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Intelligenz ist keine Garantie für Lebensqualität

Soziales Lernen spielt zu Unrecht eine Nebenrolle

Eckhard Etzold

Erschienen in: Standpunkte, 8 August 1998, S. 24f.:

Die Beurteilung eines Menschen nach seinen intellektuellen Fertigkeiten vernachlässigt einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit, die emotionale Intelligenz. Sie wird in Lehrplänen noch zu wenig berücksichtigt.

Szene im Restaurant. Einer Serviererin fällt eine Schachtel voller Zahnstocher hin. Ray Babbitt, ein junger Mann schaut kurz auf den Boden und sagt: "246". Sein Bruder Charlie, der ihn begleitet, fragt die Serviererin: "Wieviele Zahnstocher sind da drin?" Sie antwortet: "250!" Charlie ist erstaunt: "Ziemlich genau, Raymond. Komm jetzt, wir gehen jetzt." Die Serviererin ruft den beiden hinterher: "Vier sind in der Schachtel geblieben..." Charlie entdeckt bei seinem autistischen Bruder Ray, den er bisher ausschließlich für geistig zurückgeblieben gehalten hat, eine geniale mathematische Intelligenz. Später benutzt er diese, um bei Glücksspielen haushohe Gewinne einzustreichen.

Der Film "Rain Man" beschreibt geradezu klassisch das Dilemma, in das Menschen mit hohen Intelligenzleistungen geraten können. Seine außergewöhnliche Begabung hatte ihm, Ray Babbitt, nicht zu gesellschaftlichem Erfolg oder sozialer Anerkennung verholfen. In anderen Bereichen menschlichen Verhaltens war er derart benachteiligt, daß ihm ein menschenwürdiges Dasein nur im Sanatorium ermöglicht werden konnte. Doch nicht nur für Ray Babbitt scheint das Mißverhältnis von hohen Intelligenzleistungen und geringem gesellschaftlichem Erfolg zu gelten.

Zu Beginn der 60ziger Jahre gab Prof. Dr. Hans Jürgen Eysenck einen Intelligenztest heraus, mit dem jeder seinen Intelligenzquotienten (IQ) ermitteln konnte. Neben sprachlicher und visueller Intelligenz wurde auch die mathematische und logische Intelligenz getestet. Ein Beispiel: "Finden Sie das Wort, das nicht zu den anderen paßt: Schweiz, Deutschland, Frankreich, Italien, Schweden, Österreich." An Schulen, Universitäten und in der Berufsausbildung wurden solche und ähnliche Tests durchgeführt, und der ermittelte Intelligenzquotient sollte eine Aussage über die zukünftige Berufskarriere machen. Der Bevölkerungsdurchschnitt lag bei einen Quotienten von 100, Studenten sollten einen Quotienten von mindestens 125 haben, Professoren über 135. Höchstbegabte können mit einem Quotienten von über 160 aufwarten. Ein hoher IQ, so schien es, war die Voraussetzung für hohe intellektuelle und kulturelle Leistungen. Die Gefühle wurden übrigens nicht abgetestet. Sie behinderten in diesen Konzept nur die Intelligenz. Damit wurde auch die Ebene des Menschlichen verlassen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß ausgerechnet in der Zeit, als Intelligenztests dieser Art Furore machten, Mr. Spock, kein Mensch, sondern ein "Außerirdischer" aus "Raumschiff Enterprise" genau das verkörperte, was in solchen Intelligenztests verlangt wurde: Reine mathematische Intelligenz ohne jede Emotion. Aber auch schon Eysenck mußte einschränkend feststellen, daß Menschen mit hohem IQ nicht allein deswegen schon erfolgreich sind: "D.R. (IQ 146) wurde von der Universität gewiesen, weil man feststellte, daß er seinen Kommilitonen Geld stahl. S. B. (IQ 161) brach sein Studium ab und brannte mit der Frau des Professors durch. Diese Liste könnte man ohne Schwierigkeiten fast bis ins Endlose fortsetzen." Es blieb aber bei der Forderung, ein hoher IQ als Voraussetzung für hohe wissenschaftliche und kulturelle Leistungen. Das ist - kurz angerissen - der Stand der Diskussion in der Intelligenzforschung in den 60ziger Jahren gewesen. (Übrigens: das Wort, welches nicht zu den anderen paßt, ist Schweden. Es ist ein Königreich. Es hat keine gemeinsamen Grenzen mit einem der anderen erwähnten Länder.)

Doch auch diese Forderung blieb nicht unangetastet. 1977 veröffentlichten der Philosoph Karl Popper und der Hirnforscher John C. Eccles ihr gemeinsames Werk "Das Ich und sein Gehirn". Aufgrund ihrer Forschungen zum Leib-Seele- Problem kritisierten sie, "daß etwas so Vielseitiges und Komplexes wie das angeborene menschliche Erkenntnisvermögen und die Intelligenz durch eine eindimensionale Funktion wie den 'Intelligenzquotienten' (IQ) gemessen werden kann." Und sie gingen noch einen Schritt weiter und mutmaßten, "daß ein intellektueller Riese wie Einstein einen vergleichsweise niederen IQ gehabt haben könnte, und daß unter Leuten mit einem ungewöhnlich hohen IQ solche Begabungen, die zu kreativen Errungenschaften (in Kultur und Wissenschaften) führen, ganz selten sein können." Etwas zugespitzt: Vielleicht hätten Einstein, Goethe, Hegel und Newton im Intelligenztest von Eysenck mit einem niedrigeren Quotienten, vielleicht sogar unter 100, abgeschnitten, obwohl sie die Menschheit mit ihren Werken und Entdeckungen mehr bereichert haben als Millionen anderer Menschen mit weit höheren Quotienten. Frei nach dem Motto: Der dümmste Bauer erntet die dicksten Kartoffeln. Was aber macht dann Genialität und Kreativität aus, wenn mathematische, logische und sprachliche Intelligenz mitunter nur eine untergeordnete Rolle spielen und offenbar andere Charakter- oder Geisteseigenschaften wichtiger sind?

Ein Bestseller der letzten Jahre, das Buch "Emotionale Intelligenz" von Daniel Goleman, gibt darauf eine Antwort: Die rationale Intelligenz ist nur zu einem geringeren Teil am gesellschaftlichen und kreativen Erfolg eines Menschen beteiligt. Wesentlich stärker kommt hier zum Tragen das, was der Psychologe Peter Solvay die "emotionale Intelligenz" nennt: Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von Beziehungen (soziale Intelligenz). Ein Beispiel: Judy ist vier Jahre alt und unauffällig in ihrer Vorschulklasse. Lieber sondert sie sich ab als sich ins Gemenge zu mischen. Ihre soziale Intelligenz wird erst sichtbar, als Judy von ihrer Lehrerin die Aufgabe bekommt, das 'Klassenspiel' zu spielen. Das Klassenspiel besteht aus einer Puppenhaus-Nachbildung ihrer eigenen Vorschulklasse mit Holzfiguren, die statt Köpfen kleine Fotos der Schüler und Lehrer tragen. Judy soll die einzelnen Jungen und Mädchen mit denen zusammenzustellen, mit denen sie am liebsten spielen, was ihr auf Anhieb gelingt. Judy weiß genau, wer mit wem befreundet ist und wer sich gegenseitig aus dem Wege geht. Nicht nur das, sie kann auch genau angeben, wo die einzelnen Kinder im Zimmer am liebsten spielen und mit was. Sie besitzt bereits mit vier Jahren eine vollständige Übersicht der sozialen Beziehungen in ihrer Vorschulklasse, eine Begabung, die sie sicher später für Berufe prädestiniert, in denen es auf Umgang und Menschenführung ankommt. Im Rahmen eines Intelligenztests nach altem Muster wäre diese soziale Intelligenz überhaupt nicht entdeckt worden.

Beziehungen wahrnehmen, Emotionen handhaben zu können und Gefühle in die Tat umzusetzen oder auch im entscheidenden Moment zu unterdrücken, diese Eigenschaften gehören ebenso zur emotionalen Intelligenz. Desweiteren Eigenschaften wie Geduld und Ausdauer, Beherrschtheit und die Fähigkeit, sich selbst Ziele stecken und sich motivieren zu können. Wenn eine Gesellschaft überleben will, wenn "Hochbegabte" nicht um die Früchte ihrer Begabung gebracht werden sollen, wird es nötig sein, daß in Zukunft weitaus stärker das gefördert wird, was wir heute unter dem Begriff "emotionale Intelligenz" diskutieren: "Seid klug wie die Schlangen, aber ohne Falsch wie die Tauben" (Matthäus 10,16).

Literatur

- Hans Jürgen Eysenck: Intelligenz Test. Reinbek bei Hamburg 1985

- Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz, München Wien 1996

- Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern und München 1987

- Karl R. Popper, John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. 5. Aufl., München 1996

- Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor wie lernt das Gehirn, und wann läßt es uns im Stich? Ungekürzte, vom Autor überarbeitete Ausgabe, München 1978

- D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. 6. Aufl., Stuttgart 1992

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee