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IM SCHOCK DER TRAUER BLÜHTE DIE VISION

Wie der Osterglaube entstand

Von Eckhard Etzold

© 19.04.1992

Autor Jesus hat gelebt, durch sein Auftreten die Menschen beeindruckt, und er wurde gekreuzigt. Daran zu glauben, fällt einem nicht schwer, egal, ob man Christ ist oder nicht. Doch wie verhält es sich mit seiner Auferstehung? An sie zu glauben fällt sogar den Christen schwer, und das hat seine Gründe. Was war die Auferstehung: Ein Wunder? Eine Scharlatanerie? Oder nur fromme Legende?

Sprecher Diese Unsicherheit befällt auch viele Gläubige, die zwar glauben möchten, was geschrieben steht, sich aber zugleich etwas Begreifbares unter dem vorstellen möchten, was sie glauben sollen.

Autor Einer, der sich besonders daran stört, was uns aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts die christliche Theologie immer noch zumutet, ist der Fernsehmoderator und Schriftsteller Franz Alt. Er schreibt in seinem Jesus-Buch:

Sprecher "Eine bis heute wundergläubige Theologie und Verkündigung erklärt Jesus am Kreuz für tot; verwandelt seine Leiche anschließend in ein Gespenst, das sich je nach Bedarf sichtbar oder unsichtbar machen und schließlich in die Wolken aufschweben kann. Eine Zumutung für jeden denkenden Menschen. Welch primitives Jesus- und welch primitives Gottesbild."

Autor Und damit kann sich Franz Alt nicht zufrieden geben. Er will einen Jesus, der ihm nahesteht, als Vorbild und als Mensch, und der deshalb in allen seinen Lebensvollzügen verstehbar sein soll. Wenn da nicht die Auferstehung wäre: Jesus als geisterhaftes Schattenwesen, das wie ein Kinderschreck die Jünger erst einmal das Gruseln lehrt, das paßt doch nicht zu dem sonst so erwachsenen und vernünftigen Jesus, der seiner und unserer Zeit so weit voraus sein soll. Das muß erst noch zurechtgerückt werden. Und so erklärt Franz Alt dem fragenden Leser:

Sprecher "Also: (Jesus) wurde nicht getötet. Er erlitt nicht die Verwesung, heißt: nicht den endgültigen Tod. Er war bewußtlos. - Einflußreiche Juden um den Jesus-Freund Joseph von Arimathia versorgen den verwundeten und ohnmächtigen Jesus, der dann nach zwei Tagen wieder aufwacht. Nachdem er körperlich wiederhergestellt war, ging Jesus nach Galiläa, wo er seine Leute wiedertraf und mit ihnen aß."

Autor Das hört sich sehr vernünftig an, und doch kann ich mich damit nicht zufrieden geben. Das ist es ja gerade nicht, was ich als aufgeklärter Christ erwarte: daß die Auferstehung verstehbar wird um den Preis, daß man sie einfach wegerklärt. Ich möchte die Auferstehung verstehen können, damit ich auch weiß, woran ich glaube. Und ich möchte zugleich das Geheimnis wahren, von dem die Menschen berührt wurden, als sie dem Auferstandenen begegneten. Ob das möglich ist?

Sprecher Wenn man die Auferstehung verstehen will, hat es keinen Sinn, danach zu fragen, was mit Jesus nach seinem Tode passiert ist. Das führt uns nur in Bereiche, die sich sowieso unserem Verstehen entziehen. Das Jenseits übersteigt unsere Erkenntnismöglichkeiten.

Autor Vielversprechender ist es da schon, zu fragen, was die Jünger, also die ersten Christen, erlebt und empfunden haben, als sie zu der Gewißheit kamen, Jesus sei von den Toten auferstanden. Irgendwie muß Jesus ja von ihnen wahrgenommen worden sein. Und irgendwie müssen die Jünger ja für die neue, andere Gegenwart Jesu nach seinem Tode aufnahmebereit gewesen sein. Das sind sozusagen die diesseitigen Grundvoraussetzungen, um den Vorgang der Auferstehung Jesu zu begreifen. Was passierte mit den Jüngern nach dem Tode Jesu?

Sprecher Die Jünger standen unter Schock. Der Tod Jesu hatte Entsetzen, Trauer und Furcht in ihnen ausgelöst. Ängstlich hielten sie sich vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt. Doch schon wenige Tage nach dem Tode Jesu verkündete Petrus, der Anführer der Jünger, der totgeglaubte Jesus sei ihm als Lebendiger erschienen. Und die Jünger erlebten einen fast unglaublichen Stimmungswandel von tiefer Enttäuschung zu überschäumender Freude, so daß der Eindruck entstand: Hier war etwas völlig Neuartiges passiert, was mit dem Vorherigen in keiner Verbindung mehr stand.

Autor Wie kommt das? Kam die Auferstehung Jesu wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, oder gibt es vielleicht einen geheimen Zusammenhang zwischen den Gefühlen der Trauer, die der Tod Jesu in ihnen ausgelöst hatte, und den Auferstehungserscheinungen, von denen Petrus später zu berichten wußte?

Sprecher Bis in unser Jahrhundert hinein wußte man relativ wenig über die psychische Verfassung trauernder Menschen. Und das, obwohl fast jeder Mensch in seinem Leben irgendwann um einen anderen trauert - um den Verlust der Eltern, um den verlorenen Lebensgefährten, um den Weggang eines Freundes.

Autor Das Wissen um die Trauer veränderte sich jedoch, seitdem man in den sechziger Jahren begonnen hatte, ihrer Erforschung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Heute weiß man, daß sich der Trauerprozeß in verschiedenen Phasen vollzieht. Der Frankfurter Professor Yorick Spiegel unterscheidet vier Phasen des Trauerprozesses, die mehr oder weniger fließend aufeinanderfolgen und in unterschiedlichen Ausprägungen bei jedem Trauernden zu finden sind: Zuerst ist da der Schock, verbunden mit Tränenausbrüchen oder innerer Erstarrung. Nach wenigen Stunden in der Regel ist dieses Stadium durchschritten und es folgt die "kontrollierte Phase".

Sprecher Mag der Name dieser Phase vielleicht suggerieren, der Trauernde habe sich wieder in der Gewalt - das Gegenteil ist der Fall. Die Welt erscheint ihm unwirklich und fremd. Das verunsichert sein Wirklichkeitsempfinden, und er versucht sich zusammenzureißen, um jeden Eindruck des Kontrollverlustes zu vermeiden.

Autor Diese kontrollierte Phase wird abgelöst durch die "regressive Phase", in der für den Trauernden die Welt vollends zusammenbricht.

Sprecher Er träumt von dem Verstorbenen, er hofft in kindlicher Weise auf ein Wunder: auf die Wiederkehr des Toten. Und er sieht ihn zum Beispiel plötzlich zur Tür hereinkommen. Nur unter großen Mühen kann der Trauernde nach außen hin den Schein von Normalität wahren.

Autor Allmählich vollzieht sich der Übergang zur "adaptiven Phase", in der sich der Trauernde wieder neu der Welt zuwendet. Besonders kritisch sieht es in der zweiten und der dritten Phase aus, wo der Trauernde Erfahrungen macht, die ihn irritieren können. Nach dem Tod seiner Frau erzählt ein Geschäftsmann von einem Erlebnis, das ihn innerlich sehr aufwühlte:

Sprecher "Ich konnte nicht einschlafen, nachdem meine Frau gestorben war. Ich war oben im Haus... und hatte das Fernsehen zum ersten Mal an, nachdem sie gestorben war; und plötzlich sah ich meine Frau, als sei nichts geschehen, in einem dieser Sessel sitzen. Ich floh die Treppe herunter und bin nie mehr in dies Zimmer gegangen. Es war sehr erschreckend."

Autor Dieses Erlebnis ist gar nicht so ungewöhnlich für Trauernde. In einer Untersuchung über den Trauerprozess bei verwitweten Frauen wußte fast die Hälfte von ihnen davon zu berichten, wie sie plötzlich dem Verstorbenen wieder begegneten oder wie sie in Personen auf der Straße ihren verstorbenen Gatten wiedererkannt hatten. Tagträume, Halluzinationen und Verwechslungen sind hier nur schwer auseinanderzuhalten. Man meint, die Schritte des Verstorbenen auf der Treppe zu hören und glaubt, die Tür gehe auf:

Sprecher "Ich sah Kay, wie er innerhalb der Haustür stand. Er sah aus, wie er immer aussah, wenn er von der Arbeit zurückkam. Er lächelte und ich rannte in seine ausgestreckten Arme, wie ich es sonst immer tat, und lehnte mich gegen seine Brust. Ich öffnete die Augen, und das Bild war verschwunden."

Autor Yorick Spiegel erklärt dazu:

Sprecher "Visionen dieser Art sind nicht ungewöhnlich für Hinterbliebene, die im übrigen ihre Trauer auf eine 'normale' Weise bewältigen. Aber es ist eine Erfahrung, über die Trauernde nur dann sprechen, wenn sie danach gefragt werden."

Autor Die Begegnungen mit Verstorbenen in tagtraumähnlichen Visionen gehören zum natürlichen Trauerprozess, und es spricht nichts dagegen, diese Vorgänge als normale menschliche Reaktionen auf den Verlust eines geliebten Menschen zu werten.

Sprecher Mit dem Übergang zur vierten Trauerphase, in der sich der Trauernde der neuen Wirklichkeit anpaßt, verblassen auch die Träume und die Halluzinationen von der Wiederkehr des Verstorbenen. Sie werden seltener und undeutlicher.

Autor Damit hätten wir in groben Linien den Trauerprozess beschrieben, soweit er für unsere Überlegungen wichtig ist. Nach dem, was wir über den Trauerprozess jetzt wissen, können wir davon ausgehen, daß Simon Petrus wie auch die übrigen Jünger nach dem Tode Jesu sich in Trauer befanden. Ungefähr zwei bis drei Tage nach dem Tode Jesu befanden sie sich in jenen Trauerphasen, in denen die Hinterbliebenen unter anderem die Wiederkehr des Verstorbenen in Tagträumen oder Visionen erleben.

Sprecher Und ausgerechnet in diesen Zeitabschnitten verbreitet sich unter den Anhängern Jesu das Gerücht, einige von ihnen hätten Jesus selbst gesehen und wiedererkannt. Auf unerklärliche Weise erschien er vor ihren Augen, versetzte sie in Schrecken, und verschwand auch wieder.

Autor Die Vermutung liegt nahe, daß die Auferstehungserscheinungen der Jünger, über deren Zustandekommen bis heute noch gerätselt wird, vielleicht nichts anderes gewesen waren als Visionen von Verstorbenen, wie sie für den natürlichen Trauerprozess typisch sind, in denen die unverhoffte Wiederkehr des Toten tagtraumartig erlebt wurde. Yorick Spiegel bemerkt ganz allgemein, ohne diese Spur weiter zu verfolgen:

Sprecher "Was die Jünger als die Vorbilder der Glaubenden in Fortgang und Rückkehr Jesu erfahren, steht in enger Verbindung zu dem, was ein Trauernder erfährt."

Autor Wir wollen zunächst Argumente sammeln, die für diese Erklärung der Auferstehungserscheinungen als Folge eines Trauerprozesses sprechen:

Sprecher Es gab keine Zeugen, die bei der Auferstehung zugesehen haben, die also beschreiben könnten, wie sie vor sich gegangen ist. Was uns überliefert ist, sind Visionen, sind Erscheinungen des totgeglaubten Jesus, der den Jüngern plötzlich als Lebender wieder begegnet. Beim Apostel Paulus finden wir die älteste Erwähnung dieser Auferstehungserscheinungen im Neuen Testament. Nach Paulus war der erste Jünger, der eine solche Erscheinung hatte, Simon Petrus. Ihm folgten die zwölf Jünger und weitere Anhänger Jesu. Zuletzt erschien der Auferstandene auch Paulus selbst. Als weiteres Argument für diese Hypothese ist zu nennen: Die Erscheinungen ereigneten sich nur während eines kurzen Zeitraums. Nach dem lukanischen Bericht umfaßt dieser Zeitraum 40 Tage, das ist die Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt.

Autor Entsprechendes erfahren wir auch über die Visionen bei Trauernden. Mit der Abnahme der Trauer und dem Übergang zur vierten Phase, in der sich der Trauernde der neuen Wirklichkeit anpaßt, werden die Visionen und die Tagträume seltener, in denen die Wiederkehr des Verstorbenen erlebt wird. Da ist es nicht verwunderlich, wenn auch die Auferstehungserscheinungen plötzlich ein Ende haben.

Sprecher Desweiteren kamen Auferstehungserscheinungen nur bei Menschen vor, die schon vorher ein besonders inniges Verhältnis zu Jesus hatten: die Jünger und die Frauen, die Jesus nachfolgten. Menschen, die Jesus feindlich gesonnen waren, wie zum Beispiel Pontius Pilatus oder die Hohenpriester, hatten keine Auferstehungserscheinungen. Ebenso wird heute die Wiederkehr eines Verstorbenen auch nur von jenen Trauernden erlebt, die zum Verstorbenen eine intensive persönliche Beziehung hatten.

Autor Kommen wir jetzt zu den Punkten, die gegen diese Erklärung sprechen, wonach die Auferstehungserscheinungen nur tagtraumähnliche Visionen eines intensiven Trauerprozesses sind:

Sprecher An die Stelle des geliebten Menschen tritt bei den Visionen während des Trauerprozesses "ein Bild des Geliebten - ein verblaßtes Bild, ein aufgewertetes Bild, zugleich aber auch ein abgewertetes Bild, aber kein wirklich lebendiges mehr". Der Trauernde ist sich dessen bewußt und erkennt oft sehr schnell und schmerzhaft, daß er einer Sinnestäuschung auf den Leim ging.

Autor Von den Jüngern wird jedoch übereinstimmend erzählt, ihnen erschien der vorher tote Jesus als Lebender, von einer Lebendigkeit erfüllt, die auf sie alle ansteckend wirkte und sie in Begeisterung versetzte.

Sprecher Dieses Phänomen läßt sich aus unserer Kenntnis des Trauerprozesses allein nicht mehr erklären. Hier wird neben den möglichen Auswirkungen des Trauerprozesses noch eine andere Kraft wirksam, die im Neuen Testament als Geist Gottes bezeichnet wird, und von der Jesus schon zu seinen Lebzeiten beherrscht wurde. Es ist die Erfahrung unmittelbarer Gottesgegenwart, die auf die Menschen belebend und begeisternd wirkt.

Autor Ein weiterer Einwand: Nicht alle Auferstehungserscheinungen stehen im Zusammenhang mit einem Trauerprozess. Völlig aus dem Rahmen fällt der Apostel Paulus, dessen Auferstehungsvision schon in der frühesten Christenheit heftig umstritten war. Er bekennt von sich, Jesus als Auferstandenen gesehen zu haben. Doch alles, was wir über die Trauer der Jünger und ihre Erscheinungen zusammengetragen haben, trifft auf Paulus nicht zu. Er hatte Jesus nicht zu seinen Lebzeiten gekannt. Er empfand keine Trauer über seinen Tod. Ja, er gehörte sogar zu den ausgesprochenen Feinden Jesu und verfolgte die Jesusanhänger. Trotzdem wurde ihm bei Damaskus eine Auferstehungserscheinung zuteil, in der ihm Jesus begegnete. Seine Erscheinung geschah lange nach der Serie von Auferstehungserscheinungen der Apostel. Das machte einige Zeitgenossen mißtrauisch. Der Evangelist Lukas bestritt in seiner Apostelgeschichte schlichtweg, Paulus wäre eine Auferstehungserscheinung zuteil geworden.

Sprecher Heute ist die Auferstehungserscheinung des Paulus weitgehend anerkannt, - manche Theologen halten ihn sogar für den einzig legitimen Osterzeugen, denn er ist der einzige Schriftsteller im Neuen Testament, der nach eigener Aussage den auferstandenen Jesus selbst gesehen hat. Alle anderen Erwähnungen der Auferstehung sind nur Nachrichten aus zweiter oder dritter Hand. Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen: Die Auferstehungserscheinung des Paulus ist ein Fall für sich. Gerade weil sie sich nicht aus einem Trauerprozess erklären läßt, verdient sie besondere Beachtung.

Autor Halten wir als Ergebnis unserer Überlegungen fest: Es gibt zwei Möglichkeiten, die Auferstehung zu erklären. Die erste besagt:

Sprecher Die Auferstehung ist ein authentisches Ereignis, in dem die Menschen die Begegnung mit einem realen Wesen erlebten, dem nach dem Tod ein neues Leben zuteil wurde, das nicht mehr durch die Grenzen von Geburt und Tod eingeschränkt ist.

Autor Dadurch verliert jedoch das "alte" Leben des historischen Jesus viel von seiner Bedeutung. Denn die Auferstehung wäre dann ein Ereignis, hinter dem das vorherige Leben Jesu geradezu im Auferstehungslicht verblaßt. Dieses Auferstehungsverständnis finden wir bei Paulus: "Ist aber Christus nicht auferstanden", schreibt er, "so ist unsere Predigt vergeblich." Daß das Leben Jesu und seine Botschaft auch noch einen Sinn hätte, wenn er nicht auferstanden wäre, das ist ein Gedanke, der Paulus nie in den Sinn gekommen ist.

Sprecher Die andere Möglichkeit, die Auferstehung zu erklären, besagt: Es hat nur die Auferstehungserscheinungen gegeben, und bei diesen Auferstehungserscheinungen handelt es sich um Visionen, die die Folge eines intensiven Trauerprozesses sind.

Autor Diese Hypothese hätte für sich, daß sie scheinbar ohne die Annahme eines metaphysischen Eingriffes von oben auskäme.

Sprecher Aber auch diese Hypothese hat ihre Schwächen. Sie müßte nämlich erklären, wieso der Trauerprozess gerade bei diesem einen Menschen, bei Jesus aus Nazareth, so ungewöhnlich verlief, daß kurze Zeit später seine Anhänger in einen wahren Begeisterungstaumel fielen.

Autor Wir kommen dem wahren Sachverhalt vielleicht am nächsten, wenn wir, wie schon angedeutet, beide Deutungen der Auferstehung miteinander verbinden: In der Trauer um Jesus wurde den Jüngern klar, was der Welt verloren ging, als Jesus starb. In tagtraumähnlichen Visionen erlebten die Jünger die Rückkehr des totgeglaubten Jesus. Diese Visionen waren nicht schemenhaft und flüchtig, wie es sonst für den Trauerprozess typisch ist, sondern sie wurden durch eine sie begleitende religiöse Begeisterung mit innerem Leben erfüllt, so daß die Jünger überzeugt waren, einer lebendigen Person gegenüberzustehen und zu dem Glauben kamen, Jesus sei wahrhaftig von den Toten auferstanden. Mit der Freude über die neugewonnene Gegenwart des verstorbenen Jesus wurde der Trauerprozess jedoch abrupt abgebrochen. Und damit erloschen auch die Visionen, in denen die Wiederkehr des Verstorbenen erlebt wurde, wie sie für den Trauerprozess typisch sind. Die Freude über die visionäre Rückkehr Jesu führte also zum plötzlichen Erlöschen der Auferstehungserscheinungen unter den Jüngern.

Sprecher Man könnte auch sagen: Die Auferstehungserscheinungen waren selbst die Ursache ihres späteren Ausbleibens, indem sie in den Trauernden eine Freude auslösten, die dem Trauerprozess (und den mit ihm verbundenen Erscheinungen) ein plötzliches Ende bereitete. Wir hätten es hier also mit einem besonderen Trauerprozess zu tun, in dem sich den Jüngern der Sinn des Lebens Jesu, der ihnen vorher verborgen war, ganz neu erschloß. Dieser Trauerprozess hätte seine Ursache in der einzigartigen Faszination, die Jesus auf seine nächsten Mitmenschen ausgeübt hat, und die sie zu der Überzeugung führte: In diesem Menschen ist das erste Mal das gütige und menschenzugewandte Wesen des unsichtbaren Gottes für alle Welt sichtbar geworden.

Autor Wir sind jetzt fast am Ende unserer Betrachtungen angelangt. Die Frage nach der Entstehung der Auferstehungserscheinungen hat unser Augenmerk auf die psychische Situation der Jünger in der Zeit zwischen Tod und Auferstehung Jesu gelenkt. Und dabei ist ein innerer Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen sichtbar geworden, der beide aufs engste aufeinander bezieht. Aber sind wir damit dem Geheimnis der Auferstehung Jesu näher gekommen? Was die Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung Jesu von den Toten betrifft, so bleibt sie immer noch eine Frage des Glaubens und nicht des Wissens. Was wir aber sicherer denn je wissen: Die Auferstehung Jesu war keine Erfindung der Jünger, mit der sie die Nachwelt in die Irre führen wollten. Den Jüngern ist zu Ostern wirklich etwas widerfahren, das sich im Rahmen psychologischer Betrachtung dem Verstehen erschließt: Eine visionäre Wiederbegegnung mit dem totgeglaubten Jesus, die in ihnen den Glauben weckte, daß er von den Toten auferstanden ist. Dieser Vorgang ist einzigartig in der gesamten Weltgeschichte. Sprechen zumindest diese Fakten nicht dafür, daß auch mit Jesus nach seinem Tode etwas passiert ist, das die Annahme rechtfertigt, er habe die Grenze des Todes durchbrochen?


[Gandersheimer Osterstreit 1992] [Glaube]
Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/ostern_7.htm, Stand: 2. November 1999, ee