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Ich bitte Sie! Selbstlos?

Ein kleinlautes Lob auf schlechte Motive

© Eckhard Etzold

Es ist schon einige Zeit her, ich mußte damals 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein und besuchte die zwölfte Klasse des Gymnasiums. Im Religionsunterricht hatten wir die Frage nach dem Sinn des Lebens behandelt. Und die Antwort auf diese Frage schien zunächst auch klar zu sein: Das Leben wird durch die Liebe erst sinnvoll. Doch bald stellte ich mir die Frage: Gibt es überhaupt die selbstlose Liebe, und wenn, was muß ich tun, um ihr gemäß zu leben? Wir hatten den Franzosen Albert Camus gelesen, den Roman "Der Fal", für den Camus im Jahre 1957 den Nobelpreis bekam, über den Pariser Anwalt Jean Clamans, der seine Karriere als erfolgreicher Strafverteidiger der Pariser Hautevolee freiwillig aufgab, um bei den Asozialen im Amsterdamer Hafenviertel unterzutauchen. Die selbstlose Liebe gab es für Clamans nicht. In schonungsloser Weise ging der alte Richter mit sich und seinen Mitmenschen ins Gericht, indem er die wahren Beweggründe ihrer guten Taten bloßstellte:

"So kannte ich einen Mann, der zwanzig Jahre seines Lebens an ein albernes Ding vertan, ihr alles geopfert hatte, seine Freunde, seine Arbeit, ja die Würde seines Lebens, und der eines Abends gestand, daß er sie nie geliebt hatte. Er langweilte sich, das war das ganze Geheimnis, er langweilte sich, wie die meisten Leute sich langweilen. Und so hatte er sich von A bis Z ein an Verwicklungen und Tragödien reiches Leben geschaffen. Es muß etwas geschehen - das ist die Erklärung für die meisten menschlichen Bindungen."

Natürlich hätte ich am liebsten lautstark protestiert. Selbstlose Liebe, Mitmenschlichkeit und Mitgefühl, das, was für mich die Würde des Menschen ausmachte, sollte es nicht geben? Es durfte doch nicht sein, daß zwei Menschen voller Ernst zueinander sagen: ich liebe dich, und im Grunde ihres Herzens sich damit belügen, um nicht zugeben zu müssen, daß sie sich nur langweilen? So gefühllos durfte man doch nicht über menschliche Beziehungen urteilen. Aber der alte Richter Clamans ließ keinen Zweifel:

"So ist der Mensch, Verehrtester, er hat zwei Gesichter: er kann nicht lieben, ohne sich selbst zu lieben."

Unser Religionslehrer erklärte uns, daß diese Weltsicht nicht neu sei. Schon die Epikuräer hätten gelehrt, daß der Mensch im Grunde nur nach einem bequemen und genußreichen Leben strebe. Dann klingelte es, und damit war diese Religionsstunde beendet. Große Pause, wir standen auf dem Schulhof. Die Gedanken aus dem Unterricht verfolgten mich. Hatte ich nicht in mir schon oft diese Langeweile wahrgenommen, von der Camus sprach? Gewiß, was gab es schon Spannendes zu erleben? Die Zeit der Abenteurer und Weltentdecker schien endgültig vorbei zu sein. Kein Winkel dieser Welt, den nicht schon jemand erkundet hatte. Und dieses berauschende Gefühl des Verliebtseins? War dieses Gefühl nicht nur eine Droge, ein Betäubungsmittel, das mir half, die Einsamkeit des Daseins zu ertragen? Ich versuchte zu verstehen:

Wenn ich also jemanden liebe, dann tue ich das in erster Linie aus Eigennutz, aus Selbstliebe. Ich will mir das Leben etwas angenehmer machen und benutze, - nein, ich müßte besser sagen: mißbrauche den anderen dazu, mir etwas Behaglichkeit zu verschaffen.

Ich dachte weiter: Wenn ich die Würde des anderen also nicht verletzen möchte, darf ich ihn nicht lieben. Liebe ich ihn, dann mißbrauche ich ihn. Eine verrückte Logik, aber irgendetwas mußte ja daran sein. Sonst hätte wohl Camus für den Roman nicht den Nobelpreis bekommen. Ich erinnere mich noch, daß unser Religionslehrer, sozusagen als Erwiderung auf den Roman, in einer weiteren Stunde uns erklärte, Camus hätte kein Empfinden für "Eros und Agape", für Erotik und selbstlose Liebe gehabt. Doch diese Antwort habe ich damals nicht verstanden. Geradezu wie von einem inneren Zwang besessen, fing ich an, alle Tugenden, alles, was wie selbstlose Liebe und Mitmenschlichkeit aussah, zu verdächtigen. Zunächst bei mir selbst und dann bei anderen. Es waren vor allem die christlichen Tugenden, die mir zunehmend fragwürdig erschienen.

Das Christentum verlangt von mir die unverstellte Nächstenliebe, die frei ist von allen selbstsüchtigen Regungen. Paulus schreibt:

"Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn."

Wie die erwünschte Liebe auszusehen hat, beschrieb der Apostel Paulus in seinem berühmten Hohenlied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief:

"Wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze."

Selbst wenn ich in der Lage wäre, alle meine Habe den Armen zu geben und strenge Askese zu erdulden, könnte ich behaupten, das aus selbstloser Liebe getan zu haben? Wäre nicht ein kleiner Funken Stolz dabei, über das, was ich geschafft hätte? Würde dieser kleine Funken Stolz nicht schon die gute Tat verderben?

Und wenn es im Johannesevangelium heißt:

"Niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde",

so wäre ich mir nicht sicher, auch in dieser scheinbar selbstlosen Liebe noch einen unbewußten Todestrieb oder eine versteckte Selbstmordneigung als egoistisches Motiv der Liebe zu finden.

Es gab keinen Zweifel: So oft ich den verschiedenen Formen selbstloser Liebe bei mir und anderen auf den Grund ging, trat irgendwann ein eigennütziges Motiv, irgendein egoistischer Lustgewinn zutage, der die selbstlose Liebe in Frage stellte. Und so erging es nicht nur mir. Selbst Christus war hier scheinbar nicht freizusprechen. So schreibt es auch Georg Büchner in seinem Drama "Dantons Tod". Auf Robespierres Frage

"Du leugnest die Tugend?"

antwortet Danton:

"Und das Laster. Es giebt nur Epikuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, das heißt er thut, was ihm wohl thut."

Fatal wird es jedoch, wenn ich davor die Augen verschließe. Es ist schon schlimm, sich selbst als Egoisten zu erkennen. Doch noch schlimmer wird es, wenn ich das nicht wahrhaben will. So schrieb schon der fünfzehnjährige Gymnasialschüler Sigmund Freud in sein Aphorismenheft:

"Der schlimmste Egoist ist der Mensch, dem es noch nie in den Sinn gekommen ist, daß er ein Egoist sei."

Und der größte Selbstbetrug bestehe darin zu glauben, ich könne selbstlos und uneigennützig andere Menschen lieben. Es hat nicht lange gedauert, bis auch ich zu diesen Schlußfolgerungen gekommen war. Sicher, das waren ernüchternde Einsichten. Doch ich war vor mir selbst aufrichtig geblieben, sagte ich mir. Ich würde mit dieser Selbsterkenntnis leben müssen. Bestimmt nicht mehr so unbeschwert wie früher. Aber bedeutete das Erwachsenwerden nicht sowieso auch den Abschied von kindlichen Illusionen und liebgewordenen Idealen? Trotzdem geriet ich bald unter neuen Druck durch eine Geschichte, die zunächst sehr zuversichtlich aussah.

Mitte der Siebziger Jahre wurden durch den amerikanischen Arzt Raymond A. Moody die Nahtoderlebnisse bekannt, von denen Menschen, die, schon klinisch tot, von der Schwelle des Todes jedoch zurückgekehrt, berichteten.

Zum Geburtstag hatte ich das Buch von Moody geschenkt bekommen. Und mit Spannung verschlang ich diese Schilderungen, gaben sie doch begründeten Anlaß zu der Hoffnung, daß nach dem Tode nicht alles aus ist. Aber so schön sich diese Berichte lesen ließen, sie hatten für mich auch eine bedrückende Seite. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Erlebnisse ist die Lebensrückschau. In Gegenwart eines überirdischen Lichtwesens wird der Mensch dazu bewegt, eine Bilanz seines Lebens zu ziehen, und das Lichtwesen ist ihm dabei behilflich. So berichtet ein Überlebender:

"Als das Licht erschien, sagte es als erstes zu mir: ,Was hast du in deinem Leben getan, das du mir jetzt vorweisen kannst?'... Es betonte immer wieder, wie wichtig die Liebe sei. Am deutlichsten zeigte es mir das an den Stellen, an denen meine Schwester vorkam, zu der ich immer ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Erst führte mir das Wesen einige Beispiele vor, wo ich mich ihr gegenüber selbstsüchtig verhalten hatte, dann jedoch genauso viele Male, wo ich liebevoll und freigebig gewesen war. Es erklärte mir, ich solle versuchen, nach Kräften auch an andere zu denken."

Jetzt verstand ich die Welt nicht mehr. Einmal vorausgesetzt, diese Schilderungen haben einen wahren Kern, wer war dieses Lichtwesen? War es Gott, war es Christus? Und wenn, konnte er wirklich so naiv sein und eine selbstlose Nächstenliebe fordern, die ich schon längst als gefährliche Selbsttäuschung durchschaut hatte? Das Lichtwesen schien etwas zu fordern, was es im Grunde auf der Welt gar nicht gibt. So verheißungsvoll diese Nahtoderlebnisse oft waren, an diesem Punkte spürte ich nur noch Beklemmung. Was hatte ich denn schon vorzuweisen? Wo konnte ich denn ernsthaft behaupten, wirklich selbstlos gehandelt zu haben? Was würde das Lichtwesen zu mir sagen, wenn ich dereinst darüber Auskunft geben muß, was ich mit meinem Leben angefangen habe? Da wurde mir die trotzige Haltung des alten Richters Clamans schon fast sympathisch:

"Ich sage Ihnen, die Religionen gehen von dem Augenblick an fehl, da sie Moral predigen.... Sie sprechen vom jüngsten Gericht. Gestatten Sie mir ein respektvolles Lachen! Ich erwarte es furchtlos: ich habe das Schlimmste erfahren, und das ist das Gericht der Menschen. Bei ihnen gibt es keine mildernde Umstände, sogar die gute Absicht wird als Verbrechen angekreidet."

Wer schlechte Motive in seinen guten Taten sucht, wird sie immer finden. Noch besser als Camus bringt sozusagen ein geistiger Großvater des alten Richters, der französische Staatsmann und Kardinal Richelieu, diese Weltsicht zum Ausdruck. Er tat einmal den Ausspruch:

"Man gebe mir fünf Sätze von dem rechtschaffendsten Menschen der Welt, und ich werde darin etwas finden, um ihn hängen zu lassen."

Mit einer solchen Haltung kann man über allen Dingen stehen, kann man sich sogar letzten Endes noch über Gott erheben. Aber wie lange könnte ich mit einer solchen Weltsicht leben? Wenn ich andere Menschen nur nach ihren Motiven beurteile, - der tut das ja bloß, um sich selbst ins beste Licht zu setzen -, dann werde ich zynisch, dann werde ich nie mit anderen gut auskommen können. Ich wollte durch die Selbstkritik der eigenen Motive zu einem besseren Leben durchdringen, vor mir selbst aufrichtig und wahrhaftig sein. Aber was dabei herauskam, war das Gegenteil: Eine Unlust am Leben.

Wofür sollte ich mich noch um Besserung bemühen, wenn ich dem Egoismus nicht entrinnen kann? Das konnte doch nicht der richtige Weg sein! Neben der Suche nach egoistischen Motiven in unserem Verhalten muß es auch noch eine andere Grundhaltung geben als die, die ich bei Camus und Büchner gefunden hatte, eine andere Sichtweise, die nicht nach den verborgenen Motiven forscht, sondern grundsätzlich das Gute in uns und unseren Taten herausstellt.

Ich erinnere mich noch einmal an meinen Religionsunterricht. Unser Religionslehrer brachte uns in einer der folgenden Stunden ein Buch mit. Es war der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry, dessen Todestag sich übrigens jetzt am 31. Juli zum 50. Mal jährt. Saint- Exupéry war ein begeisterter Pilot, und seine berühmteste Erzählung, das Märchen vom kleinen Prinzen, ist die Geschichte eines Kindes, das durch die Welt reist auf der Suche nach Menschen, die noch menschlich geblieben sind, nach einem wahren Freund. Doch der kleine Prinz hatte dabei wenig Erfolg. Nur einen Fuchs konnte er als Freund gewinnen. Und wie so oft im Märchen, sind auch hier die Tiere weiser und menschlicher als die Menschen:

",Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen', sagte der Fuchs. ,Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!'
,Was muß ich da tun?' sagte der kleine Prinz.
,Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras', antwortete der Fuchs. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist eine Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können (...). Das ist mein Geheimnis', sagte der Fuchs, ,es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.'
,Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar', wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken. (...)
,Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen', sagte der Fuchs. ,Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.'"

Man sieht nur mit dem Herzen gut: Hier war sie, diese andere Sichtweise, die dahin gehört, wo Liebe und Zuneigung ins Spiel kommen.

Wer nach Motiven fragt, - was an sich erlaubt ist -, wird immer welche finden, und sie können nie gut sein, jedenfalls nicht selbstlos. Wer ein Motiv hat, ist nicht selbstlos.

Es gibt daneben eine ganz andere Betrachtung von Handlungen, eine Betrachtung, die auf Motivforschung verzichtet. Für diese Sichtweise fand ich auch ein Beispiel aus der Bibel. Es wird von Jesus überliefert. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn wird von einem jungen Mann berichtet, der zu seinem Vater heimkehrt, nicht etwa, weil er seinen Vater bis über beide Ohren liebt, sondern weil ihm in der Fremde schlicht und einfach das Geld ausgegangen war und er nichts mehr zu beißen hatte:

"Da ging er in sich und sprach: Wieviel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir."

Und der Vater ließ ein Freudenfest ausrichten. Nach den Motiven seiner Umkehr wird nicht weiter geforscht, sie sind nicht wichtig. Vielmehr stellt Jesus diesen Sohn als Vorbild hin: So sollt ihr handeln! Gott fragt nicht nach unseren Motiven. Hauptsache, ein Mensch findet wieder zu sich und den Seinen zurück, tut also das richtige.

Es ist weise, nicht nach Motiven zu fragen, schon gar nicht bei anderen. Und dieser Vater ist ein Beispiel für diesen weisen Verzicht. Wer nach Motiven forscht, wird immer welche finden und wird darüber leicht zum Menschenfeind, weil er alles durchschaut. Motive sind notwendig egoistisch, also muß man darauf verzichten können, nach ihnen zu fragen.

Selbst Gutestun bringt einen persönlichen Gewinn. In dem Sinne hätte Georg Büchner Recht, wenn er Christus als den feinsten der Epikuräer bezeichnet.

Doch offenbar geht es nur so: ich brauche je nach Bedarf immer zwei Brillen, eine, die mich das Gute im Menschen annehmen läßt, und eine, die uns die Motive unserer guten Taten zeigt. Freilich, ich muß zugeben, damals in der zwölften Klasse, im Religionsunterricht, habe ich das nicht verstanden. Zu märchenhaft erschien mir diese zweite Sicht des Herzens, so märchenhaft wie die ganze Geschichte vom kleinen Prinzen war, der auf einer Sternschnuppe durchs Weltall flog und bei seiner Reise auf die Erde kam. Und später, als ich an der Uni und in der Ausbildung war, war vor allem die erste Sicht der analysierenden Vernunft gefragt, die nach den Absichten forscht. Doch heute weiß ich: Allenfalls kann es hilfreich sein, wenn ich meine eigenen Motive erforsche, um nicht arrogant und überheblich zu werden. Oft aber muß ich fest die Augen verschließen, wo es um Motive unseres Verhaltens geht. An das Gute muß ich glauben, das ist für unsere Augen der forschenden Vernunft nicht sichtbar.

Diese beiden Sichtweisen sind beide in sich korrekt, sie lassen sich jedoch nicht miteinander versöhnen: Büchner, Freud und Camus sehen die Menschen durch die Brille der forschenden Vernunft, die in jeder guten Tat noch Motive findet. Saint-Exupéry oder das Lichtwesen in den Nahtoderlebnissen und auch Jesus betrachten die Menschen mit den Augen des Herzens, die das Gute im Menschen sehen. Es gibt die gute Tat, weil man an sie glauben darf und muß. Schon um nicht zum Menschenfeind zu werden.

Aber keine der beiden Sichtweisen ist besser oder schlechter als die andere. Beide Brillen haben ihr Recht, und ich muß, je nach Bedarf die Brillen wechseln können, um dem Leben gerecht zu werden. Vielleicht hat das auch schon der Sozialist und Schriftsteller Erich Mühsam geahnt, der in den zwanziger Jahren ganz der Weltsicht Georg Büchners verhaftet, zu seinem Egoismus stehen wollte, was ihm jedoch nicht immer geglückt ist. Von ihm wird eine kleine Anekdote überliefert, die am Schluß der Sendung stehen soll:

Eines Nachts, zwischen ein und zwei Uhr, saß Erich Mühsam wie gewöhnlich im alten Café zu Berlin. Um ihn herum die ganze Kohorte: Else Lasker-Schüler, Margarete Beutler, Hanns Heinz Ewers, und andere... Erich Mühsam hielt eine seiner Propagandareden über den absoluten Egoismus, als ein gewisser Jemand, ein junger Mensch und tödlich armes Luder, dazukam und sich bedrückt an den Tisch setzte. Sofort unterbrach Mühsam seine Rede und schaute den Ankömmling prüfend an. ,Was ist los mit dir, mein Junge?' Erst nach langem Fragen gibt der junge Mensch zu, daß er kein Obdach mehr und seit zwei Tagen nichts gegessen habe. Die Kohorte macht bedauernde Gesichter, aber nur einer - Erich Mühsam - zieht die Börse, um nachzusehen, ob er helfen kann. ,Ich habe noch drei Mark. Hier hast du zwei davon. Geh, kaufe dir wenigstens etwas zu essen!' Ringsum Stille und leise Verlegenheit. Dann witzelte jemand: ,Na, Mühsam, wie verträgt sich denn das mit Ihrem absoluten Egoismus?' ,Rindvieh!' fährt Mühsam auf, ,ich habe doch nur gesagt, jeder soll tun, was ihm Vergnügen macht!'

Text der gleichnamigen Rundfunksendung in der Reihe NDR 3 - Glaubenssachen vom 23. Mai 1994

Literatur

Büchner, Georg: Dantons Tod. Ein Drama, in: ders.: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. München 1980, S. 7 - 68.

Camus, Albert: Der Fall. Roman. Reinbek bei Hamburg 1978.

Moody, Raymond A.: Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung. Reinbek bei Hamburg 1977.

Wilhelm Heydrich über Erich Mühsam, aus: Literatur-Brevier, S. 66

Saint-Exupéry, Antoine de: Der kleine Prinz. Rauch-Verlag

Das Freud-Zitat stammt aus Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes, S. 8.

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee