser Sicht scheint das ganze Epos um die Idee der Ehe zu kreisen, und zwar um ein besonders wichtiges Ereignis: die Heimkehr des Gatten und Vaters nach einer längeren Abwesenheit.5 Was ist eine längere Abwesenheit? In der "Hausfrauenehe" verläßt der Mann täglich das Haus, und die Frau bleibt allein oder vielleicht mit Kindern zurück. Ein Tag, von morgens bis abends, kann für Wartende schon eine Ewigkeit sein. Draußen bleibt vielleicht Zeit für manches Abenteuer. Die "Heimkehr nach längerer Abwesenheit" ereignet sich gewissermaßen Tag für Tag. Der Dichter jedoch zeigt dieses alltägliche Ereignis in der extremen Zuspitzung: Heimkehr des schon beinahe Totgeglaubten nach 20jähriger Abwesenheit. Der damals gerade geborene Sohn Telemach ist herangewachsen. Penelope ist um 20 Jahre gealtert, aber als Tochter eines reichen, noch lebenden Vaters und als Frau des ehemals reichsten Mannes der Insel Ithaka immer noch sehr begehrenswert und umworben von den "Freiern", unter ihnen die "besten Männer" von nah und fern. Die "Freier" haben sich im Palast des Odysseus eingerichtet und verzehren die reichen Erträge und Vorräte des landwirtschaftlichen Gutsbetriebes. Bei einigen der alten Bediensteten des Odysseus, für die stellvertretend der Schweine- und der Rinderhirt auftreten, sind die Freier als Schmarotzer verhaßt. Andere - z.B. der Ziegenhirt - haben sich auf die neuen Herren eingestellt. Von dem weiblichen Personal, den 50 "Dienerinnen", sind die meisten in kluger Voraussicht auf demselben Abwehrkurs gegen die Männer wie ihre Herrin geblieben. Nur - oder immerhin - 12 Frauen haben den Freiern "gedient" und werden dafür grausam bestraft werden.

In den ersten der insgesamt 24 Gesänge des großen Epos wird nun diese Situation in epischer Breite ausgemalt. Penelope selbst weiß nicht, wie lange sie auf Odysseus noch warten soll. Zuverlässige Nachrichten fehlen. Bei dem Abschiedsgespräch hatte Odysseus ihr aufgetragen, den damals gerade geborenen Telemach aufzuziehen und zu versorgen. Für diese Zeit sei ihr alles anvertraut. Wenn Telemach erwachsen sei ("im Bart stehe"), dürfe sie sich frei fühlen, sollte aber bei Wiederverheiratung das Haus verlassen: "Dann ... magst du als Gattin folgen, wem du willst, und dein Haus verlassen." Dabei war gewissermaßen als Geschäftsgrundlage angenommen worden, daß Odysseus, wie jeder andere Kriegsteilnehmer auch, umkommen könne. Der Fall, daß er nach Kriegsende für die Heimreise nochmals 10 Jahre brauchen werde, weil er ein Jahr bei der Zauberin Kirke und 7 Jahre bei der Nymphe Kalypso festgehalten wurde, war nicht vorausgesehen worden. Für die jetzt entstandene Situation gibt es also keine Absprache zwischen den Ehegatten. Die Frage einer freiwilligen oder von den Freiern erzwungenen Wiederverheiratung muß aber demnächst irgendwann entschieden werden.

Telemach hat die Situation in seinem Elternhaus bisher hingenommen. Als kleiner Junge hatte er keine andere Wahl und Perspektive. Jetzt, als junger Mann, beginnt er zu verstehen, was gespielt wird. Er würde es richtig finden, wenn die Mutter zu ihrem Vater zieht, damit der mit den Freiern verhandeln und über eine zweite Ehe entscheiden kann. Aber andererseits will und kann er die Mutter nicht mitsamt den Freiern vor die Tür setzen. Die Mutter könnte freiwillig ausziehen und mit ihr dann hoffentlich auch die Freier, aber darum mag er sie auch nicht bitten. Solange Odysseus noch heimkehren kann, auf seine Heimkehr gehofft werden kann, hat die Mutter gute Gründe hierzubleiben. So sieht er mit wachsendem Ärger zu, wie das ihm bestimmte Vermögen verpraßt und die Wirtschaft ruiniert wird. Er beschließt nun, endlich die wichtige Vorfrage zu klären, ob sein Vater lebt oder tot ist. Daß er erwachsen geworden ist, zeigt sich daran, daß er den Reiseplan heimlich faßt, vorbereitet und ausführt. Die Mutter meint, sie hätte es ihm ausreden können, wenn er es ihr vorher gesagt hätte - und sie mag Recht damit haben. Telemach besucht Menelaos, den Bruder des Agamemnon, der jetzt wieder mit seiner Frau Helena zusammenlebt, deren angeblicher Raub durch Paris, einen Prinzen von Troja, den neunjährigen Krieg ausgelöst hatte.

Menelaos weiß nichts Genaues über Odysseus. Bei dieser Begegnung kommt aber natürlich die Rede auf Menelaos' Bruder Agamemnon, dessen Frau sich bekanntlich während der erheblich kürzeren, aber immerhin noch zehnjährigen Abwesenheit ihres Gatten anders entschieden hatte als Penelope: sie hatte einen Liebhaber genommen, der den heimkehrenden Gatten in eine Falle gelockt und umgebracht hatte. Dafür war sie ihrerseits inzwischen mitsamt dem Liebhaber von ihrem Sohn Orestes getötet worden. Hier kommt also gleich am Anfang des Epos das Gegenmodell der alten Triebwelt ins Spiel: nicht Treue und Besonnenheit, sondern Leidenschaft und Verrat siegen und führen zu Mord und Totschlag über Generationen. Das lag den Nachkommen des Atreus im Blut.

Odysseus ist nun als Prototyp eines ganz anderen Menschen gezeichnet. Er ist der "Listenreiche", der den ersten, leidenschaftlichen und oft zerstörerischen Triebimpuls zugunsten längerfristig geplanter Konfliktlösungen und Zielvorstellungen unterdrücken kann. Insoweit ist Odysseus das Gegenmodell zu dem Heldenleitbild der alten Welt, dessen Exponent Achilles ist, dessen Leidenschaft und Wut ihn alle Folgen vergessen lassen und der daran denn auch untergeht. Odysseus bekämpft prinzipiell den ersten Handlungsantrieb, nicht nur im Falle, daß er durch eine Folgenabschätzung erkennt, daß er in die Sackgasse führen würde. Vielmehr scheint ihm schon die Befürchtung zu genügen, er könne die Kontrolle über die Situation in irgendeiner Hinsicht verlieren. Die Abweisung des ersten Triebimpulses wird oft zum Selbstzweck.

Die eigentliche Urszene, Schlüsselszene für diese neue, vorbildschaffende, prototypische Verhaltensweise ist die Blendung des Polyphem6. Der menschenfressende Riese hat sich betrunken und könnte im Schlafe leicht umgebracht werden. Aber dann wären Odysseus und die bisher noch nicht aufgefressenen Gefährten in der Höhle eingesperrt. Polyphem wird gebraucht, um den Stein vor der Höhle wegzuschieben. Er darf nur geblendet, nicht getötet werden. Für den Fall, daß er Hilfe herbeirufen wird, muß eine List ersonnen werden. Der geblendete Polyphem wird in der Tat die Frage, wer bei ihm ist, mit "Niemand ist bei mir" beantworten, und die zur Hilfe Geeilten werden sich lachend zurückziehen. Das Entweichen aus der Höhle bleibt schwierig genug, aber immerhin kann Odysseus sich selbst und einen Teil der Gefährten retten. Dem hier gezeigten Verhaltensprogramm folgt Odysseus auch sonst. Er sieht die drohenden Gefahren und wählt das geringere Übel, so z.B. auch in der Wahl zwischen Charybdis (sicherer Untergang aller Reisenden) und Skylla (Verlust von 6 Gefährten), und er trifft seine Entscheidung allein, steuert also Skylla an, ohne den Gefährten zu sagen, daß sechs von ihnen umkommen werden.

Genau die gleiche Linie verfolgt nun auch Penelope. Die Ehegatten haben sich insoweit symmetrisch entwickelt. Auch sie ist listenreich. Die berühmte List, ein ihrem noch lebenden Schwiegervater zugedachtes Leichentuch, das tagsüber gewebt und nachts heimlich wieder aufgedröselt wird, brachte sie immerhin drei Jahre weiter. Sie ist auch jetzt noch nicht am Ende ihrer Listen. Ihr letzter Vorschlag an die Freier wird ebenfalls ein listiger sein: sie wolle denjenigen heiraten, der den Bogen des Odysseus spannen und den Pfeil durch die Öffnung von zwölf in einer Linie aufgestellten Äxten schießen kann. Odysseus konnte das, aber die Freier haben kaum eine Chance. Penelope wußte, was sie an Odysseus gehabt und von ihm für den Fall der Heimkehr zu erwarten hatte - im Guten wie im Bösen. Der jetzt eingetretene Fall war nicht abgesprochen zwischen ihr und ihrem Mann. Wir wissen nicht, ob und wann Penelope den Wunsch hatte und in Versuchung war, sich einen Liebhaber zu gönnen. Sie sah ihre Jahre dahingehen und verbrachte die Zeit mit Jammern und Klagen und dem Abwehren der Freier durch Erfinden von Listen. Sie war ständig bewacht und hatte keinerlei Chancen zu einer heimlichen Liebe. Freiwillig oder unfreiwillig blieb sie 20 Jahre in zunehmend aussichtsloser Lage ohne neuen Mann, solange nämlich die von Odysseus bei seinem Abschied geforderte Betreuung des Sohnes erforderlich war.

Das ist die in den ersten Gesängen geschilderte Situation, an welche die Handlung der letzten Gesänge anknüpft, um ganz am Schluß, im letzten Gesang, als einer Art "Moral der Geschichte" die beiden Typen von Ehefrauen, Penelope und Klytaimnestra, noch einmal zu konfrontieren und dabei zugleich - so gesehen - klarzumachen, welches das eigentliche Hauptthema des ganzen Epos war. Es geht um verschiedene Leitbilder für das Verhalten von Ehepaaren in Krisensituationen während und nach längerer Trennung durch berufliche Pflichten der Männer, und insofern die spezifische Differenz eher im Frauen- als im Männerverhalten zu finden ist, geht es um verschiedene Leitbilder von Frauen in solchen Situationen. Die abschließende Bewertung des Verhaltens der beiden Frauen wird aus der Welt der Lebenden heraus in ein Jenseits verlagert. Agamemnon erfährt von den Seelen der inzwischen umgebrachten Freier vom Verhalten der Penelope und kommentiert es mit einer fiktiven Ansprache an Odysseus: "Odysseus! Wahrhaftig, zu großem Heil hast du dir die Gattin erworben! Einen wie tüchtigen Sinn hatte doch die untadelige Penelopeia, die Tochter des Ikarios! Wie gut hat sie des Odysseus gedacht, des ehelichen Mannes! Darum wird niemals die Kunde von ihrer Tüchtigkeit verlorengehen, und es werden den Erdenmenschen die Unsterblichen ein liebliches Lied schaffen für die verständige Penelopeia. Nicht so, wie die Tochter des Tyndaros (Klytaimnestra) schlimme Werke ersann, die den ehelichen Gatten getötet. Ein abscheuliches Lied wird ihr sein über die Menschen hin, und einen schlimmen Ruf wird sie den weiblicheren Frauen eintragen, mag eine auch rechtschaffen sein!" Das ist die eigentliche Moral der ganzen Geschichte: die wartende, treue, in Abwehrlisten erfindungsreiche, besonnene Gattin wird in der Welt und zu Lebzeiten belohnt durch die Rückkehr des Mannes und durch erneuerte Liebesfreuden in der Ehe. Sie findet ewigen Ruhm durch ein "liebliches Lied", das die "Unsterblichen" auf sie singen werden.

Somit ist die in allen Zweigen der Haupt- und Nebenhandlung breit ausgemalte Heimkehr des Odysseus der Rahmen für das Walten einer höheren Gerechtigkeit, der Prototyp also eines "Jüngsten Gerichts" (iudicium finale). Auf der Insel herrschte über viele Jahre die Bande der Freier, ein Willkürregime, in dem verantwortungslos gelebt, fremdes Gut verpraßt, Gastrechte ausgenutzt und mißbraucht und Mordanschläge auf den heranwachsenden Telemach als den gerechten Erben geplant werden. Die Anhänger der alten, legitimen Herrschaft müssen den neuen Herren wider Willen dienen, was bleibt ihnen anderes übrig. Odysseus' alter Vater Laertes führt in bescheidensten Verhältnissen eine Art Einsiedlerleben. Alles in allem sind Recht und Gerechtigkeit mit Füßen getreten, und Frechheit siegt. Aber das ist nicht das letzte Wort. Es gibt ein iudicium finale und zwar noch auf dieser Welt. Aber Odysseus kann es nur ausführen mit Hilfe der "Unsterblichen", denn Zeus hat zugestimmt, daß Athene dem Odysseus bei der Organisation seiner Heimkehr behilflich sein darf. Das hier ausgemalte iudicium finale ist natürlich nicht unmittelbares Vorbild für das christliche Jüngste Gericht. Bestrafungsängste und Bestrafungsphantasien sind ja viel älter. Sie bilden einen gemeinsamen Nenner der vorchristlichen und christlichen Welt. Aber das Gemetzel des Odysseus bei der Heimkehr entspricht doch in vielem dem ausgemalten "Jüngsten Gericht", bis hin in die Einzelheiten der klugen und törichten Frauen. Im Kern der ganzen Abrechnung geht es um das Respektieren der Ehe, den Lohn der treuen Frau, welche mit klugen Listen alle Zudringlinge hinhält, die im Jüngsten Gericht ihre Frechheit mit dem Tod bezahlen.

In diese Rahmenhandlung werden nun viele auf den Schluß hin ausgerichtete Teilprozesse in der Weise eingebaut, daß sie sich in der Schlußszene allesamt vernetzen und verdichten. Zwei davon sind besonders wichtig, erscheinen trennbar, sind aber ihrerseits verkoppelt. Erstens: Was tat Odysseus seinerseits in der Zwischenzeit? Wie erging es ihm unterwegs? Warum kommt er so spät? Hatte er Aufenthalte bei Geliebten? Wie hielt er es denn seinerseits mit der ehelichen Treue? Von dem Geschlechtsunterschied einmal ganz abgesehen, gelten für den Herumreisenden und Herumgestoßenen natürlich andere Maßstäbe als für die zuhause Wartende. Der zweite Bereich betrifft das Verhältnis von Sohn und Vater einerseits, von Sohn und Mutter andererseits, also die gesamte "ödipale" Konstellation. Sie wird reich ausgemalt und hat ihren Höhepunkt zu Beginn des Wettkampfes im Bogenschießen, wo Telemach seinerseits mit dem Vater und den Freiern um die Mutter rivalisiert. Beide Bereiche sind skizzenhaft nachzuerzählen, und zwar, der logischen und narrativen Struktur des Epos selbst folgend, erst Odysseus unterwegs in seinen Begegnungen mit anderen Frauen, sodann der ödipale Konflikt im Hause des Odysseus. Die beiden Themenbereiche sind verkoppelt, weil Abwesenheit des Vaters, Aufenthalte bei anderen Frauen und Heimkehr natürlich den Verlauf und Ausgang des ödipalen Konfliktes des heranwachsenden, herangewachsenen Sohnes mit seinen Eltern wesentlich bestimmen.

Außer der Begegnung mit den Sirenen, die Odysseus nur sieht und hört, aber weder anspricht noch berührt, gibt es drei wichtige Frauenbeziehungen, nämlich zu Kirke, zu Kalypso und zu Nausikaa. Wir beginnen, in der Reihenfolge der Ereignisse, mit Kirke. Sie ist eine Zauberin, die sich anfangs als sehr gefährlich, im Endergebnis aber als sehr hilfreich erweist. Die Episode mit ihr gehört zur Gattung der "Helfermärchen": Kirke hat es bekanntlich darauf abgesehen, alle Männer in Tiere zu verwandeln und in einem Stall zu verwahren. Bei einem Großteil der Gefährten des Odysseus hat sie ihr Ziel schon erreicht. Odysseus hatte davon erfahren und will sehen, was sich machen läßt. Sein Rettungsversuch ist gefährlich. Aber der Götterbote Hermes hatte Odysseus mit einem Gegengift ausgestattet und ihn aufgeklärt, wie er mit der Zauberin umgehen müsse: wenn sie ihre Zaubergerte schwingt, solle er das scharfe Schwert ziehen und auf sie eindringen, als ob er sie töten wolle. "Sie aber wird sich fürchten und dich heißen, daß du zum Lager kommst. Da verweigere du alsdann nicht mehr der Göttin das Lager." Allerdings solle er sich vorher von ihr zuschwören lassen, daß sie nach seiner Entblößung "kein anderes schlimmes Übel sinnen werde, daß sie dich nicht, wenn du entblößt bist, untüchtig und unmännlich macht." Odysseus tut wie geheißen, und nachdem er Kirke mit dem Schwert bedroht hat, als wolle er sie töten, sagt sie: "Doch auf! Stecke das Schwert in die Scheide und laß uns alsogleich auf unser Lager steigen, daß wir, in Lager und Liebe vereinigt, zueinander Vertrauen fassen!" Odysseus, der nicht so schnell Vertrauen faßt, läßt sich erst zuschwören, daß sie ihn nicht, wenn er sich entblößt, untüchtig und unmännlich macht, und "bestieg dann der Kirke gar schönes Lager." Danach erbittet er die "Lösung", also Entzauberung der Gefährten, und Kirke folgt seiner Bitte. Mag man anfänglich mit Odysseus (und Hermes) zweifeln, ob der Vorschlag "Laß uns beide alsogleich auf unser Lager steigen, daß wir in Lager und Liebe vereinigt, zueinander Vertrauen fassen!" wirklich so gut gemeint ist, wie er klingt, so führt er doch im Endergebnis (und mit der eingebauten eidlichen Zusicherung) zum Erfolg: Man hat in der Tat Vertrauen zueinander gefaßt. Die Gefährten werden erlöst. Darüber hinaus verbringt man eine gute, über ein Jahr ausgedehnte Zeit miteinander, und am Schluß gibt Kirke die entscheidende Hilfestellung zur Fortsetzung der Reise. Das Lagerbesteigen ist im Falle Kirke also doppelt legitimiert: einmal hat Hermes es angeraten, und zum anderen dient es der Erlösung der Gefährten, denn das Beilager hat Kirkes Herz auch insoweit erweichen lassen. Objektiv gesehen, handelt es sich also um einen Ehebruch, aber er ist ein - vorerst erfolgreiches - Mittel zum guten Zweck des Überlebens der Gruppe. Das ist zu allen Zeiten und in allen Sagen auch die häufigste Entschuldigung. Als Jason Medea verläßt, um Kreusa, die Prinzessin von Korinth, zu heiraten, entschuldigt er es Medea gegenüber mit den Erfordernissen einer neuen Existenzgründung und als Mittel, nach allen Schiffbrüchen seinen Vaterpflichten gegenüber den beiden Söhnen aus der Verbindung mit Medea zu genügen. Als Schwiegersohn des Königs von Korinth könne er für deren Zukunft sorgen. Allerdings wird dieser gute Zweck durch Medeas entschlossenes blutiges Handeln verfehlt.

Noch nicht bei Homer, aber in späteren Sagenfassungen zeugt Odysseus mit Kirke sogar einen Sohn, den Telegonos. Als dieser herangewachsen ist, macht er sich auf die Suche nach seinem Vater, kommt nach Ithaka und tötet den Vater, ohne ihn erkannt zu haben - insoweit also eine ödipusähnliche Entwicklung.

Von der zweiten Frauengeschichte mit der Nymphe Kalypso, die immerhin sieben Jahre dauert, aber kinderlos bleibt, erfahren wir zunächst nur sehr Allgemeines. Die Initiative scheint jedenfalls von Kalypso ausgegangen zu sein. Sie ist eine echte und wirkliche Göttin, "des Atlas Tocher, die listige Kalypso, die flechtenschöne, furchtbare Göttin", lebt aber ganz zurückgezogen auf ihrer Insel Ogygia. Sie betrachtet Odysseus als eine Art Leibeigenen, denn er verdankt ihr sein Leben, nachdem er als einzig Überlebender des Schiffbruchs auf ihre Insel verschlagen wurde. "Ihm tat ich Liebes an und ernährte ihn und sagte, daß ich ihn unsterblich und alterslos machen werde alle Tage." Odysseus mag sich auf die Unsterblichkeit nicht einlassen, und Kalypso muß sich mit einem Sterblichen begnügen, dem sie Speise der Sterblichen servieren lassen muß, während sie von Nektar und Ambrosia lebt. Nach dieser Vorentscheidung zugunsten der Sterblichkeit entwickelt Odysseus folgerichtig ein ausgeprägtes Zeitgefühl. Für Kalypso waren sieben Jahre keine Zeit. Anders für Odysseus: Nach sieben Jahren saß er am Gestade, "und niemals wurden ihm die beiden Augen von Tränen trocken, und es verrann sein süßes Leben, während er um die Heimkehr jammerte. Denn ihm gefiel die Nymphe nicht mehr, sondern, wahrhaftig! er ruhte die Nächte nur gezwungen in den gewölbten Höhlen, ohne Wollen bei ihr, der Wollenden."

Nachdem auf Athenes Drängen die Götter Odysseus' Heimkehr beschlossen haben, wird der Götterbote Hermes beauftragt, der Kalypso mitzuteilen, sie müsse Odysseus ziehen lassen. Sie fügt sich nicht wortlos in das Unabänderliche. Ausführlich beklagt sie sich über "Eifersucht" und "Neid" der göttlichen Männer, die den göttlichen Frauen auch in der Ausgestaltung ihrer Liebes- und Beischlafverhältnisse die Gleichberechtigung verweigern: "Hart seid ihr, Götter, eifersüchtig ausnehmend vor anderen! die ihr den Göttinnen neidet, daß sie bei Männern ruhen offenkundig, wenn eine sich einen zum lieben Lagergenossen gemacht hat." Und sie zählt prompt drei Fälle auf, in denen die Initiative von der weiblichen Seite, von einer weiblichen Göttin ausgegangen war, und die Geschichte durch Eingriffe und Verbote der ihrerseits "leichtlebenden Götter" verhindert und vernichtet worden ist.

Bisher war Odysseus also wehrloses Opfer. Vielleicht war es anfänglich anders gewesen, aber jetzt mochte er sie nicht mehr und lag "ohne Wollen bei ihr, der Wollenden." Aber nun wird ihm von Kalypso mitgeteilt, er sei frei: "Denn nun will ich dich ganz bereitwillig entlassen." Damit ändert sich die Lage. Odysseus fürchtet wie immer eine neue Falle und verlangt beinahe zwanghaft von der Göttin, den großen Eid zu schwören, "daß du nicht gegen mich selbst ein anderes schlimmes Unheil sinnen werdest." Danach geht man zum Essen, wiederum mit unterschiedlichen Gerichten für Sterbliche und Unsterbliche. Der Aspekt Sterblichkeit/Unsterblichkeit beherrscht denn auch das nach dem Essen geführte Abschiedsgespräch: "So willst du wirklich nach Hause ... so lebe denn wohl trotz allem!" Wenn er wisse, welche Leiden ihm bis zur Heimkehr noch bevorstünden, so würde er wohl bei ihr bleiben. Was überhaupt zieht ihn zu Penelope? "Darf ich mich sicherlich doch rühmen, daß ich nicht schlechter bin als sie, weder an Gestalt noch auch an Wuchs, da es sich wirklich nicht geziemt, daß Sterbliche mit Unsterblichen an Gestalt und Aussehen streiten!" Der Zusatz ist etwas verwirrend und unlogisch, denn schließlich war es ja doch gerade Kalypso gewesen, die sich soeben mit Penelope verglichen hatte. Odysseus gibt zu, daß die "umsichtige Penelope" geringer sei. "Denn sie ist sterblich, du aber unsterblich und ohne Alter. Doch auch so will ich und begehre ich alle Tage, nach Hause zu kommen." Nachdem beide so ihren Standpunkt klargemacht haben, nehmen sie gleichwohl zärtlichen Abschied. "Und die Sonne ging unter und das Dunkel kam herauf. Und sie gingen beide ins Innere der gewölbten Höhle und erfreuten sich an der Liebe, beieinander weilend." Diese Abschiedsliebe zumindest ist freiwillig und offenbar beiderseits erfreulich und vielleicht doch etwas mehr als die geschuldete Höflichkeit.

Odysseus baut nun eigenhändig sein Floß. Die Arbeit dauert vier Tage. "Am fünften aber entließ ihn die göttliche Kalypso von der Insel, nachdem sie ihm duftende Kleider angetan und ihn gebadet" und ihn noch mit Vorräten an Speise und Trank reichlich versorgt hatte. Odysseus ist zwanzig Tage unterwegs. Kurz vor der Landung auf der Insel der Phäaken gerät er in den von seinem Feind und Verfolger Poseidon erregten Sturm, wird aber wieder mit Athenes und anderer göttlicher Unterstützung und eigener Tatkraft gerettet und erreicht nackend das Land. In seinem Versteck schlafend wecken ihn die Stimmen der Prinzessin Nausikaa und ihrer Dienerinnen. Nausikaa sucht einen Mann, und Odysseus gefällt ihr. Auch ihr Vater hätte gern einen so prachtvollen Schwiegersohn. Es geschieht aber nichts. Nausikaa achtet sehr auf die Leute, und es kommt offenbar nicht zu Situationen, in denen Odysseus die Notbremse der Unterdrückung des ersten Triebimpulses hätte ziehen müssen. Die nun unmittelbar bevorstehende Heimkehr erleichtert oder erzwingt das Entsagen.

War Odysseus bei Kirke durch die göttliche Weisung und den guten Zweck entschuldigt, war er bei Kalypso von der liebevollen Abschiedsszene abgesehen bloß duldendes Opfer, so ist er bei Nausikaa der entsagende Hausgast, der auf alle eventuellen Chancen verzichtet und sich nicht den kleinsten Flirt mit der Tochter des Hauses erlaubt. Damit ist er für die nächste Runde, den Einstieg in den häuslichen ödipalen Hexenkessel, relativ gut aufgebaut. Auf Ithaka angekommen, meldet Odysseus sich nun keineswegs als erstes bei seiner Ehefrau, sondern er geht unerkennbar verkleidet zu Eumaios, seinem Schweinehirten, wo er seinen Sohn trifft, dem er sich alsbald zu erkennen gibt. Telemach, wir hörten es, hat durch die Reise zu Menelaos seiner Mutter bewiesen, daß er erwachsen geworden ist. Vater und Sohn haben nun ein Geheimnis vor der Mutter und somit gewissermaßen gegen die Mutter. Penelope hat in der Zwischenzeit ja wirklich bewiesen, daß sie nicht naiv ist und mit den Freiern listig verfährt. Sie heißt ja auch nicht umsonst die "umsichtige" und ist insoweit vertrauenswürdig. Es hätte also durchaus die Möglichkeit bestanden, sie von Anfang an in alles einzuweihen. Wenn Telemach zu ihr gegangen wäre, hätte sie der Heimkehrnachricht freilich nicht hundertprozentig vertrauen können, da Telemach seinen Vater ja als Säugling verloren und seither nie gesehen hatte.

Vater und Sohn bilden also - wie auch immer gerechtfertigt - eine Männerkoalition gegen die Frau. Odysseus verstößt insoweit gegen die erste aller Regeln, die sich als Bedingung der Möglichkeit gelingenden Familienlebens aufstellen lassen: den Vorrang der Elternkoalition, die zugleich die Generationenschranke setzt und geschlechtsspezifische Ausprägung der Elternrollen voraussetzt und verlangt. Unter Verwischung der Generationenschranke ist der Sohn in der Notsituation zum Hauptverbündeten seines Vaters erhoben. Offenbar hat Telemach nie erwogen, seine Mutter einzuweihen. Aber sein Unbewußtes zumindest gibt doch Signal und macht ihm zu schaffen, als Penelope in einem Gespräch mit dem treuen, aber noch nicht eingeweihten Schweinehirten ein Männerbündnis von Vater und Sohn erahnt: "Doch wenn Odysseus käme und in sein väterliches Land gelangte, alsbald würde er zusammen mit seinem Sohn für die Gewalttaten der Männer Buße nehmen. So sprach sie. Da nieste Telemach gewaltig und mächtig erscholl rings das Haus." Das Niesen ist für beide Männer dieser Familie die schwache Seite, gewissermaßen die undichte Stelle für Botschaften aus dem Unbewußten. Bei einer anderen heiklen Familienangelegenheit heißt es später von Odysseus selbst: "Es schlug ihm schon vorn in die Nase der scharfe Drang." Penelope ist also möglicherweise auf die besondere Bedeutung des Niesens bei ihrem Mann und ihrem Sohn gut vorbereitet und hat zumindest unbewußt das Niesen des Sohnes ganz richtig verstanden, denn lachend sagt sie zu dem Schweinehirten, bei dem der als "Fremder" getarnte Odysseus sich aufhält: "Geh mir! rufe den Fremden hierher vor mich. Siehst du nicht, wie der Sohn mir geniest hat zu allen Worten? So wird auch der Tod den Freiern nicht unvollendet bleiben." Spätestens von jetzt an ist Penelope wenigstens im Unbewußten auf die Rückkehr des Odysseus eingestellt und in das sie eigentlich ausschließende Geheimnis zwischen Vater und Sohn eingeweiht.

Die Mutter läßt es sich denn auch gefallen, daß ihr der Sohn in einer Auseinandersetzung mit den Freiern, ob man Odysseus den Bogen geben dürfe, auf offener Szene über den Mund fährt. Die Freier wollen nicht, daß er den Bogen bekommt. Die Mutter hat dafür plädiert: "Aber auf! gebt ihm den gutgeglätteten Bogen, daß wir sehen!" spricht sie in ihrer zumindest unbewußten Ahnung, daß der Fremde sich als Odysseus erweisen wird. Aber da mischt sich Telemach ein: "Meine Mutter, über den Bogen hat von den Achaiern keiner mehr Gewalt als ich, daß ich ihn gebe, wem ich will, und auch verweigere..." Dann prahlt er mit der Männerkoalition und verweist die Mutter in die Grenzen ihres häuslichen Wirkungskreises: "Doch gehe du in das Haus hinein und besorge deine eigenen Werke: Webstuhl und Spindel, und befiehl den Dienerinnen, daß sie an ihr Werk gehen. Der Bogen wird die Sache der Männer sein, aller, jedoch am meisten meine, dem die Gewalt ist in dem Haus." Das ist natürlich auch taktisch gesprochen, denn es war ja verabredet worden, daß man bei der nun bald beginnenden Ermordung der Freier die Frauen nicht dabeihaben wollte. Die Mutter jedenfalls "verwunderte sich und schritt zurück ins Haus, denn sie nahm sich die verständige Rede des Sohnes zu Herzen." Sie geht ins Bett und weint um Odysseus, den lieben Gatten, bis ihr Athene den Schlaf schenkt.

Kurz zuvor und noch im Beisein der Penelope aber hatte sich eine andere, nämlich die von uns oben sogenannte "Schlüsselszene" ereignet, die in der Symbolik des Bogenwettkampfes den ödipalen Konflikt und seine Lösung durch das Verhalten des starken Vaters auf seinem Höhepunkt zeigt. Die Wettkampfbedingungen sind bekanntgegeben: Wer den Bogen spannen und mit dem Pfeil durch das Eisen der zwölf in einer Linie aufgestellten Äxte schießen kann, wird Penelope zur Frau bekommen. Aber noch niemand hat sich versucht. Nun kommt der Sohn, um mit den Freiern und gewissermaßen auch mit dem Vater beziehungsweise gegen ihn um die eigene Mutter zu rivalisieren. Er ist sich seiner Tollheit nicht nur halb, sondern ganz bewußt ("hat mich wahrhaftig Zeus doch toll gemacht") und treibt es bis an die äußerste Grenze. "Will ich mich doch auch selbst an dem Bogen versuchen und spanne ich ihn und schieße mit dem Pfeile durch das Eisen, soll mir die hehre Mutter nicht, mir zur Betrübnis, diese Häuser verlassen und zusammen mit einem anderen hinweggehen, daß ich zurückbleibe, und bin doch schon fähig, des Vaters schönes Kampfgerät aufzunehmen!" Dreimal versagt ihm beim Bogenspannen die Kraft, beim vierten Male und kurz vor dem Gelingen ist es dem dabeistehenden Vater zuviel ("doch Odysseus winkte ab und tat ihm Einhalt") und Telemach steht blamiert und klagt. "Nein! werde ich doch auch hinfort schlecht und kraftlos sein! oder ich bin zu jung und vertraue noch nicht auf meine Arme!" Indem sich also Telemach seiner Jugend und der Möglichkeit noch wachsender Kräfte und Potenzen bewußt wird, überwindet er erstaunlich schnell das Trauma der symbolischen Entwaffnung und Entmannung durch den Vater.

Das also ist der Ausgang dieses Konfliktes: der Sohn mit dem Vater insgeheim verbündet, nimmt teil am tollen Wettkampf, als deren Preis die eigene Mutter ausgesetzt ist, weiß allerdings, daß keiner der Freier gewinnen wird, weil der Vater und Gatte das Feld behaupten wird, auch gegenüber dem Sohn. Kaum hat sich der Sohn dem Vater unterworfen, darf er im Bündnis mit ihm sich der Mutter gegenüber mächtig aufspielen, auf die Männlichkeit und Hausgewalt pochen und die Mutter in die Schranken ihrer Hausfraulichkeit zurückweisen, die sich das auch gefallen läßt. Das ganze Verhalten ist zugleich auch taktisch im Hinblick auf die bevorstehende "Rache" an den Freiern.

Diese Rache wird nun im Namen der Gerechtigkeit außerordentlich brutal durchgeführt. Vier Männer, Vater, Sohn und die beiden treuen Hirten, stehen gegen eine ungezählte Schar von Freiern. Inzwischen ist auch die alte Amme eingeweiht, die Odysseus beim Füßewaschen an einer Fußnarbe erkannt hatte, auf seine Bitten aber das Geheimnis auch gegenüber ihrer Herrin Penelope hütet. Sie hatte sich alsbald eilfertig erboten, die zwölf untreuen Dienerinnen zu denunzieren. Odysseus hatte ihr Angebot zunächst zurückgewiesen und gemeint, er werde sie schon selbst herausfinden können, wird aber später doch auf das Angebot zurückkommen. Einstweilen werden alle Frauen hinausgeschickt und alle Türen geschlossen. Alle sonst herumliegenden Waffen sind zuvor in einem Nebenraum versteckt worden. Bloß Odysseus hat Bogen und Pfeile. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung schießt er dem Antinoos, einem der Wortführer der Freier, durch die Kehle. Dann tötet er, solange die Pfeile reichen, einen nach dem anderen. Aber es gibt mehr Freier als Pfeile. Inzwischen hatte Telemach für die vier Männer Rüstungen, Schwerter und Speere aus dem Versteck geholt; dummerweise ließ er dabei die Tür offen, was der treulose Ziegenhirte bemerkt, der nun auch an die Waffen herankommt. Als er den Freiern eine zweite Ladung davon bringen will, wird er von seinen beiden treu gebliebenen Kollegen, den Hütern der Schweine und Rinder, gefaßt, gefesselt, gefoltert und später von ihnen und Telemach als letzter der Männer mit unglaublicher Rohheit zu Tode gebracht. Die nun teilweise selbst bewaffneten Freier, die die Schießerei überlebt haben, werden erst mit Speeren und zuletzt im Nahkampf mit Schwertern getötet. Sie wehren sich, aber die Göttin Athene sorgt dafür, daß ihre Speere nicht treffen, während die Speere der vier Männer immer tödlich sind. Diese vier sind gewiß sehr mutig, aber soweit höhere Mächte sie unterstützen und sie gewissermaßen mit gezinkten Karten spielen, ist es doch ein unfairer Kampf.

Als alle Freier tot sind, müssen die zwölf untreuen Frauen, die die Amme nun doch denunzieren durfte, die Leichen, darunter auch die ihrer Liebhaber, herausschleppen und den Saal reinigen. Nach getaner Arbeit sollten sie nach der Weisung des Odysseus mit dem Schwert zusammengeschlagen werden, "bis ihr ihnen allen den Lebensodem geraubt habt und sie der Aphrodite vergessen, die sie unter den Freiern hatten und sich mit ihnen gesellten heimlich!" Ihre "Schuld" und ihre "Mißachtung" besteht also in nicht mehr und nicht weniger, als daß sie sich einen Liebhaber aus dem Kreis der Freier gegönnt haben. Damit haben sie, nach den Worten des Odysseus, den Weg der "Schamlosigkeit beschritten, und weder mich geachtet noch auch selbst Penelope." Von diesem schlimmen Vergehen der armen Frauen fühlt sich auch Telemach ganz besonders betroffen, der aus freien Stücken und ohne den Vater zu fragen mit den Frauen anders verfährt, als ihm aufgetragen war. "Nicht mag ich mit reinem Tod denen den Lebensmut nehmen, welche über mein Haupt und unsere Mutter Schande herabgegossen haben und bei den Freiern die Nacht verbrachten." Sie werden also nicht mit Schwertern erschlagen, sondern aufgehenkt. Vater und Sohn rächen zunächst die je eigene Schande und die der Penelope. Die Treueforderung an das weibliche Personal umfaßt also ganz entschieden auch sexuelles Verhalten. Nur so läßt sich Herrschaft errichten, durchsetzen und erhalten. Heimliche Bündnisse von Frauen mit Männern der Gegenseite unterlaufen die Fronten und untergraben die Herrschaft. Das zu verhindern, eventuell auch zu bestrafen, scheint ganz vernünftig. Bei der Rache des Odysseus und des Telemach an den "untreuen" Frauen sind aber offenbar noch viel primitivere, aus den Zeiten der "Urhorde" stammende Ängste, Mächte und Wünsche im Spiel.

Vielleicht wirkt ein ins Jenseits verlagertes, von eigens dafür nach der Weltordnung abgeordneten und bereitgestellten Quälgeistern durchgeführtes Strafgericht weniger abstoßend als dieses von den lieben Mitmenschen veranstaltete. Aber während der christliche Weltenrichter dann zu ewiger Qual verurteilen wird, ist hier alles relativ schnell vorbei, und die Seelen werden im Schlußgesang, ohne zusätzliche Schikanen, vielmehr mit gewissen Ehren in die Unterwelt geleitet. Insoweit gehört unsere Sympathie am Ende vielleicht doch mehr der homerischen Lösung der Endgerechtigkeitsfrage als der christlichen. Odysseus selbst sieht sich nur als Vollstrecker einer höheren, jenseitsbestimmten Gerechtigkeit. Das wird aus einer Auseinandersetzung deutlich, die nach getaner Tat mit der Amme stattfindet. Denn diese, "wie sie nun die Toten und das unendliche Blut sah, schickte sich an zu jubeln, da sie ein gewaltiges Werk erblickte." Doch Odysseus hält sie zurück und erwidert: "Halte an dich und juble nicht! Kein frommes Tun ist es, über erschlagene Männer zu frohlocken. Diese hat die Schickung der Götter überwältigt und ihre frevlen Werke. Denn keinen haben sie geachtet unter den Menschen auf der Erde, nicht gering noch edel..."

Nachdem Odysseus das gereinigte Haus eigenhändig ausgeschwefelt hat, steht der Wiederbegegnung der Ehegatten als Ehegatten nichts mehr im Wege. Telemach freilich ist noch in der Nähe, eben noch Vaters Verbündeter beim großen Werke, und jetzt bei dem nächsten bevorstehenden großen Werke der ehelichen Wiedervereinigung demnächst wahrscheinlich doch wohl ausgeschlossen. Telemach zieht sich denn auch nicht auf die Beobachterrolle zurück, sondern mischt mächtig mit im Hexenkessel. Die Mutter war nämlich keineswegs freudestrahlend und mit offenen Armen dem Gatten entgegengeeilt, sondern hatte sich nach dem Eintreten weit weg und wortlos vor das Feuer gesetzt. Odysseus seinerseits blieb sitzen, wo er gesessen hatte, blickte zu Boden und wartete auf ihr erstes Wort. "Doch sie saß lange stumm. Ein Erstarren war ihr über das Herz gekommen." Vielleicht ist sie noch unsicher, ob er es wirklich ist. In diesem Moment schaltet sich Telemach mit einem Angriff auf die Mutter ein: "Meine Mutter! böse Mutter, die du einen so abweisenden Sinn hast!..." Die Situation ist also hochgespannt. Penelope tut nun etwas sehr Kluges und Richtiges. Sie bleibt ruhig und freundlich. Sie schaltet Telemach noch nicht aus, bereitet aber doch das ihn dann später ausschließende Elternbündnis dadurch vor, daß sie teils zu ihm, teils zu Odysseus sagt, es gäbe schließlich eheliche Geheimnisse, an denen sie - die Eltern - einander schon früh genug erkennen würden, und Odysseus bestätigt das lächelnd und zuversichtlich. In dieser vorbildlich guten Art gelingt es dem Elternpaare, den adoleszierenden ödipalen Störer in ein-und-demselben Manöver zu befriedigen und zu frustrieren: befriedigen, denn die Eltern werden sich ja nun bald annähern und vereinigen; frustrieren, denn er wird bald ausgeschlossen sein und nichts mehr zu melden und zu schelten haben. Odysseus, der uns eben noch in seinem Blutrausch so abstoßend schien, hat wieder ein wenig unsere Achtung gewonnen. Penelopes listig inszenierte Befragung nach den ehelichen Geheimnissen, hier in einem unverrückbaren, als Bettpfosten dienenden Baumstamm symbolisiert, verläuft zufriedenstellend und beseitigt die letzten Identitätszweifel. "Und so gelangten sie alsdann froh zu ihres alten Bettes Stätte." Telemach geht zu den treuen Dienerinnen, tanzt und schläft mit ihnen - ein wirklich glücklicher Ausgang des Ödipuskonfliktes. Auch Odysseus und Penelope geht es gut. "Als beide sich aber nun der Liebe erfreut hatten, der ersehnten, erfreuten sie sich mit Reden und erzählten einander." Ihre wechselseitige Berichterstattung läßt keinen Zweifel aufkommen, daß jeder von ihnen auf seine Weise die eheliche Treue gehalten hat. Penelope spricht vom "verhaßten Schwarm der Freiermänner." Odysseus von "der Kirke Arglist" und von "der Nymphe Kalypso, die ihn festhielt, begehrend, daß er ihr Gatte wäre - allein, sie konnte ihm niemals den Sinn in seiner Brust bereden." So ist durch eine kluge Informationspolitik, durch eine geschickte Berichterstattung, die einen wahren, freilich um einige Einzelheiten bereinigten Kern enthält, der eheliche Frieden auch insoweit eingekehrt.

Nun hat Odysseus, der Gatte, der Vater, auch seinerseits noch einen Vater, und in einem Epilog wird uns vorgeführt, wie man mit den Alten umgeht.

Der Vater lebt, wir hörten es, als Einsiedler einfach und bescheiden. Odysseus hat überhaupt keinen Grund, an seiner Treue zu zweifeln. Auch kann ihm der alte Mann in keiner Weise mehr gefährlich werden. Odysseus aber gibt sich nicht zu erkennen, sondern erzählt eine Geschichte, die den Vater fürchten lassen muß, Odysseus sei umgekommen. Bei dieser Wiederbegegnung werden Verstellung und Aushorcherei zum Selbstzweck, und wir erleben, wenn er den alten Mann zum Weinen bringt, Odysseus als kaltherzigen Quälgeist. Nun hat er aber wie Telemach seine schwache Stelle gleichfalls in der Nase. Während der Vater, im Schmerz um den totgeglaubten Sohn unaufhaltsam schluchzend, sein graues Haupt mit rußigem Staub bestreut, "schlug ihm (dem Odysseus) schon vorn in die Nase der scharfe Drang." Vom andringenden Niesen getrieben gibt er sich nun endlich zu erkennen. Man geht in die Häuser des Odysseus, und bei dem nun stattfindenden Dreigenerationentreffen wird ein letztes Mal klargestellt, daß die Herrschaft nicht dem Ältesten und nicht dem jüngsten, sondern dem Mann der mittleren Lebensjahre zusteht. "Athene aber trat zu ihm (Odysseus) heran und ließ dem Hirten der Männer die Glieder schwellen und machte ihn größer als vorher und voller anzusehen..." So ist in der Männergruppe die Hierarchie einstweilen hergestellt. Ehe sich die Zukunftsfrage stellt, wann eventuell einmal Telemach mit seinem Vater so umgehen wird, wie der es gerade mit Laertes getan hatte, fällt der Vorhang.

Die Moral von der Geschichte - wir hörten es - wird dann im Rahmen des Nachspiels in der Unterwelt formuliert: Penelope erntet unsterblichen Ruhm, Klytaimnestra unsterbliche Schande, und die Unsterblichen sprechen durch den unsterblichen Dichter.

Dieses hier herausgearbeitete Ehekonzept sowie das gleichfalls skizzierte Dreigenerationenfamilienmodell lebte fort, wo immer Homer gelesen und Odysseus als Prototyp des männlichen Mannes neuzeitlicher Prägung bewundert wurde. Es ist Bestandteil des erst in jüngster Vergangenheit ruinierten Ehekonzeptes auch dort noch, wo der Zugang zum homerischen Ursprung verlorenging. Es ist, mitsamt allen abstoßenden "Rahmenbedingungen" und "Begleiterscheinungen", ein "arbeitsfähiges Konzept." In das "moderne Ehekonzept" sind freilich noch ganz andere Elemente und Anteile eingegangen, von denen im folgenden einige weitere noch freigelegt und rekonstruiert werden sollen.

Anmerkungen

1 'Furtivus' ist das Adjektiv zu 'furtum' (Diebstahl, Unterschlagung). 'Amor furtivus', wie Ovid (vgl. 9. Kap.: Corinna) es benutzt, ist unübersetzbar: "diebische", gestohlene, verstohlene, flüchtige und (fast) immer heimliche Liebe.
2. Für alles in dieser Studie angesprochene Mythologische findet man den Zugang zu weiterführendem Material mit Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (1974); für alles die jüdisch-christliche Tradition Betreffende informiert man sich im ersten Zugriff bequem in Hiltgart L. Keller: Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten (1984).
3. Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt (1958).
4. Bernhard Andreae: Odysseus. Archäologie des europäischen Menschenbildes (1982).
5. Odysseus ist "der berühmteste Heimkehrer der Weltliteratur", vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur (1988), Stichwort "Heimkehr". Dieser hier gemachte einzige Hinweis auf den unerschöpflichen Reichtum der beiden dichtungsgeschichtlichen Lexika Elisabeth Frenzels, außer den "Motiven" also auch "Stoffe der Weltliteratur", steht stellvertretend für viele weitere Hinweise, die möglich und nützlich wären, aber dank der leicht erschließbaren Lexikonstruktur ihrer Werke wohl doch entbehrlich sind. Die für unsere Studie wichtigsten Stichworte aus den "Motiven" sind, in alphabethischer Reihenfolge: Der verliebte Alte, Amazone, Der überlegene Bedienstete, Feuersprobe, Die verletzte Gattenehre, Die verleumdete Gattin, Gottesurteil, Hahnrei, Heimkehr, Die unbekannte Herkunft, Inzest, Keuscheitsgelübde, Die selbstlose Kurtisane, Die heimliche Liebesbeziehung, Der herkunftsbedingte Liebeskonflikt, Mann zwischen zwei Frauen, Nebenbuhlerschaft, VaterSohn-Konflikt, Vatersuche, Verführer und Verführte, Die dämonische Verführerin.
6. Zur Bedeutung dieser Szene eingehend Bernhard Andreae: Odysseus (1982).

Aus: Hans Erich Troje, "Gestohlene Liebe - zum Problem der Rettung der Ehe", Stuttgart 1988, Kapitel "Penelope" S. 27-44 . Eine Taschenbuchausgabe dieses Buches (Stuttgart 1992) wird von "Berliner Buchdienst", Littenstraße 106/107, 10179 Berlin unter Best. Nr. 92405 für 4.90 Euro angeboten. E-Mail: berliner.buchdienst@freenet.de.


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Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee