Gegenwärtige Formen menschlichen Zusammenlebens

Wagners "Ring" als Bestandsaufnahme

Hans Erich Troje

Vortrag Evangelische Akademie Tutzing Oktober 1994

- Durchgesehene und korrigierte Fassung, Mai 2001 -

I

Der Versuch einer "Bestandsaufnahme" gegenwärtiger Formen des Zusammenlebens ist natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es gibt keine Möglichkeit der Bestandsaufnahme, es gibt noch nicht einmal die Möglichkeit der Beobachtung einer einzigen, konkreten Art und Weise des Zusammenlebens, außer allenfalls derjenigen, von der wir selber ein Teil sind, die wir als Beteiligte aber auch gerade wieder nicht oder nur mit vielen blinden Flecken beobachten können.

Wie Menschen als Paare, in Familien, in Gruppen und Organisationen zusammenleben, wissen immer nur die, die dabeigewesen sind. Es gibt - außer dem in der Familientherapie üblichen Arrangement mit der Einwegscheibe - keine Möglichkeit des unbeteiligten Beobachtens. Wer dabei ist, kann nicht nicht dabeisein. Das ist seit Watzlawicks erstem berühmten Buch "Menschliche Kommunikation" von 1969 ("man kann nicht nicht komrnunizieren") eine Selbstverständlichkeit. Jeder Beobachter verändert durch sein Dabeisein das System und kann nicht mehr das ursprüngliche, sondern nur das durch sein Dabeisein veränderte System wahrnehmen, wobei die durch sein Dabeisein bewirkten Veränderungen immer viel größer und einschneidender sind, als die Beobachter (bis hin zu Eibl-Eibesfeldt mit seiner rechtwinklig abgeknickten Kamera) es wahrhaben wollen. Denn menschliche Systeme reagieren auf Helfer und Beobachter, in denen sie unter der menschenfreundlichen Tarnung sehr zu Recht Kritiker, Kontrolleure und Zerstörer wittern, sehr empfindlich. Menschliches Zusammenleben ist immer sehr problematisch, sehr gefährdet, Gratwänderung zwischen verschiedcnen Möglichkeiten des irgendwann doch unvermeidlichen Abstürzens, aber in der jeweiligen Lebenssituation entwickeln die Beteiligten oft sehr großen Erfindungsreichtum, finden zu sehr aparten Lösungen, die sie dann - in der berechtigten Befürchtung, damit von Außenstehenden nicht in Ruhe gelassen und akzeptiert zu werden - sorgfältig geheimhalten und tarnen. Auch bei unseren engsten Bekannten und sogar besten Freunden ist oft schwer oder gar nicht dahinterzukommen, wie es bei ihnen wirklich zugeht. Immer wieder passiert es uns, daß wir uns jahre- und jahrzehntelang Vorstellungen machen, die sich hinterher als falsch erweisen - zum Beispiel daß einer unserer hochverehrten Vorbilder, Hoffnungs- und Würdenträger, den wir jahrzehntelang als Gatten aller Gatten und Vater aller Väter, ja als Heiligen verehrt haben, jahrzehntelang die verschiedensten ehebrecherischen Beziehungen hatte und auch vor Unzucht mit Abhängigen nicht zurückscheute -, wobei die dann durch irgendwelche Informationen berichtigten Vorstellungen auch nicht unbedingt und in jeder Hinsicht zutreffend sein werden. Die Informationen, die wir erhalten haben, können falsch und unvollständig sein und sind es in der Tat sehr oft. Für unsere Vorstellungsbildung von Leben und Lebensformen der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart gilt nichts anderes als sonst auch. Unsere sogenannten Erkenntnisprozesse sind in aller Regel so beschaffen, daß wir nur von einem Irrtum in den anderen fallen, die eine Illusion durch eine andere ersetzen. Das Falsifikationsmodell der sogenannten Erkenntnisprozesse, mit dem der nun verstorbene Sir Karl Raimund Popper berühmt wurde, steckt ja im Grunde schon in jener schönen Strophe von "Der Mond ist aufgegangen": "Wir stolzen Menschenkinder, sind eitel arme Sünder, und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste, und suchen viele Künste, und kommen weiter von dem Ziel."

Es gibt keine wirklich verläßliche empirische Sozialforschung als Erforschung der Formen gegenwärtigen Zusammenlebens und natürlich auch keine irgendwie verläßliche oder konsensfähige Theoriebildung. Über die von Ulrich Beck und seiner Frau vertretene Theorie der "Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen ist sehr zu Recht heftiger Streit entstanden1). Ich selbst glaube auch nicht daran, glaube vielmehr (mit Foucault und vielen anderen), daß die Entwicklung gerade umgekehrt verläuft, daß die Vielfalt möglicher Lebensformen durch wachsenden Anpassungsdruck und gesteigerte Kontrolle (Stichwort "Kolonialisierung der Lebenswelt") bedroht ist und zurückgeht, bedroht durch Entwicklungen, die Marcuse seinerzeit als "repressive Entsublimierung" und Foucault in "Sexualität und Wahrheit" als "Diskursivierung der Sexualität" beschrieben und gedeutet haben. Aber das ist auch nur eine Meinung, die nicht beweisbar ist.

Es gibt also keine Bestandsaufnahme. Gleichwohl ist es nützlich, zur Kenntnis zu nehmen, was unsere in Bonn akkreditierten Experten zusammengetragen haben, und da wäre an erster Stelle der seit Herbst 1994 vorliegende Fünfte Familienbericht (BT-Drs 12/7560) zu erwähnen. Er befaßt sich - wie auch der Erste und Dritte Familienbericht von 1968 und 1975 - wieder allgemein mit der Situation der Familie (der Zweite und der Vierte von 1979 und 1986 behandelten einzelne Schwerpunktthemen). Erstmals findet sich darin auch ein großes - fünftes - Kapitel zum Familienrecht. Es ist von Frau Professorin Grandke von der Humboldt-Universität Berlin aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin der früheren DDR verfaßt. Sie kommt zu dem - in der Stellungnahme der Bundesregierung natürlich sogleich heftig gerügten - Ergebnis, daß durch die Ausdehnung der Geltung des westdeutschen Familienrechts auf die frühere DDR im Endergebnis ein weithin grundgesetzkonformes Familienrecht (das des Familiengesetzbuches der DDR) durch ein über weite Strecken eben nicht verfassungskonformes Recht (das des westdeutschen BGB) abgelöst und verdrängt worden sei2). Neben dem Fünften Familienbericht muß auch der "Familienreport 1994", also der "Bericht der Deutschen Nationalkommission für das Internationale Jahr der Familie 1994" erwähnt werden. Er beginnt übrigens mit dem schönen Satz "Wie Familien leben wollen, das bestimmen sie selbst". Der erste Teil behandelt unter der Überschrift "Gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Familienleben in Deutschland" schwerpunktmäßig die Wohnsituation, der zweite Teil behandelt die "Familien in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld", der dritte Teil verspricht in der Überschrift "Familienleben zwischen Eigengestaltung und Außeneinwirkung" eine Erörterung des einleitend von mir angesprochenen Befundes der Abschottung der Kleingruppe, aus deren Perspektive die sogenannten "Außeneinwirkungen" nicht ohne Grund meist als aggressiv, destruktiv und zerstörerisch erscheinen und abgewehrt werden müssen. In der Tat geschieht es ja sehr oft, daß Außenstehende die in dieser jeweiligen Gruppe gefundenen höchst aparten Lösungen für ihre spezifischen Gruppen-Gegebenheiten nicht als bedingt richtig erkennen und gelten lassen können. Das Problem wird aber von den Verfassern dieses Berichtes trotz ihres schönen Einleitungssatzes von vornherein ausgeblendet. Sie bewerten nämlich die (auch von ihnen sogenannte und offenbar als existent angenommene) "zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensformen" (S. 53) nicht als eine Art Bereicherung und Freiheitsgewinn, sondern als eine Art Bedrohung, als "Herausforderung" an die sogenannte "Familienarbeit", als Herausforderung, die sie auf eine Stufe mit zwei weiteren "Herausforderungen" stellen: nämlich der "größer werdenden Verunsicherung von Familien durch soziale und wirtschaftliche Probleme - insbesondere in den neuen Bundesländern" einerseits und der "zunehmenden Feindlichkeit, mit der ausländischen Familien begegnet wird" (S. 54) andererseits. Maßnahmen, die sie insoweit empfehlen, sind unter anderem die "Gründung von kommunalen Arbeitsgemeinschaften der Familienarbeit" und die "Erarbeitung kommunaler Wegweiser der Familienarbeit". Es ist klar, was davon zu erwarten sein wird, und spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß der schöne Einleitungssatz "Wie Familien leben wollen, das bestimmen sie selbst" bestenfalls ein Lippenbekenntnis gewesen ist.

Unter den eher seltenen als zahlreichen Zeitgenossen, für die ein derartiger Satz "Wie jemand leben will, das muß er selbst entscheiden" mehr als ein Lippenbekenntnis, sondern wirklich Kernsatz einer ganzen Lebensarbeit und auch der persönlichen Lebensführung war, scheint mir der 1986 mit 65 Jahren verstorbene Künstler Joseph Beuys3) einer der bedeutendsten zu sein, und da er ja kein Unbekannter ist und Vorstellungen darüber existieren, was er geleistet hat, kann es nichts schaden, den einen oder anderen seiner Kernsprüche heranzuziehen - obwohl sie aus dem Kontext gerissen trivial klingen mögen: "Wie jemand leben will, das muß er selbst entscheiden" kennen wir schon. Der von ihm vertretene "erweiterte Kunstbegriff" lautet schlicht und einfach "Leben ist Kunst. Kunst ist Leben". Es geht ihm um nichts Geringeres als "das Möglichwerden von Freiheit in allen Gesellschaftssphären", wobei die erforderliche "gesellschaftliche Umgestaltung" ihrerseits nur als Kunstwerk, als "Kunstwerk gesellschaftlicher Umgestaltung" denkbar und möglich ist. Die Zielsetzung und Richtung jeder Veränderungsarbeit ist in dem Satz angezeigt: "Menschliche Arbeit hat den Charakter eines Kunstwerks zu haben." Das gilt für jede Arbeit, die damit immer gleichzeitig auch Veränderungsarbeit ist4). Der wichtigste, kühnste, tiefsinnigste und schönste dieser Imperative und Forderungs-Sätze von Beuys lautet: "Make the secrets productive. Macht die Geheimnisse produktiv!" Damit, also mit dem Abstellen auf die Geheimnisse, scheint mir das Problem genau bezeichnet, und ich komme damit auch noch einmal auf die Unmöglichkeit der Beobachtung von Lebensformen (von der Unmöglichkeit der Bestandsaufnahme ganz zu schweigen) zurück. Wir alle organisieren unser Leben um unsere Geheimnisse. Wir identifizieren und konstituieren und konsolidieren uns durch unsere Geheimnisse, als Individuen und noch mehr als Systeme. Was Paare, Familien und Gruppen verbindet und ihr Leben bestimmt, sind nicht so sehr die gemeinsamen Verlautbarungen (wer sich an diese hält, ist sowieso verraten und verkauft), sondern die gemeinsamen Geheimnisse, um die sich - wie jede Systemanalyse früher oder später zeigen kann - alles dreht, um die herum sich alles organisiert. Sie können aber, im Sinne der Forderung "make the secrets productive", nur kreativ und produktiv werden, wo sie und die sie ermöglichenden informationspolitischen Autonomieansprüche des einzelnen und der Gruppe auch ernst genommen und respektiert werden. Wo das nicht der Fall ist, wo Geheimnisse nicht respektiert, sondern ausgeplaudert, ausgespäht oder herausgefoltert werden, können sie auch nicht produktiv werden - natürlich auch dort nicht, wo sie der internen Selbstzensur verfallen, also systemintern tabuisiert und damit zur sprichwörtlichen "Leiche im Keller" werden.

Damit bin ich schon am Ende des ersten Teils. Ich werde in einem dritten Teil nachher darauf zurückgreifen, wenn ich zeigen will, welcher grundlegende strukturelle Wandel der Familienstrukturen sich in dem von unseren Gerichten und dann vom Bundesverfassungsgericht leichtfertig anerkannten und hernach allzuoft propagierten "Recht auf Kenntnis der genetischen Abstammung" und der damit geschaffenen Möglichkeiten des Aufbrechens des Geheimnisses des Elternpaares abzeichnet. Für mich (ich komme am Ende darauf zurück) ist dies - jenseits des ganzen sonstigen Strukturwandel-Geredes - der entscheidende Punkt im gegenwärtigen Veränderungsprozeß.

II

Aber ich will zuvor, in einem zweiten Teil, das mit dem Titel dieses Beitrages gegebene (und wie wir jetzt wissen, in herkömmlicher Weise nicht erfüllbare) Versprechen einer "Bestandsaufnahme" gegenwärtiger Formen des Zusammenlebens gleichwohl auf etwas andere Weise einlösen. Wenn überhaupt der Anspruch einer Bestandsaufnahme, der durch Rückgriff auf empirische Sozialforschung oder sozialwissenschaftliche Theoriebildung nicht einlösbar ist, eingelöst werden kann, dann (erstens) nur im Rückgriff auf bereits früher und von anderen unternommene Versuche, die (zweitens) über empirische Sozialforschung und sozialwissenschaftliche Theoriebildung ihrerseits schon hinausgelangt sind; und die folgenden (mit meinen Bemerkungen zu Joseph Beuys schon vorbereiteten) Ausführungen werden zeigen, daß wir in unseren großen Kunstwerken solche Versuche einer Bestandsaufnahme, an die es sich anzuknüpfen lohnt, besitzen, daß - beispielsweise - in der Dichtung und dem Gedankengebäude "Der Ring des Nibelungen" von Richard Wagner eine noch immer weithin aktuelle Bestandsaufnahme von Formen des Zusammenlebens vorliegt - aktuell, da die Grundprobleme gegenwärtigen Zusammenlebens, welches insoweit immer noch denselben Grundmustern (bürgerliche Gesellschaft, Kapitalismus) verhaftet ist, darin bereits erkannt und höchst anspruchsvoll und tiefsinnig thematisiert sind.

Versuchen wir es mit Wagners "Der Ring des Nibelungen"5): Im Zentrum des Personals der überaus reichen, fast unerschöpflichen, über mehrere Generationen sich fortentwickelnden Ring-Handlung steht (und das rechtfertigt die Auswahl gerade dieses Stoffes) ein Ehepaar, das Ehepaar Wotan und Fricka, und zwar als Prototyp der Ehe schlechthin, als deren Erfinder sie figurieren mit der Einschränkung natürlich, daß es sich um ein Konzept "bürgerlicher Ehe" handelt, was sich daraus ergibt, daß der Ring das Werden und Vergehen bürgerlicher Gesellschaft und kapitalistischer Produktion thematisiert. Der erste Ring-Entwurf stammt bekanntlich aus dem Jahre 1848, dem Jahr der Revolution, an der Wagner in einer Weise teilnahm, die ihm steckbriefliche Verfolgung und Exil einbrachte; und in dem nach drei Jahrzehnten fertigen Werk spiegelt sich die Entwicklung seines Denkens von Bakunin über Feuerbach zu Schopenhauer, und so gibt es auch drei Schlußfassungen: eine nach Bakunin, eine nach Feuerbach, eine nach Schopenhauer.

Im Zentrum steht aber die (bürgerliche) Ehe, sie ist soeben erfunden, und Wotan und Fricka wollen als erste diese neue Lebensform arbeitsfähig oder wenigstens aushaltbar machen. Das erste, was wir nun lernen, ist dies: Die soeben neuerfundene bürgerliche Ehe ist (außer um den Preis der später zu besprechenden partiellen Selbstkastration des Mannes) nur auszuhalten, wenn zumindest noch Restbestände der vorher praktizierten offenen oder verdeckten Gruppenpromiskuität der einzelnen Zirkel der oberen Zehntausend vorhanden sind. Dies zeigt sich in der Unentbehrlichkeit von Freia, Freia, die Freie, die Holde, die Repräsentantin von "Weibes Wonne und Wert", von der die ehelich Gewordenen mindestens einmal täglich ihre Liebesgabe erhalten müssen. Wir werden dem Ehepaar Wotan/Fricka aber noch in einigen anderen ehetypischen Lebenssituationen begegnen. Außer dieser prototypischen Ehepaarbeziehung gibt es noch eine Reihe weiterer Beziehungen, Paarbeziehungen und andere, deren Auflistung insgesamt tatsächlich eine Art "Bestandsaufnahme" ergibt. Zunächst gebe ich eine kurze Charakterisierung der weiteren Paarbeziehungen, beginnend mit denjenigen, an denen Wotan selbst beteiligt ist. Da ist vor allem die Beziehung zu Erda. Erda ist Anfang aller Anfänge, Frau aller Frauen, die in "wissendem Schlaf", wie sie sagt (S. 237), Träume träumt, die die Nornen dann in ihrem Seil ausspinnen: "... wenn ich schlafe,/ wachen Nornen./ Sie weben das Seil,/ und spinnen fromm, was ich weiß." Wie sie das tatsächlich tun, erfahren wir dann später in der berühmten Nornenszene (die Schlüsselszene für den ganzen "Ring"), die Wagner als Vorspiel der "Götterdämmerung" einschaltet. Eine frühere Begegnung Wotans mit Erda, der Erde, dem Mutterschoß schlechthin, eine Begegnung, der Brünnhilde entstammt, wird bei einer der späteren Wiederbegegnungen von Erda selbst als eine Art "Bezwingen" geschildert: "Mich Wissende selbst/ bezwang ein Waltender einst./ Ein Wunschmädchen/ gebar ich Wotan." Als zweite nächst ihrer Mutter Erda ist da also Brünnhilde. Wotan und Brünnhilde sind Vater und Tochter, aber auch Paar, Liebespaar, und immer hart am Rande des Inzests, auf den Wotan ja in vielfacher Hinsicht und an allen Fronten hinarbeitet. Als Vater/Tochter-Beziehung ist sie ein Alptraum, eine Beziehung, in der sich all das ereignet, was nach den von heutigen Entwicklungspsychologen und Therapeuten jeder Couleur aufgestellten Forderungen in einer Eltern/Kind-Beziehung gerade nicht passieren sollte: die Instrumentalisierung und Parentelisierung des Kindes, die Verwischung der Generationenschranke, die Verletzung des Vorrangs der Elternkoalition, die Koalitionsbildung Vater-Tochter gegen die Mutter etc. etc. Wotan benutzt sein Kind für seine Zwecke (das ist der gemeinsame Nenner aller hier anzutreffenden Vater/Kind-Beziehungen). Er macht Brünnhilde zu seiner Vertrauten, schüttet ihr sein Herz aus, beklagt bei ihr sein allgemeines Scheitern und sein Eheunglück, bringt sie dabei in Loyalitätskonflikte zu ihrer Stiefmutter Fricka, bringt sie zwischen die Fronten der Eheleute und (indem er von ihr erst dies und dann das verlangt, so daß sie in jedem Falte das Falsche tun wird) zwischen die Fronten seiner eigenen gegensätzlichen Bestrebungen, zwischen die verschiedenen Teile seines in sich gespaltenen Selbst. Es ist daher kein Wunder, daß sie untergeht.

Die Beziehung Hunding/Sieglinde ist Prototyp einer von der Frau nie gewollten und von Anfang an unglücklichen Ehe. Sieglinde ist Prototyp der ungefragt und widerwillig an einen abgelehnten Gatten vergebenen unglücklichen Frau, deren Flucht in Ehebruch damit vorprogrammiert ist. Die Paarbeziehung Siegmund/Sieglinde ist Prototyp der Beziehung des Geschwisterinzestes und des Ehebruchs als einer gemeinsamen Flucht aus der Ehe (als Beziehung verschiedener Geschlechter und verschiedener Charaktere) in die Illusion, in die Hoffnung und Sehnsucht der Gleichheit der Zwillinge, in die Arme eines anderen, besseren Ichs. Die Beziehung Siegfried/Brünnhilde ist Prototyp einer wechselseitigen Initiationsbeziehung als Begegnung zweier bisher sexuell Unerfahrener, die nun gemeinsam erstmals das "Fürchten" lernen, womit Wagner im Sinne der heute sogenannten Angstlust den ganzen angst- und lustbesetzten Sexualbereich bezeichnet, also sowohl Vorlust wie Höhepunkt und Erlösung. Ehe Siegfried das so zu verstehende "Fürchten" noch kennt, schildert es ihm sein Pflegevater Mime: "Die Sinne vergeh'n dir dann schon!/ Wenn dein Blick verschwimmt,/ der Boden dir schwankt,/ im Busen bang/ dein Herz erbebt" usw.

Weiter gibt es da die Beziehung Siegfried-Gutrune und die letztlich ähnlich strukturierte Beziehung Gunther-Brünnhilde, Prototypen der durch Fallenstellerei, Betrug und Selbstbetrug, Täuschung und Selbsttäuschung und anderes Gift zustande gekommenen Eheverbindungen; schließlich die Beziehung Alberich/Grimhild, der Hagen entstammt, Prototyp der sexuellen Ausbeutungsbeziehung in Ausnützung auch wirtschaftlicher Machtpositionen, also eine auch heute noch innerhalb wie außerhalb der Ehe weitverbreitete Erscheinung. Im Phänomen "zürnender Zeugung", wie sie sich hier ereignet, kündigt sich, der Prophezeiung Erdas zufolge, das Ende der Seligen an. Als Wotan erfährt, daß Grimhild von Alberich geschwängert wurde, von dem "Liebelosen" eine - wie es ausdrücklich heißt - "Frucht des Hasses" (S. 121) im Schoße trägt (und ich möchte nicht wissen, wie oft sich derartiges außerhalb und - vielleicht noch öfter - innerhalb der Ehe ereignet), erinnert er sich an Erdas prophetische Worte: "Wenn der Liebe finstrer Feind/ zürnend zeugt einen Sohn,/ der Seligen Ende/ säumt dann nicht."

An Eltern/Kind-Beziehungen, deren gemeinsamer Nenner, wie gesagt, die Instrumentalisierung des Kindes ist, gibt es neben der schon als Paarbeziehung angeführten Beziehung Wotan/Brünnhilde die Beziehungen Siegfrieds, einmal zu seinen vor beziehungsweise mit der Geburt verstorbenen leiblichen Eltern, nach denen er ahnungsweise schon immer und in der Pubertät dann ausdrücklich zu fragen beginnt ("Wer ist mir Vater und Mutter?", S. 177, "Wie hieß mein Vater?", S.179), über die er Vorstellungen bildet ("Wie sah mein Vater, wie sah meine Mutter aus?"), dann die zu dem schon erwähnten Pflegevater Mime, dem Bruder Alberichs und Onkel Hagens. Die Beziehung Siegfried/Mime ist zum einen Prototyp eines Pflegekindverhältnisses inmitten der Krise des Fragens nach den leiblichen Eltern, zum andern Prototyp der Beziehung eines alleinerziehenden Elternteils zu einem Kind, hier eines Pflegevaters zu einem Jungen, das heißt eine zu allem anderen auch noch gleichgeschlechtliche Beziehung. Ihn, Mime, den Pflegevater, dessen faustdick aufgetragene gleichgeschlechtliche Zuwendung und Belästigung Siegfried entfliehen will (aber nicht entfliehen kann, solange er ihn noch für irgendetwas braucht), fragt er zunächst, also noch vor der Abstammungsfrage, nach der Pflegemutter: "Wo hast du nun, Mime,/ dein minniges Weibchen,/ daß ich es Mutter nenne?" Seine Aufklärung ist noch nicht weit gediehen. Was er diesbezüglich weiß, verdankt er der Naturbeobachtung, und so kann er den Pflegevater noch teils ernsthaft, teils scherzend fragen "Du machtest wohl gar ohne Mutter mich?", worauf ihm (sehr aktuell für gegenwärtige Einelternkindprobleme) Mime tatsächlich antwortet: "Glauben sollst du,/ was ich dir sage./ Ich bin dir Vater/ und Mutter zugleich." In der Beziehung Siegfried/Mime kumulieren also die Probleme der Pflegeelternschaft mit denen der Einelternschaft (und denen des Einzelkindes), und das Ergebnis ist Siegfried als Rüpel aller Rüpel, ein Junge mit allen nur denkbaren Unarten eines unerziehbaren, in jeder Hinsicht verzogenen und in mehr als einer Hinsicht mißbrauchten Einzelkindes, das am Ende keine andere Wahl hat, als seinen Pflegevater, der ihm nach dem Leben trachtet, aus nur allzu guten Gründen umzubringen, nachdem er zuvor mit großer Entschiedenheit, das heißt bei Siegfried immer auch: mit großer Gewaltsamkeit, versucht hat, ihm das Abstammungsgeheimnis zu entreißen - und dabei das Entscheidende, daß seine Eltern Zwillingsgeschwister waren, nicht erfahren hat.

Eine weitere Vater/Sohn-Beziehung haben wir zwischen Alberich und Hagen - Hagen, von Alberich gleichfalls nur als Instrument eigener Pläne erschaffen und wahrgenommen, Frucht des Hasses, der Düstere, Bleiche, der sich vom Ritual der Blutsbrüderschaft zwischen Gunther und Siegfried mit dem Argument "Nicht fliesst mir das Blut ächt und edel wie euch" ausschließt, Hagen, der seines Lebens nicht froh wird, der bei seinen Halbgeschwistern nur als Erfinder, Planer und Durchführer von Schandtaten Anerkennung findet und durch seine Schandtaten immer mehr Haß auf sich zieht, Hagen, dem der Vater Alberich jede Chance eines gelingenden Autonomiekonfliktes im Keim erstickt, indem er von ihm immer genau die schändliche Heldentat verlangt, die jener gerade selber ausgeheckt und auszuführen begonnen hatte. Damit sind als weitere Beziehungstypen auch schon die Halbgeschwisterbeziehungen aufgeführt, insbesondere also die Beziehung zwischen Gunther und Hagen, die Kinder derselben Mutter, Grimhild, sind und von verschiedenen Vätern abstammen, jener ehelich und legitim, Sohn und Erbe Gibichs, dieser illegitim (Früchte des Hasses sind sie, obwohl nur Hagen ausdrücklich als solche bezeichnet wird, in dieser entsetzlichen Familie wohl beide). In der Beziehung Brünnhildes zu ihren acht Mitschwestern, den übrigen Walküren, finden wir die andere technisch mögliche Art von Halbgeschwisterbeziehung: ein Vater, zwei oder mehrere Mütter, von denen aber eine privilegiert war und ist, Allein Brünnhilde entstammt der in jeder Hinsicht privilegierten Beziehung zwischen Wotan und Erda. Die acht anderen wurden - mit einer anderen Mutter - nur hervorgebracht, um Brünnhilde nicht als Einzelkind (das sie gleichwohl blieb) aufwachsen zu lassen ("mit acht Schwestern zog ich dich auf").

Schließlich haben wir in Brünnhilde und Gutrune noch die gleichfalls sehr aktuelle - Konstellation zweier rivalisierender Frauen in Liebe zu einem Mann, wobei Brünnhilde als diejenige, die ihn mehr liebt und auch besser kennt, ihm aus der besseren Kenntnis seiner wunden, verletzbaren Stellen mehr schaden kann und ihm aus der größeren Eifersucht, die aus ihrer größeren Liebe stammt, auch mehr schaden will.

Soviel also vorweg und zunächst nur in Stichworten über den Reichtum an familiären Beziehungsformen, der insgesamt tatsächlich eine Art Bestandsaufnahme ermöglicht. Nun müssen wir den Handlungszusammenhang rekonstruieren, und zwar akzentuiert und fokussiert auf unsere Fragestellungen.

"Der Ring des Nibelungen" heißt zunächst nichts anderes als "Der Ring Alberichs". Wenn es "der Nibelung" heißt, ist immer Alberich gemeint. Hagen heißt nie "der Nibelung", sondern figuriert als "Sohn des Nibelungen". Alberich ist "der" Nibelung, der Herrscher, der stärkste Mann des Stammes, und er hat aus dem von ihm geraubten Rheingold durch seinen von ihm geknechteten und ausgebeuteten Bruder Mime den Ring schmieden lassen, und so ist und bleibt es sein Ring: "Der Ring des Nibelungen". Voraussetzung dafür - also daß er (erstens) das Rheingold rauben und (zweitens) daraus den Ring verfertigen (lassen) konnte - war (ähnlich wie im Märchen "Das kalte Herz") die Versagung, ja mehr noch: die Verfluchung der Liebe, der Liebe als der Fähigkeit, vom Mitmenschen nicht nur zu nehmen, sondern ihm auch zu geben, unter Umständen sogar mehr zu geben, als man nimmt: die Liebe als die Art von Beziehung, die nicht den Regeln des do ut des, der Entgeltlichkeit und der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung untersteht, die, ob groß oder klein, nur als Zuschußgeschäft zu haben ist. Nach dem Liebesfluch existiert für Alberich der Mitmensch als Mitmensch nicht mehr, sondern nur noch als ein Wesen, das man in entfremdeter Arbeit für sich arbeiten lassen und ausbeuten, die Erzeugnisse seiner Arbeit also ohne gleichwertige Gegenleistung an sich reißen kann. Diese Fähigkeit setzt den Liebesfluch voraus, erst der Liebesfluch - und insoweit sind wir alle, die aus dem Profitsystem direkt und indirekt Vorteile ziehen, Kinder Alberichs -, erst der Liebesfluch ermöglicht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der "Ring", an dem "der Welt Unheil haftet" (S. 294), ist also nichts anderes als die Verdinglichung, Vergegenständlichung der Fähigkeit, Mitmenschen für sich in Ausbeutungsverhältnissen, Sklaverei, Lohnsklaverei, Zuhälterei, Prostitution, bürgerliche Ehe oder was immer arbeiten zu lassen. Diese Fähigkeit kann man nur besitzen um den Preis des Verlustes der Fähigkeit, den Menschen als Menschen anzunehmen und von ihm als Mensch angenommen und geliebt zu werden. Was Alberich freilich bleibt - und auch insoweit sind wir alle Alberichs Kinder -, ist die Möglichkeit der Lust: "Erzwäng ich nicht Liebe,/ doch listig erzwäng' ich mir Lust?" Was ihm ferner bleibt (sonst wäre die westliche Menschheit ja längst ausgestorben), ist die Fähigkeit der freilich lieblosen Zeugung, der "zürnenden Zeugung" aus der denn auch nur Früchte des Hasses hervorgehen. Für sich selbst also braucht Alberich den Ring eigentlich gar nicht mehr. Mit dem Liebesfluch hat er bereits die Fähigkeit erworben, auf die es ankommt. Aber in der Vergegenständlichung wird der Ring jetzt zur Quelle des Unheils für alle, die mit ihm in Berührung kommen: Wotan, Fasold, Fafner, Siegfried, Brünnhilde, in dieser Reihenfolge. Und da das Unheil von Anfang an dem Ringe anhaftet, da er das Unglück selbst bedeutet, das sich in ihm nur gegenständlich darstellt, bedarf es eigentlich auch nicht mehr des berühmten Fluches, den Alberich, nachdem Wotan ihn ihm raubte, an den Ring knüpft. "Wie durch Fluch er mir geriet,/ verflucht sei dieser Ring!/ Gab sein Gold/ mir Macht ohne Maß/ nun zeug' sein Zauber/ Tod dem, der ihn trägt." Wir alle sind Alberichs Kinder, und egal, ob der verfluchte Ring durch diese oder jene Hände ging, sind wir doch alle kontaminiert von ihm und erfahren immer wieder neu, daß es im Meer der Korruption keine Inseln gibt, keine Möglichkeiten, an Verblendung und Verbrechen nicht teilzuhaben, denn - wie Adorno es formulierte "keiner, der vom Profitsystem profitiert, vermag darin ohne Schande zu existieren"6) und sei es auch nur - so füge ich hinzu, die Schande der Selbsttäuschung. Auch Wotan macht, wie gleich zu zeigen ist, darin keine Ausnahme. Er ist von Alberich nicht so weit entfernt, von ihm nicht so sehr verschieden.

Alberich und Wotan sind Vettern. Beide sind sie Alben, aber sie haben sich in einer Art von Dualismus und Manichäismus die Welt geteilt. Die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht, und wir, Alberichs Kinder, deren Augen längst ans Dunkle gewöhnt sind, sehen sie beide. Die einen, die Nacht- und Schwarzalben, deren Oberster Alberich ist, wohnen unter der Erde, in Nibelheim (Nibel-Nabel-Nebel-Nobel), und heißen jetzt Nibelungen. Die anderen, die Lichtalben, die Götter, deren Oberster Wotan ist, wohnen über der Erde. Auf der Erde wohnen Riesen, das sind nichts anderes als Arbeiter, die noch nicht unterernährt und ausgezehrt in den unterirdischen Fabriken Alberichs als Sklaven, Lohnsklaven oder in noch schlimmeren brüderlichen Ausbeutungsverhältnissen arbeiten, sondern noch als gut verdienende selbständige Unternehmer und Facharbeiter, deren Körperformen und Muskeln durch die ständige Schwerarbeit bei ausreichender Ernährung riesig geworden sind.

Mit zweien von ihnen - stellvertretend für alle -, Fafner und Fasold, ist Wotan in Berührung gekommen, als er nach seiner Heirat - die ja zugleich die Erfindung der bürgerlichen Ehe war- für sich und Fricka ein neues Haus erbauen ließ. Hausbau und Hausrenovierung sind ja das, was uns höhere Staatsträger und Staatsdiener mit der fernen Welt der gewerblichen Wirtschaft und des Kapitalmarktes in Berührung und dabei oft genug in Schwierigkeiten kommen läßt. Als das Haus bezugsfertig ist, gibt es Streit mit den Handwerkern um die Bezahlung. Von seinem Versprechen, ihnen als Werklohn die unentbehrliche Freia zu geben, die Repräsentantin weiblicher Wonne und Lust vorehelicher Zeiten (im Doppelsinne: voreheliche Lebenszeit und voreheliche Geschichtszeit), will Wotan, Erfinder und Hüter der Vertragstreue, nun abrücken. Er argumentiert - sinngemäß -, das Versprechen sei nie ernst gemeint gewesen (geheimer Vorbehalt) und das Unentbehrliche könne gar nicht weggegeben werden (impossibilium nulla obligatio). Die Riesen lassen sich - Fasold aber nur sehr zögernd - schließlich darauf ein, an Stelle von Freia eine ihren Körperausmaßen entsprechende Menge Gold anzunehmen, was Wotan, da er das Gold nicht besitzt, erst in einem listigen und gewaltsamen, von Loge-Lüge ausgeheckten und ausgeführten Manöver seinem Vetter Alberich rauben muß, der es dank des Ringes - also dank der Fähigkeit, Menschen in Ausbeutungsverhältnissen für sich arbeiten zu lassen - inzwischen aufgehäuft hat.

Im Streit mit den Handwerkern um deren Bezahlung kommt es auch zum Streit zwischen den Eheleuten. Auch zwischen diesen Eheleuten war in Sachen "Hausbau" vieles unklar geblieben, und zwar nicht nur, wie das neugebaute Ehe-Wohnheim zu bezahlen, sondern auch, wie und warum es zu bewohnen sei und weshalb es überhaupt gebaut wurde. In dem ersten der von uns miterlebten ehelichen Gespräche geht es darum, wer von beiden das nun fertig dastehende und demnächst zu bezahlende Haus eigentlich gewollt hat und wozu es schließlich und endlich dienen soll. Wotan behauptet, Fricka habe ihn darum gebeten. Fricka bestreitet es nicht, gibt sogar zu, sie habe sich von dem Neubau etwas mehr eheliche Treue ihres Mannes erhofft, oder wenn nicht dies, so doch wenigstens, wie wir seit einer berühmten Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1956 sagen, den Schutz des "räumlich-gegenständlichen Ehebereichs". Sie sieht und sie sagt das sehr klar: "Um des Gatten Treue besorgt/ muß traurig ich wohl sinnen/ wie an mich er zu fesseln,/ zieht's in die Ferne ihn fort:/ herrliche Wohnung,/ wonniger Hausrat,/ sollten dich binden/ zu säumender Rast" (S. 25). Wotan antwortet ihr, sinngemäß, sie solle sich insofern keinen zu großen Hoffnungen und Illusionen hingeben. Andererseits beruhigt er sie, indem er daran erinnert, daß er ja bereits antriebsgeschwächt, nämlich halbkastriert ist: "Um dich zum Weib zu gewinnen,/ mein eines Auge/ setzt' ich werbend daran" (S. 26). Wir werden diese Textstelle gleich näher betrachten.

Sodann geht es in diesem ersten von uns miterlebten Ehegespräch Wotan-Fricka auch schon um die bevorstehende Bezahlung. Auch insoweit stellt Fricka an Wotan sehr widersprüchliche Forderungen. Er soll nämlich sein den Handwerkern gegebenes Versprechen halten, ohne es zu halten. Er soll sein Versprechen halten (klar, denn die Erfindung der bürgerlichen Ehe setzt ja die Erfindung der Gesetzes- und Vertragstreue, die in der ehelichen Treue ihren Prototyp hat und in ihr kulminiert, voraus), ohne es zu halten (klar, denn auf die zunächst als Werklohn versprochene Freia kann auch Fricka nicht verzichten). Frickas Forderungen beinhalten noch einen weiteren Widerspruch: Wotan soll, um Freia und mit ihr die Götter zu retten, schnell viel Geld heranschaffen, aber es soll dabei mit rechten Dingen zugehen, und von krummen Touren will sie, obgleich sie doch alles mitbekam und mitbekommt, nichts wissen und nichts gewußt haben. Derjenige, der Wotan aus der Klemme hilft, ihn informiert, wo und wie das nötige Gold zu beschaffen ist und zur Durchführung des Raubes die entscheidenden Beiträge leistet, ist Loge, eine Art Feuergott (sowohl Loki wie Lüge). Ähnlich wie Erda steht er in gewisser Weise außerhalb der Zwänge der hier untergehenden Welt oder glaubt das wenigstens. Als - am Ende von "Rheingold" - die Eheleute feierlich in das mit geraubtem Gold schließlich bezahlte Haus einziehen ("Folge mir, Frau:/ in Walhall wohne mit mir!"), weiß er, daß sie ihrem Untergang entgegengehen, scheint aber noch zu glauben, daß ihn das nicht betreffen wird: "Ihrem Ende eilen sie zu,/ die so stark im Bestehen sich wähnen./ Fast schäm' ich mich,/ mit ihnen zu schaffen." Auch die auf dieser Haltung aufgebauten Beziehungen sind in unserer Bestandsaufnahme erwähnenswert.

Ihrem Ende eilen sie also zu, die so stark im Bestehen sich wähnen. Nun hat, einige Zeit später, Wotan die meisten seiner Irrtümer erkannt, aber wie immer zu spät. Wenn wir entdecken, daß wir mit unseren besten Bestrebungen (die Idee der Errichtung eines Rechtsstaates, die Idee der Möglichkeit einer auf Gesetzes- und Vertragstreue beruhenden Friedensordnung ist ja schließlich doch etwas Großartiges, wir haben wieder einmal die nun abgelaufenen knapp fünfzig Jahre daran glauben dürfen), wenn wir also entdecken, daß wir auch und gerade mit unseren besten Bestrebungen auf dem Holzweg sind, wenn wir entdecken, daß wir (nach der Dialektik von Absicht und Erfolg) gerade das Gegenteil von dem Angestrebten bewirken und erreichen, ist es für Umkehr in aller Regel längst zu spät. Die meisten der von Wotan eingeleiteten Maßnahmen sind nicht rückgängig zu machen. Die partielle Selbstkastrierung ist nicht reparabel. Wotan bleibt einäugig, einhodig. Er zahlte, wie in der berühmten Nornenszene die erste Norne sagt, "seiner Augen eines als ewigen Zoll". Damit ist die Natur ein für allemal aus dem Lot. Den bereits so, also als Halbkastration beschriebenen Beginn des Prozesses einer globalen ökologischen Krise, des schließlichen Absterbens aller Vegetation und letztlich allen Lebens, stellt der Mythenbildner nicht nur im Hodenopfer dar, sondern in einem weiteren Naturfrevel, der mit dem Hodenopfer durch die Denkfigur Leistung/Gegenleistung verkoppelt ist: die Beschädigung und Verwundung der Weltesche Yggdrasil, an der diese verbluten und verdorren wird. Das Abbrechen eines Astes von der Weltesche, aus dem Wotan seinen Speer schnitzen wird, ist also funktional gesehen identisch mit der partiellen Selbstkastration und ereignet sich gleichzeitig mit dieser, und beide sind sie Bedingung der Möglichkeit der Errichtung des Rechtsstaates, der Vertragstreue und ihres Kernstücks, der bürgerlichen Ehe. Daß die Preisgabe eines Auges in der Symbolsprache immer Preisgabe eines Hodens bedeutet, brauche ich wohl kaum klarzustellen.

Später, nach einem weiteren, dem schlimmsten Ehekonflikt, in dem - wie gleich auszuführen ist - Fricka Wotan bedrängt, seinen gleichgeschlechtlichen Liebling Siegmund zu opfern ("Laß von dem Wälsung"), klagt Wotan mehrmals, er wolle nur noch das Ende, und mehrfach muß Brünnhilde, einmal auch Erda, sich das anhören: "das Ende, das Ende" (S. 120, S.241). Seine Niederlage in diesem Ehekonflikt um seinen "Wälsung" ist es, wo er "aus Ohnmacht-Schmerzen schäumend aufschoß" und wo er, wie er sagt, "den schrecklichen Willen mir schuf,/ in den Trümmern der eig'nen Welt/ meine ewige Trauer zu enden". (Männer in Ehekrisen sind, wenn sie Macht haben, gemeingefährlich, in Weltuntergangszeiten ganz besonders.)

Obwohl Wotan längst weiß, daß nichts mehr zu machen ist, und daß ihn, wenn es nicht sowieso mißlingt, Fricka am Gelingen seiner Befreiungsversuche hindern wird, versucht er es doch immer wieder, und zwar sehr listig und von langer Hand. Die Befreiung von der verfluchten Selbstbindung an Gesetz und Vertrag soll - als eine Art alter ego Wotans - Siegfried leisten, der dafür in einem mehrgenerationalen Prozeß zur Welt gebracht werden muß: Wotan zeugt als sogenannter "Wolfe" oder "Wälse" mit einer unbekannten Frau die Wälsungen-Zwillinge Siegmund und Sieglinde und stellt die Weichen so, daß diese zueinander finden und in ihrer doppelt und dreifach anarchischen Liebesbegegnung (Geschwisterinzest, Ehebruch) Siegfried entstehen kann: "So blühe denn, Wälsungenblut".

An dieser Stelle nun (Siegfried ist gezeugt, aber noch nicht geboren) lernen wir (im 2. Aufzug der "Walküre") in einem furchtbar quälenden Ehezwistgespräch das Ehepaar erst so richtig kennen. Fricka hat längst alles erfahren, hat Wotan schon lange durchschaut und verlangt, als Hüterin der Ehe und Profiteurin ehelicher Treueversprechen, die Bestrafung des Ehebrechers. Zugleich verlangt sie damit, daß er seine Hoffnungen auf den gleichgeschlechtlichen Liebling begräbt. Es ist wirklich einer der quälendsten Ehedispute der Weltliteratur und endet, wie Wotan sich auch dreht und windet, mit dessen totaler Kapitulation, mit einem vollen Sieg Frickas, die dabei, wie sie weiß, auch ihre Stieftochter, Wotans Liebling Brünnhilde, vernichtet. Denn Wotan muß jetzt, um dem von Fricka ihm abgepreßten Eid zu entsprechen, die bereits an Brünnhilde erteilte Weisung zurücknehmen und ihr - gegen seine und ihre Neigung - gerade das Gegenteil auftragen. Statt im bevorstehenden Zweikampf Hunding/Siegmund dem letzteren zum Siege zu verhelfen, soll sie nunmehr dem verhaßten Hunding helfen, den geliebten Siegmund zu töten. In dem sich nun anschließenden Vater/Tochter-Gespräch verwickelt Wotan sich und sie in alle nur denkbaren Widersprüche, deren tragische Folgen dann auch keineswegs nur Brünnhilde, sondern auch ihn selbst treffen. Zur Strafe für ihren (von Wotan in letzter Sekunde vereitelten) Versuch, gegen dessen zweite Weisung zu handeln und - seiner ersten Weisung entsprechend - Siegmund zu retten, muß Brünnhilde ihre Karriere als Walküre und Lieblingstochter beenden. Sie kommt aber später - allerdings nur für kurze Zeit - doch ans Ziel ihrer Wünsche, sich mit Siegfried zu vereinigen. Sie sagt das, als sie längst keine Walküre mehr ist, ihrer Halbschwester Waltraute ganz ausdrücklich und sehr triumphierend: "So zur Seligsten/ schuf mich die Strafe./ Der herrlichste Held/ gewann mich zum Weib;/ in seiner Liebe/ leucht' und lach' ich heut' auf" (S. 290). Für Brünnhilde also endet der Autonomiekonflikt mit Wotan an dieser Stelle noch nicht tödlich, sondern nur mit dem Verlust der Göttlichkeit - was dem Vater noch einmal gestattet, der Tochter einen langen, langen Kuß auf die Augen zu geben: "so küß ich die Gottheit von Dir". Wotan dagegen muß nun endgültig ohne sie auskommen, ohne die Lieblingstochter, der er eben noch sein Herz über sein Eheunglück ausschüttete und seinen Überdruß an allem klagte. Der Strafende ist der Bestrafte. Nach dem von ihm selbst veranlaßten Verlust der Lieblingstochter gibt er nicht nur sich selbst, sondern buchstäblich alles völlig auf. Er verfällt in eine Art Altersdepression, hat aber noch Tatkraft genug, aus den zu Kleinholz geschlagenen Stämmen der inzwischen völlig verdorrten Weltesche das Feuermeer um Walhalla vorzubereiten. Wenn er zwischendurch noch einmal von Brünnhilde träumt, dann - unverbesserlich - wieder nur im Kontext von Instrumentalisierung und Opfer: "Des tiefen Rheines Töchtern/ gäbe den Ring sie zurück,/ von des Fluches Last/ erlöst wär' Gott und Welt." Brünnhilde, der das zugetragen wird, bleibt keine Chance als dieses Opfer, das sie dann - nachdem sie in einem Irrtum, der ihre Eifersucht erweckte, Siegfried geopfert hat - mit ihrem nachfolgenden Selbstopfer schließlich auch erbringt - armes Mädchen.

Auf seinen Enkel Siegfried wartet ein ganz anders ausgehender Autonomiekonflikt. Sein wirklicher Vater lebt nicht mehr, und sein Pflegevater ist ihm als Konfliktpartner nicht gewachsen. Wotan ist der erste und einzige, gegen den er den Autonomiekampf führen kann und führen wird. Aber zunächst einmal müssen wir den weiteren Werdegang Siegfrieds, den wir bisher nur als verzogenes, unerziehbares, rüpelhaftes Einzelkind kennengelernt haben, nachzeichnen. Mit Kenntnis der Siegfried-Sage allein kommen wir bei Richard Wagner nicht aus. In der Mythenfassung Wagners ist Siegfried nämlich auch gleichzeitig der Junge, der auszieht, das Fürchten zu lernen, und der es in keiner noch so schaurigen Szene lernt, bis er das Schaurig-Schöne dann schließlich im Bett einer Frau erfährt. In der Mythenfassung Wagners werden in der Person Siegfrieds zwei Helden zu einem einzigen verschmolzen, der eigentliche Siegfried und der Junge, der auszog, das Fürchten zu lernen. Siegfried ist erstens der Furchtlose, der auch im Kampf mit dem Drachen keine Furcht kannte (und diese weiter suchen muß), und zweitens der die Furcht nun schließlich doch erlebende Brünnhilde-Erlöser. Wagner hat beide Stoffe ineinander gearbeitet, und es ist auch klar, daß es sich bei dem zu lernenden "Fürchten", bei dem Schaurig-Schönen, von dem dem Ahnungslosen seinerzeit schon der Pflegevater lüstern schwärmte, um die sexuelle Erschütterung handelt. "Die Sinne vergeh'n dir dann schon!/ Wenn dein Blick verschwimmt,/ der Boden dir schwankt,/ im Busen bang/ dein Herz erbebt." Das Bindeelement zwischen den beiden verschmolzenen Stoffen bildet ein Ausspruch Wotans (das Schlußwort der "Walküre"), als er die in ihrem Feuerkreis eingeschlossene Brünnhilde verläßt mit den Worten: "Wer meines Speeres/ Spitze fürchtet,/ durchschreite das Feuer nie" (S. 164).

In einem Endkampf um die Macht, der zugleich Kampf um Brünnhilde ist ("Verschlossen hält/ meine Macht die schlafende Maid:/ wer sie erweckte,/ wer sie gewänne,/ machtlos macht' er mich ewig!"), wird sich Wotan seinem Enkel, den sein "Vöglein" bereits in die Nähe des Brünnhildensteines geführt hat, noch einmal entgegenstellen, ihm seinen Speer entgegenhalten, den Siegfried, da er das Fürchten noch nicht kennt (da er noch nicht masturbiert hat), ihm als Zeichen seiner Furchtlosigkeit (und seiner doppelt überlegenen Potenz: Siegfried ist der Jüngere von beiden, und er ist nicht - wie sein Gegner - halbkastriert) abschlägt. Vernichtung, die Versöhnung nicht mehr zuläßt, ist also das traurige Ende dieses Autonomiekonfliktes.

Wichtigste Zwischenstationen des Entwicklungsweges Siegfrieds vom rüpelhaften Knaben zum Wotan-Vernichter und Brünnhilde-Bezwinger sind zum einen die Neuerschaffung des Schwertes Nothung und zum anderen die Begegnung mit dem Riesen Fafner, der in der Gestalt des riesigen Wurmes den Nibelungenhort inklusive Ring und Tarnkappe bewacht und den Siegfried mit Nothung töten kann. Dabei gibt es bereits auch Annäherungen an das Lernziel "Furcht". In der Hitze des Gefechts mit Fafner schafft er sich die Voraussetzungen, dem doppelten und doch einen Ziel "Brünnhilde" und "Fürchten" näherzukommen. In der Hitze des Gefechts mit Fafner erlebt er quasi die erste Erregung, die erste Erektion, die ihn jetzt sozusagen zielstrebiger die Begegnung mit Brünnhilde und das bei ihr zu lernende "Fürchten" suchen und, da er der Selbstbefriedigung widersteht, schließlich auch finden läßt. Das wird in der Symbolsprache Wagners natürlich verschlüsselt, läßt sich aber leicht entschlüsseln: das heiße, brennende Drachenblut am Finger, den er zum Munde führt, was ihn die Sprache des Vögleins und dessen gute Ratschläge, wie und mit welcher Ausrüstung er zu Brünnhilde finden kann, verstehen läßt. Dechiffrierungshinweise gibt uns Wagner selbst an manchen Stellen, zum Beispiel, wenn er Siegfried wenige Augenblicke vor dessen Tode zu Hagen sagen läßt "Seit Frauen ich singen hörte/ vergaß ich der Vöglein ganz." Wir lernen also aus dem so dechiffrierten Text: Siegfried mußte das Vöglein singen hören, seine Botschaft verstehen, mußte die Erregung erleben, die erste Erektion erfahren, die seine Marschrichtung nun bestimmt, aber mehr auch nicht. Hätte er in dieser ersten oder in späteren Erregungen bereits masturbiert, wäre ihm die Entmachtung Wotans nicht möglich gewesen und der Weg zu Brünnhilde verschlossen geblieben. Wagner ist hier noch sehr in Richtigkeitsvorstellungen seines Jahrhunderts verstrickt8). Insofern ist - wir werden das nachher herausarbeiten - Wagner heute nur noch eingeschränkt maßgeblich. Doch in Ausmalung der weiteren, nun folgenden Stufe der Annäherung Siegfrieds an Brünnhilde ist er wieder ganz aktuell: Der Weg zu der in hohem Maße furchtbesetzten Erfahrung der Zweigeschlechtlichkeit (als Begegnung mit Fremdem und Anderem) führt durch die Erfahrung der Gleichgeschlechtlichkeit. Dieser Entwicklungsschritt Siegfrieds wird von Wagner mit einiger Komik ausgemalt. Bei Siegfrieds Worten "Das ist kein Mann" und bei den sich anschließenden Hilferufen nach seiner Mutter entsteht im Publikum inmitten des hochtragischen Geschehens fast immer Heiterkeit. Das Tragischste an Siegfried ist nun, daß er trotz all dieser einigermaßen gelungenen Entwicklungsschritte am Hofe der Gibichungen schließlich doch in die Falle geht, und zwar in die Falle seines eigenen Ehrgeizes. Es ist eine klassische Konstellation und eine doch immer wieder aktuelle. Dem hochbegabten, aber noch ungebildeten bärenstarken Waldmenschen und Bauerntölpel tritt mit großem Imponiergehabe in der Form einer - natürlich männlichen - Herrscherfigur ein Repräsentant einer als überlegen eingeschätzten sogenannten höheren Welt entgegen, der er sich unterlegen fühlt und in die er gern aufsteigen möchte, und das Mittel zum Aufstieg, in dem sich dieser zugleich vollzieht, ist, daß er in die höhere Welt hineinheiratet. Dabei leitet ihn die freilich trügerische Hoffnung, als Schwiegersohn und Schwager akzeptiert und anerkannt zu werden. Spät oder nie wird er begreifen, daß seine neuen Gastgeber und Gönner ihn nur insoweit "akzeptieren" werden, als sie ihn - ehe sie ihn schließlich verraten und vernichten werden - instrumentalisieren und ausbeuten können. Siegfried, der Wotans Speer zerhauen konnte, ist dieser Konstellation nicht gewachsen. Wir brauchen also die Symbolik des Vergessenstrunkes gar nicht. Das Gift liegt schon in der Luft, und als Trank ist es nur die Vergegenständlichung der Atmosphäre und der Gegebenheiten der Situation. Die vergiftende Atmosphäre am Hofe der Gibichungen in Verbindung mit Siegfrieds Aufstiegsehrgeiz und seiner Schwäche für das überlegene Imponiergehabe seiner neuen Gastgeber und Gönner reicht vollkommen. Als sich ihm die Chance bietet, der Schwager Gunthers, des regierenden Königs, zu werden, vergißt er, daß er bereits mit Brünnhilde verheiratet ist und ihr den Ring gab. In einer solchen Situation hat schon manch einer seine Erfahrung der ersten Liebe vergessen oder wissend geopfert, hat schon manch einer seine Frau mitsamt Kindern sitzenlassen. Ein Beispiel wäre der Verrat Jasons an Medea9).

Das Gift dieser Konstellation, dem Siegfried erliegt, wird aber auch Gutrune schaden und sie am Ende vernichten. Auch von allem Betrug und Verrat einmal abgesehen, hätte Gutrune mit Siegfried schwerlich glücklich werden können. Sie war ihm nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck des Aufstiegs in die höhere Welt. Sein Begehren galt auch eigentlich gar nicht ihr, sondern ihrem Bruder Gunther, war somit ein gleichgeschlechtliches, und zwar auch dann noch, als es sich vom Bruder, der als Sexualpartner nicht zu haben ist, auf die Schwester richtet: "Deinem Bruder bot ich mich zum Mann;/ der Stolze schlug mich aus:/ ... böt' ich mich dir zum Bund?" In einem solchen Bund kann Gutrune, von allem übrigen abgesehen, schwerlich glücklich werden.

Das Weitere entwickelt sich dann folgerichtig. Auch das Gegengift brauchen wir und braucht Siegfried nicht. In der Todesahnung (oder besser dem Todeswissen: die Rheintöchter haben ihm ja soeben mitgeteilt, daß er noch heute erschlagen werden wird) kommt die Erinnerung der ersten Liebe ohnehin von selbst zurück. Auch die am Hofe der Gibichungen sich entwickelnden Verhältnisse sind ein Stück Gegenwart, ereignen sich noch heute immer wieder.

Damit soll unsere Bestandsaufnahme an Beziehungsmustern im "Ring", die zugleich Versuch einer Bestandsaufnahme heutiger Formen des Zusammenlebens war, abgeschlossen sein. Es bleibt - womit sich innerhalb dieser Ausführungen über den "Ring" der Kreis schließt -, noch einmal auf den Ring, an dem der Welt Unheil haftet, einzugehen. Der Unglücksring ging von Hand zu Hand. Von Alberich, dem er - obwohl aus geraubtem Gold gefertigt- nach wie vor gehören mag, gelangte er erst zu Fasold und Fafner, dann zu Siegfried und Brünnhilde, nochmals zu Siegfried, der mit ihm stirbt, und wieder zu Brünnhilde, die ihn schließlich den Rheintöchtern überläßt. Als er erstmals zu Brünnhilde gelangt, ist er aber ein Ehering und doch immer noch der Ring, an dem der Welt Unheil haftet. Die Szene der Ringübergabe an Brünnhilde ist vielleicht die makaberste im gesamten "Ring", der Gipfel der Verblendung. Siegfried gibt ihn ihr nach der ersten und - wie wir wissen - einzigen Liebesnacht, die zugleich die Heirat bedeutet, bei seinem Aufbruch zu neuen Taten zum Abschied "als Weihe-Gruß seiner Treue". Und sie, "voll Entzücken den Ring sich ansteckend", jubelt - und dankt es ihm auch noch mit einem Gegengeschenk: sie läßt ihm Grane, ihr Roß, ihren einzigen wirklich verläßlichen Freund und Helfer.

Man möchte nun meinen, eine schlimmere Verhöhnung der Eheschließungssymbolik wäre nicht denkbar. Aber ihr Grauen wird vielleicht in der späteren Szene der Heimführung Brünnhildes durch Gunther noch überboten. In guten wie schlechten Inszenierungen ist sie ja auch einer der Höhepunkte. Der König führt die Braut heim. Inmitten einer fast schon faschistischen Jubelfeier (die Mannen "schlagen jauchzend an die Waffen" und singen "Heil dir, Gunther!/ Heil dir und deiner Braut") und mit triumphierenden Worten ("Brünnhild', die hehrste Frau/ bring' ich euch her zum Rhein") führt der König eine Braut heim, die ihrerseits aber keineswegs strahlt, die total verstört ist und nur "bleich und gesenkten Blickes ihm folgt", die sich alsbald an den Hals eines anderen Mannes (Siegfrieds) wirft, in dem sie ihren ersten Liebhaber und Gatten endlich wiederfindet, und an dessen Brust sie den letzten Rest ihrer Fassung verliert. Dieser, statt sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, sagt nur "Gunther, deinem Weib ist übel", und mit dem Hinweis, Gunther sei ihr Mann, wird sie eiskalt an jenen abgeschoben. Vielleicht ist das der Gipfel der Verhöhnung der Ehe und der Eheschließungssymbolik?

Es bleibt nun noch eine kurze Auflistung einiger von Richard Wagner so noch nicht wahrgenommener, damals vielleicht auch noch nicht so erkennbarer Trends der Entwicklung bürgerlicher Beziehungsmuster. Dazu seien an dieser Stelle (und immer auf unsere "Ring"-Interpretation bezogen) nur drei Stichworte genannt: Feminismus, Gleichgeschlechtlichkeit, Masturbation, und zwar gebrauche ich diese drei Begriffe in einem möglichst weiten, vieldeutigen und über den üblichen eingegrenzten hinausgehenden Sinn. So verstanden bezeichnet die Trias "Feminismus, Gleichgeschlechtlichkeit, Masturbation" ("FGM") im Grunde nur verschiedene Aspekte ein und desselben Syndroms. Damit sind Entwicklungen bezeichnet, die damals so wie derzeit erlebbar wohl kaum absehbar waren10).

1. Feminismus: Ich meine diesen Begriff zunächst in einem umfassenden und ganz positiven Sinne, als zunehmende Verwirklichung des Gleichberechtigungsgebotes des Artikel 3 des Grundgesetzes, also als Stärkung der Stellung der Frau in allen Bereichen. Ich nenne diesen Trend "Feminismus" und nicht "Gleichberechtigung", von der wir ja noch weit entfernt sind. Aber es ist doch viel geschehen. Ein Manöver wie dasjenige, mit dem Siegfried im zweiten Aufzug der "Götterdämmerung" den Gegeneid der verzweifelten Brünnhilde vom Tisch wischen und zur Tagesordnung der Doppelhochzeitsfeier übergehen kann ("Gunther, wehr' deinem Weibe,/ das schamlos Schande dir lügt/ ... Ihr Mannen kehret euch ab!/ laßt das Weiber-Gekeif'!" S.317), würde heute, schwerlich zum Erfolg führen können. So kann man mit verzweifelten Frauen heute nicht mehr umgehen. Das ließe sich keine gefallen, und auch unter den Männern würden sich einige finden, die sagen: "So geht es nicht". Das Kräfte- und Zahlenverhältnis hat sich überall zugunsten der Frauen ganz erheblich verändert. In den 25 Jahren, die ich in Frankfurt Juristen ausgebildet habe, ist der Frauenanteil der in unserem Fachbereich Studierenden von 15% auf 50% angestiegen. Unter den Frauen sind oft die begabtesten, durchsetzungsfähigsten und erfolgreichsten unserer Studierenden - und oft auch diejenigen, von denen auch das FGM-Syndrom sehr überzeugend vertreten wird. Das sind Positiva, die auch durch "Quotenregelungen" und andere Durchsetzungsstrategien, die jeder (freilich nach wie vor eingeklagten und in Anspruch genommenen) Ritterlichkeit Hohn sprechen und den Garaus machen, nicht prinzipiell abzuwerten sind.

2. Gleichgeschlechtlichkeit: Auch dieser Begriff wird in einem denkbar weiten Sinne verstanden, also auch den - höchst problematischen - Prozeß des Abbaus herkömmlicher kultureller Markierungen biologischer Geschlechtsunterschiede umfassend. Fassen wir unter "Gleichgeschlechtlichkeit" - im üblichen engeren Sinne - zunächst nur die Homosexualität, so sehe ich auch da durchaus Positives: Enttabuisierung, Entkriminalisierung und die Erkenntnis, daß gleichgeschlechtliche Erfahrung (die natürlich, um nicht zu sagen hoffentlich, eine sublimierte sein kann und keineswegs unbedingt handgreiflich stattfinden muß) notwendiger Zwischenschritt auf dem Wege zur zweigeschlechtlichen Erfahrung ist. Zu den zahlreichen Negativa beim Vormarsch der Gleichgeschlechtlichkeit heute rechne ich die Forderung der Anerkennung einer "gleichgeschlechtlichen Ehe", die natürlich ein Unding ist, insofern sie nicht nur jede Ehe (als Versuch schrittweiser Annäherung und Verständigung zweier Geschlechter) verhöhnt und entwertet, sondern darüber hinaus durch sie auch die historische Funktion gleichgeschlechtlicher Affären und Beziehungen verkannt und ihr möglicher Gebrauchswert als homosexueller Heimaturlaub vom heterosexuellen Geschlechterkrieg gerade nicht realisiert wird.

3. Die mit dem Vormarsch der Gleichgeschlechtlichkeit verkoppelte und nun auch den zweigeschlechtlichen Bereich durchdringende, von der "Selbstverwirklichungs"-Propaganda mitgetragene Aufwertung der Selbstbefriedigung (Masturbation). Der Trend zu masturbationsartiger Befriedigung nicht nur naturgegebener und biologisch verankerter, sondern auch unzähliger anderer sogenannter Bedürfnisse, die zur Förderung des Absatzes der Produkte der Vergnügungsindustrie erst ad hoc erfunden, ad hoc geschaffen, ad hoc geweckt werden, ist ein hier nur kurz zu streifendes Thema. Wenn wir uns auch hier zunächst an den engeren Sprachgebrauch (genitale Selbstbefriedigung) halten, so gibt es auch hier durchaus Positives (wie etwa die Enttabuisierung), dem aber doch auch viel Negatives gegenübersteht, und auch insoweit sind wir die Kinder Alberichs: "Erzwäng ich nicht Liebe,/ doch listig erzwäng ich mir Lust?" Insgesamt sehe ich das Szenarium der drei Trendfelder so, daß bei "Feminismus" vielleicht das Positive überwiegt, bei "Masturbation" wohl doch das Negative, und bei "Gleichgeschlechtlichkeit" mag die Bilanz vielleicht einigermaßen ausgeglichen sein. Soviel einstweilen zu dem FGM-Syndrom und zu den drei über das von Wagner Gesehene und Angesprochene hinausgehenden heutigen Trends.

III

Es bleibt nun, das oben angekündigte Beispiel unerkannter oder nicht hinreichend erkannter struktureller Veränderungen durch gegenwärtige Rechtspolitik und Rechtsprechung auszuführen. Ich meine die anstehende Reform des Kindschaftsrechts. Gegen die überfällige Schaffung der Möglichkeit gemeinsamer elterlicher Sorge nicht verheirateter Paare ist aus meiner Sicht nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber mit der insoweit überfälligen Reform des Kindschaftsrechts soll das vom Bundesverfassungsgericht eilig und ohne jede Grundsatzdiskussion propagierte "Recht auf Kenntnis der genetischen Abstammung" etabliert werden, mittels Ersetzung der geltenden Ehelichkeitsvermutung durch eine durch Ehe begründete Abstammungsvermutung und durch eine massive Ausweitung der Möglichkeiten der Anfechtung der durch diese Vermutung begründeten Vaterschaft. Auf Einzelheiten muß ich verzichten11). Nur soviel zum Strukturellen: Die Ehe ist nach abendländischem Verständnis (spätestens seit den "alten Römern": pater est quem nuptiae demonstrant) die Veranstaltung eines Paares, in welcher (erstens) neben der Frau auch der Mann Verantwortung für die Kinder übernimmt (und zwar prinzipiell für alle von dieser Frau in der Ehe geborenen Kinder, egal, wie sie entstanden sind) und in welcher (zweitens) dem Manne diese Übernahme von Verantwortung damit schmackhaft gemacht und gratifiziert wird, daß ihm diese Kinder, deren gesetzlicher Vater er ist, gegen seinen Willen niemand nehmen kann. Dazu muß freilich (da das heute wieder so entschieden angestrebte Ziel der vollständigen Ausrottung von Begehrlichkeit, "Ehebruch" und Promiskuität einstweilen nicht erreichbar ist) die Möglichkeit doppelter (gesetzlicher und genetischer) Vaterschaft weiterhin in Kauf genommen werden. Ferner muß der Weg zur Erforschung der genetischen Abstammung eines Kindes diesem selbst und jedem Außenstehenden in der Tat insoweit verschlossen werden. Das ist der Preis dafür, daß das Kind in der chaotischen und nach wie vor ehebrecherischen und promiskuitiven Welt ein Nest, ein Zuhause hat, einen Ort, an dem es aufgehoben ist. Dieses segensreiche Konzept wird, wenn die Reform durchkommt, nach über zweitausend Jahren abendländischer Geschichte sang- und klanglos und praktisch ohne Grundsatzdiskussion und mit sehr zweifelhaften Argumenten im Namen der Fortschrittlichkeit (in Wahrheit jedoch ein triumphaler Sieg der Kirche, wie sie ihn sich wohl nie hat träumen lassen) gekippt. Wer sich dabei auf das "Kindeswohl" und den Vorrang der Kindesinteressen beruft, übersieht die Gefahr der gleich zu besprechenden Nestzerstörung.

In der Tat ist das bisherige und noch gültige System des Kindschafts- und auch des Abstammungsrechts elternfokussiert. Der Fokus der Wertsetzung liegt bei den Eltern und geht davon aus, daß sie es sind, die Verantwortung zu tragen haben und auch übernehmen. Und so können die Eltern auch darüber entscheiden, ob das durch die Ehegeheimnisse zusammengehaltene und durch die bisherigen Abstammungsvermutungen und Abstammungsfiktionen insoweit nicht in Frage gestellte Ehe- und Familiensystem als solches erhalten bleibt oder nicht. Solange sie die Ehe weiterführen und auch nicht dauernd getrennt leben, kann niemand die Ehelichkeit der in der Ehe geborenen Kinder, die doch ganz sicher Kernbestand des Systems ist, rechtswirksam ins Wanken bringen, auch bei offenbarer Unmöglichkeit nicht.

In der Möglichkeit der Erforschung seiner genetischen Abstammung und der Anfechtung seiner Ehelichkeit wird das Kind über ein Mittel zur Sprengung der Ehe und damit zur Vernichtung seiner Eltern verfügen - und damit zur Zerstörung seines eigenen Nestes. Der Sprengung des Elternpaares folgt, wie wir wissen, oft genug der Untergang der Elternteile, des einen oder anderen oder beider. Die Begründung, daß das Grundrecht der Eltern, weil sie es sind, die den Abstammungswirrwarr zu verantworten haben, dem Grundrecht des Kindes weichen müsse, ist verkappte Moraltheologie, Wiederkehr der alten Lehre vom coitus damnatus (extra matrimonialem omnis coitus damnatus est) und der Notwendigkeit eines möglichst umfassenden Strafsystems für Ehebruch und außereheliche Sexualität. Daß sie in Urteilen höchster Gerichte erscheint, zeugt davon, wie stark der Einfluß dieser Moraltheologie nach wie vor ist.

Mit der sich hier anbahnenden Entwicklung wird die erste und wichtigste Grundfeste der Ehe, daß die Eheleute sich durch ihre gemeinsamen Geheimnisse vor der Welt zusammenhalten und diese Geheimnisse ganz im Sinne der Forderung "make the secrets productive" für die weitere Systementfaltung kreativ nutzen können, ins Wanken gebracht, und mit ihr das ganze Konzept12). Das Ganze ist aber nur ein Beispiel für einen in westlichen Kulturen weithin stattfindenden Prozeß des Wandels der Vorrang und Wertbildung "von den Eltern zum Kind", ein Umkippen und Schwenken der Fixierung und Fokussierung "vom Elternpaar zum Kind". Dieser Fokuswechsel ist der Kern dessen, was in der gegenwärtigen französischen Familiensoziologie als "Entehelichung", als "Demariage", im Sinne einer strukturellen Erosion der Ehe, also der Bedingungen der Möglichkeiten des Bestehens von Ehe, erkannt worden und diskutiert ist13). Es handelt sich dabei, denke ich, um ein Fortschreiten der Entwicklung, die bereits Margaret Mead in einer berühmten Studie "Der Konflikt der Generationen" thematisiert hat, wo sie zwischen postfigurativen, ko- und praefigurativen Mustern der Werteübertragung unterscheidet. Wenn wir - was Margaret Mead herausstellt - in Zeiten galoppierenden technischen und sonstigen "Fortschritts" unseren Kindern für das von ihnen zu führende Leben nicht mehr Vorbild sein können und wenn sie (die Kinder) folglich ihren Weg in die auf sie harrenden herrlichen oder schrecklichen, jedenfalls wunderlichen Zeiten selbst finden und sich darin zurechtfinden müssen, mag ein solcher Fokuswechsel gerechtfertigt sein. Es ist ja völlig richtig: die Jugend, die Jungen sind unsere einzigen Hoffnungsträger, andere haben wir nicht. Ihre Entfaltung, ihr Persönlichkeitsrecht hat Vorrang. Es hat noch niemand auf Dauer sich selbst überlebt.

Aber andererseits wissen wir aus der Familientherapie (und auch aus der Geschichte), daß mit allen Formen einer Parentelisierung des Kindes (und darauf scheint mir der Fokuswechsel doch hinauszulaufen) niemandem gedient ist, dem überforderten Kind am wenigsten. Verantwortlich dafür, ob eine Ehe das Chaos der im Zyklus des Familienlebens vorprogrammierten Entwicklungskonflikte übersteht und als Rahmen eines Nestes für die Jungen einigermaßen erhalten bleibt, sind die Eltern und nicht die Kinder. Der Wert dessen, was sie durch die Möglichkeit der Aufsprengung des Elterngeheimnisses, das ihre Abstammung deckt, und durch die Möglichkeit der Erforschung und eventuellen Kenntnis der eigenen Abstammung gewinnen, ist nach der Einschätzung Bernhard Hassensteins14), eines Altmeisters der biologischen Anthropologie, praktisch gleich null, wobei Hassenstein noch gar nicht berücksichtigt, daß die Kinder bei allem Nachforschen und Erpressen von Informationen das wirklich Wichtige oft gerade doch nicht erfahren. Siegfried - um ein letztes Mal darauf Bezug zu nehmen - erfährt wohl, daß Sieglinde und Siegmund ihm Mutter und Vater sind, aber über das Wesentliche ihrer Beziehung, daß seine Eltern Zwillinge waren, erfährt er gleichwohl nichts. Der Wert einer Teilinformation über die eigene Abstammung, der das Entscheidende fehlt, ist bereits als solche praktisch gleich null. Was sie, die Kinder, dabei möglicherweise oder gar mit einiger Sicherheit verlieren: das Elternpaar, das Nest, ist indessen möglicherweise trotz allem immer noch etwas mehr als null.

Anmerkungen

1. Eine der Kontroversen findet sich in dem Heft B 29-3o/94 (22. Juli 1994) von Aus Politik und Zeitgeschichte. Gegen den Beitrag von Elisabeth Beck-Gernsheim ("Auf dem Weg in die postfamiliale Familie") richten sich Hans Bertram ("Die Stadt, das Individuum und das Verschwinden der Familie") und insbesondere Thomas Gensicke ("Wertewandel und Familie"). Vgl. auch Dieter Schwab (1994): Konkurs der Familie? Familienrecht im Umbruch. München: C. H. Beck.

2. Vgl. hierzu den ganz vorzüglichen Artikel "Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland" von Astrid Stephan und Siegfried Keil in der Nr. 5 (September/Oktober 1994) der Familienpolitischen Informationen der "Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen" (EAF). Die sehr gelungene Inhaltsangabe des Fünften Familienberichts, mit der dieser Artikel beginnt, kann Lektüre und Studium des (auch durch eine sehr umfassende Bibliographie beeindruckenden) Fünften Familienberichts selbst natürlich nicht ersetzen, kann sie aber anregen.

3. Seit der großen Beuys-Ausstellung im Centre Pompidou in Paris im Herbst 1994 wurde und wird mit seinem Werk auch sein Kunst-Konzept zumindest in Frankreich intensiv -und sehr kontrovers - diskutiert.

4. "... für jede Arbeit", beispielsweise also auch für das, was beim Schreiben, Vortragen, Lesen, Hören und Diskutieren eines Beitrages wie des hier vorgelegten geschieht. Noch einmal: "Menschliche Arbeit hat den Charakter eines Kunstwerks zu haben."

5. Ich äußere mich dabei freilich weder als "Wagnerianer" (meine größte Liebe gilt, wie einige Kapitel meines Buches Gestohlene Liebe zeigen, den Opernlibretti Da Pontes - Nozze di Figaro, Cosi fan tutte, Don Giovanni - und der Musik Mozarts), noch spreche ich gar als Wagner-Forscher. Von der riesigen Menge der Wagner-Literatur kenne ich nur Bruchteile. Wirklich - und mit sehr großem Gewinn - durchgearbeitet habe ich insbesondere die Studie Richard Wagner. Mitwelt und Umwelt von Hans Mayer (1978). Die Seitenzahlangaben bei Ring-Zitaten beziehen sich auf Der Ring des Nibelungen, herausgegeben von Julius Burghold, 5.Aufl., München: Piper 1991 (Serie Musik Piper/Schott Nr. 8229).

6. Theodor Adorno (1951): Minima moralia. Frankfurt am Main. Nr. 113 "Spielverderber".

7. Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs für Zivilsachen (BGHZ), Band 6, S. 360ff.

8. Wagner hat ja bekanntlich auch Anstoß daran genommen, daß Nietzsche angeblich oft - nach Wagners Meinung zu oft - masturbierte, behielt das auch nicht für sich, sondern trug seine diesbezügliche Sorge Nietzsches Arzt vor, der das auch nicht für sich behalten konnte, sondern es an Nietzsche weitergab, der es Wagner sehr verübelte und dann mit ihm brach.

9. Die Analyse der verschiedenen Mythen-Fassungen des Medea-Schicksals ist Hauptgegenstand der vorbereiteten Studie, mit der die Serie "Gestohlene Liebe" (1988) und "Das Unfassbare der Frau" (1995) fortgesetzt und abgeschlossen wird.

10. Die drei Tendenzen des "FGM-Syndroms" verbinden und kumulieren sich mit denen, die damals bereits absehbar waren und oben bereits thematisiert wurden, insbesondere dem Liebesfluch, der auch die Liebe oder was von ihr übrig blieb in den Kontext der Entgeltlichkeit, und das heißt immer der Übervorteilung und der Ausbeutung, stellt: ("Ausweitung der Kampfzone"). Im Familienrecht bestimmen die Folgen des FGM-Syndroms derzeit auf allen Ebenen die Entwicklung, insbesondere im Unterhaltsrecht, im Ehegüterrecht und in anderen Bereichen. Im Zeichen der Einsicht, auch in der Ehe sei alles unter den Gesichtspunkten des do ut des und der Entgeltlichkeit zu sehen, finden wir uns alle ausnahmslos als Kinder und Erben Alberichs. Zum historischen Hintergrund vgl. die einschlägigen Analysen in den beiden in Anm. 9 genannten Werken.

11. Der Stand der Dinge ändert sich auch rasch. Die seinerzeit auf Initiative von Frau Ingeborg Schwenzer zustande gekommenen Vorschläge des Deutschen Juristinnenbundes und des ihnen in vielen Punkten folgenden 59. Deutschen Juristentages Hannover 1992 (vgl. Frau Schwenzers Gutachten "Empfiehlt es sich, das Kindschaftsrecht neu zu regeln?". In: Verbandlungen des 59. Deutschen Juristentages, Band I. München: C. H. Beck 1992) haben inzwischen an Aktualität verloren. Die Grundtendenz ist geblieben: Im Gefolge einer überfälligen Einführung eines gemeinsamen Sorgerechts für unverheiratete Paare sollen alle möglichen anderen, noch längst nicht ausreichend diskutierten Maßnahmen durchgezogen werden. Ich verweise insoweit auf meinen Beitrag "Démariage - kein Ende einer Illusion". In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. 27.Jahrgang (1996), S. 3-14.

12. Dazu gibt es eine hinsichtlich der Fokusverlagerung parallele Vorgeschichte im Hochmittelalter, wo sich im Rahmen der sogenannten Papstrevolution mit der Entfaltung und Etablierung der Lehre vom Ehesakrament gleichfalls eine Fokusverlagerung weg von den Eltern (die bis dahin ihre Kinder verheirateten) hin zum Kind (das sich selbst verheiratet) ereignet hat. Luthers Insistieren auf der (aus dem vierten Gebot abgeleiteten) Notwendigkeit des Elternkonsenses zur Eheschließung der Kinder bedeutet für den Protestantismus insoweit die Rückverlagerung und Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes.

13. Irène Théry (1993): Le Démariage. Paris. Den von mir gesehenen, hier nur angedeuteten Zusammenhang zwischen "Démariage" (als Fokusverlagerung vom Paar aufs Kind) und dem oben erörterten "FGM-Syndrom" will ich in einem nächsten Arbeitsschritt verdeutlichen.

14. Bernhard Hassenstein: "Der Wert der Kenntnis der eigenen genetischen Abstammung". In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ), 1988. S. 120-123.


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Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee