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Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 11, 12.03.93, S. 10

Die Treppe mit den sechs Stufen

Von Eckhard Etzold

Im Laufe eines Lebens verändert sich die Religiosität. Der US-Wissenschaftler James W. Fowler spricht von Sprüngen des Glaubens. Sein Schema kann zu mehr Toleranz verhelfen.

Wenn zwei Menschen über den Glauben reden, können sie in Streit geraten. Eine alltägliche Erfahrung, - und doch eine Erfahrung, die dem Glauben widerspricht. Denn der Glaube soll die Menschen nicht entzweien, sondern miteinander versöhnen. Der amerikanische Theologe und Kulturanalytiker Harvey Cox, ein eifriger Kirchgänger in seiner Jugend, dem der Gottesdienst viel bedeutete, berichtete einmal folgende Erfahrung aus seiner Schulzeit: "Obgleich ich selbst Baptist bin, habe ich oft als Gymnasiast mit meinen Freunden die Gottesdienste der katholischen Kirche in der Nähe meiner Wohnung besucht. Eine Zeitlang war ich mit einem katholischen Mädchen befreundet, das ungefähr ein Jahr älter war als ich. Sie ging dann weg ins College, während ich zu Hause blieb, um die High School zu beenden. Als sie in den Weihnachtsferien nach Hause kam, ging ich mit ihr am Heiligen Abend in eine wunderschöne Mitternachtschristmette. Als die Messe ihren Höhepunkt erreichte und die Leute die Eucharistie empfingen, wandte sich meine Freundin vom College, die dort gerade ihren Grundkurs in Anthropologie absolviert hatte, mir zu und flüsterte: 'Das ist nur ein primitives Totem-Ritual, weißt du.' Ich fragte: 'Ein was?' Sie antwortete mit großer Selbstsicherheit: 'Ein primitives Totem-Ritual. Fast alle prämodernen Religions-und Stammesgruppen haben solche Rituale. Es sind Zeremonien, bei denen sich die Gläubigen an die Macht des Heiligen binden durch eine kannibalistische Handlung, bei der sie das Manna eines toten Gottes verzehren.' Die Kommunion war für mich seitdem nie mehr dieselbe wie vorher."

Der Blick über den Rand des Aquariums

War es Böswilligkeit oder religiöse Taktlosigkeit, die die Freundin zu solchen Bemerkungen veranlaßte? Eine naheliegende Vermutung, die jedoch nicht den Kern der Sache trifft. Eine überraschende Erklärung für diese Szene hat nämlich der amerikanische Psychologe und Theologe James W. Fowler zu bieten, der sich seit den frühen siebziger Jahren mit der Frage beschäftigt hat, wie sich der religiöse Glaube im Laufe eines Menschenlebens entwickelt und verändert. Fowler behauptet, diese Szene mußte sich so abspielen, und das hat nichts mit Böswilligkeit zu tun. Denn, so Fowler, genauso wie sich Denken und Fühlen in verschiedenen Schüben während eines Menschenlebens entwickeln, so erfährt auch der Glaube ein Wachstum, das sich in seiner Abfolge beschreiben läßt. Stehen zwei Menschen auf verschiedenen Stufen in der Entwicklung ihres Glaubens, so kann das zu Streit und Mißverständnissen führen, ohne daß sie daran schuld sind. Das ist auch der Fall bei Harvey Cox und seiner Freundin gewesen. Bisher hatte Cox in einer religiösen Umgebung gelebt, die ihm bis dahin nie fragwürdig geworden war. Selbstverständlich nahm er am religiösen Leben teil und übernahm die Ansichten und Sinndeutungen seiner Umwelt, ohne sie zu hinterfragen.

Nach Fowler befand sich Cox auf der dritten Glaubensstufe, den konventionellen Glauben, die man gewöhnlich mit der Pubertät erreicht. Nachdem auf der ersten und zweiten Glaubensstufe die religiöse Bilderwelt wörtlich verstanden wurde, — für das Kind ist ja Gott durchaus der alte Mann, der über den Wolken thront, ganz real, — lebt der Mensch auf der dritten Stufe in einem Sinn-und Wertesystem, das man von anderen Erwachsenen kritiklos übernommen hat, das einen trägt, so wie ein Fisch im Wasser lebt, das ihn umgibt. Fowler bemerkt dazu: "Mit einem stillschweigenden Sinn- und Wertsystem zu leben, läßt sich mit der Situation des Fisches vergleichen. Vom Wasser getragen und am Leben erhalten, hat er keine Möglichkeit, aus dem Aquarium herauszuspringen, um über das Becken und seinen Inhalt nachzudenken."

Die meisten Erwachsenen bleiben in ihrem weiteren Leben dieser dritten, konventionellen Glaubensstufe verhaftet, solange keine zwingenden Gründe vorliegen, diese Stufe zu verlassen. Das galt auch für Harvey Cox bis ihn seine Freundin mit einer Deutung der vertrauten Rituale konfrontierte, die ihn dazu zwang, neu über das vertraute Abendmahl nachzudenken. Um im Bild zu bleiben: Es ging ihm wie einem Fisch, der plötzlich die Möglichkeit gewonnen hatte, über den Beckenrand des Aquariums zu schauen, um zu erkennen, daß das, was er anfänglich für die ganze Welt hielt, nur ein Bruchteil einer viel größeren, komplizierteren Welt ist, in der das eigene Leben bedeutungslos zu werden droht. Als das Abendmahl religionspsychologisch gedeutet wurde, verlor es für Cox seine Einzigartigkeit, und damit verlor es seine Wirksamkeit: Das Abendmahl, erzählte Cox, war seitdem nie mehr dasselbe wie vorher.

Mit dieser Krise ist ein Übergang von der dritten zur vierten Glaubensstufe markiert, in der Cox gezwungen war, die Position eines reflektierenden Glaubens einzunehmen, der nach Fowler die vierte Glaubensstufe darstellt und frühestens am Ende des zweiten Lebensjahrzehnts erreicht wird. Hervorstechendes Merkmal dieser vierten, reflektierenden Glaubensstufe ist ihr Drang zur Entmythologisierung: Die Symbole und die Mythen werden auf das mit dem Verstand zu Begreifende reduziert: Wenn es heißt, daß Jesus einen Sturm auf dem Meer bändigt, so will diese mythische Erzählung zu verstehen geben, daß Jesus die Stürme in meinem Leben zum Schweigen zu bringen vermag. Und mit der Auferstehung Jesu ist lediglich gemeint, daß Jesus in den Gedanken seiner Anhänger weiterlebt und durch sein Vorbild auch über seinen Tod hinaus Menschen zu bewegen vermag.

Also nicht, was einem durch Erziehung oder durch die Kirche zu glauben vorgegeben wird, entscheidet über das eigene Sinn- und Wertesystem, sondern das, was der eigenen Überlegung wahr und einsichtig zu sein scheint.

Freilich vollzieht sich dieser Übergang von der dritten zur vierten Glaubensstufe nicht mit der Zwangsläufigkeit körperlicher Reifungsprozesse. Im Gegensatz zur biologischen Entwicklung, in deren Ablauf wir uns fügen müssen, können wir uns gegen eine Glaubensentwicklung zur Wehr setzen. Ist uns ein Glaube einmal vertraut geworden, so neigen wir gern dazu, ihn auf Biegen und Brechen festzuhalten, auch dann, wenn der Schritt zur nächsten Glaubensstufe für uns persönlich nur einen Gewinn bedeuten würde. Sichtbar wird das in der Auseinandersetzung zwischen dem Kirchenkritiker Eugen Drewermann und der katholischen Kirche, eine Auseinandersetzung, deren innere Dynamik durch die Glaubensstufentheorie erst richtig verständlich wird. Auch das soll an einem Beispiel gezeigt werden:

Am 6. Juli 1990 fand im Paderborner Bischofshaus ein Gespräch zwischen dem Privatdozenten Dr. Eugen Drewermann und dem Paderborner Erzbischof, Dr. Johannes Degenhardt statt, in dem Unterschiede in der Lehrauffassung zwischen Herrn Drewermann und der katholischen Amtskirche geklärt werden sollten. Auf die Frage, inwieweit das, was Jesus tat und was von ihm überliefert ist, geschichtliche Wirklichkeit gewesen ist, antwortete Drewermann dem Erzbischof: "Ich nehme noch einmal das Beispiel von der Brotvermehrung. Wenn ich den Leuten sage: So war Jesus wirklich, er führt dich geradewegs ad absurdum, wenn Du berechnen willst, was Du beitragen kannst zur Linderung der Not anderer Menschen. Sie erdrücken Dich, es sind Tausende, und Du kommst damit nicht zurecht... Und dann gibt er Dir die Kraft, Dich einzusetzen und zu verteilen, was Du hast. Und es ist wunderbar... Das war Jesus wirklich und das ist er heute. Was leugne ich dann in Ihrem Sinne an der geschichtlichen Wirklichkeit des Jesus von Nazareth, wenn ich sage, diese Wirklichkeit besteht und ließ sich erfahren an der Person des historischen Jesus von Nazareth, auch wenn er im äußeren Sinne nie aus 5 Broten 5000 Menschen ernährt hat, im äußeren Sinne?"

Drewermann argumentiert hier auf der vierten Glaubensstufe des reflektierenden Glaubens. Das Brotvermehrungswunder entmythologisiert er wie es für diese Glaubensstufe bezeichnend ist, um von dorther dessen rationale Aussage in den Blick zu bekommen: Wer mit anderen das wenige, das er hat, teilt, wird erleben, daß es Segen bringt, viel mehr als man erwartet. Doch Erzbischof Degenhardt kann dieser Interpretation nicht zustimmen. Er besteht auf der Wirklichkeit des Brotvermehrungswunders ohne jedes Wenn und Aber, und entgegnet darauf: "Weshalb soll er das nicht auch können, wenn er wirklicher Mensch ist, warum soll er nicht auch das, was er kann, auch in der sichtbaren, greifbaren Vermehrung von Brot (demonstrieren)... Generell, glaube ich, gehören zum katholischen Glauben auch die sichtbaren Handlungen Jesu; sie sind nicht nur symbolisch, geistig, seelisch, psychisch, sondern immer auch wirklich zu verstehen, selbst wenn sie in der Form des Wunders außerhalb der normalen Erwartungen des menschlichen Lebens geschehen sind."

Der Erzbischof nimmt hier eine Glaubenshaltung ein, die für die dritte Fowlersche Stufe, den konventionellen Glauben, bezeichnend ist. Das heißt, ähnlich wie es schon am Beispiel Harvey Cox deutlich wurde, maßgebende Norm für ihn ist das katholische Dogma, das für ihn so selbstverständlich ist wie für den Fisch das Wasser, in dem er sich befindet. Drewermann jedoch argumentiert auf Stufe vier, dem reflektierenden Glauben. Das sind zwei nahezu unüberbrückbar verschiedene Sichtweisen, die sich nicht miteinander vereinen lassen. Es sei denn, dem Erzbischof gelänge es, sich der vierten Stufe, dem reflektierenden Glauben, zu öffnen. Doch das würde bedeuten, daß er selbst den Weg des Protestes und der Auflehnung gegen die Obrigkeit beschreiten würde: "Damit ein echter Übergang zur Stufe 4 geschieht", sagt Fowler, "muß das Vertrauen auf äußere Autoritätsquellen ins Wanken kommen. Die Tyrannei dessen, was jedem einzelnen zu denken und zu tun durch die Gesellschaft vorgegeben wird, muß untergraben werden." Aber das würde für den Erzbischof bedeuten, daß er ungehorsam wäre. Kann er sich das gegenüber seiner Obrigkeit erlauben?

Eine andere Möglichkeit, den Konflikt zu schlichten, wäre: Drewermann nähme die Position der fünften Glaubensstufe ein, die noch zu erläutern ist, und auf der er ein neues Verständnis für die Argumentation des Erzbischofs gewinnen würde. Freilich ein Verständnis, das fast seelsorgliche Züge hätte und das Autoritätsgefälle untergraben würde, ohne das die katholische Kirche scheinbar nicht auskommen kann. Ob sich aber das der Erzbischof gefallen ließe, muß zumindest fraglich bleiben.

Nur sehr wenige Menschen schaffen den Übergang von der Stufe vier zur fünften Stufe, dem "verbindenden" Glauben. Dieser Übergang vollzieht sich in der Regel erst in der Lebensmitte. Fowler schreibt: "Nicht zufrieden mit den Selbstbildern und Anschauungen, die auf der Stufe vier erworben werden, gelangt der Mensch, der zum Übergang bereit ist, dazu, auf etwas zu hören, was vielleicht als anarchische und beunruhigende innere Stimme empfunden wird. Elemente aus einer kindlichen Vergangenheit, Bilder und Energien aus einem tieferen Selbst, Zweifel an den rein verstandesbetonten Deutungen, die steril und flach geworden sind - jedes einzelne Element oder alle zusammen können die Bereitschaft für etwas Neues signalisieren."

Warum festlegen, wenn alles möglich ist?

Auf Stufe fünf, dem verbindenden Glauben, gewinnt man eine Toleranz, die der physikalischen Einsicht entspricht, daß das Phänomen des Lichts physikalisch zugleich als Welle und als Teilchen begriffen werden muß, und der philosophischen Einsicht, daß jede Wahrheit nur relativ ist und nie das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen vermag. Nun ist man wieder offen für vieles, was vorher abgelegt wurde. Ein Beispiel für den neu hervorbrechenden Bilderreichtum bietet der folgende Text, den ein Mann in der Lebensmitte verfaßte, nachdem ihm seine entmythologisierende Grundhaltung in Glaubensfragen zunehmend suspekt geworden war: "Gott ist wie das Meer, wie ein gewaltiger Ozean, Lebensform um Lebensform quillt aus der unerschöpflichen Urflut, wie eine Welle um die andere an die Küste rollt. Jeder Mensch ist ein Wurf Gottes, eine Welle und Woge des Lebens, und dem einen ist es bestimmt, zu seiner vollen Blüte zu gelangen und sich zur vollen Höhe aufzuschwingen, und der andere fällt zurück in den unendlichen Vorrat des göttlichen Lebens, noch ehe er geboren wird, um sich wieder mit dem unendlichen Gottesozean zu vereinigen und Anlauf zu einem neuen Wurf, einer neuen Welle zu nehmen. Jeder Mensch, jedes Lebewesen ist wie ein Wassertropfen, hervorgegangen aus diesem unendlichen Ozean des Lebens, der Gott ist, und wie jeder Wassertropfen in Bächen und Flüssen zurückkehrt zum Meer, so muß jedes Menschenleben gezogen von der unwiderstehlichen Gewalt der Schwerkraft zurückkehren zu Gott."

Auf dieser Glaubensstufe ist die Gottesvorstellung sehr vielschichtig geworden: Gott ist zugleich personales Gegenüber und abstrakter Seinsgrund der Schöpfung, er kann sich in dem Menschen Jesus Christus genauso offenbaren wie in der Begegnung mit dem zenbuddhistischen Nichts. Und keine Weise der Gottesoffenbarung scheint die andere auszuschließen. Sondern sie sind alle zusammengenommen Ausdruck des unendlichen Reichtums der Selbstbekundungen Gottes. Und entsprechend großzügig verhält man sich auch gegenüber den anderen Religionen und ihren Vertretern, seien ihre Positionen auch so herausfordernd wie zum Beispiel die des Erzbischofs Degenhardt und seines Gegenspielers Eugen Drewermann: Wer auf Stufe fünf steht, kann auch sie beide nebeneinander tolerieren, als Personen, die ihre eigenen, besonderen Wege zu Gott gehen, - zu dem Gott, zu dem bekanntlich viele Wege führen.

Aussagen im Sinn dieser fünften Glaubensstufe finden wir auch in den neueren Schriften des Theologen Hans Küng, der sich intensiv um einen Dialog der Weltreligionen im Geist eines verbindenden Glaubens bemüht. Er schreibt: "Sicher, was die Zukunft betrifft, ist nur das eine: am Ende sowohl des Menschenlebens wie des Weltenlaufs werden nicht Buddhismus oder Hinduismus stehen, aber auch nicht der Islam und nicht das Judentum. Ja, am Ende steht auch nicht das Christentum. Am Ende wird überhaupt keine Religion stehen, sondern steht der eine Unaussprechbare selbst, auf den alle Religion sich richtet... Am Ende steht so zwischen den Religionen nicht mehr trennend ein Prophet oder ein Erleuchteter, steht nicht Mohammed und nicht der Buddha. Ja, auch der Christus Jesus, an den die Christen glauben, steht hier nicht mehr trennend. Sondern er, dem nach Paulus dann alle Mächte... unterworfen sind, unterwirft sich dann Gott, damit Gott selbst - oder wie immer man ihn im Osten nennen mag - wahrhaft nicht nur in allem, sondern alles in allem sei."

Wo jetzt freilich alles gelten kann und nichts abwegig genug ist, um nicht auch noch Verständnis zu finden, stellt sich nun die Frage nach der Verbindlichkeit der religiösen Überzeugung. Der saloppe Spruch "Wer nach allen Seiten hin offen ist, kann nicht ganz dicht sein", beschreibt das Dilemma der fünften Glaubensstufe: Wenn alles möglich ist, was soll ich mich da noch auf eine Richtung festlegen? Wo ist mein eigener Standpunkt? Kann ich Stellung beziehen, bin ich bereit, nicht nur über meinen Glauben zu reden, sondern auch danach zu leben, dafür Nachteile in Kauf zu nehmen? Damit kündigt sich der Übergang zur sechsten Stufe, dem "universalisierenden Glauben", an, der letzten Glaubensstufe nach Fowler, die nur ganz wenigen, besonders begabten Menschen vorbehalten ist: "Menschen, die am besten durch die Stufe 6 beschrieben werden, zeigen normalerweise Qualitäten, die unsere gewöhnlichen Kriterien der Normalität ins Wanken bringen. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Selbsterhaltung und die Lebendigkeit ihres Geschmacks und Gefühls für die transzendente, moralische und religiöse Wirklichkeit verleihen ihren Handlungen und Worten eine außergewöhnliche und eine oft unvorhersagbare Qualität. Es ist kaum verwunderlich, daß Menschen, die am besten mit Stufe 6 beschrieben werden, so häufig zu Märtyrern für die Anschauungen werden, die sie verkörpern."

Gandhi auf Stufe sechs, aber nicht vollkommen

Gewaltverzicht und ein letzter Respekt vor dem Leben zeichnet diese Menschen der sechsten Glaubensstufe aus. Sie streiten sich weniger um die rechte Lehre, wohl aber um das rechte Verhalten. Martin Luther King, Gandhi, Mutter Theresa, aber auch Rosa Luxemburg dürften diese sechste Glaubensstufe erreicht haben. Doch das Ende der ethischen oder religiösen Entwicklung ist mit dieser Glaubensstufe noch nicht erreicht. Als der Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson sein Buch über Mahatma Gandhi schrieb, mußte er die Arbeit mittendrin abbrechen, denn er empfand es als notwendig, dem Mahatma einen ernsten Brief zu schreiben - obwohl der schon ein Vierteljahrhundert tot war, einen Brief, in dem er die versteckte Gewalt tadelte, mit der Gandhi seine Frau und seine Söhne behandelt hatte. Gandhi hatte nämlich, als er seinen Ashram schuf, darauf bestanden, Unberührbare in den Haushalt aufzunehmen. Seine Frau hatte das ohne Klage hingenommen. Sie empfand es jedoch als Zumutung, als Gandhi darauf bestand, daß sie die Beseitigung ihrer Toilettenabfälle übernehmen sollte, - etwas, das er ganz offenkundig selbst nicht zu tun bereit war. "Auf der Stufe 6 zu stehen", so Fowler, "bedeutet nicht, vollkommen zu sein, wie auch immer Vollkommenheit verstanden wird."

Die Stufentheorie wie Fowler sie darlegt, hat den Nachteil, daß sie suggeriert, es gäbe ein Ziel, auf das man sich hinbewegen muß. Und bevor dieses Ziel erreicht ist, muß man sozusagen mit persönlichen Defiziten leben. Muß nicht eine Ausprägung des Glaubens auf Stufe sechs höher bewertet werden als auf Stufe fünf? Eine moralische Bewertung der verschiedenen Stufen scheint doch unvermeidlich zu sein. Fowler selbst hat diesen Schwachpunkt schon gesehen und betont: "Die Glaubensstufen... dürfen nicht als eine Leistungsskala verstanden werden, nach der der Wert von Menschen beurteilt werden kann. Ebenso stellen sie keine erzieherischen oder therapeutischen Ziele dar, auf die man die Menschen hinbewegen sollte." Aber sie können uns helfen, egal auf welcher Stufe wir uns gerade befinden, den Glauben anderer Christen gelten zu lassen, die auf anderen Stufen stehen.

Von Eckhard Etzold. Die Anregung zu diesem Beitrag kam von meiner Frau, Pastorin Almut Mensen-Etzold, der dieser Beitrag zugleich auch gewidmet ist.


Wie die Linien auf einer Melone

"Ich erinnere mich an den Tag, als mein Physiklehrer in der achten Klasse Elektromagneten und kleine Behälter mit Feilspänen in unser Klassenzimmer in den Bergen brachte. Die schwarzen Feilspäne (`Supermans Barthaare', wie wir sie nannten) waren über ein Blatt weißen Notizpapiers in zufälligem Durcheinander verstreut. Dann stellten wir zwei Elektromagneten auf, einen an jedem Ende des Blatts, und stellten eine Stromverbindung her. Es beeindruckte uns sehr, wie die Feilspäne in ein symmetrisches, ovales Muster tanzten. Als wir leicht auf das Papier klopften, bildeten sie Kraftlinien, die fließend von einem Magnetpol zum anderen liefen und dabei in der Mitte auseinanderstrebten wie die Linien auf einer Melone. Die Linien stellten graphisch das Muster des magnetischen Kraftfeldes dar.

Wir leben unser Leben in dynamischen Kraftfeldern. Im Gegensatz zu der bipolaren, übersichtlichen Ordnung, die durch die Anziehung des Magneten gebildet wird, werden wir aus vielen Richtungen gestoßen, gezogen und bewegt. Ein Teil dessen, was wir meinen, wenn wir sagen, daß die Menschheit (...) von Sinn lebt, besteht darin, daß wir vom Beginn unseres Lebens an der Herausforderung gegenüberstehen, eine Art von Ordnung, Einheit und Kohärenz in den Kraftfeldern unseres Lebens zu finden oder herzustellen. Wir können sagen, daß Glauben unsere Art und Weise sei, Wert- und Machtzentren, die in unserem Leben ordnende Macht ausüben, zu erkennen und uns diesen gegenüber verpflichtet zu wissen. Glaube als Einbildungskraft begreift die letzten Bedingungen unserer Existenz, indem er sie zu einem umfassenden Bild zusammenschließt, in dessen Licht wir unsere Antworten und Initiativen, unsere Handlungen gestalten."

Aus James W. Fowler: "Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn", Gütersloher Verlagshaus. Originaltitel: Stages of Faith.

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee