Zwischenpositionen

Hans Erich Troje

- Durchgesehene und korrigierte Fassung, Mai 2001 -

In den dreiunddreißig Jahren meiner Lehrtätigkeit (1966-1999) im Fachbereich Rechtswissenschaft der J. W. Goethe-Universtät in Frankfurt am Main geschahen viele tiefgreifende Veränderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse, im allgemeinen und insbesondere auch an der Universität. Von den letzteren scheint mir das Anwachsen der Quote weiblicher Studierender in unserem Fachbereich von einst fünfzehn auf jetzt über fünfzig Prozent die wichtigste und folgenreichste zu sein. Frauenförderung in der Wissenschaft war einst ein Ziel angefeindeter und bekämpfter Minderheitsfraktionen und Individuen und ist jetzt Programm offizieller Hochschulpolitik. Der Frauenanteil in den juristischen Berufen ist bereits erheblich gestiegen. Die beiden folgenden, hier leicht gekürzten, sonst aber unveränderten Texte zur Zusammenarbeit von Mann und Frau im Berufsleben und in der Familie, die Mitte der siebziger Jahre entstanden und bald darauf (1976-77) im damals sehr anspruchsvollen "Abendstudio" des Hessischen Rundfunks gesendet wurden, dokumentieren meine damals auch in Forschung und Lehre so vertretenen Positionen zu den behandelten Themen. Sie ergänzen insoweit mein Buch "Juristenausbildung heute" von 1979, das die Theorie und Praxis alternativer Formen des Lehrens und Lernens im Bereich Rechtswissenschaft dokumentiert.(l) Zwei weitere Texte aus dieser Zeit zu angrenzenden Themenkomplexen, die gleichfalls in Gerd Kalows einzigartigem "Abendstudio" gehört und später diskutiert werden konnten, habe ich kürzlich für zwei andere Sammelbände mit "Festgaben" aus der Hand und in Druck gegeben.(2) Gerade im Abstand von diesen "Zwischenpositionen", die damals für Aufregung und Kopfschütteln sorgten und heute doch eher "altmodisch" und "konservativ" wirken, zeigt sich die seither eingetretene Änderung der Einstellungen und Verhältnisse. Zu welchen Überlegungen und Positionen in dieser Angelegenheit ich später gelangte, zeigen die Bücher "Archäologie der Ehe" und "Das Unfaßbare der Frau" von 1988 und 1994.(3) Die rechtshistorischen Publikationen jener Jahre, die jetzt in einem Sammelband der "Bibliotheca eruditorum" vorliegen, beleuchten den historischen Hintergrund und Kontext der hier thematisierten Probleme veränderter Konstellationen der Geschlechter.(4) Nimmt man schließlich die Schlußbemerkung der Frankfurter Antrittsvorlesung vom Sommer 1970 hinzu, ergibt sich ein bei allem Scheitern bis heute nicht aufgegebenes Festhalten an dem Versuch "aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte zu rekonstruieren".(5)

1. "Rollenverteilung in der Ehe"

Unter der Überschrift "Der Zappelphilipp" schildert der Dichter des Struwwelpeter eine hübsche Familienszene. Wir haben sie oft gehört:

"Ob der Philipp heute still,
Wohl bei Tische sitzen will."
Also sprach im ernsten Ton
Der Papa zu seinem Sohn,
Und die Mutter blickte stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
Was zu ihm der Vater spricht.
Er gauckelt,
Und schaukelt,
Er trappelt,
Und zappelt
Auf dem Stuhle hin und her.
"Philipp, das mißfällt mir sehr!"
Seht, ihr lieben Kinder seht,
Wie's dem Philipp weiter geht.
Oben steht es auf dem Bild,
Seht er schaukelt gar zu wild,
Bis der Stuhl nach hinten fällt.
Da ist nichts mehr, was ihn hält.
Nach dem Tischtuch greift er, schreit,
Doch was hilft's zu gleicher Zeit,
Fallen Teller, Flasch' und Brot.
Vater ist in großer Not
Und die Mutter blicket stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
Nun ist Philipp ganz versteckt
Und der Tisch ist abgedeckt.
Was der Vater essen wollt
Unten auf der Erde rollt.
Suppe, Brot und alle Bissen,
alles ist herabgerissen.
Suppenschüssel ist entzwei,
Und die Eltern stehn dabei.
Beide sind gar zornig sehr,
Haben nichts zu essen mehr.

Zur Karikatur verzeichnet enthält die Tafelrunde des Zappelphilipp die Modellvorstellung der klassischen sogenannten patriarchalischen Familie: Papa regiert, Mama kuscht. Hier der tadelnde, mahnende, befehlende, strenge Vater; dort die ausgleichende und abwiegelnde, mitfühlende, ängstlich-stumme Mutter. Der Vater "adaptiv-instrumentell", die Mutter "expressiv-integrativ". Der Dichter zeigt uns nur den komisch-katastrophalen Schlußakt. Wir wollen einmal hinter die Kulissen dieses absurden Theaters und in die Vorgeschichte blicken.

Es war Sonntag oder gar ein höherer Feiertag, vielleicht sogar Weihnachten. Familienkatastrophen passieren meist an Sonn- und Feiertagen. Man sieht rot an diesen Tagen, es sind die roten Tage des Kalenders, je mehr davon auf einen Haufen, desto gefährlicher. Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von roten Tagen.

Also mindestens Sonntag. Der Vater war zu Hause, hatte sich aber gleichwohl in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, vielleicht hinter den Schreibtisch verschanzt. Was er dort trieb, darüber schweigt des Dichters Höflichkeit. Vielleicht war Warten auf das Mittagessen seine Hauptbeschäftigung. Ehe er dazu gerufen wurde, konnte er sich nicht sehen lassen. Innerhalb des Hauses, dessen Herr er angeblich war, durfte er sich nur nach einem festen Fahrplan in bestimmten vorgeschriebenen Bahnen bewegen, dem Häftling ähnlich, der zum Hofgang und zu etwaigen sonstigen Gemeinschaftsveranstaltungen gerufen, sonst aber in seiner Zelle verwahrt wird. Das Arbeitszimmer war Vaters Zelle, die Mahlzeit sein Hofgang. Natürlich wurde er nicht als Gefangener tituliert. Auch wurde er anders behandelt als andere Häftlinge. Er wurde bei seinen Hofgängen, Stuhlgängen und sonstigen hausherrlichen Rundgängen behandelt wie seine Majestät der Hausherr, wie der Herr Minister, der Herr Superintendent, der Herr Oberschulrat beim Rundgang durch die Dienststelle. Was jene hohen Herren bei ihren albernen Visitationen zu sehen bekommen, ist bekanntlich Theater, und sie selbst müssen dabei eine streng vorgeschriebene Rolle spielen. Von der Wirklichkeit sehen sie nichts, wollen auch in aller Regel nichts davon sehen. Ihre Rolle verlangt, daß sie Scheuklappen tragen. Wehe, wenn sie aus der Rolle fallen. Wehe, sie wollen hinter die Kulissen sehen oder gar mit den Akteuren und Statisten anbändeln.

In seinem Zimmer also durfte sich Zappelphilipps Vater einigermaßen frei bewegen. Außerhalb desselben war ihm wie durch ein geheimes Drehbuch jeder Schritt und Tritt, jede Geste und jedes Wort vorgeschrieben. Wenn zum Beispiel Philipp zappelte, mußte er tadeln und mahnen und dadurch meist veranlassen, daß Philipp noch mehr zappelte. So gab es eine aufeinander abgestimmte Steigerung, bis er schließlich mit voller Kraft zum wohlverdienten Tobsuchtsanfall gelangen konnte.

Doch wir haben vorgegriffen, wir sind noch bei der Vorgeschichte. Der Vater wurde erst zu Tisch gerufen, das Essen wurde aufgetragen. Die Mutter selbst hatte gekocht, oder der Köchin befohlen, wie und was gekocht werden sollte. Nach ihrem Essen roch es im Haus. Wie gekocht wird, so riecht es. Niemand kann dagegen anstinken. Es roch nach Mutters Essen. Sie konnte kochen, was und wie sie wollte und tat das meistens auch. Sie kochte, wie sie es gelernt hatte, und das meiste hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Durch ihr Kochen reproduzierte sie die Gerüche ihrer Kindheit. Duftmarken sind, im animalischen Bereich zumindest, die wirksamsten aller Herrschaftszeichen. Sichtbare und hörbare Herrschaftszeichen, Flagge, Siegel und Name wurden vom Vater auf den Sohn vererbt, die Herrschaftszeichen des "animalischen" Primärbereiches aber in der weiblichen Linie von der Mutter auf die Tochter. Der Mann mußte riechen, was und wie gekocht wurde, und essen, was auf den Tisch kam. Seine Vorlieben und Abneigungen konnte er äußern, riskierte dann allerdings, daß er sich als Muttersöhnchen zu erkennen gab, das noch nicht begriffen hatte, was es heißt, mit einer fremden Frau verheiratet zu sein. Seinen Vorlieben konnte die Frau zu entsprechen versuchen. Immerhin galt ja: Liebe geht durch den Magen. Sie konnte ihr Bestes tun - aber ganz zufriedenstellen konnte sie das Muttersöhnchen nie. Ein kleiner Unterschied zur Kinderherrlichkeit der mütterlichen Küche mußte schon deshalb stets bleiben, weil die Zunge inzwischen einigermaßen abgestumpft war und schon deshalb nichts mehr so gut schmecken konnte wie damals. Durch andauerndes Nörgeln oder schweigsame Unzufriedenheit entmutigt, konnte sie den Versuch, auf Vorlieben einzugehen, auch gleich verlorengeben. Sie konnte sich seinen Wünschen absichtlich-absichtslos verweigern, heute mehr, morgen weniger, je nach Laune oder strategischem Gesamtplan. Gewährungen und Verweigerungen von Wunschbefriedigung sind wirksame Erziehungstechniken. Je elementarer und animalischer der Wunsch, je tiefer die Wunschebene, desto wirksamer das Druckmittel. Die Haushaltsführung bedeutete Dienst, gewiß, doch zugleich auch Herrschaft, nämlich Herrschaft über Haushaltsgeld, Alltagskonsum, Speisezettel und Gerüche. Diese "Herrschaftsmittel" trafen den Mann an einer seiner empfindlichsten Stellen. Allerdings gab es Gelegenheiten, es der Frau mit ähnlicher Münze heimzuzahlen. Die Elternbeziehung war spürbar gespannt. Philipp hatte Grund zum Zappeln.

Ein Mensch hat zwei Elternteile, Vater und Mutter. Diese repräsentieren zwei verschiedene Menschenarten, Mann und Frau. Mann und Frau sind in ihren Erlebniswelten durch hohe, teilweise unübersteigbare Barrieren voneinander getrennt. Sie fühlen und denken, arbeiten und produzieren verschieden. In dem einen Kind sind beide Elternteile anwesend, der des einen Geschlechts wie der des anderen. Es lebt als Kind beider, zwar aus der Mutter hervorgegangen, aber vom Vater gezeugt, durch die Vereinigung beider Elternteile entstanden.

In einem Menschen, der in der Wirklichkeit immer nur Mann oder Frau sein kann, leben doch beide Elternteile fort. Vater und Mutter richten auch dort, wo sie ausnahmsweise als einiges Elternpaar erscheinen, an das Kind verschiedene Ansprüche, sprechen verschiedene seiner Fähigkeiten an. Darum ist menschliches Leben immer ein Leben im Widerspruch und in der Doppelbindung. Wir wollen den Ansprüchen beider Eltern genügen, können es nicht und müssen es doch. Im Aushalten der ungeheuren Spannung, die es bedeutet, zwei Elternteile zu haben, erfährt der Mensch seine Grenzen und erwirbt er, wenn überhaupt, seine erste Reife. Die zweite Reifeprüfung steht ihm bevor, wenn er selbst Vater oder Mutter wird und begreifen muß, daß er immer nur ein Elternteil sein kann.

Wer den einen Elternteil, z. B. ein Sohn den Vater, früh verliert, scheint von dem Leben im Widerspruch und in der Doppelbindung verschont. Er hat den anderen Teil, hier die Mutter, für sich allein. Seine Einigkeit mit der Mutter wird durch keinen Vater bedroht oder gestört. Die tausend Frustrationen, die die Anwesenheit des Vaters, ja seine bloße Existenz für das Kind, für den Sohn zumal mit sich bringt, bleiben ihm erspart. Seine Kräfte werden - so scheint es - für andere, größere Taten aufgespart. So schreibt der früh vaterlos gewordene Friedrich Nietzsche in einer tiefsinnigen Stelle seiner kurzen Selbstbiographie "Ecce homo": "Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängnis: ich bin, um es in Rätselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt."

Nietzsche wußte auch von dem Verhängnis. Bei genauerem Zusehen nämlich ist ein abwesender Elternteil gefährlicher und in seiner Art mächtiger als ein Anwesender. Gegen Geister und Gespenster ist der Sterbliche im allgemeinen machtlos. Ein anwesender Elternteil hat Fleisch und Blut, Stärken und vor allem auch Schwächen. Das Kind lernt, ihm zu gehorchen, und es lernt auch, ihm zu widersprechen und ihn hinters Licht zu führen. Am Ende lernt es sogar, ihn zu verlassen, erst probeweise und eine Zeitlang, bald für lange und gar für immer.

Den abwesenden Elternteil, dessen Schwächen es nicht erfährt, kann das Kind nur idealisieren. Das ist in jedem Fall mißlich. Ein abwesender Elternteil bindet strenger als ein anwesender, ein unbekannter strenger als ein bekannter, ein toter strenger als ein lebender. Idealisierungen stören stets die Realisierung. Besonders mißlich ist es, wenn, wie im Falle Nietzsches, der gleichgeschlechtliche Elternteil abwesend ist, denn dieser Elternteil soll ja irgendwann einmal, wenn das Kind erwachsen und selbst Vater oder Mutter ist, realisiert und nicht idealisiert werden. Ein ohne den gleichgeschlechtlichen Elternteil aufwachsendes Kind muß sich bei dieser schwierigen Aufgabe an Idealbildern orientieren, die immer nur falsche Propheten sind. Indem es dabei die Ansprüche an sich selbst unrealistisch übersteigert, kann es die Einlösung realistischer Forderungen leicht verpassen. Für die kleinen Aufgaben, an denen es wachsen könnte, ist es sich zu schade, für die großen und größten, die es sich setzt, aber noch zu schwach. Die Entwicklung zum Erwachsenen, Mann oder Frau, Vater oder Mutter, ist gefährdet.

Wen braucht das Kind mehr, Vater oder Mutter? Es braucht sie beide - in verschiedener Weise, mal mehr den einen, mal mehr den anderen. Aber eines kann man sagen: Mutterschaft hat ihre eigene sinnliche Gewißheit. Vaterschaft dagegen beruht auf einer rechtlichen Zuordnung, die sich ihrerseits auf eine Vermutung stützen kann. Der Ehemann ist der Vater der in der Ehe geborenen Kinder. Von den sehr eingeschränkten Möglichkeiten, die Vaterschaft anzufechten, sollte nur in extremen Ausnahmesituationen Gebrauch gemacht werden. Der nichteheliche Vater kann die Vaterschaft anerkennen oder sie wird gerichtlich festgestellt. Die Rechtsordnung, die die eheliche Vaterschaft generell und die nichteheliche im Einzelfall feststellt und Vaterschaft als rechtliche Zuordnung ausgestaltet, hat einen Rest von Ungewißheit in Kauf genommen. Wegen dieser Ungewißheit der wahren Vaterschaft ist die Abwesenheit des Vaters möglicherweise noch schwieriger erträglich als die der Mutter.(6)

Nietzsche hielt sein Los für einzigartig. Aber Abwesenheit des Vaters war seinerzeit ein weitverbreitetes Schicksal, das Schicksal der ersten Lebensjahre überhaupt. Gezeugt, aber noch ungeboren, gehört das Kind allein der Mutter. Sie bringt es zur Welt, gibt ihm das Leben: alles oder nichts. Sie allein, wenn sie stillt, gibt ihm Nahrung, mehr oder weniger, so oder so. Die Mutter entscheidet, in welchem Maße dem Kind Befriedigung aller seiner sinnlichen und eventuellen sonstigen Bedürfnisse zuteil wird. Damit ist zugleich entschieden, ob und inwieweit dieser Mensch später sein Leben genießen kann, ob er ein genußreiches oder trauriges Leben haben wird. In diesem Bereich der ersten bleibenden Eindrücke erfahren Kinder unmittelbar noch nichts von ihrem Vater. Er war in ihrer Welt nicht anwesend. Hatten sie schließlich gelernt, ihn als getrenntes Wesen wahrzunehmen, so schien er doch in allen die Kinder betreffenden Angelegenheiten bedeutungslos. Der Vater war ja nur der Gefangene, der zum Hofgang aus der Zelle kommt, oder seine Majestät der Hausherr, dem ein Theater vorgemacht werden muß, in dem er selbst die albernste Rolle spielen muß. Er hatte keinerlei Einfluß darauf, wie die Mutter die Bedürfnisse der Kinder befriedigte. Kurzum: Vom täglichen Kleinkram des Kinderlebens wußten die Väter fast nichts. Die Kinder erlebten und erlitten Alltag wie Sonntag ohne Anwesenheit und Hilfe von Vätern. Mütterherrschaft im Primärbereich war unausweichlich und unerschütterlich.

Durch diese ersten Erfahrungen wird in uns allen mehr oder weniger die Bereitschaft dafür geschaffen, in den Müttern die Instanz der Allmacht, die Quelle aller Freuden, vor allem auch der Leiden zu sehen. Gewiß haben Mütter dem Säugling immer wieder Freuden der Sattheit und Zufriedenheit geschenkt. Das ist sozusagen selbstverständlich. Für Selbstverständliches gibt es keinen Dank und wenig bewußte Erinnerung. Die Leiden der Entwöhnung sind es, die wir nie verschmerzen. Kein Mensch kam freiwillig zur Welt. Keiner ließ sich freiwillig entwöhnen. Keiner verzichtete eigenen Antriebs auf die Befriedigung animalischer Wünsche. Keiner nahm ohne Racheschwüre die Verweigerung erhoffter Befriedigungen hin. Diese Leiden rechnet der Säugling, rechnen das Kind und vielleicht noch gar die Erinnerung des Erwachsenen allein der Mutter zu.

Nietzsches Glück und Verhängnis, die Abwesenheit des Vaters, ist in gewisser Hinsicht also unser aller Glück und Verhängnis gewesen. Im frühesten Kinderleben sind Vaterschaft und Vatereinfluß so vermittelt, daß sie dem Kinde selbst kaum in Erscheinung und ins Bewußtsein treten. Die Mutter scheint allmächtig, der Vater abwesend, ja kaum existent. Wenn er auftaucht, erscheint er entweder als Störenfried oder als einer, der Hoffnungen nur erweckt, um sie zu enttäuschen. Er könnte doch, so scheint es, hier und da vor der allmächtigen Mutter retten oder schützen, aber er tut es nicht. Er kommt, um für kurze Momente falsche Hoffnungen zu nähren, denen ein umso schlimmeres Ausgeliefertsein folgt. Will man ihn als Anlaufstelle für Rettungsversuche aufsuchen, ist er nicht zu finden oder versagt sich. Der Väter berufliche Stärken und Schwächen, ihre professionellen Kompetenzen, was sie draußen leisten und nicht leisten, all dies bleibt jenseits des auf die Kinderwelt beschränkten Horizontes. Ohne Kenntnis vom täglichen Kleinkram des Vaterlebens bleibt den Kindern nur, die Väter zu idealisieren.

Was tun Jungen, wenn sie entdecken, daß sie selbst männlich sind, also einmal Mann und vielleicht sogar Vater werden sollen? Nun, sie werden hoffentlich versuchen, ihr prekäres, angeschlagenes Selbstbewußtsein irgendwie zu stärken. Durch Erfahrung weiblicher Allmacht oder wenigstens Dominanz im Primärbereich verunsichert, werden sie, sofern sie nicht das Handtuch werfen, nach Kompensierungen suchen. Sie suchen sich Bereiche, in denen sie sich ihrer Überlegenheit und Stärke versichern können. Sie müssen sie nicht lange suchen, denn in dem Maße, wie sie den Primärbereich verlassen und in den Sekundärbereich, in die Welt der außerhäuslichen Werktätigkeit, der öffentlichen Einrichtungen und aller übrigen Superstrukturen hineinwachsen, erhalten sie Selbstbestätigungen und Kompensierungshilfe. Männer haben nämlich diesen Bereich bekanntlich bisher so eingerichtet, daß ihnen Frauen nur in solchen Rollen begegnen, die den männlichen Führungsanspruch unterstreichen. Der Chef, der Direktor, der Leiter, der Kapitän ist ein Mann. Die Frau ist Sekretärin, Assistentin, Bibliothekarin, Stewardess, kurz: bestenfalls Gehilfin. So hat der biblische Schöpfungsplan es vorgesehen: Gott gibt Adam in Eva eine Gehilfin. So war es bis gestern und vielleicht bis heute. Da bekanntlich jede Gesellschaft in ihrem jeweiligen Gott und dessen Schöpfungsplan sich selbst verehrt, darf bei uns selbstverständlich diese Aufgabentrennung - und deren Widerspiegelung innerhalb der Familie selbst - als gottgewollt und göttlich gelten: Mütter geben, Väter aber führen. Mutterliebe ist unbedingt, wird bedingungslos gegeben, Vaterliebe ist an Bedingungen geknüpft und kann erziehen.

Nietzsches Glück und Verhängnis und Zappelphilipps Leiden waren das traurige Vermächtnis einer Kultur, deren von den Vätern selbst mitgeschaffene Richtigkeitsvorstellungen dem Vater die Anwesenheit in Küche und Kinderzimmer verboten, ihn von der Teilnahme am Leben im Primärbereich ausschlossen, ihn ganz in den Sekundärbereich verwiesen. Wenn die Abwesenheit des Vaters im Kinderleben für das zweifelhafte Glück und für das unzweifelhafte Verhängnis des menschlichen Daseins in dieser Kultur konstitutiv ist, so liegt es nahe, das Heilmittel in vermehrter Anwesenheit des Vaters zu sehen, anwesend im positiven Sinne, nicht als Wächter und Bestrafer, sondern als Freund und Helfer, der kindliche Bedürfnisse versteht und auf sie eingehen kann. Das klingt gut und scheint einfach zu verwirklichen, stößt aber in der Lebenswirklichkeit auf große Schwierigkeiten, und die Gefahren liegen, wie immer, im Heilmittel selbst. Sie beginnen damit, oder zeigen sich darin, daß sich die Väter, wenn sie im Kinderbereich anwesend sind, mit ihrer Vaterschaft und Vaterrolle nicht leicht zufrieden geben mögen. Neid auf Frauen, die den Kindern Leben und erste Nahrung gaben, steigt in ihnen auf. Sie möchten selbst Mütter sein, das Kind gleichsam selbst austragen, gebären und nähren. Sie wetteifern darum, wer dem Kind näher steht. Über diesem Streit und Neid vergessen sie, daß ihrer Anwesenheit im Kinderleben, wie sehr sie sie erstreben und wie sehr sie auch erstrebenswert ist, doch Grenzen gezogen sind.

Was soll der auf diese oder jene Art liebend anwesende Vater denn nun praktisch tun? Oft genug kommt es nur darauf an, der Mutter kontinuierlich für ein paar Minuten an die Hand zu gehen. Aber seine Möglichkeiten gehen natürlich weiter. Der erste, hierzulande öffentlich gezeigte Film von Andy Warhol ("Flesh") enthielt eine zauberhafte Vater-Kind Szene. Das Kind, ein einjähriges vielleicht, hatte eine Spielidee, der Vater erahnte sie und half dem Kinde durch einfühlendes Mitspielen, sein Ziel zu erreichen. Die Kleidung der beiden verdeutlichte, daß sich hier etwas ganz Unerhörtes, Neues und Wunderbares ereignete. Der Vater war nackt, das Kind bekleidet, nicht umgekehrt. Das Kind trug sogar den Sonntagsstaat des Einjährigen, der ihm aber - auch dies neu und wunderbar - nicht Zwangsjacke, sondern Spielzeug war.

Was wir heutzutage scheinbar weltweit erleben, ist die ebenso zaghafte wie mutige schrittweise Veränderung der geschlechtsspezifischen Verteilung der Rollen, wie im Paar-, so im Elternverhalten. Die Arbeitsteilung der Geschlechter ändert sich. Frauen dringen in bislang männliche, Männer in bisher weibliche Bereiche ein. Damit ändert sich auch das Machtverhältnis der Geschlechter. Im Kampf um die Gleichberechtigung mußten die juristischen Bastionen der Männerherrschaft Schritt für Schritt geräumt werden. Die Reformen des Familienrechts - erst das Gleichberechtigungsgesetz von 1953, dann die Reformgesetze von 1976, eröffneten insoweit tatsächlich neue Epochen. Sie brachten gewiß noch keine faktische Änderung der Arbeitsteilung der Geschlechter. Aber sie schufen zuallererst die Möglichkeit der Veränderung. Es wird sich zeigen, ob sie im Gegendruck der Restaurationspolitik erhalten bleiben oder wieder verloren gehen.

2. "Lernziel Kompromiß"

Als Zeus seinen Vater Kronos samt dessen ganzer Titanenschar entmachtet hatte und im Himmel und auf Erden, soweit seine Blicke und Blitze reichten, eine neue Herrschaft begründete, heiratete er seine Schwester Hera. Das Eheleben dieses Geschwisterpaares war nicht langweilig. Der Stoff zum Streiten ging ihnen selten aus. Das klingt zunächst erstaunlich, denn als Kinder derselben Eltern fehlte ihnen der wichtigste Streitstoff normaler Eheleute, nämlich darüber, wer von beiden die besseren Eltern und Geschwister hat, wer in seiner Herkunftsfamilie besser und richtiger zu leben lernte. Doch zu streiten blieb ihnen noch genug. Als vornehmstes Götterpaar wurden sie in die zahllosen Händel zwischen anderen Göttern und zwischen Göttern und Menschen so hineingezogen, daß sie unversehens auf jeweils verschiedenen Fronten zu stehen kamen und sich also mindestens indirekt bekämpfen konnten. Bisweilen stritten sie aber auch direkt gegeneinander. Mit wahrhaft göttlicher Unverfrorenheit, mutig genug, die Dinge beim Namen zu nennen und ihnen auf den Grund zu gehen, stritten sie angeblich sogar darüber, wem von ihnen beiden, welchem der beiden Geschlechter das größere sexuelle Vergnügen beschieden sei. Zeus behauptete, die Frauen seien im Vorteil, sie hätten es besser. Hera bestritt das und wies darauf hin: Alle Welt hielte die Männer für bevorzugte Geschöpfe. Sie riefen den Seher Teiresias, der als einziges Wesen in einem Leben zwei Seinsformen erfahren hatte, der Mann und Frau gewesen war, und legten ihm die Streitfrage vor. Teiresias bestätigte die Meinung des Zeus.

Wir Menschen haben im allgemeinen nicht die göttliche Unverfrorenheit, mit der Zeus und Hera den Streitgegenstand beim Namen nennen und frei betrachten können. Anstand untersagt, die Frage offen zu klären. Vernunft verbietet, derart absurde Vergleiche anzustellen. Alle Menschen sind verschieden. Männer und Frauen sind verschieden. Jedes Leben ist verschieden. Da gibt es kein Vergleichen, kein besser und schlechter. Jedoch können Anstand und Vernunft nicht hindern, daß unser Unbewußtes zumindest von derart absurden Fragen und Vergleichen bisweilen umgetrieben wird. Die unzähligen Stoßseufzer "Ich komme immer zu kurz", die ewigen Klagen "Immer werden andere vorgezogen", die andauernden Vorwürfe, Streitgespräche und Auseinandersetzungen, die jeden Moment überall geführt werden, sie kreisen letztlich alle um ein einziges Thema: Wer hat mehr vom Leben? In der göttlichen Unverfrorenheit von Zeus und Hera heißt das: Wer hat das größere sexuelle Vergnügen? Der Streit ist unerschöpflich. Er überlebt die einzelnen Menschen. Hat sich das eine Menschenpaar im Laufe der Jahrzehnte müde gestritten, so sind längst neue Paare nachgewachsen, den Streit als solchen fortzusetzen. Der Streit ist unentscheidbar. Es gibt außerhalb jener Mythen keine Auskunftspersonen. Es gibt keine Messungen der Intensität, die zuverlässig genug wären, unsere Angst zu beruhigen. Die Gefühle des anderen Geschlechtes lassen sich nur erahnen. Sie bleiben uns trotz aller Einfühlung und Nachfühlung letztlich unbekannt. Es mag sogar ein Glück sein, daß wir von den beiden Gipfeln menschlichen Erlebens immer nur den einen erreichen können. Könnten wir sie beide ersteigen, erginge es uns vielleicht wie dem Bergsteiger, der sich zwischen zwei Gipfeln zu Tode rennt, weil stets der jeweils andere als der höhere erscheint. Vielleicht gibt es aber deshalb auch so viele Leidende und Unzufriedene. Sie vermuten das größere Glück immer dort, wo sie gerade nicht sind.

Jeder Streit zwischen Kindern wie zwischen Eltern und Kindern ist Rivalisieren um Liebe, um Liebesbeweise, Liebeszuwendungen der Eltern. Insoweit haben Elternstreit und Kinderstreit letztlich dieselben Quellen und Themen. Auch über dem Elternstreit schwebt die Kinderfrage: Wen haben die Eltern, wen haben die Götter besser bedacht? Wem geben sie mehr? Auch über dem Kinderstreit schwebt schon die vorausgeahnte Zukunftsfrage: Wem wird größerer Lebensgenuß beschieden sein?

Aber woran mag Zeus bei seiner Beurteilung der Möglichkeit weiblichen Genießens gedacht haben? Nun, es ist vor allem "der Schoß, um dessen Glut er sie beneidet" (frei nach Goethes Prometheus-Gedicht). Auf "Glut" reimt sich "Blut", und vielleicht ist es auch der "Schoß, um dessen Blut er sie beneidet". Blut ist ein besonderer Saft. Wir betrachten ihn mit Ehrfurcht, riechen und schmecken ihn mit geheimem Grauen. Pulsierendes Blut stellt uns vor das Rätsel unseres Lebendigseins: es sind Geheimnisse tief im Inneren des Körpers, doch kommen sie bisweilen so sehr an die Oberfläche der Haut, daß man sie im Verlauf der Adern fühlen und sogar sehen kann. In unserem Sprechen wird das Geheimnis des Blutes immer beschworen. Den ganzen Kosmos füllen wir mit diesem Lebenssafte an. Morgens und abends ist die Sonne blutig rot. Blut gerinnt zu Gold. Gold ist geronnenes Blut: in Adern liegt es in der Erde. Blut ist flüssiges Gold. Von jemandem, den eine Aufgabe gepackt hat, sagen wir: er hat Blut geleckt. Vampire verlängern und erneuern ihr Leben, indem sie das Blut noch lebender Menschen trinken. Ein Blutsauger ist jemand, der sich die Arbeitsfrüchte anderer aneignet, sich mit ihnen mästet, den anderen kaum das nackte Leben läßt. Blut aus fremden Körpern gibt uns Stärkegefühle. Aus Orangen, möglichst Blutorangen, pressen wir den Trank der Gesundheit. Im guten Steak wollen wir innen noch Blut sehen. Wo immer Blut fließt, lassen wir alles stehen und liegen und beschäftigen uns mit dem Blutfluß.

Mit diesem flüssigen Gold, dessen Anblick manche Männer auch ohnmächtig macht, stehen die Frauen auf du und du. Es kommt, ziemlich regelmäßig, aber eigenwillig genug, ungefähr mit dem Mondwechsel, als Zeichen der Fruchtbarkeit. In das Frauenleben bringt es eine Qualität der Gewißheit, von der Männer allenfalls träumen können. Mit ihrem ersten Bluten erhält das Mädchen, jetzt fast schon Frau, die sinnliche Gewißheit: ich bin fruchtbar. Das Aufhören des Blutes gibt ihr das Wissen, mit der Fruchtbarkeit ist es jetzt aus und vorbei. Auf diese sinnlichen Gewißheiten hin kann sie ihr Leben einrichten, ihre Vorstellungen, was sie sein kann und sein will, gründen. All die langen Jahre der Fruchtbarkeit werden, wenn nicht durch Schwangerschaften, so durch dieses Bluten in liebevolle, überschaubare Zeiteinheiten gegliedert. Im Zyklus von einem Bluten bis zum anderen erlebt sie den wunderbaren Wechsel von der passiven zur aktiven, von der gleichgültig wartenden zur ungeduldig zugreifenden Sexualität. Das Bluten heißt zwar "Unwohlsein", doch gleichwohl gibt es viele Frauen, die unter ihrem Bluten keineswegs leiden, die sich nicht nur damit abgefunden haben, sondern sich darüber freuen, dieses Zeichen ihrer Fruchtbarkeit regelmäßig zu sehen und zu fühlen. Zwischen Frauen schafft das Bluten eine Einigkeit, Vertrautheit, Vertraulichkeit, eine unkomplizierte Geschlechtsgenossenschaft, wie sie die Männer unter ihresgleichen nicht kennen. Die erste Menstruation ist in vielen Familien auch unserer Kultur ein kleines Frauenfest. Wo es gefeiert wird, fühlen sich Männer leicht ausgeschlossen, trösten sich aber mit dem freudigen Gedanken: die Fähigkeit zu lieben reift endlich auch hier heran.

Das Ausbleiben des Blutens deutet auf mögliche Schwangerschaft. Frauen, die schwanger werden und schließlich gebären, sind den Männern weit entrückt, auf heiligem Boden, mit ihnen geschieht Ungeheuerliches, und je näher wir stehen, je weniger wir vom Klinikterror ausgesperrt sind, je selbstverständlicher es geschieht, desto unfaßbarer ist es. Kindern, die das ganze Weihnachtswunder erst nach und nach durchschauen lernen, bergen die Worte "sie war schwanger, und sie gebar ihren ersten Sohn" unendliche Geheimnisse. Neun Monate lang, während sich der Vater mit dem Kind allenfalls geistig beschäftigen kann, ist es für die Mutter mit sinnlicher Gewißheit schon auf der Welt. Alle seine Lebenszeichen gehen durch die Mutter hindurch. Was sie fühlt, erfährt der Mann nur vom Hörensagen. Bestenfalls kann er Hand oder Ohr auf den Leib der Mutter legen. Manchmal ist von der inneren Bewegung etwas an der Oberfläche sichtbar. Doch was immer der Vater wahrnimmt, er ist letztlich doch bloß eine Art Zaungast. Seine Wahrnehmung bleibt hinter der Intensität der mütterlichen meilenweit zurück. Seine Vaterschaft ist nur durch ihre Mutterschaft vermittelt. So wird es lebenslänglich bleiben.

Nun ist ein Kind geboren. Es hat Hunger. Es trinkt. Brüste sind Lustquellen nicht nur für das Kind. In der Lust des Stillens versuchen Kind und Mutter einander darüber zu trösten, daß sie voneinander getrennt, voneinander abgenabelt wurden. Die Mutter, die ein Stück von sich selbst, das sie so lange in sich hatte, als ein entäußertes, entfremdetes sich nun wieder erst aneignen muß, legt es an die Brust, gibt ihm daraus zu trinken und macht es sich so zu eigen. Beim Stillen erweist sich, ob die Frau "sich hingeben", ihre Brüste geben, zumindest die Nahrung hergeben, die Milch fließen lassen kann, oder ob irgendetwas ihr die Verweigerung gebietet. Stillen ist die scheinbar einfachste Form menschlicher Nähe. Das Kind weint, die Mutter beruhigt. Das Kind nimmt, die Mutter gibt. Die Rollenverteilung ist derart eindeutig, daß man sich fragt, warum selbst dieses Zusammenkommen von Menschen so oft mißlingt. Nichts zwischen Menschen dieser Kultur scheint störungsanfälliger als solche einfachen Vorgänge. Daß das Genießen solcher Situationen so häufig scheitert, gilt dieser Kultur als Preis des Menschen für sein Menschsein. Entwöhnung, Verweigerung und Vorenthaltung gerade der einfachen, "animalischen" Befriedigungen stilisiert sie zum Grundprinzip der Menschwerdung. Kein Wunder, daß schon der Säugling damit konfrontiert wird.

Wenn Mann und Frau zueinander finden und zusammen sind, ist die Rollenverteilung weit schwieriger als zwischen Mutter und Kind. Gebende und nehmende Anteile, "egoistische" und "altruistische" Bestrebungen sind schwer zu trennen. Ein jedes sucht eigene Befriedigung, Entspannung und Lust. Ein jedes will aber auch im Zusammenkommen miterleben, wie dem anderen gleiches oder ähnliches zuteil wird. Dieses Miterleben ist ein Teil des eigenen Genießens. Die Hingabe des einen ist die Freude des anderen. Frauen sind glücklich, wenn sie von Männern erhalten, was diese zu geben haben. Aber umgekehrt gilt ähnliches. Wer hat mehr zu geben, wer mehr zu nehmen? Nun, wir wissen, daß wir für solche Vergleiche - die unvermeidlich unvernünftig und unanständig sind - die Unverfrorenheit und Allwissenheit von Zeus und eine Auskunftsperson brauchen, die beide Seinsformen erlebt hat. Diese ist leider oder glücklicherweise nicht vorhanden. Keine Frau kennt das männliche, kein Mann das weibliche Fühlen. Kein Mann weiß, wie eine Frau das männliche Genießen miterlebt - und umgekehrt. Hinzu kommt, daß kein Mensch dem anderen, kein Menschenpaar dem anderen gleicht. Dennoch kann man einige Aussagen machen. Die Kräfte der Frau reichen länger. Sie behalten, wo Männer schon verausgabt sind, immer noch größte Kraftvorräte übrig. Allerdings bleiben sie auch auf diesen Vorräten allzu häufig sitzen. Sie werden sie nicht los oder können sie nicht hergeben. Ist es die Ahnung oder Erfahrung, daß sie ja doch kaum je bis an die Grenze ihrer Kräfte gehen dürfen? Können aber Frauen einmal aus ihrer Reserve herauskommen, so sind die Männer von der Macht und Stärke dieses Erlebens, an dem sie ja immerhin beteiligt sind, zutiefst erschüttert, manchmal sogar verängstigt, zumeist aber doch wohl auch ihrerseits beglückt. Was sie selbst bei ihrem Genießen, und sei es auch noch so stark, erleben, ist vergleichsweise kümmerlich.

Auch hier sind Störungen an der Tages- bzw. Nachtordnung. Sie sind ähnlich wie beim Stillen nach den Richtigkeitsvorstellungen dieser Kultur eine Gegebenheit der Menschwerdung und des Menschseins. Eben weil wir Menschen seien (und soweit wir es sind), mache uns Sexualität nie ganz zufrieden. Unsere Störungen und Unzufriedenheiten treiben uns dazu, uns als Menschen weiter auszubilden. Die Grenzen der Potenz, die den Männern unmittelbar gesetzt sind, werden aber durch sie den Frauen vermittelt und damit zu Grenzen eines jeden Paares. Erst wohl die Männer, aber durch sie insoweit mitbetroffen und angesteckt dann auch Frauen und schließlich sogar Paare, suchen sie nach Mitteln und Wegen sowohl der Selbstdarstellung und des Selbsterlebens wie des Zusammenkommens, die es erlauben, solche Grenzen zu überwinden. Männer, Frauen und Menschenpaare wollen sich der überwältigenden Gefühle, die oft allzuschnell verpuffen, auf irgendwelchen Ersatzwegen vergewissern. Hier ist der Mann dann nicht notwendig der Schwächere. Vielleicht gelingt es ihm sogar, sich als der Stärkere darzustellen. Auf diesem Instrument, auf dieser Geige, diesem Klavier, diesem Rennwagen oder was immer sonst, bleiben Ausdauer und Kraft des männlichen Fühlens hinter der weiblichen nicht zurück, reichen möglicherweise über diese noch hinaus. Mit unbegreiflicher Intensität strebt er nach Steigerung, Verbesserung, Wiederholung, artistischer Vervollkommnung - vielleicht alles nur Anstrengungen, einen Ersatz zu finden für jenes ihm vorenthaltene größere Vergnügen, um das er die Frau beneidet?

Unsere Lebens- und Gesellschaftsordnung beruht auf der Annahme, daß der Mann die dominante und auch bevorzugte Position innehat. Zu dieser grundlegenden Annahme will ein Neid des Mannes auf die Frau nicht passen. Was als nicht dominant, als minderwertig, unterlegen, in unvorteilhafter Position befindlich gilt, darf man nicht beneiden. Was aber nach den Maßstäben von Anstand und Vernunft nicht sein darf, kann dennoch sein und geschieht allenthalben - im Unbewußten zumindest.

In manchen Kulturen fügen sich die Männer symbolische, teils auch echte Wunden zu. Sie wollen selber bluten, sie wollen sich wieder öffnen, wo sie in einer relativ späten Phase des Embryonallebens zugewachsen sind. Auch mit der Schwangerschaft und dem Gebären versuchen Männer neidvoll zu konkurrieren. In manchen sogenannten einfachen Kulturen haben sie eine Art Wochenbett mit hysterischen Wehen. In sogenannten Hochkulturen wird gerade der Gebärneid zur Triebkraft kultureller Leistungen. Die Männer beeilen sich, möglichst noch vor der Niederkunft ihrer Frau ein großes Werk zu produzieren, machen am Entbindungstage ihre größte Erfahrung, entdecken am Himmel einen neuen Stern oder eine neue Bronze im olympischen Schutt.

Aber das alles kann letztlich nicht für die Zaungastrolle beim Gebären entschädigen. Der männliche Anteil an der "Urproduktion", wie unentbehrlich auch immer, bleibt eigentlich doch nur Episode. Hat der Mann einmal seinen Beitrag geleistet, so scheint er von nun an zunächst einmal überflüssig. Die Folgen der gemeinsamen Ursprungstat bleiben buchstäblich an der Frau hängen. Sie ist diejenige, die es erwischt hat, sie hat es auszubaden und auszutragen, zunächst einmal die neun Monate. Aber dann geht es eigentlich erst richtig los: das entäußerte Kind an sich nehmen, ihm geben, wessen es als Mensch bedarf: Nahrung, Nähe und Wärme, aber irgendwann auch Distanz und Verweigerung. An allem, was nach Schwangerschaft, Geburt und erstem Nähren nötig ist, kann sich der Mann ein wenig beteiligen. Er muß die Nahrung heranschaffen. Das ist sogar außerordentlich wichtig. Ein Schuft, wer sich seiner Ernähreraufgabe verweigert. Aber "Brutpflege" bringt dem Mann weit weniger Lustgewinn als der Frau. So unentbehrlich er ist, er fühlt sich als Aushilfe, Ersatz, Zaungast. Wo die Frau inmitten aller Plackerei mit fortwirkender, andauernder Befriedigung beglückt ist, geht er häufig genug leer aus. Die Kultur hat ihn "familiarisiert". Recht und Gewissen, äußerer und innerer Zwang rufen ihn zur Mitverantwortung. Man erweist ihm, wo er sie trägt, eine gewisse Ehre. Aber Orden entschädigen nicht für vorenthaltenen Lebensgenuß. Trotz aller Einbindung in die Familie bleibt in ihm ein Rest des überflüssigen, vogelfreien, streunenden Tieres. Hat er die Hinterbliebenenversorgung einigermaßen geregelt, so kann er verduften, im Park oder in der Weltgeschichte spazierengehen: Alexanderzüge, Kreuzzüge, Seewege nach Indien, Mondfahrten. Große Taten müssen allerdings zunächst einmal geplant werden. Viele Männer gehen also nicht einfach allein auf und davon, sondern treffen sich mit ihresgleichen. Sie sitzen und stehen herum, reden und spielen, werfen Karten oder Würfel oder Bocciakugeln, gründen einen Stammtisch, ein Kaffeehaus, einen Club. Das genügt vielen.

Vielen genügt es aber auch nicht. Viele drängt es nach Höherem. Ihr Schicksal ist, daß ihnen das schlichte Sein nicht genügt, daß sie etwas tun müssen. Sie wollen sich nicht als zeittotschlagende, unnütze Drohnen sehen. Sie wollen in der Welt, vor einander und vor ihren Frauen als nützliche Wesen dastehen. Aus diesem höheren Drange, aus diesem sogenannten "letzten Metaphysikum" entstehen: Technik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Kultur - also beinahe alles, außer eben dem Wichtigsten: den kleinen neuen Lebewesen. Aber diese kommen in eine Welt, die sich durch Projekte gelangweilter, sich minderwertig fühlender, tatendurstiger Männer ständig ändert. Veranstaltungen, in denen solche Pläne entstehen und manchmal auch gleich realisiert werden, ähneln letztlich doch immer jenen Kaffeehausversammlungen von arbeitslosen Männern. Am Stammtisch geht es zumeist um Kirchturmpolitik. Im Club ist der Horizont wohl weiter, und es werden dort manchmal auch Weltwirtschaftspläne besprochen. Die Wichtigtuerei ist die Norm: Klöster, Konzile, Universitäten, Akademien, Institute ohne Zahl - alles hochstilisierte Abkömmlinge von Kaffeehaus und Stammtisch. Fast alle sogenannten öffentlichen und viele private Einrichtungen gehören in das Netz dieser Vereinsbildungen. Wo verschiedene ähnlich mächtige Banden miteinander rivalisieren und Gebietsabgrenzungen oder Kartellbildungen oder Spielregeln für Bandenkriege nötig werden, müssen wiederum neue Vereine gegründet werden. Um jede neue Aufgabe bilden sich neue Vereins- oder Bandenstrukturen. Regierungen, Parlamente und Gerichte werden eingerichtet, um das Bandenwesen unter Kontrolle zu bringen, entpuppen sich aber bald genug als Bandenbildung neuer Art auf höherer Ebene. So haben sich die Männer zum Zeitvertreib und zur Kompensierung ihrer elementaren Unfähigkeiten ganz hübsche Rahmenbedingungen geschaffen. Aus ihrem Tun und Treiben sind immerhin hervorgegangen: Straßen, Brücken, Kanäle, Flugplätze, ein gigantisches Verkehrsnetz, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, Verkehrsmittel, erst Wagen mit Scheiben, dann mit Speichenrädern, Motoren und Maschinen, Fahrzeuge, immer schneller, komfortabler, technologisch reifer, manchmal auch schöner, Ozeanüberquerungen, erst mit Nina, Pinta und Santa Maria, später mit Bremen, Queen Elizabeth und Concorde. Jedes neue, größere, besser konstruierte, weiter entwickelte Fahrzeug, für sich allein schon ein Abenteuer, ist nur ein Werkzeug für ein noch größeres Unternehmen. Jedes neue Projekt stellt scheinbar alle älteren in den Schatten: je größer und weiter, desto besser, und schon scheint die Mutter Erde zu klein für unseren Tatendrang. Obgleich sehr viel scheinbar Unnützes, ja Verbrecherisches in der männlichen Produktion geschieht und entsteht, so wird man doch nicht sagen dürfen, daß alles unnütz sei. Viele Produkte sind doch recht brauchbar, tragen sogar zur Ernährung, zum Heranschaffen und Bereithalten der Nahrung bei, sichern, wenn Männer verduften, die Hinterbliebenenversorgung, machen das Leben frei und angenehm, machen Kultur erst möglich. Wir benutzen sie, ohne nachzudenken, ohne Dank an die Erfinder und Produzenten. Wieviel Unnützes, Vergebliches und Verbrecherisches muß für ein einziges Gelingen in Kauf genommen werden?

Das Gesamtkonzept dieser Überlegungen zum Thema "Lernziel Kompromiß" ist nun in Umrissen sichtbar geworden. Mit dem Wort "Lernziel" ist angedeutet: es geht darum, kleine Veränderungen auszuweiten, das Zusammenleben der Menschen in kleinen Lernschritten zu verbessern, ohne Glauben an Erleuchtung, Vollkommenheit, plötzliche Umwandlung, sondern peu á peu. Das Wort "Kompromiß" soll dabei unterstreichen: Verzicht auf Vollkommenheit, auf Ideallösungen, auf übertriebene Hoffnungen. Es gibt nun einmal zwei Sorten Menschen, zwei unterschiedliche Kreaturen, jede mit eigener Lebensweise: unfähig, die Lebensweise der anderen Menschenart nachzufühlen, unfähig, einander zu begreifen - und doch aufeinander angewiesen.

Unsere Zukunft wird also davon abhängen, ob und wie wir uns mit dem Problem der Verschiedenheit auseinandersetzen. Man kann ein Problem leugnen, verdrängen, für nicht existent erklären; und man kann sich ihm stellen, an ihm arbeiten. In unserer Vergangenheit ist häufig der Weg der Verdrängung gewählt worden. Religion und Philosophie dienten häufig dem Verdrängen und Bestreiten. In der alteuropäischen Philosophie ist z. B. viel von Form und Materie die Rede. Durch Formung der Materie entsteht das Sein. Die Formel "Seinswerdung durch Formgebung der Materie" bezeichnet ein durchgehendes Leitthema der jeweils dominanten Strömungen der abendländischen Philosophie. Hinter diesem Leitthema verbirgt sich nichts anderes als die Vorstellung vom aktiv-formgebenden Mann und der passiv-geformten Frau. Es herrscht also die Vorstellung, es komme weit mehr auf den Mann, Vater, Formgeber und die Zeugungsfähigkeit, als auf die Frau und die Gebärfähigkeit an. Das Gerede von der Wertlosigkeit des Weiblichen, die Diskussionen, ob Frauen überhaupt Menschen sind und dergleichen fanden ihre Fortsetzung bis in unsere Tage. Derartige Philosophien und Theorien der Einseitigkeit nötigen zur Entwertung des jeweils anderen Geschlechts. Nun ist Zweigeschlechtlichkeit aber, spurenweise zumindest, in jedem Menschen anwesend. Im Mann ist Weibliches, in der Frau Männliches. Wir haben also, in recht bescheidenen Grenzen, die Möglichkeit, Empfindungen des Geschlechts, das nicht das unsere ist, nachzufühlen. Mann und Frau haben ja schließlich auch viel gleiches: Hände, Füße, Augen, Ohren, Nase, Mund, viele der inneren Organe. Auch dort, wo die Verschiedenheit beginnt, wo fertige Menschen endgültig verschieden, entweder weiblich oder männlich sind, deutet noch so manches auf die Vorstadien, deutet vor allem beim Manne noch vieles auf das Durchgangsstadium Weiblichkeit hin. Die Spuren der Reste des anderen Geschlechts schaffen Möglichkeiten des Mitfühlens und Mitleidens und verstärken damit den Protest gegen Einheitslösungen und symbolische oder reale Ausrottungsaktionen gegen das andere Geschlecht. Einheitslösungen zwingen zur Verleugnung oder Verdrängung jener Fähigkeiten des Nachfühlens und Mitleidens. Damit der Mann glauben konnte, Weiblichkeit sei unterlegen, mußte er sich selbst von allen in ihm an sich vorhandenen weiblichen Tendenzen abkoppeln. Das war ein Irrweg.

Nach der früher etablierten Organisation unserer Lebensverhältnisse und Arbeitswelten haben Männer und Frauen strikt voneinander getrennte Pflichtenbereiche und Lebenskreise. Die Trennung begann mit der Geburt (rosa oder blaues Hemdchen), durchzog die ganze Kleinkinderziehung, setzte sich im Schulleben, in den weiteren Ausbildungsstadien fort und fand seinen gesetzlichen Niederschlag im Familienrecht, das den Mann zum Geldverdienen im Berufsleben, die Frau zum Geldausgeben in der Haushaltsführung verpflichtete. Die Lebenskreise waren gegeneinander eindeutig abgegrenzt. Männer hatten nichts in Kaufladen, Küche und Kinderzimmer, Frauen nichts in den "eigentlich" entscheidenden Bereichen von Hochschule, Politik und Wirtschaft zu suchen. Dieser strikten Trennung entsprach die Ausmerzung weiblicher Anlagen und Interessen im Manne und männlicher Anlagen und Interessen in der Frau, der sie gleichzeitig diente. In dem Maße, wie dem jeweils anderen Geschlecht der hier männliche, dort weibliche Bezirk rigoros verschlossen war und die Fähigkeit, sich in ihm zu orientieren, auch gänzlich fehlte, sollte der Wunsch, ihn zu betreten, gar nicht aufkommen und der Neid auf die Domäne des jeweils anderen keine Nahrung finden. Da die Gefahr des männlichen Neides auf die Frau größer schien als umgekehrt, wurde zusätzlich eine Entwertung von Frauenarbeit und Frauenbereich propagiert und vielfach auch tatsächlich durchgesetzt.

Damit lernten die Männer ihren Neid besser auszuhalten bzw. zu verdrängen, und manchmal schien es, als gebe es nichts mehr zu neiden. Statt dessen wuchs aber nun das Problem, daß die Frauen in dem ihnen von den Männern zugewiesenen und zugleich entwerteten Bereich sich nicht recht wohl fühlten und den Männern die männlichen Aufgaben und Domänen zu neiden begannen. Mit unzufriedenen Frauen werden natürlich auch die Männer nicht froh. Schritt für Schritt forderten und erlangten die Frauen Zutritt zu ehemals männlichen Berufen. Diese Entwicklung ist noch kein Menschenleben alt. Der Arztberuf erscheint uns heute mit Recht als pflegerischer, letztlich also weiblicher Beruf. Aber auch der Zugang zu diesem Beruf ist erst in diesem Jahrhundert von Frauen, die zum Teil noch leben und praktizieren, gegen unendliche Widerstände aus Hochschul- und Ärztekreisen erkämpft worden. Der Kampf zu den Berufsfeldern "Justiz" und "Verwaltung" oder "Pfarramt" ist noch jüngeren Datums. Er ist dadurch, daß es hier und da jetzt Richterinnen, Pfarrerinnen, und viele Ärztinnen gibt, auch noch keineswegs gewonnen. Er ist erst dann gewonnen, wenn als Preis für den Zugang nicht mehr die Anpassung an männliche Maßstäbe und Vorstellungen bezahlt werden muß, wie es heute die Regel ist. Die Ausbildungsstätten dieser Berufe sind nach wie vor - trotz der Anwesenheit von Frauen - Veranstaltungen von Männern für Männer. Die Koedukation, die im Schulbereich selbstverständlich geworden ist, will im Hochschulbereich immer noch nicht recht gelingen. Sollen sich die bisher den Männern vorbehaltenen Reservate den Frauen wirklich öffnen, so müssen auf den Berufsfeldern selbst und in den vorbereitenden Ausbildungsstätten weitreichende Änderungen geschehen, von denen die organisatorischen nur die geringfügigsten sind. Nichts geringeres ist nötig als die Schaffung von Lebensräumen, in denen beide Geschlechter, jedes für sich und beide in Auseinandersetzung miteinander, echte, ehrliche Entfaltungschancen finden.

Heute ist es so, daß jedes der Geschlechter ein Verlangen verspürt, in dem Lebens- und Pflichtenkreis des jeweils anderen Geschlechts zumindest vorübergehend bedeutsame Aufgaben zu übernehmen und folgenreiche Erfahrungen zu machen. Damit hat man den Neid des einen Geschlechtes auf das andere, der ja eine ganz natürliche Folge der Zweigeschlechtlichkeit ist, natürlich nicht abgebaut und beseitigt. Aber man hat die Möglichkeit gewonnen, ihn in der richtigen Weise zu bearbeiten. Wer an einer hohen Mauer mit verschlossenen Pforten entlanggeht, macht sich von der Herrlichkeit des Lustgartens, von dem er ausgesperrt ist, phantastische Vorstellungen. Je mehr er seiner Phantasie über die ihm unzugängliche Lebensform überlassen bleibt, um so hilfloser ist er dem immer und überall lauernden Neide ausgesetzt. Das Neidgespenst kann ungehemmt durch Wirklichkeitserfahrung erstarken. Nur Wirklichkeit bringt Ernüchterung. Wer ein paarmal die Feste der Beneideten mitgefeiert hat, kann seinen Neid vielleicht leichter begraben oder zumindest im Zaum halten. Teilhabe an Lebensweisen jenseits der bisher errichteten Grenzen befriedet und befriedigt. Die Erfahrung: "Hier sind auch nur Menschen, und was sie können, kann ich auch" ernüchtert. Indem Mann und Frau sich wechselseitig zumindest besuchsweise in ihre Domänen einlassen, schaffen sie sich günstigere Möglichkeiten dafür, daß sich die Geschlechter vertragen und jeder für sich und beide miteinander Glück und Zufriedenheit in den Möglichkeiten des Menschen finden. Frauen werden genauer wissen, worum sie Männer beneiden. Sie werden erfahren, daß nicht alles, was sie beneiden, erstrebenswert ist. Männer werden erfahren, daß auch im weiblichen Bezirk Tätigkeiten, die sie bisher mieden oder gar verachteten, bei einer nur geringfügigen Einstellungsänderung großes Vergnügen bereiten können. Vielleicht ist es sehr vergnüglich, Lebensmittel einzukaufen, nicht nur in den Ferien, auf dem bunten, offenen Markt, sondern auch im Alltag: einen Wagen durch die Regale schieben, auswählen, zugreifen, für den einen dies, für den anderen das mitbringen, einladen, auspacken, anbieten, zubereiten, eine Mahlzeit konzipieren, Zutaten beschaffen, herstellen, auf den Tisch bringen - all dies können kleine Feste auch für Männer und im Männerleben sein. In dem Maße, wie solche Tätigkeiten von Männern nicht mehr verachtet werden, können auch Frauen das Vergnügen daran wiederentdecken.

Die bisherige Trennung der Lebensbereiche und Aufgabenbezirke der Geschlechter diente dazu, die sogenannte Geschlechtsidentität auszubilden, ein sicheres Bewußtsein davon zu gewinnen und zu vermitteln, was Mann und Frau sind, was Mannsein und Frausein bedeutet. Durch all dies äußerliche Drum und Dran konnten Menschen, auch wenn sie von Geschlechtsfunktionen sonst nichts sahen, wahrnahmen und wußten, doch genau zu unterscheiden lernen, wer Mann und Frau ist. Es ist lebenswichtig, in jeder Lebenslage zu wissen, was männlich und was weiblich ist, und ob der andere Mann oder Frau, vom gleichen oder vom anderen Geschlecht ist. Wenn das ganze Drum und Dran, an dem wir den anderen erkennen und uns selbst entweder als Mann oder als Frau darstellen, entfällt, wie wissen dann die Menschen ihr eigenes Geschlecht und das der ihnen begegnenden Menschen einzuordnen? Kinder stehen nicht nur vor der Aufgabe, daß sie irgendwie und wie immer männlich oder weiblich sein und werden müssen, sondern vor der Frage, in welcher Weise und in welchem Maße sie männlich oder weiblich sind, was für eine Art Mann oder Frau von den vielen möglichen sie sein und werden wollen. Wie bildet sich ohne dieses Drum und Dran an geschlechtsspezifischem Gebahren Geschlechtsidentität aus?

Auf diese Fragen gaben John Money und Anke Ehrhardt 1975 noch eine zuversichtliche Antwort: (7) "So lange ein Kind die Geschlechtsunterschiede kennt, die die Fortpflanzungsfunktionen der Geschlechtsorgane betreffen, so lange es stolz ist auf seine eigenen Geschlechtsorgane und deren Funktionen, verunsichern Überschneidungen der häuslichen Erziehungs- und Berufsrollen von Vater und Mutter die Differenzierung seiner Geschlechtsidentität nicht." Und heute?

Der scharfzüngige Martial vertritt (in Epigramme VIII 12) die Meinung, ein Mann sei einer Frau "in der Ehe" nur dann gewachsen, wenn diese ihm unterlegen sei:

"Unter dem Manne, mein Priscus,
muß immer stehen die Gattin.
Sonst stehen Mann und Frau
nie in der Ehe sich gleich".

Doch wir glauben, daß auch für die Ehe gelten sollte, was vor bald 200 Jahren Stendhal in "De 1'amour" über die Liebe schreiben konnte: "Damit die Liebe alles, was sie dem menschlichen Herzen sein kann, hervorbringt, muß zwischen der Geliebten und ihrem Liebhaber soweit als möglich Gleichberechtigung erreicht werden."

Anmerkungen

1. Juristenausbildung heute. Eine rechts- und sozialwissenschaftliche Studie (Demokratie und Rechtsstaat. Kritische Abhandlungen zur Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik, hrsg von Rudolf Wassermann, Theo Rasehorn und Frank Benseler, Band 46) Neuwied und Darmstadt: Luchterhand, 1979.

2. "Die Moral des Kindes und das Leben der Eltern - Gedanken über eheliche Treue", in: Mirjam Bollag Dondi und Beat Kappeler (Hrsg) Litteras amare. FS Claus Dieter Eck, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1998, S 145-164 und "Mißstände im Rechtswesen? Kritische Gedanken über die Ausbildung der Juristen", in: Toward Comparative Law in the 20th Century. The 50th anniversary of the Institute of the Comparative Law in Japan. Chuo University, Tokyo: Chuo University Press 1998, 1183-1203.

3. Gestohlene Liebe - Zum Problem der Rettung der Ehe. (problemata Band 120) Stuttgart: frommann-holzboog 1988 und (als Taschenbuch) Gestohlene Liebe. Zur Archäologie der Ehe - ein Rettungsversuch, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992. In der italienischen Ausgabe von 1996 trägt das Buch endlich den von mir stets angestrebten Haupttitel "Archäologie der Ehe": Archeologia del matrimonio. Pazienza, infedelta e altre strategie, Bologna: Casa editrice Il Mulino, 1996. Das Buch "Das Unfassbare der Frau: von der Einzigartigkeit des Michelangelo Antonioni; Chronik einer Liebe" (Neuried: ars una 1995) erschien zuvor unter dem (besseren) Titel "Illusione - Ein Gelehrtenroman" (Bodenheim: Syndikat 1994).

4. Humanistische Jurisprudenz. Studien zur europäischen Rechtswissenschaft unter dem Einfluß des Humanismus (Bibliotheca Eruditorum. Internationale Bibliothek der Wissenschaften, hrsg von Domenico Maffei und Horst Fuhrmann Bd 6). Goldbach: Keip 1993.

5. Europa und griechisches Recht, Wissenschaft und Gegenwart, Juristische Reihe Heft 3, Frankfurt: Klostermann 1971.

6. Diese Ausführungen beziehen sich, wohlgemerkt, auf das damals geltende Abstammungsrecht. Zu den Problemen des neuen, seit 1. Juli 1998 gültigen Rechts vgl insoweit meine beiden Aufsätze ",Demariage’ - kein Ende einer Illusion", in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 27. Jahrgang (1996) 3-14 und "Gegenwärtige Formen menschlichen Zusammenlebens. Eine Bestandsaufnahme" in: Peter Kutter (Hrsg), Psychoanalyse interdisziplinär, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (stw 1284) 149-178.

7. John Money/Anke Ehrhardt "Männlich-Weiblich". Die Entstehung der Geschlechtsunterschiede, Reinbek bei Hamburg: rowohlt, 1975.

Der erste Beitrag "Rollenverteilung in der Ehe" wurde am 8. November 1977 in der Reihe "Abendstudio" des Hessischen Rundfunks unter dem Titel "Geschlechterstreit im "Trauten Heim"? Gedanken über die Rollenverteilung von Vater und Mutter in der Erziehung" gesendet, der zweite Beitrag "Lernziel Kompromiß" kam am 10. August 1976 in der Reihe "Abendstudio" unter dem Titel "Lernziel Kompromiß - Gedanken zur Menschenkunde und praktischen Lebensweisheit" zur Ausstrahlung. Internetpublikation mit freundlicher Genehmigung des Autors.


[Zurück] [Glaube]
Impressum Stand: 20. Juni 2006, ee