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Ist Gott nur liebevoll?

Ein theologischer Streit

Eckhard Etzold

(Autor:) Vor wenigen Wochen hatte ich ein Kind von drei Jahren zu beerdigen. Patrick war an Neuroblastom erkrankt, einer seltenen Krebsart, und die Eltern sagten: "Neun von einer Million Kinder bekommen das. Warum mußte es unser Kind treffen?" Ich fragte mich: Wo war Gott in dieser Geschichte? Der Gott, von dem es doch heißt, er sei der liebe Gott? Ich suchte nach etwas Tröstendem. Doch das gab es nicht. Dasein und mit den Eltern aushalten, mehr konnte ich nicht tun. Der Vater sagte, "Herr Pastor, und bitte sagen Sie nicht am Grab, 'nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat..." Ich dachte an Kurt Marti und sein berühmtes Gedicht und sagte, 'es hat Gott wirklich nicht gefallen'. Ein altes Sprichwort kam mir in den Sinn,

(Sprecher:) "wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben'.

(Autor:) Es kam mir vor wie der blanke Zynismus. War es denn Liebe gewesen, als der Junge zunehmend seine Bewegungsfreiheit verlor und Schmerzen erlitt, die allein ihn schon ohne die mildernde Wirkung des Morphiums umgebracht hätten? Nein, wenn Gott die Liebe ist, dann muß sich das woanders zeigen. Jedenfalls nicht in dieser Wirklichkeit. Und das sagte ich auch den Eltern.

(Sprecher:) Wäre die Welt und das, was in ihr passiert, ein Abbild Gottes, dann hätte Gott beides: eine helle, liebevolle Seite, aber auch genauso eine dunkle Seite, eine grausame, die nur noch zum Fürchten ist.

(Autor:) Eine scheinbar realistische Sicht. Und entsprechende Andeutungen gibt es sogar in der Bibel. Beim Propheten Jesaja bekennt Gott von sich:

(Sprecher:) Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Gute und erschaffe das Böse. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.

(Autor:) So soll Gott also sein: allmächtig, und darum wirkt er mal das Gute und mal das Böse, er vereinigt die Gegensätze in sich. Es gibt nichts, was nicht seinem Willen entspringt.

(Sprecher:) Die Menschen früher jedenfalls fühlten sich getröstet bei dem Gedanken, daß es nichts gibt, was nicht von Gott kommt. Wenn das Unglück geschah, so war es doch nicht ganz so schlimm, wenn man wußte, aus wessen Hand es kam.

(Autor:) Doch heute verbinden die Menschen andere Vorstellungen mit der Doppelnatur Gottes:

(Sprecher:) Es geht ihnen darum, auf diese Weise das Nebeneinander von Gutem und Bösem in der Welt zu erklären.

(Autor:) Der Psychologe Carl Gustav Jung vertrat diese Ansicht und auch der Schriftsteller Hermann Hesse, der von C.G. Jung viel gelernt hat. Hesse entfaltet seine Gedanken im der Erzählung "Demian", in der viele autobiographische Züge zu finden sind.

Emil Sinclair, der Erzähler, beschreibt seine Jugend vor dem ersten Weltkrieg und stellt dar, wie ihm sein älterer Freund Max Demian dabei hilft, zu sich selbst zu finden. In der Schule wurden gerade die antiken Mysterienkulte besprochen, und Sinclair erzählt:

(Sprecher:) Laut sagte Doktor Follen das Wort: "Abraxas. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln. Wir können uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen."

Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter. 'Das Göttliche und das Teuflische vereinigen', klang es in mir nach. Hier konnte ich anknüpfen. Das war mir von den Gesprächen mit Demian in der allerletzten Zeit unserer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar. Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. - Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.

(Autor:) Gott und Teufel vereint in einem höheren Wesen, müßten wir uns Gott so vorstellen, dann bliebe mir nichts anderes übrig, als den Eltern des dreijährigen Patrick zu sagen: Gott hat es so gewollt, dieses Leiden, dieser frühe Tod, er mag liebevoll sein, aber er ist auch grausam. Wir müssen uns seinem Willen fügen. Und korrekterweise hätte ich dann doch am Grabe sagen müssen: Nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat...

(Sprecher:) Aber ist das noch der Gott des Christentums? Im ersten Johannesbrief heißt es doch ohne jedes Wenn und Aber: Gott ist die Liebe.

(Autor:) Ein schöner Satz, fast zu schön, um wahr zu sein, und trotzdem möchte ich an ihn festhalten, an ihn glauben, ihn bekennen:

(Sprecher:) ich glaube an den Gott, der Liebe ist, den Schöpfer des Himmels und der Erden,...

(Autor:) aber so steht es eben nicht da. Das Wort Liebe kommt im Glaubensbekenntnis nicht vor. Statt dessen heißt es:

(Sprecher:) Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erden.

(Autor:) Vielleicht haben die alten Glaubensväter, die unsere Bekenntnisse formulierten, schon gewußt, daß man nur eines von beiden kann: von der göttlichen Allmacht reden, oder von der göttlichen Liebe.

(Sprecher:) Sie hatten sich jedenfalls für die göttliche Allmacht entschieden. Vielleicht war das einfacher. Aber auf jeden Fall konnte man mit einem Gott, der ein Symbol für Allmacht und Hoheit ist, die Gläubigen besser beeinflussen, besser in der Gewalt haben.

(Autor:) Doch heute bereitet uns die Vermittlung der göttlichen Allmacht mit der göttlichen Liebe Schwierigkeiten. Der bekannte Fernsehpfarrer Jörg Zink bekannte denn auch, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, als er die Summe seines Lebens zog:

(Sprecher:) "Ich höre, Gott ist Liebe. Und: Gott ist allmächtig. Der Widerspruch ist abgründig. Ist Gott Liebe, so ist er nicht in allem am Werk, das geschieht. Ist Gott allmächtig, geschieht alles Elend dieser Erde durch seinen Willen, so wird er mir tief fragwürdig. Wie soll ich diesen Widerspruch auflösen?"

(Autor:) Jörg Zink stößt hier an die "Grenze seines Erkenntnisvermögens", ihm bleibt nichts anderes übrig, als "vor den Widersprüchen stehenzubleiben". Und so wie ihm geht es heute vielen Theologen. Doch einige wollen da nicht mitspielen. Sie sagen, es muß auch anders gehen. In Deutschland ist es der Theologe Eberhard Jüngel, der, allen kritischen Einwänden zum Trotz, behauptet: Gott hat nicht nur eine liebevolle Seite, sondern er ist die Liebe in Person.

(Sprecher:) Szenenwechsel. Tübingen am Neckar, Sonntag, der 23. Juni 1985.

(Autor:) Die Stiftskirche war bis auf die letzten Plätze besetzt. Ungewöhnlich, selbst für eine Kirche in einer Universitätsstadt. An den Türen und in den Seitenschiffen standen sogar die Menschen, überwiegend Studenten, die alle gekommen waren, um einen Theologen zu hören, der, - wie nur wenige -, es sich zum Ziel gesetzt hatte, Gott als bedingungslose Liebe zu begreifen: Der Professor für systematische Theologie und Hermeneutik, Eberhard Jüngel. Und wer sich ein wenig im Predigtplan auskannte, wußte, es war das Gleichnis vom verlorenen Schaf an der Reihe. Ein Gleichnis, das Jesus erzählt hat, um seinen Zuhörern vor Augen zu malen, wie Gott ist. Jüngel stand auf der Kanzel und begann mit der Textauslegung, die mehr einer Vorlesung als einer Predigt entsprach:

(Sprecher:) "Im Grunde ist es eine einzige Frage, eine allerdings unwiderstehliche Frage, mit der sich Jesus an seine Zuhörer wendet: 'Nicht wahr, so ist es doch unter euch: Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eines davon verliert, läßt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?"

(Autor:) Jesus spricht seine Zuhörer zunächst auf allgemeine menschliche Erfahrungen an. Ein Schaf ist abhanden gekommen. Es geht also um so einfache Zusammenhänge wie Verlieren, Suchen und Finden. Das versteht jedes Kind. Doch indem die Zuhörer auf diese Erfahrungen in einem religiösen Zusammenhang angesprochen werden, machen sie mit diesen ganz und gar weltlichen Erfahrungen eine neue Erfahrung. Jüngel sagt:

(Sprecher:) "Von Gott ist in dieser Frage mit keinem Wort die Rede. Was uns das Gleichnis vor Augen malt, ist eine ganz und gar profane Begebenheit, eine Geschichte von dieser Welt. Von Gott handelt sie, indem sie von ihm schweigt und statt dessen von uns erzählt."

(Autor:) Genauso wie Gott auch sonst in der Welt nicht sichtbar ist, so ist er auch hier, in diesem Gleichnis verborgen. Gott muß erst entdeckt werden. Und dann zeigt sich: Der scheinbar verborgene Gott besitzt einen Charakter. Dieser Charakter läßt sich beschreiben: Gott ist ein leidenschaftlicher Sucher. Wenn Menschen dazu neigen, andere Menschen ins Verderben rennen zu lassen oder gar verloren zu geben, Gott tut das nicht. Er geht dem Menschen, der sich von ihm abgewendet hat, solange nach, bis er ihn gefunden hat.

(Sprecher:) "Es ist ein ungewöhnlicher Gedanke, aber es ist ein Gedanke, an den uns Jesus offensichtlich gewöhnen will: der himmlische Vater kann sich freuen wie ein Kind, ja, wie ein Kind sich freut, wenn es nach langem Suchen plötzlich der glückliche Finder ist."

(Autor:) Aber noch mehr hat Jüngel bereits über Gottes Charakter gesagt: Jesus redet im Gleichnis gar nicht von Gott. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf erzählt eine weltliche Geschichte, Gott ist scheinbar völlig abwesend. Und doch ist er anwesend in diesem Gleichnis, freilich auf verborgene Weise.

(Sprecher:) Wie gesagt: Mit keinem Wort wird Gott im Gleichnis erwähnt, und das entspricht auch unserer menschlichen Erfahrung: wir sehen Gott nicht in der Welt. Wir sehen den Himmel, die Erde, wir sehen uns. Mehr nicht.

(Autor:) Aber wie auf dem Turiner Grabtuch im Röntgenlicht die Schatten der Gesichtszüge Christi sichtbar werden, so werden in diesem Gleichnis vom verlorenen Schaf die verborgenen Gesichtszüge des göttlichen Charakters sichtbar. Gott ist in dieser Geschichte zwar abwesend, und doch wird dieses Gleichnis durchscheinend für Gott, so daß wir erkennen, wie Gott ist, als wäre er selbst anwesend. Ein leidenschaftlicher Sucher, der das, was er liebt, nicht aufgibt. Das hat Jesus geglaubt und dieser Glaube hat sein Leben durchdrungen. Und doch wäre das noch zuwenig. Jüngel schreibt in seinem Hauptwerk "Gott als Geheimnis der Welt":

(Sprecher:) Der Satz 'Gott ist Liebe' muß alle Rede von Gott - auch die vom Zorn und vom Gericht Gottes! - begleiten können, wenn diese Gott entsprechen soll."

(Autor:) Sowie neben der Liebe noch etwas anderes erscheint, eine dunkle Seite, etwas Teuflisches, da wird Gott selbst fragwürdig. Dann gerät Gott selbst in Widerspruch zu seinem Willen. Denn im Vaterunser beten wir:

(Sprecher:) Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

(Autor:) Wie im Himmel alles heil und ganz ist, so soll sich auch auf der Erde das Heil durchsetzen. Kranke sollen geheilt werden. Hoffnungslose sollen neue Hoffnung schöpfen, Lahme sollen gehen, Blinde sehen. Das ist der Wille Gottes, und Jesus hat ihn durch sein heilendes und helfendes Handeln verwirklicht.

(Sprecher:) Darum kann es nicht angehen, daß derselbe Gott, der mit seiner rechten Hand die Kranken heilt und die Wunden verbindet, mit seiner linken Hand Menschen aufeinander hetzt und Unschuldige tötet.

(Autor:) Und auch, wenn hier das Bibelwort auf Gott zuträfe, das den hilfsbereiten Menschen gilt, daß "deine linke nicht wissen soll, was deine rechte tut", so ist dieser Gegensatz dennoch unerträglich. Eine göttliche Doppelnatur, wie sie bei Jesaja sichtbar wird, bei C.G. Jung oder bei Hermann Hesse, ist für Jüngel zutiefst unmenschlich. Um das deutlich zu machen, greift Jüngel eine Bemerkung des atheistischen Philosophen Ludwig Feuerbach auf, der einmal schrieb:

(Sprecher:) "Solange die Liebe nicht zur Substanz, zum Wesen selbst erhoben wird, solange lauert im Hintergrunde der Liebe ein Subjekt, das auch ohne Liebe noch Etwas für sich ist, ein liebloses Ungeheuer, ein dämonisches Wesen, dessen von der Liebe unterscheidbare und wirklich unterschiedene Persönlichkeit an dem Blute der Ketzer und Ungläubigen sich ergötzt - das Phantom des religiösen Fanatismus!"

(Autor:) Was Feuerbach als Religionskritiker fordert, findet bei Jüngel lebhafte Zustimmung. Daß Gott auch ein liebloses Ungeheuer sein könnte, ein dämonisches Wesen, diese Gefahr liegt da vor, wo die Liebe nicht als grundlegender Wesenszug Gottes ausgegeben wird, sondern nur als eine Charaktereigenschaft unter vielen anderen.

(Sprecher:) Es ist die Theologie Martin Luthers, die Jüngel hier besonders aufs Korn nimmt.

(Autor:) Luther hatte unterschieden zwischen einem "offenbaren Gott", so wie wir ihn aus dem Neuen Testament kennen, jenen Gott, der Liebe ist, und dem verborgenen Gott, der als unsichtbarer Drahtzieher Verursacher des Leides in der Welt ist.

(Sprecher:) Gott also ein Mann mit zwei Gesichtern, ein transzendenter Dr. Jekyll und Mr. Hide?

(Autor:) Auch zu solch einer Theologie sagt Jüngel entschieden nein. Und das hat ihm viel Argwohn von Seiten der Lutheraner eingebracht, die daran festhalten möchten, daß wir

(Sprecher:) Gott fürchten und lieben sollen.

(Autor:) Gott muß so gedacht und vorgestellt werden, daß in jeder seiner Handlungen immer noch sein Wesen als Liebe erkennbar ist. Wir sollen ihn nicht fürchten,

(Sprecher:) denn die Furcht ist nicht in der Liebe.

(Autor:) Als Christen müssen wir sogar das Wesen Gottes als reine Liebe begreifen. Es reicht nicht aus, zu sagen, Gott hat eine liebevolle Seite. Jüngel zitiert den dänischen Theologen Regin Prenter, einen Lutheraner, der sich mit seinen eigenen Kollegen in dieser Sache angelegt hat:

(Sprecher:) "Man kann von einer Person sagen, daß sie Liebe hat und übt, oder daß sie Liebe empfängt, aber nicht, daß sie Liebe ist. Denn jede Liebe als die Seinsweise einer Person muß einen persönlichen Träger haben, der sie hat, aber nicht ist. Das Leben für seine Brüder zu geben, ist Liebe. Aber derjenige, der sein Leben für die anderen gibt, ist nicht Liebe, er hat sie."

(Autor:) Doch von Gott behauptet Prenter, und mit ihm Jüngel, gerade das, nicht daß er Liebe hat. Es muß gesagt werden, daß er die Liebe selbst ist. Und zwar nicht, weil es in unserer Welt besonders liebevoll zugeht, sondern weil es an einem einzigen Punkt in der Weltgeschichte sichtbar wurde, welch ein Wesen Gott besitzt. Als Jesus starb, passierte nämlich etwas, das dem Wesen des Todes widerspricht. Jesus wurde nach seinem Tod als Lebender gesehen, und diejenigen, die das bezeugten, sagten: er sei von den Toten auferstanden. Jüngel stellt fest:

(Sprecher:) Die Rede von der Auferstehung "besagt zunächst, daß im Tode Jesu etwas geschah. Tod ist aber das genaue Gegenteil von Geschehen. Man kann ihn nur feststellen, wenn er schon eingetreten ist. Wenn der Tod geschieht, endet das Geschehen, das wir menschliches Leben nennen."

(Autor:) Aber wenn ein Toter dergestalt bei seinen Freunden in Erscheinung treten kann, daß sie davon überzeugt sind, er lebt, dann muß sich nicht nur im Tode Jesu etwas ereignet haben, sondern dann muß mit dem Tod selbst etwas passiert sein. Jüngel schreibt:

(Sprecher:) Die von einem Toten mit Recht gemachte Aussage 'er lebt' wendet das Verhältnis von Tod und Leben. Es geht um die Wahrheit des tiefen Satzes: Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Ohne Liebe wird der Tod nicht gewendet, weil allein die Liebe sich auf die ganze Härte des Todes einzulassen vermag. Im Tode Jesu war die Liebe selber am Werk und offenbarte Gott als den, der Liebe ist."

(Autor:) Soweit die Beantwortung der Frage, warum Gott Liebe ist.

(Sprecher:) Und wie ist es bei Jüngel um die Allmacht Gottes bestellt?

(Autor:) Auch darauf gibt er eine Antwort. Jüngel sagt,

(Sprecher:) "Gottes Allmacht ist vielmehr als die Macht seiner Liebe zu verstehen. Nur die Liebe ist allmächtig."

(Autor:) So verstanden ist die göttliche Allmacht die Macht, die sich auch dem Tod aussetzen kann und ihn überwindet. Darin und nur darin hat sich Gott als allmächtig erwiesen. In der Welt und auch in der Geschichte bleibt Gott auch weiterhin verborgen. Zu sehr werden wir noch immer vom Leid und vom Bösen bedrängt. Das weiß natürlich auch Jüngel. Auf die Frage, woher kommt das Böse, antwortet er: es kommt nicht von Gott. Nicht nur das,

(Sprecher:) es gibt keine Antwort auf die Frage, woher das Böse kommt.

(Autor:) Und vielleicht darf es auch keine Antwort geben. Denn würde es hier eine geben, dann droht die Gefahr, daß Unschuldige dafür büßen müssen. Im Mittelalter antwortete man: das Böse kommt vom Teufel. Und entsprechend wurden die zum Teufel gejagt, die angeblich mit ihm im Bunde standen: die Hexen. Wahrsager und Zauberer.

(Sprecher:) Vor 60 Jahren hieß es, die Juden. Später: die Kommunisten. Dann: das Böse liegt in der menschlichen Natur. Oder: das Böse muß es geben, damit wir um die Folgen unserer Entscheidungsfreiheit wissen. Oder: das Unglück ist eine Strafe, weil ich in einem vorgeburtlichen Leben Schuld auf mich geladen habe.

(Autor:) Und jedesmal meint man, ein alles erklärendes Prinzip oder einen Sündenbock gefunden zu haben. Doch mit der Ausmerzung der Bösen wurde die Welt noch lange nicht gut. Und die glatten Erklärungen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als ungerecht und menschenverachtend. Gelänge es uns doch, aus eigenen Kräften das Böse um uns und in uns zu überwinden, so wäre auch die siebte Vaterunser-Bitte überflüssig:

(Sprecher:) ... und erlöse uns von dem Bösen.

(Autor:) Fazit nach Jüngel: Die Herkunft des Bösen bleibt im Dunkeln. Das Böse kann man nicht bekämpfen oder gar besiegen. Jeder Versuch in dieser Richtung führt nur zu noch schlimmeren Übeln.

(Sprecher:) Vom Bösen kann man nur erlöst werden durch den Gott, dessen Liebe stark genug ist, um sich dem Bösen auszusetzen. Wir können nur Gott um die Erlösung vom Bösen bitten. Das ist alles, mehr gibt es nicht.

(Autor:) Und wenn mich jetzt die Eltern des kleinen verstorbenen Patrick fragen, warum Gott die Gebete nicht erhörte und diesen frühen Tod verhinderte, dann würde ich versuchen zu antworten: Warum hat Gott in seiner Allmacht den Menschen, der wie kein anderer mit seinem Willen und seiner Person identisch war, - Jesus, der Gott liebte wie kein anderer, nicht vor dem Leid und vor dem allzu frühen Tod am Kreuz bewahren können?

(Sprecher:) Auch Jesus hatte gebetet: Herr, wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Und am Kreuz schrie er in seiner Sterbestunde: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

(Autor:) Auf diese flehende Frage Jesu am Kreuz antwortete Gott nicht aus den Wolken mit einer wohlüberlegten Rede und tiefschürfenden theologischen Gedanken, sondern erfahrbar, so daß es seine Jünger hören und sehen konnten:

(Sprecher:) durch seine Auferweckung von den Toten wurde Jesus mit dem, was er sagte, was er tat und auch mit seinen Zweifeln ins Recht gesetzt. Gott stellte sich zu ihm und verlieh ihm ein Leben, das durch den Tod nie wieder zerstört werden kann.

(Autor:) Und warum sollte er sich nicht auch so auf die Seite des kleinen Patrick stellen, der mit drei Jahren starb, und seiner Leidensgenossen und aller Menschen, die unter dem Bösen leiden? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jesus Gottes besonderer Liebling war, und wir, Jesu Geschwister und Leidensgenossen, Geschöpfe zweiter Wahl sind, denen der Weg durch den Tod zu neuem Leben verwehrt ist. Es ist Jesus selbst gewesen, der mich durch sein Gleichnis vom verlorenen Schaf eines besseren belehrt hat.

Empfehlenswerte Literatur zu Jüngel

Jüngel, Eberhard: "Gericht und Gnade", Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 1989 in Berlin, abgedruckt in epd Dokumentation 29/89, S. 35-62
ders.: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1982, 4. Aufl.
ders.: Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den "Gottesbegriff nach Auschwitz", in: Gottes Zukunft - Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, hrsgg. von H. Denser, G.M. Martin, K. Stock & M. Welker, München 1986, S. 265-275
ders.: Unterbrechungen. Predigten IV. München 1989
Webster, John Bainbridge: Eberhard Jüngel. An Introduction to his Theology, Cambridge 1986

Eine Sendung des Norrdeutschen Rundfunks, 11.12.1994, NDR 3 Glaubenssachen, 8.40 - 9.00 Uhr

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee