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Jesus sprach: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als allein Gott.
Markus 10,18

2003 - Das Jahr der Bibel

Kann der historische Jesus für uns ein moralisches Vorbild sein?*

Eine Bibelarbeit

Eckhard Etzold

Den Anstoß zu diesem Text gaben mehrere Gespräche mit meinem Kollegen Rudolf Mercker aus der Kreuzgemeinde Alt-Lehndorf im Rahmen einer theologischen Standortbestimmung. Rudolf Mercker bestand darauf, dass wir uns in unserem Verhalten am historischen Jesus orientieren. Im praktischen Leben sollen wir handeln wie Jesus. In der Ausgabe des Gemeindebriefs der Kreuzgemeinde Alt Lehndorf Nr. 255, Juli/August 2003 wird auf S. 5 im Artikel "Projekt Er-wachsen: Einzelergebnisse der Ergebnisdarstellung" zu dieser Theologie geschrieben: "Theologische Orientierung, die Befragten sagten: der geschichtliche Mensch Jesus, sein Glaube, seine Lehre, sein Verhalten stehen im Mittelpunkt. Er ist Vorbild. Anwendung auf die heutigen Verhältnisse findet statt. Kritische Bibelbetrachtung. 'Entdogmatisierung'." Um zum historischen Jesus zurückzufinden, müssen wir ihn freilegen von allen christologischen Übermalungen und Verzeichnungen. Jesus als der Weltenrichter z.B. wird von Rudolf Mercker schon als eine Abkehr von dem verstanden, was Jesus wirklich wollte: "Die Kirche hat nicht alles bewahrt, was Jesus gelehrt und gelebt hat, sie hat es manchmal auch fast ins Gegenteil verkehrt. Dennoch bleibt im NT erkennbar, worum es Jesus ging - und niemand anderes als die Kirche hat das überliefert." (Orientierung: "Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet!", in: Gemeindebrief der Kreuzgemeinde Alt Lehndorf, September 2003, S. 3.) In einer Kirchengemeinde soll, so weiter Rudolf Mercker und mit ihm auch Hans Goswin Clemen, wenn wir wie Jesus handeln, die Gemeinschaft im Sinne Jesu verwirklicht werden. Diese Gemeinschaft zeichnet sich, so Rudolf Mercker, durch verschiedene Qualitäten aus: Aufhebung aller Machtverhältnisse, Herrschaftsfreiheit im Jüngerkreis, Teilen mit den Hungernden, Selbstbestimmung in der Gemeinschaft, Gewaltfreiheit. All dieses sind Ausformungen der Liebe, die Jesus gelebt haben soll. Ich habe diese Aussagen anhand der Literatur und der Schrift überprüft und den Eindruck gewonnen: Kein einziger Punkt in dieser Auflistung ist, gemessen am biblisch-historischen Zeugnis, wahr! Wenn überhaupt, so handelt es sich hier nur um eine sehr einseitige Sicht des historischen Jesus, in der alles Fremde und Anstößige ausgeblendet wurde. Im Folgenden habe ich einmal versucht, die andere Seite Jesu zu rekonstruieren anhand der neutestamentlichen Literatur, die gewöhnlich in unseren Predigttexten und Gottesdiensten nicht zur Sprache kommt.

I. Die Fragestellung

Zu der wichtigsten Grundlage unserer Religion gehört der Glaube an Jesus Christus. Das kann ich gut teilen: Christus, der Gottessohn, der erhöhte Herr, der Weltenrichter.

Aber: ist der Jesus zu seinen Lebzeiten auch geeignet, um uns als Vorbild zu dienen, wenn wir nicht wissen, wie wir handeln sollen? Von dem bekannten Pfarrer und Widerständler Martin Niemöller stammt der Satz "Was würde Jesus dazu sagen?" Und das Rezept ist recht einfach: erinnere dich, wie Jesus gelebt hat und handle danach. Diese Regel hat nur einen Haken: sie setzt voraus, dass Jesus das, was er gesagt hat, auch gelebt hat. Ist das wirklich so gewesen? Erinnern wir uns: das, was Jesus lehrte, war Vergebung (Mt. 18,21-22), Sanftmut (Mt. 5,5), Feindesliebe (Lk. 6,27), Friedfertigkeit (Mt. 5,9), Segnen statt Fluchen (Lk. 6,28), nicht über andere richten oder sie verurteilen (Lk. 6,37) und der Verzicht auf Zorn (Mt. 5,22). Hat Jesus selbst auch so gehandelt?

Um diese Frage zu beantworten, habe ich die Bibel und die Literatur gesichtet unter dem Aspekt, was an der biblischen Überlieferung für historisch gelten kann.1 Dabei wurde auf folgende Arbeiten und Beiträge zurückgegriffen:

- Adolf Holl: Jesus in schlechter Gesellschaft, Wien 1998,
- Henning Luther: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992,
- Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 9. Auflage, Nachdruck der 7. Auflage Tübingen 1906/1984,
- Heinz Zahrnt: Jesus aus Nazareth. Ein Leben. Neuausgabe München 1989,
- Gerd Theißen / Annette Merz: Der historische Jesus. 2. Auflage, Göttingen 1997,
- John Dominic Crossan: Der historische Jesus. München 1994,
- Norman Perrin: Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung. Göttingen 1972,
- Klaus Berger: Wer war Jesus wirklich? Stuttgart 1995,
- Eduard Schweizer: Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? Göttingen 1995,
- Hans Conrad Zander: Ecce Jesus, Hamburg 1992,
- Timm Schramm, Kathrin Löwenstein: Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu. Göttingen 1986,
- The Greek New Testament. Edited by Kurt Aland, Matthew Black, Carlo M. Martini, Bruce Metzger and Allen Wkgren in cooperation with the Institute for New Testament Textual Research, Münster / Westphalia. Third Edition. London 1975,
- Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord. Frankfurt am Main und Leipzig 1999,
- Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? Band 1 + 2, Augsburg 1999,
- Rudolf Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition, 9. Aufl., Göttingen 1979,
- Imanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1978 und
- Rudolf Augstein: Jesus Menschensohn. Hamburg 1999.
- Einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion zur neutestamentlichen Ethik in der Theologie gibt Werner Zager, Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung, in: Zeitschrift für Neues Testament Heft 11, 6. Jahrgang (2003), S. 3-13.

Herausgekommen ist dabei ein Jesusbild, das völlig anders aussieht als das, welches uns durch fromme Tradition beschrieben wird. Wie benahm sich Jesus aus Nazareth? Ich lasse zuerst Hans Conrad Zander ausführlich3 zu Wort kommen:

II. Wie benahm sich Jesus?

Am nördlichsten Zipfel des Sees Genezareth liegt das "Evangelische Dreieck". Das sind die drei kleinen Städte Kapernaum, Chorazin und Bethsaida. Sie werden so genannt, weil Jesus, dem Markus-Evangelium zufolge, in diesen drei Ortschaften die meisten Wunder gewirkt hat. Doch merkwürdig, die Frohe Botschaft Jesu Christi hat den Menschen dort kein Glück gebracht. Bethsaida ist spurlos versunken im Sumpf der Jordan-Mündung. Durch die Ruinen von Kapernaum stolpern nur noch Touristen. Etwas höher oben, einsam und verlassen in den Hügeln, liegt, ein grauer Trümmerhaufen, das alte Chorazin. Nur ein paar Ziegen starren die Besucher dort aus den Ruinen traurig an, als wollten sie sie fragen: "Was kann der Himmel nur gehabt haben gegen dieses winzige, harmlose Städtchen?"
Dieses winzige, harmlose Städtchen hat eine Todsünde begangen: Es hat die Wunder Jesu gesehen, aber es hat sie nicht ernstgenommen:

"Da fing er an, die Städte zu schelten, in denen die meisten seiner Machttaten geschehen waren, und die sich doch nicht gebessert hatten: 'Wehe dir, Chorazin, weh dir, Bethsaida! Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, wie sie bei euch geschehen sind, sie hätten vorzeiten in Sack und Asche Buße getan. Ich aber sage euch: Es wird Tyrus und Sidon im Jüngsten Gericht erträglicher gehen als euch. Und du, Kapernaum, das du erhoben wurdest bis zum Himmel, du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden. Denn wären in Sodom die Machttaten geschehen, die in dir geschehen sind, es stünde noch heute. Ich aber sage euch: Es wird dem Lande Sodom im Jüngsten Gericht erträglicher gehen als dir'" (Mt. 11,20-24).

So ist das: Wer den Wundern Jesu nicht sofort Glauben schenkt, der wird verflucht, tiefer hinab in die Hölle als die Kindesschänder von Sodom.
Wohlgemerkt, kein Mensch hat Jesus ein Leids getan in Chorazin, in Bethsaida und in Kapernaum. In Kapernaum durfte er sogar am Sabbat in der Synagoge predigen, und alle hörten ihm, wenn auch etwas "entsetzt" (Mk. 1,22), so doch geduldig, zu. In Bethsaida wurde er sogar zum Essen eingeladen (Mk. 2,15). Man war, alles in allem, nett zu Jesus. Allerdings glaubte man ihm nicht. Man traute seinen Wundern nicht. Aus welchen Gründen auch immer, man nahm ihn nicht ganz so ernst, wie er sich das gewünscht hätte. (Und viele unter uns tun das auch nicht.)
Die Reaktion Jesu ist eine derart grässliche Serie von Flüchen, dass man meinen könnte, die Humorlosigkeit sei zur zweiten Person Gottes geworden.
Warum darf eigentlich nicht geschmunzelt werden über die Wunder Jesu? Weil sie kein verführerisches Gaukelspiel sind, kein Liebeszauber Gottes, sondern das todernste Gegenteil.
Die Wunder Jesu sind allesamt ein finsterer Kampf um die Macht, und zwar nicht nur über die Seelen, sondern durchaus auch über die Leiber. Gleich beim ersten Wunder in der Synagoge von Kapernaum fängt das an:

"Und plötzlich war in der Synagoge ein Mann von einem unreinen Geist besessen, und er schrie auf: 'Was ist zwischen uns und dir, Jesus von Nazareth? Kamst du, uns zu verderben? Ich weiß, wer du bist, der Heilige Gottes.' Jesus aber bedrohte ihn: 'Verstumme und fahre aus von ihm!' Und hin und her zerrte ihn der unreine Geist, und laut aufheulend fuhr er aus ihm aus. Und sie entsetzten sich alle" (Mk. 1,23-27).

Bereits jetzt herrscht schon um Jesus in der Synagoge, unter Hunderten von Menschen, eine Stimmung der höllischen Bedrohung und Verängstigung. Dabei ist Kapernaum zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht verflucht.
Mit leichtem Hokuspokus, mit Zaubertrick und Augenwischerei hat das überstürzte, drängende Tempo der Geschichte Jesu nicht so viel zu tun, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Was ihn ruhelos treibt, ist eine viel gefährlichere Magie. "Treiben" ist ohnehin das Schlüsselwort für viele seiner Wunder: "Und er trieb viele Teufel aus und ließ die Teufel nicht reden, denn sie kannten ihn" (Mk. 1,34,). Fünf Verse später heißt es schon wieder: "Und er ging und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Teufel aus" (Mk. 1,39).
Und wenn er nicht treibt, dann droht er:

"Und die Geister, die unreinen, stürzten, sobald sie ihn erblickten, auf ihn los und schrien: 'Du bist der Sohn Gottes.' Und heftig drohte er ihnen, dass sie ihn nicht offenbar machten" (Mk. 3,11-12). Er droht sogar Gottes unschuldiger Natur: "Aus dem Schlaf geweckt drohte er dem Wind und sprach zum Meer: 'Schweig! Verstumme!' Und es legte sich der Wind, und es geschah gewaltige Stille" (Mk. 4,39).

Ostern ist bekanntlich im Frühling. Da tragen die Bäume keine Früchte. Zu Ostern kam Jesus nach Jerusalem.

"Als er in der Frühe wieder in die Stadt ging, bekam er Hunger. Und er sah einen Feigenbaum am Weg, ging zu ihm, fand aber nichts daran als Blätter. Da sprach er zu ihm: 'Niemals mehr wachse auf dir eine Frucht!' Und der Feigenbaum verdorrte auf der Stelle" (Mt. 21,18- 19).

Da wird so gerne, als Exempel für christliche Seelenruhe, das Lutherwort zitiert, wenn morgen die Welt unterginge, würde er heute noch rasch ein Bäumlein pflanzen. Und niemand denkt daran, dass gerade diese christliche Seelenruhe Jesus selbst gefehlt hat. Am Tag bevor seine Welt unterging, hat Jesus in seiner aggressiven Überreizung noch rasch einem Bäumlein den Tod gewünscht.
Ein Erlöser, vor dem die Bäume entsetzt die Blätter fallen lassen, macht auch Tieren solche Angst, dass sie, sobald er auftritt, den Kopf verlieren, gelegentlich sogar das Leben:

"Da fuhren die unsauberen Geister aus und fuhren in die Säue. Und die Herde stürzte den Abhang hinunter ins Meer. Es waren an die zweitausend. Und sie ersoffen im Meer" (Mk. 5,13).

Solches tat er östlich des Jordans, bei Hippos, im Land der Gerasener. Der Schaden war um so größer, als die Gerasener Heiden waren, Schweinefleisch liebten und die gewalttätige Verachtung, mit welcher der Jude Jesus ihre Haustiere in den Tod trieb, überhaupt nicht verstanden.
Begreiflich, dass die Gerasener anfingen, vor einem solchen Heiland um ihr eigenes Leben zu bangen. Und so taten sie, was man immer tun sollte, wenn man einen bedrohlichen Menschen unbedingt loswerden will - sie blieben ausgesucht höflich: "Und sie begannen, ihn zu ersuchen, wegzugehen aus ihrem Gebiet" (Mk. 5,17).

Unter den galiläischen Landsleuten Jesu muss es ein paar gegeben haben, die diesen heidnischen Sinn für höfliche Distanz nicht besaßen. Unverblümt äußerten sie die Vermutung, dass einer, der, wo immer er hin kommt, wild und wütend an böse Geister gerät, vielleicht selber einen bösen Geist habe.
Auf diese Psychoanalyse vor der Zeit antwortet Jesus mit dem schlimmsten Wutausbruch des ganzen Evangeliums. Nicht vom bösen Geist sei er besessen, sondern vom heiligen. Wer auch nur ein einziges Mal den Mund auftue und das Gegenteil behaupte, der komme endgültig und unwiderruflich in die Hölle:

"'Wahrlich, ich sage euch, alles wird den Menschen vergeben, die Versündigungen und die Lästerungen, so viel sie immer lästern. Wer aber den heiligen Geist lästert, der bekommt in alle Ewigkeit keine Vergebung, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts.' Denn sie hatten gesagt: 'Er hat einen unreinen Geist'" (Mk. 3,28-29).

Das reicht, das ist so schlimm, dass Jesus die Humorlosigkeit nicht nur zur zweiten, sondern auch gleich noch zur dritten Person Gottes erhebt.
Besonders übel geht es allen, die sich bemühen, Jesus zu verstehen. Am meisten Mühe, mit ihm zu reden und auf ihn einzugehen, gaben sich die Pharisäer. Wir wissen heute, dass sie ihm sehr nahe standen und dass sie die meisten seiner Ansichten teilten. Vor allem gaben sie sich, wie Lukas bezeugt, Mühe, ihm das Leben zu retten:

"Zur selben Stunde kamen etliche Pharisäer und sprachen zu ihm: 'Gehe fort und ziehe von hinnen; denn Herodes will dich töten!'" (Lk. 13,31).

Gedankt hat er es ihnen so:

"Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler. Wie getünchte Gräber seid ihr, von außen anmutig, aber innen voll Totengebein und voll von allem Unrat" (Mt. 23,27).

Die grässlichste Verwünschung aber schleudert Jesus jedem ins Gesicht, der es in ferner Zukunft einmal wagen würde, kritische Fragen zu stellen:

"Und wer einem einzigen von den Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde" (Mk. 9,42).4

Vielleicht ist es an dieser Stelle gut, daran zu erinnern, was wir hier betrachten und was nicht. Es geht nicht um das Was der Botschaft Jesu; das ist, allen bekannt, die reine Gottesliebe und die Nächstenliebe. Es geht hier um das Wie, das Wie aber ist eine schwer gereizte, vor keiner Einschüchterung und keiner Verfluchung zurückschreckende Aggressivität. Etwa nach dem Prinzip: Und willst du nicht mein Bruder sein, so musst du ewig in der Hölle brennen.
Es wäre aufschlussreich, die Aggressivität Jesu grafisch darzustellen. Ruhelos und ziellos geht sie in alle Richtungen. Natürlich gilt sie denen, die anderer Meinung sind als er: "Ihr Otterngezücht!" (Mt. 3,7). Den Spottvögeln gilt sie ganz besonders: "Wehe euch, die ihr hier lacht, denn ihr werdet weinen und heulen" (Lk. 6,25). Aber sie kann auch ebenso gut den biedersten Gefolgsmann treffen: "Er wandte sich um und sprach zu Petrus: 'Hebe dich weg von mir, Satan!'" (Mt. 16,23).
Manchmal richtet sich die Aggressivität Jesu nach oben. Das ist dann sein bekanntes Engagement für die Befreiung Südamerikas: "Wehe euch, ihr Reichen!" (Lk. 6,24). In ihrer Ziellosigkeit kann sich diese Aggressivität aber ebenso gut auch nach unten richten, gegen die Armen und die Sklaven:

"Wer hat, dem wird gegeben, und er wird in Fülle haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die Finsternis. Da wird Heulen sein und Zähneklappern" (Mt. 25,29-30).

Auffällig aggressiv wird Jesus dann, wenn er anderen Menschen Demut und Bescheidenheit ans Herz legt:

"Jeder, der sich selbst erhöht, wird klein gemacht werden. Und jeder, der sich selbst klein macht, wird erhöht werden" (Mt. 23,12).

Auch gegen Randgruppen richtet sich seine Aggressivität. Ausländer sind für Jesus "Hunde". Wie etwa die Hilfe suchende Frau aus Syrophönizien, deren Kind von Jesus (so auch Theißen / Merz, S. 169) so betitelt wird:

"Sie kam, fiel vor ihm nieder und sprach: 'Herr, hilf mir!' Er aber gab zur Antwort: 'Es ist nicht fein, den Kindern das Brot wegzunehmen und es wegzuwerfen vor die Hunde!'" (Mt. 15, 25-26).

Genauso gut richtet sich die Aggressivität Jesu aber auch gegen die eigene Familie: "Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?" (Joh. 2,4) fährt Jesus - für einen Juden schockierend - die eigene Mutter auf der Hochzeit zu Kana an. Und umgekehrt als Jesus unvermittelt in Nazareth erscheint, in der Stadt seiner Familie, erfahren wir:

"Als die Seinen das hörten, kamen sie her, um ihn fest zu halten. Denn sie sagten: 'Er ist durchgedreht'" (Mk. 3,21).

Das ist das bedenkenswerte Urteil der Menschen, die Jesus am besten gekannt haben. Es wird von keinem Exegeten ernst genommen (eine Ausnahme bilden Theißen und Merz, s.o.).
Ja es ist eine Aggressivität, die jede normale und gesunde zwischenmenschliche Bindung zerstören will:

"Wenn einer zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kind, Brüder, Schwestern, ja sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein" (Lk. 14,26).

Es ist zum Schluss eine Aggressivität gegen das ganze Universum: "Wehe der Welt der Ärgernisse wegen!" (Mt. 18,7).
So weit die richtungslose Aggressivität Jesu, autoritär, von oben herab und ohne jedes Mitgefühl für die Situation des anderen. Und wie er einem Baum zumutet, die elementaren Gesetze der Jahreszeiten zu missachten, um seiner Willkür Befriedigung zu verschaffen, so mutet er Menschen zu, um seinetwillen die elementaren Gesetze des Anstands und der Menschlichkeit zu verletzen (so auch Theißen / Merz, S. 179):

"Ein anderer aber von den Jüngern sagte zu ihm: 'Herr, erlaube mir, dass ich vorher noch meinen Vater begraben gehe.' Da sagte Jesus zu ihm: 'Folge mir nach und lasse die Toten ihre Toten begraben!'" (Mt. 8,21-22).

Selbst deutsche Zeltmissionare, selbst amerikanische Fernseh-Evangelisten würden sich schämen, sich die Objekte ihres Bekehrungswillens mit solchen Anmaßungen gefügig zu machen. (Jesus ist pietätlos, nicht einmal der Tod ist ihm heilig, so Adolf Holl in seinem Jesusbuch, S. 98.)
Was muss das ein Triumpherlebnis für den kleinen Zimmermann aus Nazareth gewesen sein, als mit einem Mal einige der reichen und gebildeten Frauen seines Landes verlangend und ergeben zu seinen Füßen saßen. Wie sie an seinen Lippen hingen, wenn er den Mund auftat! Freilich, was für den Heiland selbst ein tägliches Superstar-Erlebnis war, das muss für Petrus und die Jünger ein täglicher Albtraum gewesen sein. Sie waren ja nicht einmal Zimmerleute, bei weitem nicht, nur stupide Bauern und Fischer vom See Genezareth. Als "ungelehrte und ungebildete Leute" wurden sie eingeschätzt, berichtet Lukas, der gebildete griechische Arzt in der Apostelgeschichte (4,13).
Und der eloquente Zimmermann ließ keine Gelegenheit aus, sie das Schichtgefälle spüren zu lassen. Wie müssen sich die Jünger vorgekommen sein, wenn er sie vor den Jüngerinnen so anfuhr wie nach dem Brotwunder am See Genezareth: "Noch immer begreift und versteht ihr nicht?" (Mk. 8,17). Wie er dann, wohl mit einem Lächeln zu den alles verstehenden Jüngerinnen, den Jüngern noch eins auswischt: "Augen habt ihr und seht nicht, Ohren habt ihr und hört nicht!" (Mk. 8,18). Hilft alles nichts, sie sind zu dumm, die Bauern und die Fischer. Meint jedenfalls der Zimmermann aus Nazareth und setzt wahrhaftig noch einmal eins drauf: "Noch immer versteht ihr nicht?" (Mk. 8,21).
So hat er Petrus und die andern Jünger behandelt. So haben sie sich behandeln lassen, die Bauern und die Fischer vom See Genezareth. Bis ganz zum Schluss, bei der Salbung Jesu in Bethanien, der Frust so vieler Herabsetzungen vor den Frauen aus ihnen herausbricht:

"Und er war in Bethanien, im Hause Simons des Aussätzigen, und er lag bei Tisch. Da kam eine Frau mit einem Alabastergefäß voll pistischer Narde, einem sehr kostbaren Salböl, und goss die Narde ihm über das Haupt" (Mk. 14,3).

Die Reaktion der Männer schildert Matthäus: "Das aber sahen die Jünger, ärgerten sich und sagten: 'Wozu diese Vergeudung?'" (Mt. 26,8). Von wegen "Herrschaftsfreiheit im Jüngerkreis" - Das mag ein frommer Traum aus Alt-Lehndorf sein. Aber die Realität im Jüngerkreis Jesu sah ganz anders aus:
Nach Johannes (12,4) ist es der Kassierer Judas, der den männlichen Protest anführt. "Dreihundert Denare" (Mk. 14,5) sei die verschwendete Salbe wert gewesen, hätte man sie zugunsten der Armen verkauft. Judas denkt wenigstens im Sinne der Armen und möchte ihnen etwas Gutes tun. Dreihundert Denare waren damals etwa der Jahreslohn eines Arbeiters in Palästina. Die Jünger waren selbst Arbeiter genug, um das zu wissen. Und um sich zu schämen. Die Frau mit der Narde schämte sich nicht. Auch nicht Maria Magdalena. Und nicht die andern Frauen, "die ihm Handreichung taten von ihrer Habe" (Lk. 8,3). Und Jesus selbst, der auf ihre Kosten lebte und sich aushalten ließ, machte genau dieses seinen Gegnern, den Pharisäern zum Vorwurf: "Sie fressen der Witwen Häuser" Mk. 12,40). In Jesu Kreisen kam es auf dreihundert Denare nicht an.
Klassenkampf in Bethanien. Zwischen Mann und Frau, zwischen Arm und Reich. Er hat nicht lang gedauert. Auf der Stelle nämlich hat Jesus Partei ergriffen. Nicht für die Armen, sondern für sich. Und man könnte fast meinen, mit den "Armen" meine er die Jünger selbst, wenn er, betörend nach Narde duftend, den Jüngerinnen lächelnd Recht gibt: "Die Armen habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit" (Mt. 26,11).
Das ist ja das Traurige an Petrus und seinen Genossen, dass sie nicht nur von Jesus gerinschätzig behandelt wurden, sondern dass sie tatsächlich Schwächlinge waren. "Sie waren aber unterwegs und zogen hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging voran. Sie waren voll Schrecken, und die folgten, fürchteten sich" (Mk. 10,32). Größer als ihre Heidenangst war nur ihr himmelstürmender Ehrgeiz. Just in diesem Augenblick nämlich dräängten sich Jakobus und Johannes zum Messias und bitten ihn, ihnen nach der Inthronisation in Jerusalem die Ehrenplätze neben seinem Thron zu versprechen. Jesus straft sie mit Verachtung: "Habt ihr die Kraft, den Kelch zu trinken, den ich trinke?" (Mk. 10,38). Die Apostelschar - eine schwache Truppe. Je länger, je schwächer. In der Stunde der Tapferkeit, der Treue und Bewährung steht bei Jesus unterm Kreuz die Frauenschar um Maria Magdalena allein. (Mk. 15,40-41)
Von jenem Augenblick an, als Jesus sich entschloss, entgegen dem Rat Johannes des Täufers nicht zurückzukehren an seinen Arbeitsplatz nach Nazareth, begann sein Wanderleben auf Kosten anderer. Markus schildert das unverblümt:

"Und als er vorüberging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zollhaus sitzen. Und er sagte zu ihm: 'Folge mir!' Da stand er auf und folgte ihm" (Mk. 2,14). Und dann, von Markus knallhart im nächsten Vers dran gehängt, die finanziellen Folgen solch religiöser Hinwendung zu Jesus: "Und es geschah, dass er [Jesus] sich zu Tische niederlegte in seinem [Levis] Haus, und viele Zöllner und Sünder lagen zu Tische mit Jesus und seinen Jüngern; denn ihrer waren viele, und sie folgten ihm" (Mk. 2,15).

Ein teures Essen. Nochmals: ein Mann namens Jesus fordert einen Mann namens Levi auf, ihm zu folgen. Ist es da abwegig, sich vorzustellen, dass erst einmal bei Jesus und auf Jesu Kosten gegessen werden sollte? Um so mehr, als Jesus, laut Markus, in Kapernaum - einen Katzensprung vom Zollhaus entfernt - ein Haus hatte (Mk. 2,1).
"Geben ist seliger als nehmen", so zitiert Paulus ausdrücklich Jesus selbst (Apg. 20,35). Der heilige Martin von Tours hat sich daran gehalten und seinen Mantel mit dem Bettler geteilt. Ein großes christliches Vorbild. Etwas ähnlich Christliches wird von Jesus selber im Evangelium leider nirgendwo berichtet. Mit den Armen oder den Sklaven setzte er sich anscheinend nie zu Tische. Wo er teilt, wie etwa bei der Speisung der Fünftausend, da teilt er nicht real, was er besitzt. Er stellt vielmehr sein Talent, Wunder zu vollbringen, unter Beweis. Das ist etwas anderes.
Jesus ist keiner, der gibt. Er ist einer, der nimmt, was immer er braucht, und zwar recht herrisch:

"Und als sie nach Jerusalem kamen, nach Bethphage und Bethanien an den Ölberg, sandte er zwei Jünger aus und sagte zu ihnen: 'Geht in das Dorf da drüben. Und sofort, wenn ihr hineinkommt, werdet ihr ein Füllen angebunden finden, auf dem noch kein Mensch gesessen hat. Bindet es los und bringt es her! Und wenn einer fragt: Was tut ihr da?, dann sagt, dass der Herr seiner bedarf. Und sofort wird er es hersenden'" (Mk. 11,1-3).

Zuletzt wurde er sogar handgreiflich: Matthäus, hier einmal bündiger und anschaulicher als Markus, stellt es so dar:

"Als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sagte: 'Wer ist dieser?' Und die Menge sagte: 'Das ist der Prophet Jesus, der aus Nazareth in Galiläa.' Und Jesus ging hinein in den Tempel Gottes, warf alle Verkäufer und Käufer aus dem Heiligtum, stieß die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenverkäufer um und sprach zu ihnen: 'Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus heißen. Ihr aber habt daraus eine Mördergrube gemacht.' Und Blinde und Lahme gingen zu ihm in den Tempel, und er heilte sie. Als aber die Hohenpriester sahen, wie er Wunder wirkte und wie die Kinder im Tempel schrien 'Hosanna dem Sohn Davids!', ärgerten sie sich und sagten zu ihm: 'Hörst du denn nicht, was diese sagen?'" (Mt. 21,10-16).

Intifada-Stimmung in Jerusalem. Es fehlt nicht einmal das Revolutionsgeschrei der Halbwüchsigen ('Kinder'), so perfekt gibt Matthäus das Klima palästinensischer Erregung wieder, das jeden Augenblick explodieren konnte zu einem blutigen nationalen Aufstand.
Jesus hatte es auf Konfrontation angelegt. Nun war sie da:

"Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List griffen und töteten." (Mk. 14,1)

III. Der "fremde" Jesus

So weit erst einmal dieser literarische Befund5, der damit keinesfalls vollständig erschöpft ist. Das ist nicht mehr der milde, der sanfte Jesus, so wie wir ihn aus dem Kindergottesdienst kennen:

Arme behandelte er abfällig, Sklaven wünschte er dorthin, wo Heulen und Zähneklappen ist, auf seine Jünger blickte er mit Verachtung herab, Ausländer beschimpfte er, von den Reichen ließ er sich gern aushalten und in seiner Aggressivität war er maßlos und unbarmherzig wie kaum ein anderer Religionsstifter. Das ist das Charakterbild, das uns nicht irgendein Ketzer oder Religionskritiker von Jesus zeichnet, sondern die Bibel, unser ureigenstes Glaubenszeugnis, das für uns Maßstab und Richtschnur des Glaubens ist. Jesus selbst ist nach ihrem Zeugnis immer wieder in Situationen geraten, wo er gerade das nicht verkörpert, was er lehrte: Vergebung, Sanftmut, Feindesliebe und Friedfertigkeit. Anstatt zu segnen, wo es nach seiner Lehre geboten wäre, fluchte er, aus geringen Anlässen geriet er in Zorn, und Menschen, die anderer Meinung waren, verurteilte er gnadenlos. In seinem Versuch, Liebe und Annahme zu leben, geriet er an Grenzen. Das Pauluswort aus dem Römerbrief,

"das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich (Röm. 7,19),

traf auch auf Jesus zu. Wie konnte das passieren? Dazu sehen wir uns kurz an, wie Jesus auf Misserfolge reagierte: Der erste Misserfolg in seinem Wirken wird bei Markus aus Jesu Heimatstadt Nazareth überliefert (Mk. 6,1-6), wo es zuvor schon zum Verwürfnis mit seiner Familie gekommen war (Mk. 3,31-34). Er reagierte darauf zwar etwas verärgert, aber durchaus noch besonnen::

"Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte." (Mk. 6,4-5)6

Doch angesichts des schon eingangs geschilderten Misserfolges in Kapernaum, Chorazin und Bethsaida half ihm diese Entschuldigung nicht mehr weiter, denn zumindest Bethsaida war für ihn fremdes Territorium. Er verlor die Beherrschung und stieß die schlimmsten Flüche aus, die von ihm überliefert wurden. Und hätten die heidnischen Gerasener nicht jenen Sinn für Höflichkeit besessen, sie wären vielleicht mit denselben Flüchen belegt worden.

Wir kennen Jesus gewönlich als den, der die Kranken heilte, die Zerbrochenen aufrichtete und die Bedrückten tröstete. Das wird auch von ihm erzählt. Aber es ist nur eine Hälfte. An Grenzen stoßend konnte Jesus auch ganz anders handeln und die Inhalte seiner Lehre ins Gegenteil verkehren.6 Angefangen bei der Ablehnung in Nazareth, den Misserfolgen in Kapernaum, Chorazin und Bethsaida hin bis in das Land der Gerasener: sein Auftreten fand nicht den Zuspruch, den Jesus erwartet hatte. Und es fiel ihm zunehmend schwerer, das ertragen zu können. Was wir hier vor uns haben ist die andere Seite ein und desselben Menschen, wie sie uns durch die neutestamentlichen Evangelisten auch vor Augen gemalt wird. Ihr Ziel war es nicht, uns Jesus als Vorbild zu empfehlen, sondern uns Jesus als den Gottessohn nahe zu bringen. Aber sie taten es, ohne aus Jesus einen "Heiligen" zu machen.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Bibelkritik haben wir gelernt, dass vieles, was die Evangelien überliefert haben, Legendenbildung und Mythos ist. Ist die Aggressivität nachträglich in die Überlieferung hineingezeichnet worden? Ist sie Ausdruck aggressiver Projektionen der Evangelisten? Ich glaube das nicht. Dazu sind die überlieferten Szenen zu zahlreich. Wenn sie ein Interesse gehabt hätten, uns Jesus als den von allem Menschlichen abgehobenen Gottessohn vor Augen zu malen, dann passen diese aggressiven Untertöne nicht ins Bild. Vielmehr scheint es die Stimmung gewesen zu sein, die Jesus verbreitete, und die bei den Menschen haften blieb, welche mit ihm zu tun bekamen. Ja mehr noch: wenn wir uns ansehen, aus welchen Quellen sich das "moralische Material" speist, dann finden wir durchweg spätere Überlieferungen. Jesus als moralisches Vorbild, das ist das Bild, das Matthäus und Lukas entwerfen. Markus, der älteste Evangelist, der dem historischen Jesus am nächsten steht, hält sich weitgehend zurück. Statt dessen erscheint bei ihm Jesus noch ungeschliffen und geradezu archaisch in seinem Auftreten. Das legt den Schluss nahe, dass die Bilder von Jesus, dem friedfertigen, sanftmütigen und barmherzigen Gottessohn, der auch seine Feinde liebt, nicht auf Jesus selbst zurückgehen, sondern Erfindungen der späteren urchristlichen Gemeinde sind, in denen die Charakterzüge eines in Gedanken ausgemalten Messias das Bild vom historischen Jesus überzeichnen und überwuchern.

Aber auch noch ein anderes tritt hinzu: Wir sind gewohnt, die Evangelien durch die Brille Jesu zu lesen. Wir erleben Jesus als den Handelnden und den Erleidenden. Und gehen selbstverständlich davon aus, dass Jesus immer im Recht ist. Wir haben diesmal die Evangelien aus einem anderen Blickwinkel gelesen, indem wir Jesus durch die Brille der Betroffenen sehen, also derer, die von seinen Aggressionen getroffen werden. Und aus dieser Sicht werden nicht sie durch Jesus in Frage gestellt, sondern Jesu Verhalten durch sie. Dieser Wechsel der Perspektive ist es, der einen für uns fremden, ja sogar abstoßenden Jesus zu erkennen gibt.

Das wirft weitere Fragen auf: Gesetzt den Fall, das ist wahr, was die Bibel von Jesus berichtet: warum versagt der, den wir uns als Vorbild nehmen wollen, so sehr in seinem eigenen Leben? - Eine einfache, mögliche Antwort: wo viel Licht ist, da gibt es auch viel Schatten. Die richtungslose Aggressivität war die Kehrseite seiner wunderwirkenden Energie. Wir kennen das von jedem genialen Menschen: so grandios einer sein kann in einem kleinen Bereich, so übel und unangenehm kann derselbe Mensch in anderen Situationen erscheinen. Seine Botschaft und sein Verhalten klaffen weit auseinander: der, der die Feindesliebe fordert (Mt. 5,44), ist derselbe, der seine Feinde - wenn es im Handeln konkret wird, zur Hölle wünscht. Damit aber wird seine Botschaft von der Feindesliebe zutiefst fragwürdig.

Die biblischen Autoren haben Jesus - Gottseidank! - so gezeichnet, wie sie ihn aus der Überlieferung kennengelernt hatten, auch mit dem, was uns fragwürdig und problematisch ist. Sie haben Jesus als Menschen gesehen, mit seinen charakterlichen Fehlern, und diese waren anscheinend mindestens so ausgeprägt, wie auf der Kehrseite sein Glaube und seine Schlagfertigkeit positiv entwickelt waren. Jesus war eben nicht vollkommen, sondern so wie sein Leben abgebrochen wurde, Fragment blieb, so war auch seine Persönlichkeit unvollendet, fragmentarisch und defizitär (Henning Luther), genauso wie die Personen, die er selbst uns in seinen Gleichnissen vor Augen malt.

Es gibt in den Evangelien sogar einen Hinweis darauf, dass Jesus sich selbst nicht als guten Menschen gesehen hat, sondern sich seiner persönlichen Defizite durchaus bewusst war:

"Und da er hinausging auf den Weg, lief einer herzu, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: 'Guter Rabbi, was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?' Aber Jesus sprach zu ihm: 'Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als allein Gott.'" (Mk. 10,18)

Und so sollten wir uns von dem Menschen Jesus auch kein Bild machen, in dem alles menschliche und fragwürdige weichgezeichnet und verwischt ist.

IV. Jesu Lehre als moralischer Leitfaden?

Aber wie sollen wir uns nun verhalten, wenn wir uns Jesus trotzdem als Vorbild nehmen wollen? Wir könnten ja sagen, auch wenn er als Mensch in seinem Handeln fragwürdig war, so können wir unser moralisches Handeln immer noch nach dem ausrichten, was er gelehrt hat. Aber auch hier laufen wir ins offene Messer. Die Vorbilder, die Jesus uns in seiner Lehre vor Augen malt, erscheinen nämlich ebenso bedenklich wie sein Handeln. Von Immanuel Kant haben wir gelernt, dass das Motiv unseres Handelns zählt, weniger ihr Ergebnis. Ist das Motiv schlecht, dann kann schon nichts Gutes dabei herauskommen. Ist es gut, dann besteht wenigstens die Chance, dass auch das Ergebnis einer Tat gut werden kann. (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, erstes Buch, drittes Hauptstück). Selbstlos sollen wir handeln, dann ist es eine Tat der Liebe, in diesem Geist lässt Matthäus auch seinen Jesus in der Bergpredigt sprechen:

"lass die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut" (Mt. 6,3).

Das Schlimmste aber, was einem passieren kann, ist, wenn man egoistisch handelt wie die "Heuchler in den Synagogen", die das Gute ja nur tun, um von den anderen gesehen und gelobt zu werden, "denn sie haben ihren Lohn schon gehabt." (Mt. 6,1-2)

Doch derselbe Jesus kann auch ganz anders reden. In seinem bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk. 15,11-32) verzichtet er plötzlich auf jede Erforschung von Motiven: da wird von einem jungen Mann berichtet, der zu seinem Vater heimkehrt, nicht etwa, weil er seinen Vater bis über beide Ohren selbstlos liebt, sondern weil ihm in der Fremde schlicht und einfach das Geld ausgegangen war und er nichts mehr zu beißen hatte:

"Da ging er in sich und sprach: Wieviel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir." (Lk. 15,17-18)

Und der Vater ließ ein Freudenfest ausrichten. Nach den Motiven seiner Umkehr wird nicht weiter geforscht, sie sind nicht anscheinend nicht mehr wichtig. Dass es der pure Egoismus ist, der den Sohn nach Hause treibt, spielt überhaupt keine Rolle. Vielmehr stellt Jesus diesen Egoisten als Vorbild hin: So sollt ihr handeln! Gott fragt nicht nach unseren Motiven. Hauptsache, ein Mensch findet wieder zu sich und den Seinen zurück. Wie, das ist egal.

Dieses Beispiel ist aber noch vergleichsweise harmlos. Es ist eine Familiengeschichte mit Entzweiung und Versöhnung, wie sie sich tausendfach abspielt, auch heute noch. Entsetzlicher sind die Beispiele aus dem öffentlichen Leben, die Jesus uns als Vorbilder empfiehlt. Sie sind nicht mehr harmlos, sondern vollends gewissenlos, korrupt und unanständig, so haben es Timm Schramm und Kathrin Löwenstein herausgefunden:

Im Gleichnis vom Meisterdieb (Lk. 12,39) vergleicht Jesus den Menschensohn und Weltenrichter mit einem Räuber, der zur unerwarteten Zeit kommt. Im Gleichnis vom ungerechten Haushalter (Lk. 16,1-13) wird uns ein Verwalter als Vorbild empfohlen, der nicht nur der Unterschlagung bezichtigt wurde, sondern daraufhin auch noch seine Untergebenen zur Urkundenfälschung überredet. Und über diesem zwielichtigen Charakter urteilt Jesus: "Der Herr lobte den ungerechten Haushalter, dass er klug gehandelt habe." Zu fremden Eigentum hatte Jesus offenbar ein sehr lockeres Verhältnis, ganz im Gegensatz übrigens zu seinen Gegnern, den Pharisäern und Schriftgelehrten. Bei ihnen gab es folgende kurze Erzählung:

"Es geschah einmal, dass Rabbi Simeon ben Schettach von einem Araber einen Esel kaufte. Da kamen seine Jünger und fanden, dass ein Edelstein vom Halse des Esels hing. Sie sprachen zu ihrem Lehrer: Rabbi, hier bewähren sich doch die Sprüche Salomos: Der Segen des Herrn macht reich. Er antwortete: Den Esel habe ich gekauft. Den Edelstein habe ich nicht gekauft. Er ging dann und gab dem Araber den Edelstein zurück. Der Araber aber rief aus: Gelobt sei der Herr, der Gott von Simeon ben Schettach."

Die Pointe dieser Erzählung zielt auf die Rechtschaffenheit des Rabbis, der den Edelstein zurückgibt, den er nicht bezahlt hat. Das ist ein wirklich echtes Vorbild - auch für uns. Doch bei Jesus ist derselbe Erzählstoff schon nach wenigen Worten moralisch entgleist:

"Das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker, welchen ein Mensch fand und verbarg ihn, und in seiner Freude darüber geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker."

Dieser Mensch behält seinen Fund für sich. Zumindest hätte es sich doch gehört, dass der Mann dem Besitzer des Ackers Nachricht von dem unverhofften Fund erstattet. Stattdessen haut er den Besitzer des Ackers einfach übers Ohr. Das ist Unterschlagung mit arglistiger Täuschung. Ein Straftatsbestand, auf den vielerorts Gefängnis steht. Doch daran denkt Jesus jedoch nicht. Wie denn auch? Selbst die Vertreter des Rechts erscheinen bei Jesus korrupt und von haarsträubender Gewissenslosigkeit. Die verzweifelten Bitten der mittellosen Witwe um Rechtsbeistand lassen den Richter aus Lk. 18,1-8 zunächst völlig kalt. Erst nach geraumer Zeit wird er aktiv - aber nicht, weil er dies angesichts des unbezweifelnbaren Rechts der Witwe endlich als seine Aufgabe erkennt, sondern weil ihm die Frau mit ihrer Beharrlichkeit lästig wird.

In Lk. 12,57-59 wird sogar von einem Prozessgegner erzählt, der nicht abwarten soll, bis es zum Prozess vor Gericht kommt (in dem seine Schuld zweifellos nachgewiesen und mit Gefängnisstrafe geahndet wird). Klug handelt er, wenn er bereits auf dem Weg zum Richter seinen Prozessgegner versucht, durch erfolgreiches Bestechen und Breitschlagen umzustimmen.

Aber nicht nur in der Bibel ist jesuanisches zu finden. Ein Textbeispiel, das auch mit unter die echten Jesusworte heute gerechnet wird, ist das Gleichnis vom Attentäter aus dem Thomasevangelium (Th 98):

Jesus sprach: Das Königreich des Vaters gleicht einem Mann, der einen Mächtigen töten wollte. Bei sich zu Hause zog er das Schwert aus der Scheide und durchbohrte die Wand, um zu erkennen, ob seine Hand stark genug sein werde. Dann tötete er den Mächtigen.

Jesus vergleicht das Reich Gottes mit einem Mörder! Kein Wunder, dass die Synoptiker diesen Stoff nicht mit aufnahmen in ihre Evangelien. Trotzdem spricht sehr vieles dafür, dass auch dieses Gleichnis auf den historischen Jesus zurückgeht. Denn dass die spätere Urgemeinde dieses Gleichnis erfand, ist kaum vorstellbar. Die Kühnheit dieses Wortes ist eigentlich nur Jesus selbst zuzutrauen, der ja auch sonst nicht davor zurückscheut, moralisch bedenkliche Gestalten zum Gegenstand eines Gleichnisses zu machen.

Auch wenn diese Vorbilder auf viele von uns abstoßend wirken, haben sie doch gerade auf jene eine magische Anziehungskraft entfaltet, die sich in diesen Vorbildern wiedererkannten: die Sünder, Zöllner, die Frauen des "horizontalen" Gewerbes, die vielen kleinen und großen Gauner, die versuchten, mehr schlecht als recht durch den Tag zu kommen. Sie wurden in seiner Gesellschaft so zahlreich, dass sich die anderen ihre entsprechende Meinung über Jesus bildeten:

"Er ist ein Freund der Zöllner und Sünder." (Mt. 11,19).

Und wenn Jesus mit ihnen zusammen war, erzählte er ihnen nicht nur prickelnde Geschichten von unmoralischen Helden und seinem Gott, der die ganze Welt umkrempeln wird. Es wurde dabei auch gegessen und getrunken, - so viel, dass es bald von ihm heißen konnte:

"Dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer." (Lk. 7,34)

Jesus selbst hat das jedoch nicht weiter gestört. Das ist so. Das ist in Ordnung, meinte er (Lk. 7,35) und gibt damit jenen Recht, die solches von ihm behaupten.

V. Jesus - wahrer Gott und wahrer Mensch

Sollen wir uns nun abwenden von Jesus? - Gott selbst hat sich vorbehaltlos auf seine Seite gestellt (und das durchgehalten bis über seinen Tod hinaus):

"Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen." (Mk. 1,11)

Und damit zeigt Gott, dass er Jesus annimmt, so wie er ist, mit seinen Wundergaben, aber auch mit seiner Aggressivität und Härte. Er, Jesus, darf so sein und muss sich nicht verbiegen. Und wir dürfen auch so sein - wir müssen nur bereit sein, auch die Konsequenzen daraus zu tragen. Gott stellt sich auf seine Seite - und nicht auf die Seite irgendeiner Moral oder gar eines - wie auch immer zu bestimmenden - guten Geschmacks.

Die persönliche Vervollkommnung, die Vollendung ist auf Erden nicht zu finden. Sie ist der Vollendung Gottes am Ende der Zeiten vorbehalten. Jesus selbst war einer wie wir - mit allen Unzulänglichkeiten, unter denen auch wir leiden.

Handeln wie Jesus? - Dieser Ratschlag ist also mit Vorsicht zu genießen! Andere, die ihm nachgefolgt sind, haben das besser vermocht: Franz von Assisi, Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Martin Luther King, und auch viele Menschen in unserer eigenen Gemeinde, die nicht im Scheinwerferlicht stehen.

Woran aber sollen wir uns dann orientieren, wenn Jesus als Person, als moralisches Vorbild fragwürdig geworden ist? Auch darauf gibt uns wiederum Jesus selbst eine Antwort, als ein Schriftgelehrter zu ihm sprach:

"'Rabbi, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?' Jesus aber sprach zu ihm: 'Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.'" (Mt. 22,36-40)

Und damit zitiert Jesus das, was schon im Alten Testament geschrieben steht. Mehr brauchen wir nicht als Richtschnur für unser Handeln. Und ansonsten wirkt die Aggressivität Jesu auf uns auch befreiend: Ja, auch das darf sein. Ich darf auch aggressiv sein, völlig an den Regeln der Moral vorbeilaufen. Ich muss nur bereit sein, auch die Konsequenzen dafür zu tragen - so wie Jesus dazu bereit war und sich deswegen ans Kreuz schlagen ließ. In diesem Punkt war er im Handeln konsequent.

Und wenn Sie mich jetzt danach fragen, wie und wo uns Jesus wirklich zum guten Vorbild werden kann, dann ist es sein Glaube und seine geniale Fähigkeit, Gleichnisse zu erzählen, durch die er den Menschen eine neue Gotteserfahrung zuspielte und neue Hoffnung auf Heilwerdung ermöglichte. Was den Glauben betrifft, da verstand er zu geben - wie kein anderer vor ihm und kein anderer nach ihm (so auch Theißen / Merz, S. 216f.). Und wie er den Menschen durch Gleichnisse den Blick für das Gottesreich öffnete - auch das hatte ihm niemand vorgemacht. Das war das Neue, und darinnen unterscheidet er sich bis heute von uns. Das Moralische aber bleibt eine höchst zweifelhafte Sache, Gottseidank! - denn es fordert uns heraus, selbst zu entdecken, wie wir vor Gott leben können. Wir sollen an Jesus Christus glauben, und das ist auch gut so. Aber der Glaube soll uns nicht blind machen und dazu verleiten, alles, was Jesus tat, für das Nonplusultra zu halten. Gott hat uns den Verstand gegeben, damit wir ihn anwenden und selbst herausfinden, welche Ethik zu unserem Leben passt.

Jesus war nicht "vollkommen" gewesen. Und wir tuen ihm Unrecht, wenn wir ein Bild von ihm entwerfen, das diesen Sachverhalt in Frage stellt. Die Vollendung seiner Persönlichkeit erlebte er nicht zu seinen irdischen Lebzeiten. Sie war der Zeit vorbehalten, die zu Gottes neuer Welt gehört. Nach der Auferstehung, da wurde sichtbar, dass Gott diesen Jesus in das Bild verwandelt hatte, wie ihn sich Gott von Anfang an vorstellte. Im Bild des Auferstandenen, so wie es uns im Neuen Testament überliefert wurde, waren alle sperrigen, kantigen und aggressiven Züge, die sein irdisches Leben auch mit ausgemacht hatten, verschwunden. Der Auferstandene war Frieden (Lk. 24,36), Licht und Vollkommenheit (2. Kor. 4,4-6) - er trug jetzt die Züge jenes Gottes, der sich mit ihm auf immer und ewig verbunden hatte. Jesus hat sich nicht selbst vollendet. Das war Gottes Tat an Jesus gewesen. Und genauso wird Gott auch aus uns neue Menschen machen. Und was kann da schon unser Widerstreben gegen die Allmacht dessen ausrichten, der das so will?

Anmerkungen

1. Die Kriterien für Historizität gingen zuerst auf Rudolf Bultmann zurück: Historisch ist das, was nicht aus dem Judentum ableitbar ist und nicht auf die nachösterliche Gemeinde zurückgeführt werden kann (vgl. Rudolf Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition, 9. Aufl., 1979, S. 222.) In der Gegenwart haben Gerd Theißen und Annette Merz die Kriterien erweitert und ersetzt durch die Kriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität. (Es ist Kennzeichen einer historischen Gestalt im Unterschied zur fiktiven Romangestalt, dass sie nur in einem bestimmten Kontext vorstellbar ist und aus ihren historischen Wirkungen erkannt werden kann.) Als weiteres Kriterium möchte ich hinzufügen: das, was so anstößig oder auch kühn ist, dass es nur schwer als Vorbild und Leitlinie für Gemeindeleben und Gemeindeaufbau genommen werden kann, kann ebenfalls historisch sein.

2. Zwei Jahre später wurde dieses Buch erneut aufgelegt, allerdings unter dem Titel "Warum ich Jesus nicht leiden kann".

3. Zander hat in seinem Buch eine Abhandlung über das Verhalten Jesu vorgelegt. Im folgenden Abschnitt habe ich einzelne Abschnitte aus seinem Buch ausgewählt und z.T. zusammengefasst, die auch im Lichte des heutigen Forschungsstandes bestehen können. Die Auswahl der biblischen Abschnitte geschah unter dem Gesichtspunkt historischer Überlieferungen, dazu wurden sie mit dem Material, was Theißen und Merz zusammengetragen haben, abgeglichen. Andere Beispiele bei Zander, z.B. dass Jesus Homosexuelle als Hunde, gar als Säue bezeichnet hatte, wurden nicht aufgenommen, da Zander sich hier nur auf einen einzelnen Exegeten (Ben Chorin) berufen kann, was m.E. zuwenig ist, um daraus ein historisch sicheres Urteil abzuleiten.

4. Bei diesem Jesuswort vermute ich allerdings Gemeindebildung. Hier wird eine Abwehr von Außen kommender Verunsicherung der Gemeinde sichtbar. Dass Jesus allerdings ein solch scharfes Wort in den Mund gelegt werden könnte, besagt allerdings, dass man ihm auch ein solches Verhalten zugetraut hat aufgrund dessen, was man von ihm wusste. Es würde heute niemand auf die Idee kommen, ein solches Wort Martin Luther King in den Mund zu legen, obwohl er - genauso wie Jesus - auch für gewaltloses Handeln immer wieder als Vorbild angeführt wird.

5. Es ist interessant, neben dem biblischen Zeugnis auch einen Blick in die apokryphe Überlieferung zu werfen. Jene Aggressivität, die den erwachsenen Jesus auszeichnet, tritt hier noch sehr viel archaischer und unberechenbarer hervor. Im Kindheitsevangelium des Thomas ist folgende Szene überliefert:
"Einmal spielte der Sohn des Schriftgelehrten Annas mit Jesus zusammen [am Bach]. Er nahm einen Weidenzweig und ließ das Wasser aus dem kleinen Teich abfließen, den Jesus angelegt hatte. Als Jesus das sah, wurde er wütend und schrie ihn an: 'Du bist ein gemeines Biest, was haben dir die Teiche und das Wasser getan? Du sollst sofort zu einem Baum verdorren, ohne Blätter, ohne Wurzel, ohne Früchte!' Kaum hatte Jesus das gesagt, da verdorrte der Junge vollständig. Dann ging Jesus einfach nach Hause. Doch die Eltern des Jungen hoben ihr verdorrtes Kind auf und weinten, denn es war ja noch so klein. Sie brachten es zu Joseph und warfen ihm vor: 'Schau mal, was dein Sohn für Sachen macht!'" (3,1-3)
Aber damit nicht genug, die daran anschließende Szene zeigt, wie Jesus sich an einem Jungen rächte, der ihn beim Laufen anrempelte:
"Als Jesus wieder einmal durchs Dorf ging, kam ein Junge gelaufen und rempelte ihn an der Schulter an. Jesus wurde wütend und sagte: 'Du sollst deinen Weg nicht weiter gehen!' Sofort fiel der Junge um und war tot. Einige Leute, die das mitangesehen hatten, wunderten sich: 'Woher kommt dieses Kind nur? Jedes seiner Worte wird ja sofort Wirklichkeit!' Und die Eltern des toten Jungen liefen zu Joseph, machten ihm Vorhaltungen und sagten: 'Mit so einem Kind kannst du nicht bei uns im Dorf wohnen. Bring ihm doch lieber bei, zu segnen anstatt zu fluchen. Denn er bringt unsere Kinder um!'" (4,1-2)
In beiden Szenen sind die Eigenschaften, die den Menschen von dem (erwachsenen) Jesus am deutlichsten in Erinnerung blieben, seine Wunderwirksamkeit und seine Aggressivität, miteinander verknüpft und durch die Projektion in die frühe Kindheit bis ins Horrorhafte gesteigert. Sie erreichen dadurch eine geradezu schon gemeingefährliche Qualität. Auch wenn es schwer fällt, diese apokryphen Kindheitsschilderungen für bare Münze zu nehmen, so folgen sie doch einem üblichen Topos der antiken biografischen Literatur, indem sie an markanten Szenen aus der Kindheit die künftige Größe eines Menschen erkennbar werden lassen. Eine Größe, die sich vor allem in Wunderkraft und Aggressivität zu erkennen gibt.

5. Ein anderes Beispiel wird bei Theißen / Merz (S. 207) genannt: "Angesichts der Gottesherrschaft ist die Erfüllung (Lk. 17,35) oder Nicht-Erfüllung (Mt. 6,28) weiblicher Pflichten nebensächlich. Lk. 10,38-42 gibt dem Lernen der Maria den Vorrang vor der Hausarbeit der Martha. (...) Die Maria-Martha-Erzählung zeigt aber auch die Grenzen dieser Reflexion aus: Eine Frau (Maria) darf zwar die privilegierte Rolle der lernenden Jüngerin übernehmen, aber die Männer (auch der lukanische Jesus) scheinen nicht gewillt zu sein, auf ihre patriarchalischen Privilegien (das Versorgtwerden) zu verzichten. Darum lasten widersprüchliche Ansprüche (Lernen und Haushalt) auf der verantwortlichen Gastgeberin (Martha)."

6. Es darf angenommen werden, dass dieser Satz Jesu in seiner ursprünglicheren Form nicht in den Synoptikern, sondern im apokryphen Thomasevangelium (Vers 31) zu finden ist: "Jesus sagt: Kein Prophet ist willkommen in seinem Dorf. Kein Arzt kann die heilen, die ihn gut kennen."

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee