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Besitzen Atome und Lichtteilchen Bewußtsein?

Das gewandelte Gottesbild in der neueren Physik

Von Eckhard Etzold

  1. Es gibt für mich ein Bild
  2. Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört
  3. Etwas ähnliches vollzieht sich auch im Bereich der Biologie
  4. So beeindruckend Tiplers Gedankengang
  5. Besitzen die Lichtteilchen eine Art "rudimentäres Bewußtsein"?
  1. Es gibt für mich ein Bild, ein Gleichnis, das wie kein anderes mit wenigen Worten beschreibt, was sich in den letzten 300 Jahren im Verhältnis zwischen der Religion und den Naturwissenschaften ereignet hat: Wer einen Schluck aus dem Becher der Erkenntnis genommen hat, muß ihn mit seiner religiösen Unschuld bezahlen und verliert seinen Gottesglauben. Doch wer den Becher der Erkenntnis bis auf den letzten Tropfen geleert hat, wird Gott, dort auf dem Grund des Bechers, wiederfinden.
    Das ist sicher eine gewagte These. Sollten die Naturwissenschaften, die seit der Aufklärung dem Gottesglauben in den Rücken fielen, ihm zu neuer Überzeugungskraft verhelfen? Dieser Eindruck kann sich in der Tat einstellen, wenn man bedenkt, was in den letzten Jahren dazu geschrieben und gesagt wird. So verblüffte bereits in der ersten Hälfte der 80ziger Jahre Paul Davies, ein theoretischer Physiker, die verängstigten Theologen, die schon zuviele Nackenschläge von den Naturwissenschaftlern einstecken mußten, mit der Behauptung: "Es mag seltsam klingen, aber nach meiner Ansicht bietet die Naturwissenschaft einen sicheren Zugang zu Gott als die Religion."(1) Und in neuester Zeit erklärte Jean Guitton, ein französischer Philosoph, der mit zwei Atomphysikern ein Gespräch über Gott und die Wissenschaft führte:

    "Die Quantentheorie wie die Kosmologie schieben die Grenzen des Wissens immer weiter vor, bis sie das fundamentale Rätsel berühren, das dem menschlichen Geist gegenübertritt: die Existenz eines transzendenten Seins, sowohl Ursache als auch Bedeutung des großen Universums. Und findet man letztlich in der wissenschaftlichen Theorie nicht dasselbe wie im religiösen Glauben? Ist nicht Gott selbst nunmehr auf dem letzten Grund des Realen, den der Physiker beschreibt, sinnlich wahrnehmbar, fast sichtbar?"(2)

    Gott wird sichtbar, dort wo die Naturwissenschaftler an die Grenzen des sichtbaren Universums gelangen und über das Wunder unserer Existenz und seiner kosmologischen Voraussetzungen ins Staunen geraten. Das ist eine Feststellung, deren fundamentale Bedeutung erst zum Vorschein kommt, wenn wir uns betrachten, wie sich das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und der Religion seit der Aufklärung entwickelt hat. Dieses wurde im wesentlichen von den Erkenntnismöglichkeiten bestimmt, über die der Mensch verfügen konnte. Im Rahmen der scholastischen Erkenntnislehre gibt es zwei Lichter, die die Wege der menschlichen Erkenntnis beleuchten. Das erste Licht ist das lumen revelationis, das Licht der Offenbarung. In dem Licht der Offenbarung gab sich Gott selbst zu erkennen, so wie er ist. Es wird wahrgenommen durch den Glauben, leuchtet in den heiligen Schriften und in den Kirchen und Klöstern. Einen Schrifthinweis fand man im 119. Psalm: "Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg."
    Das zweite Licht war das lumen naturalis, das Licht der Natur, und das leuchtete in der menschlichen Vernunft. Dieses war ein grundsätzlich anderes Licht. Dieses Licht leuchtete, wo die exakten Naturwissenschaften Anwendung fanden, und die Instrumente, die hier erforderlich waren, waren auch grundsätzlich anderer Natur: Fernrohre und Mikroskope. Mit Hilfe dieses Lichtes der Natur hoffte man die umfassende und grundlegende Wahrheit über Gott, die Welt und den Menschen herauszufinden.
    Beide Lichter also, das Licht der Offenbarung und das Licht der Natur, dienten dazu, dem Menschen ein umfassendes Bild von der Wirklichkeit zu geben. In diesem Punkte waren sich beide Lichter gleich, und sie wurden bis dahin auch gar nicht unterschieden.
    Doch es gab auch Unterschiede zwischen diesen beiden Lichtern, die seit der frühen Aufklärung sichtbar wurden. Die Wahrheiten, die das Licht der Offenbarung aufdeckte, ließen sich durch die menschliche Vernunft nicht nachprüfen. Was in den heiligen Schriften stand, mußte geglaubt werden. Was sich jedoch der menschlichen Vernunft im Licht der Natur enthüllte, konnte durch den Verstand beurteilt, nachgeprüft und abgesichert werden.

    Genau an diesem Punkt wurde der Gottesglauben zum Problem. Was im Licht der Offenbarung so klar und eindeutig aufleuchtete, nämlich die Existenz eines gnädigen Gottes, der alles erschaffen hat, war im Licht der Natur nicht mehr so klar zu erkennen. Und nicht nur das, ein ganzes Weltbild brach mit dieser neuen Erkenntnis zusammen. Nach den heiligen Schriften war die Erde Mittelpunkt der Welt, und sie wurde umkreist von Sonne, Mond und Sternen. Doch was Nikolaus Kopernikus, erleuchtet durch das Licht der Vernunft, zu sehen bekam und schriftlich festhielt, stellte eine ganze Weltordnung auf den Kopf: "Zumitten aller Himmelskörper thront die Sonne. Wer hätte in diesem prachtvollen Tempel diese Lampe an einen besseren Platz stellen können als dorthin, von wo aus sie alles zugleich beleuchten kann? Wahrlich nicht zu Unrecht haben manche sie das Licht der Welt, andere den Geist, wieder andere deren Herrscher genannt."

    Mit der kopernikanischen Wende trennten sich die Wege der Erkenntnis. Das Weltbild der Religion war fragwürdig geworden. Und je tiefer der Mensch bei seinem Versuch vordrang, die Natur zu enträtseln, desto häufiger machte er die Entdeckung, daß dort, wo er vorher göttliches Wirken vermutete, Naturgesetze erkennbar wurden, die das geregelte Zusammenspiel der Elemente steuerten. Das Licht der Natur steigerte sich zu ungeahnter Helligkeit dort, wo es um die Erklärung der Rätsel dieser Welt ging. Doch was die Gotteserkenntnis betraf, so saß die menschliche Vernunft im Dunkeln. Hier schien der zweite Weg der Erkenntnis, das Licht der Natur zu versagen. Die Welt bewegte sich, doch ein Weltbeweger war nirgends zu erkennen. Der Himmel, in dem Gott mit seinen Engeln wohnen sollte, war leer.

    Erstmals wurde in der Geschichte der Menschheit der Versuch, die Welt ohne die Hypothese eines Gottes, der sie hervorgebracht hat und erhält, zu erklären, eine ernstzunehmende Denkmöglichkeit. Und die Argumente, die bis dahin den Gottesglauben stützen sollten, wurden der Lächerlichkeit preisgegeben. Wer also  aufgeklärt war, mußte Atheist sein. Dieses neue Weltgefühl hatte  vor etwas über hundert Jahren Friedrich Nietzsche in seiner fröhlichen Wissenschaft beschrieben:

  2. "Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: 'Ich suche Gott! Ich suche Gott!' - Da gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. 'Wohin ist Gott?' rief er, 'ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet. Wir sind alle seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?"(3)

    Freilich, Nietzsche konnte mit seinem Atheismus noch fröhlich sein, träumte er doch von der Ankunft eines Übermenschen, der die Stelle Gottes einnehmen würde. Doch seine Fröhlichkeit hatte doch eher den Charakter eines Galgenhumors. Späteren Denkern ist das Lachen vergangen. So dichtete Gottfried Benn im Jahre 1953:

    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich,
    es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich.(4)

    Der Mensch, so schien es, hatte alle Rätsel der Natur erklärt. Er hatte ein ungeheures Wissen und geradezu unglaubliche technische Fertigkeiten gewonnen. Doch er hatte mit dem Verlust der metaphysischen Geborgenheit dafür bezahlen müssen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber prägte für diese neue Art des Weltempfindens den passenden Ausdruck "Gottesfinsternis".

    Wie anders war dagegen das Weltempfinden des antiken Menschen! Ein Abschnitt aus dem 139. Psalm kann das verdeutlichen:

    "Von allen Seiten umgibst du mich, Gott, und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch dort. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich bedecken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele."

    Für diesen Menschen war Gott ein nicht zu leugnendes Faktum, und die Großartigkeit der Natur gab ihm Zeugnis von der Großartigkeit und Unermeßlichkeit des Schöpfers. Das Licht der Offenbarung und das Licht der Natur standen hier noch nicht im Gegensatz zueinander, sondern brachten beide dieselbe Wahrheit zum Leuchten, die Wahrheit, daß alles von Gott geschaffen ist und Gott überall in seiner Schöpfung zu finden ist.

    Ist dieses Weltempfinden unwiederbringlich verloren gegangen? Ich meine das nicht. Vielmehr habe ich den Eindruck, daß das heutige Weltempfinden eher mit den Worten des 139. Psalms beschrieben werden könnte als mit den Gedanken Nietzsches oder Gottfried Benns. Die Naturwissenschaftler haben fast den Grund des Bechers der Erkenntnis erreicht, und plötzlich wird auf dem Grund etwas sichtbar, womit kein Mensch vorher gerechnet hatte.

    Am deutlichsten wird das in einem kürzlich erschienenen Buch des alten französischen Philosophen Jean Guitton, der mit den beiden russischen Atomphysikern Igor und Grichka Bogdanov ein Gespräch über Gott und die Wissenschaft führte, in dem sie die Erkenntnisse der neueren Physik erläutern und ihre philosophischen Konsequenzen entfalten. Ein Buch, das übrigens in Frankreich zum größten Sachbucherfolg in der Nachkriegszeit geworden ist. Guitton schreibt:

    "Im letzten Jahrhundert waren für die meisten aufgeklärten Menschen Wissenschaft und Religion Gegensätze; die Wissenschaft widerlegte die Religion mit jeder ihrer Entdeckungen; und die Religion verbot der Wissenschaft, sich mit der Ersten Ursache zu befassen oder das biblische Wort zu deuten. Doch seit kurzem beginnen wir - noch ohne es zu wissen -, die ungeheure Veränderung zu erleben, die unserer Vernunft, unserem Denken, unserer Philosophie durch die unsichtbare Arbeit der Physiker, der Theoretiker der Welt, aufgezwungen wird."(5)

    Man könnte auch sagen: Das Licht der Natur, das bisher in Sachen der Gotteserkenntnis die Vernunft im Dunkeln sitzen ließ, hat sich gewandelt. Es läßt wieder etwas sehen, freilich noch sehr schwach, aber doch unübersehbar. Guitton erklärt:

    "Wir stehen am Beginn einer Revolution des Denkens, eines wissenschaftlichen Bruchs, wie ihn die Philosophie seit mehreren Jahrhunderten nicht erlebt hat. Wir haben den Eindruck, als käme auf dem von der Quantentheorie eröffneten Weg ein neues, radikal anderes Weltbild zum Vorschein.... Inwiefern handelt es sich um ein neues Denken? Insofern, als es die Grenzen zwischen Gott und Materie verwischt."(6)

    Das bestätigen auch die Brüder Bogdanov:

    "Meine gelehrten Gesprächspartner haben mir zunächst in Erinnerung gerufen, daß die Vorstellung, die man sich vor 1900 von der Materie machte, einfach war: Wenn ich einen Stein zerschlage, erhalte ich Staub; in diesem Staub Moleküle, die aus Atomen bestehen, so etwas wie 'Kugeln' aus vermutlich unteilbarer Materie. Aber gibt es in alledem irgendeinen Platz für den Geist? Wo befindet er sich? Nirgendwo. In jenem Universum, einer Mischung aus Gewißheiten und absoluten Ideen, konnte sich die Wissenschaft nur an die Materie wenden. Ihr Weg führte sogar zu einer Art virtuellem Atheismus; es bestand eine 'natürliche' Grenze zwischen Geist und Materie, zwischen Gott und Wissenschaft, ohne daß jemand es wagte - oder auch nur auf den Gedanken kommen konnte -, sie in Frage zu stellen. Und nun, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, sagt uns die Quantentheorie, daß man den traditionellen Begriff der Materie - den Begriff einer festen Materie - aufgeben muß, wenn man das Reale verstehen will. Daß Raum und Zeit Täuschungen sind. Daß ein Teilchen an zwei verschiedenen Stellen gleichzeitig ausfindig gemacht werden kann. Daß die grundlegende Realität nicht erkennbar ist."(7)

    Die Realität selbst, die bisher unverrückbar feststand, tritt in den Schatten, sie löst sich auf, wird unerklärbar, ja sogar unbeweisbar. Und gleichsam im Gegenzug wird hinter aller scheinbaren Realität eine uns unendlich überlegene Intelligenz sichtbar, die das alles hervorgebracht hat, was wir als Wirklichkeit kennen. So etwa könnte man die Wende beschreiben, die sich momentan geistesgeschichtlich ereignet. Wir nehmen uns drei Fragen vor, um an ihnen deutlich zu machen, wie das neue Weltbild der Physik aussieht. Das ist die Frage nach Anfang der Welt, die Frage nach dem Ursprung des Lebens und die Frage nach den kleinsten Bausteinen der Materie. Zunächst Grichka Bogdanov:

    "Wenn man annimmt, daß es möglich ist, sehr genau zu beschreiben, was in der 10 hoch 43sten Sekunde nach der Schöpfung geschehen ist, was hat sich dann vorher ereignet? Die Wissenschaft scheint außerstande zu sein, irgend etwas Vernünftiges, im tiefsten Sinne des Wortes, über den uranfänglichen Moment zu sagen oder sich auch nur vorzustellen, als sich die Zeit noch am absoluten Nullpunkt befand und noch nichts geschehen war."(8)
    Weiter können die Physiker nicht zurückgehen. Sie treffen auf die sogenannte "Plancksche Mauer",
    "die deshalb so genannt wird, weil der berühmte Physiker als erster darauf hingewiesen hatte, daß die Wissenschaft außerstande ist, das Verhalten der Atome unter Bedingungen extremer Gravitation zu erklären.... Die Schwerkraft errichtet für jede Forschung eine unüberwindbare Schranke: hinter der Planckschen Mauer ist das totale Geheimnis."(9)

    Hinter der Planckschen Mauer beginnt das Reich der Spekulation. Das veranlaßt den Philosophen Guitton zu weiteren Mutmaßungen:

    "Warum ist das Universum erschaffen worden? Was hat den Schöpfer veranlaßt, das Universum hervorzubringen, so wie wir es kennen? Versuchen wir, es zu verstehen: Vor der Planckschen Zeit existierte nichts. Oder besser gesagt: Es herrschte die zeitlose Totalität, die vollkommene Ungeteiltheit, die absolute Symmetrie. Nur das Urprinzip ist da, im Nichts, eine unendliche, grenzenlose Kraft, ohne Anfang und ohne Ende. In jenem uranfänglichen 'Moment' hat diese Kraft, der Inbegriff von Stärke und Einsamkeit, Harmonie und Vollkommenheit vielleicht nicht die Absicht, irgend etwas zu erschaffen. Sie genügt sich selbst. Und dann geschieht 'etwas'. Was? Ich weiß es nicht. Ein Seufzer des Nichts. Vielleicht eine Art Unfall des Nichts, eine Fluktuation der Leere: Innerhalb eines phantastisch kleinen Augenblicks wird der Schöpfer, sich dessen bewußt, daß er derjenige ist, der in der Totalität des Nichts ist, beschließen, seiner eigenen Existenz einen Spiegel zu erschaffen. Die Materie, das Universum: Spiegelungen seines Bewußtseins, endgültiger Bruch der schönen Harmonie des ursprünglichen Nichts: Gott hat sich gewissermaßen ein Bild seiner selbst geschaffen."(10)

    Überlegungen, die von den Physikern nicht widerlegt werden können. Was den Beginn des Universums betrifft, so wird hier ein Schöpfergott denkbar, der nicht mehr im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft steht.

  3. Etwas ähnliches vollzieht sich auch im Bereich der Biologie, vor allem dort, wo es um die Frage geht, wie das Leben entstanden ist. Dazu Grichka Bogdanov:

    "Es gibt so etwas wie ein kontinuierliches Grundgewebe, das das Unbelebte, das Präbiologische und das Lebendige miteinander verbindet, wobei die Materie ihrer Konstruktion nach dahin tendiert, sich zu strukturieren, um lebendige Materie zu werden.... Prigogine, den die Allgegenwart dieser dem scheinbaren Chaos der Materie zugrundeliegende Ordnung sehr verwirrte, sagte einmal: 'Erstaunlich ist, daß jedes Molekül weiß, was die anderen Moleküle zur selben Zeit und über makroskopische Entfernungen hinweg tun werden. Unsere Experimente zeigen, wie die Moleküle miteinander kommunizieren. Jeder akzeptiert diese Eigenschaft bei lebendigen Systemen, aber daß auch nichtbelebte Systeme sie aufweisen, ist zumindest unerwartet.'"(11)
    Die alte Unterscheidung von organischer und anorganischer Chemie, von belebter und unbelebter Materie ist im strengen Sinne der Physik hinfällig geworden. Die Materie besitzt die Eigenschaft, sich selbst zu organisieren, von niederen zu immer höheren Strukturen. Man könnte auch sagen, daß in jedem kleinsten Elementarteilchen Bewußtseinskeime wohnen, und so sieht es auch Guitton:
    "In jedem Teilchen, jedem Atom, jedem Molekül, jeder Materiezelle lebt und wirkt, allen unbekannt, eine Allgegenwart. Aus philosophischer Sicht ist diese letzte Bemerkung folgenschwer. Sie besagt nämlich, daß das Universum eine Achse hat, mehr noch: einen Sinn. Dieser tiefe Sinn liegt in ihm selbst, in Form einer transzendenten Ursache. Wenn das Universum, wie wir sahen, eine 'Geschichte' hat, dann liegt der Gedanke nahe, daß es in der Tiefe des Universums selbst eine Ursache für die Harmonie der Ursachen gibt, eine Intelligenz."(12)

    Damit wäre für Guitton ein für allemal die Annahme ausgeschlossen, daß das Universum und in ihm das Leben sich durch Zufall entwickelt habe.

    Zu demselben Ergebnis war bereits 1989 der britische Mathematikprofessor Roger Penrose gekommen. Er hatte die Frage gestellt, wie genau der Schöpfer die Ursprungsbedingungen des Urknalls, also der Entstehung des Universums, festlegen mußte, damit sich eine ähnliche Welt wie unsere entwickeln konnte, in der Leben existiert. Ein abgeschlossenes physikalisches System, das sich selbst überlassen bleibt, strebt höchst mögliche Entropie an. Ein Schreibtisch, an dem gearbeitet wird, muß irgendwann aufgeräumt werden, wenn die Unordnung nicht überhand nehmen soll. Und wenn im Büro eine Bombe explodiert, steigt die Entropie sprunghaft an. Die Grundvoraussetzung für Leben ist - gemäß dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz -, jedoch ein möglichst niedriger Grad an Entropie. Ein Lebewesen braucht eine Umgebung niedriger Entropie, die es mit der Nahrung und mit den Sinnen aufnehmen kann, um zu existieren. Und was es von sich gibt, besitzt einen Grad hoher Entropie. Nun verursacht ein Ereignis wie eine Explosion zum Beispiel einen Zustand hoher Entropie, und wenn noch dazu kosmische Maßstäbe ins Spiel kommen, wäre bei dem Urknall ein Grad höchstmöglicher Entropie zu erwarten gewesen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Penrose kommt bei seinen Berechnungen schließlich auf die Zahl von eins zu 10 hoch 10 hoch 123, die die Wahrscheinlichkeit ausdrückt, daß bei dem Urknall ein geordnetes Universum mit der Struktur hervorgeht, die wir heute vorfinden. Zehn hoch zehn, das sind zehn Milliarden. Und diese Zahl wird jetzt mit einer Zahl potenziert, die 123 Nullen hat. Dabei entsteht eine Zahl, die die Grenzen jeglicher menschlicher Vorstellungskraft sprengt. Penrose schreibt dazu:

    "Das ist eine außergewöhnliche Zahl. Man könnte sie in der gewöhnlichen Dezimalnotation nicht einmal vollständig hinschreiben. Sie wäre eine ,1' gefolgt von 10 hoch 123 ,0'-Ziffern! Selbst wenn wir auf jedes einzelne Proton und auf jedes einzelne Neutron im Universum eine ,0' setzen würden - wir könnten sogar noch obendrein sämtliche übrigen Teilchen dazu verwenden -, würden wir unser Ziel, die erforderliche Zahl auszuschreiben, weit verfehlen."(13)

    Würde man alle Atome im gesamten Weltall - alle Atome aller Sterne, Planeten, Galaxien und was es sonst noch gibt -, wie auf einer Perlschnur aufreihen, eine 1 vorweg und dahinter auf jedes Atom eine Null gesetzt, es reicht nicht. So präzise muß der Schöpfer also am Anfang gezielt haben, damit das Universum in Gang gesetzt werden konnte.

    Den Theologen, der sein Denken in der Schule Karl Barths geschärft hat, werden solche Überlegungen sicher überraschen, wenn nicht gar irritieren. Wird hier nicht wieder jene theologia naturalis zur Denknotwendigkeit, gegen die sich Barth und seine Nachfolger vehement gewehrt haben? Als erster hat die Richtung dieser Entwicklung m.E. nicht ein Theologe erkannt, sondern bereits 1986 der amerikanischer Schriftsteller John Updike, der damals seinen Roman "Das Gottesprogramm" veröffentlichte: Ein Informatikstudent nimmt Kontakt mit einer theologischen Fakultät auf, um ein Stipendium für ein Projekt zu bekommen, das

    "aus verfügbaren physikalischen und biologischen Daten mit Hilfe von Simulationen in einer elektronischen Großrechenanlage die Existenz Gottes, d.h. einer zielgerichteten und eingreifenden Intelligenz hinter allen Phänomenen beweisen"(14)

    soll. Ein geradezu wahnwitziges Unterfangen, so scheint es. Doch Dale Köhler, jener Student, setzt dem Theologieprofessor Roger Lambert mit geschliffenen Argumenten dermaßen zu, daß dieser Not hat, dem etwas entgegenzusetzen:

    "Es geschieht etwas ganz und gar Wunderbares", verkündete mein Besucher mit einer peinigenden Lauterkeit, die er wahrscheinlich zu lange geübt hatte. "Die Physiker kommen zum Kern der Dinge, sie haben alles auf den wirklich kleinsten Nenner gebracht, und nun passiert, was sie zuallerletzt erwartet hätten: Gott wird dahinter sichtbar. Die Physiker mögen das nicht, aber sie können nichts dagegen machen, Tatsachen bleiben Tatsachen. Und ich glaube, daß die Leute im Religionsbetrieb, wenn ich mal so sagen darf, das nicht richtig mitbekommen haben - nicht mitbekommen haben, daß ihre Sache, die immer so ungreifbar schien, nun endlich bewiesen wird."
    "Und welcher Gott ist es genau, der sichtbar wird?" Der Junge schien schockiert.
    "Sie wissen es, Sir", antwortete er. "Es gibt nur einen Gott, den Schöpfergott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Und er hat sie, das erkennen wir jetzt, in jenem ersten Augenblick mit einer so unglaublichen Präzision erschaffen, daß eine Schweizer Uhr daneben wie ein Haufen Kieselsteine aussieht."(15)

    Sicher, noch steht diese Argumentation auf wackeligen Beinen. Updike weiß das und legt Professor Lambert die Gegenargumente in den Mund:

    "Wenn sich die Theologie an der Naturwissenschaft vergreift, verbrennt sie sich stets die Finger - im sechzehnten Jahrhundert an der Astronomie, im siebzehnten Jahrhundert an der Mikrobiologie, im achtzehnten an Geologie und Paläontologie, im neunzehnten an Darwins Evolutionsbiologie. Immer wurde das Weltbild schier unfaßlich erweitert, während die Kirchenmänner sich duckten, in immer kleineren und schattigeren Nischen Zuflucht suchten, sich zuletzt in den düsteren, vieldeutigen Tiefen der Seele verkrochen, wo ihnen nun die Neurologie grausam zusetzt, sie aus den Falten des Gehirns hinausspült wie der Wasserstrahl die Holzläuse aus dem Bretterstapel."(16)

    Dale Kohler bekommt sein Stipendium. Doch er muß erkennen, daß er sich zuviel vorgenommen hatte. Gewiß, es ist ein Roman, und Updike wollte mit dieser Argumentation wohl nicht ganz ernst genommen werden. Doch inzwischen hat sich auch hier das Blatt gewendet. Was für Updike noch Fiktion gewesen ist, hat der amerikanische Physiker Frank J. Tipler tatsächlich in Angriff genommen. In Absprache mit Wolfhart Pannenberg legte er in diesem Frühjahr ein Buch vor, das beansprucht, einen wissenschaftlich nachprüfbaren Beweis für die Existenz Gottes zu liefern. Er nennt seinen Gottesbeweis in Anlehnung an einen Gedanken Teilhard de Chardins die "Omegapunkttheorie". Frank J. Tipler erklärt:

    "Zu Beginn meiner Laufbahn als Physiker hätte ich mir nie träumen lassen, ich würde eines Tages in meiner Eigenschaft als Physiker schreiben, daß es den Himmel gibt und daß jeden, und zwar jeden einzelnen von uns, ein Leben nach dem Tod erwartet. Und doch, hier stehe ich und schreibe Dinge, die mein früheres Ich als wissenschaftlichen Unsinn abgetan hätte. Hier stehe ich, ein Physiker, und kann nicht anders."(17)

    Es wäre sicher Wahnsinn, hier in Einzelheiten darlegen zu wollen, wie dieser physikalische Gottesbeweis aussieht. Tipler erklärt selbst dazu:

    "Dies alles ohne Zugriff auf eine wissenschaftliche Bibliothek im Hintergrund zu verstehen, würde Doktorarbeiten in mindestens drei verschiedenen Gebieten erfordern: (1) globale allgemeine Relativitätstheorie, (2) theoretische Elementarteilchenphysik und (3) Komplexitätstheorie."(18)
    Doch ein paar Linien sollen ausgezogen werden. Im Gegensatz zu seinen zuvor genannten Kollegen geht Tipler nicht zu den Ursprüngen zurück, sondern fragt nach der Zukunft und dem Ende der Welt. Im Gegensatz zu Guitton denkt er streng reduktionistisch und definiert den Menschen als "eine Maschine mit unendlich vielen Zuständen"(19), ein Computerprogramm mit der Fähigkeit zur Selbstreduplikation. Setzt man das Standardmodell voraus, dann mündet die Geschichte des Universums in einem Kollaps, in dem Raum, Zeit und Materie unendlich verdichtet werden und schließlich an einem Punkt geraten, wo die Naturgesetze im herkömmlichen Sinn außer Kraft gesetzt werden. Diese Endkollaps-Singularität wurde zuerst von Penrose postuliert, der für diesen Zustand den Begriff "k-Grenze" geprägt hat. K steht für kausal, das Kausalgesetz verliert hier seine Gültigkeit. Tritt der Fall ein, daß das Universum in einem Punkt auf der k-Grenze kollabiert, so besteht die Möglichkeit, daß alle lebenden und gewesenen Lebewesen wieder erweckt werden können. Das würde jedoch voraussetzen, daß das Leben im Universum bis dahin eine Existenzform erreicht hat, die auch angesichts der extremen Verhältnisse im Endkollaps bestehen kann. Dieses Leben nennt er den Omegapunkt, das Gedächtnis des Universums, ein gigantischer Computer, der in der Lage ist, vergangene Computerprogramme, zu emulieren und dadurch zu neuem Leben zu erwecken. Die von der Religion behauptete Totenauferstehung fände nach Tipler also in jenem Endkollaps des Universums statt, der frühestens in etwa 100 Milliarden Jahren zu erwarten ist. Der Omegapunkt, jener gigantische Computer, würde also sämtliche Menschen, die gelebt haben, in einer künstlichen Welt emulieren. Und nicht nur das: Für Tipler lassen sich die Eigenschaften Gottes, das Fegefeuer und der Himmel genauso berechnen wie die Eigenschaften des Elektrons oder die Umlaufbahn der Erde um die Sonne. Die Theologie wird für ihn zu einem "Teilgebiet der Physik"(20)
  4. So beeindruckend Tiplers Gedankengang für den interessierten Laien zunächst ausschauen mag, so fragwürdig sieht sein Unterfangen in den Augen der Fachkollegen aus. Es wimmelt in diesem Buch an unbegründeten metaphysischen Denkvoraussetzungen. Wenn es tatsächlich im Endkollaps zu jener universalen Ausweitung des Lebens kommen sollte, in der alle Menschen wieder auferstehen, dann bleibt immer noch die Frage, wie das Leben bis zum Endkollaps und durch ihn hindurch bestehen bleiben will angesichts der Tatsache, daß hier Temperaturen und Gravitationsfelder auftreten, denen gegenüber das Überleben im Hitzezentrum eines Atompilzes ein Kinderspiel wäre. Was Dale Kohler in Updikes Roman versagt blieb, das hat auch Frank J. Tipler nicht geschafft. Es ist keine beweisbare Theorie, die die Existenz Gottes, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben beschreiben könnte. Man mag dieser neuen Hinwendung der Physik zur Theologie skeptisch gegenüberstehen (und muß es auch), für mich ist jedoch daran wichtig geworden: Nachdem Jahrzehntelang den Menschen der Glaube von Seiten vieler Wissenschaftler madig gemacht wurde, hat sich das Blatt gewendet. Die Existenz Gottes muß nicht mehr in Gegensatz zu den Wissenschaften treten. Viele Lücken des Wissens sind in den letzten Jahren wieder sichtbar geworden, und die Versuchung ist groß, die Arbeitshypothese Gott heranzuziehen, um diese Lücken zu überspringen. Aber das klappt nicht, genausowenig, wie Tiplers Versuch gelingen kann, der Arbeitshypothese Gott einen festen Platz im kosmischen Weltendrama zuzuschreiben. Es hätte ja genügt, daß die Wissenschaftler die Existenz Gottes für möglich halten. Daß Tipler jedoch eine beweisbare Theorie vorlegen will, ist zuviel des Guten. Der Mensch als Maschine und Gott als Computer, das ist sicher nicht die Zukunft, die wir uns erhoffen.

    Kehren wir zurück zu den Entwürfen, die theologisch wirklich diskutabel sind, - weil sie zum Staunen führen und nicht zum Erklären -, zum alten Franzosen Guitton und den Gebrüdern Bogdanov: Sie führen uns das Wunder unserer Existenz an einem Beispiel aus der Biologie vor Augen. Grichka Bogdanov erläutert:

    "Nehmen wir einen konkreten Fall: Eine lebende Zelle besteht aus etwa zwanzig Aminosäuren, die eine enge 'Kette' bilden. Die Funktion dieser Aminosäuren hängt ihrerseits von ungefähr 2000 spezifischen Enzymen ab. Danach berechnen die Biologen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß etwa tausend verschiedene Enzyme sich auf geordnete Weise einander annähern und schließlich eine lebendige Zelle bilden (im Verlauf einer Evolution von mehreren Milliarden Jahren), von der Größenordnung 10 hoch 1000 zu 1 ist."(21)

    Und sein Bruder Igor ergänzt:

    "Das brachte Francis Crick, Träger des Nobelpreises für Biologie wegen seiner Entdeckung der DNS, zu derselben Schlußfolgerung: 'Ein aufrichtiger Mensch, der all das uns heute zugängliche Wissen besitzt, müßte einräumen, daß der Ursprung des Lebens derzeit einem Wunder gleichzukommen scheint, so viele Bedingungen müssen erfüllt werden, um es in Gang zu setzen.'"

    Die Schlußfolgerung, die Guitton daraus zieht, besagt:

    "Es sieht fast so aus, als wären alle Evolutionsschemata im voraus, schon zu Anfang geschrieben worden."(22)

    Bevor sich also der Urknall ereignete, mußte schon so etwas wie ein Entwicklungsplan vorhanden gewesen sein, der die evolutionären Abläufe im kosmischen wie auch in atomaren Bereich mit einer kaum zu überbietenden Präzision festgelegt hatte. Igor Bogdanov bringt dazu ein Beispiel:

    "Wäre (die Schwerkraft) bei seiner Entstehung auch nur ein klein wenig schwächer gewesen, dann hätten die ursprünglichen Wasserstoffwolken sich niemals verdichten können, um die kritische Schwelle der Kernverschmelzung zu erreichen: die Sterne hätten sich nie entzündet. Im entgegengesetzten Fall wären wir kaum besser dran: Eine stärkere Schwerkraft hätte zu einem wahren 'Durchdrehen' der Kernreaktionen geführt; die Sterne wären wie wild in Brand geraten und so schnell verglüht, daß das Leben keine Zeit gehabt hätte, sich zu entwickeln. Welche Parameter man auch betrachtet, die Schlußfolgerung ist immer dieselbe: Wenn man ihren Wert auch nur um ein weniges verändert, beseitigt man jede Möglichkeit der Entfaltung des Lebens. Die Grundkonstanten der Natur sowie die Anfangsbedingungen, die das Entstehen des Lebens erlaubten, scheinen also mit schwindelerregender Präzision reguliert zu sein."(23)

    Wenden wir uns einem anderen Phänomen zu. Wenn man eine Lichtquelle hat, einen Schirm und dazwischen eine Wand, in der sich nebeneinander zwei Spalte befinden, dann ist auf dem Schirm dahinter ein breites Muster von streifenförmigen Linien zu sehen, die anzeigen, daß hier eine Interferenz von zwei verschiedenen Wellen vorliegt.

    Etwas vergleichbares kann jeder bei Regenwetter im Freien beobachten, wenn die Regentropfen in die Pfützen fallen. Hier ziehen die Wellen Kreise, und dort, wo verschiedene kreisförmige Wellen sich überlagern, entstehen neue, wellenartige Muster. Auf diese Weise wurde bereits 1801 nachgewiesen, daß das Licht aus Wellen besteht.

    Schließen wir jedoch den rechten Spalt, so daß nur noch der linke offen ist, so sieht man auf dem Schirm dahinter scharf umrissen das Schattenbild des Spaltes. Jetzt verhält sich das Licht so, als bestünde es aus winzig kleinen Teilchen, aus Lichtkörnchen. Für die klassische Logik ist das ein unauflöslicher Widerspruch. Eine Welle kann nicht dasselbe sein wie ein Teilchen. Das würde im übertragenen Sinne bedeuten, daß die Schallwellen eines Klavierkonzertes, die auf mein Ohr treffen, unter Umständen auch die Gestalt eines Fußballs annehmen könnte, der auf meine Schläfe trifft. Das Licht verhält sich also völlig anders, wenn zwei Spalte offen sind als wenn nur ein Spalt offen ist. Grichka Bogdanov stellt dazu die Frage:

    "Wie hat das Photon 'entdeckt', daß der linke Spalt offen war? Woher 'weiß' das einzelne Photon, auf 'welchen' Teil des Schirms es auftreffen muß, um zusammen mit seinen Nachbarn ein geometrisches Bild zu formen, das eine Reihe vollkommen geordneter vertikaler Streifen darstellt?"(24)
  5. Besitzen die Lichtteilchen eine Art "rudimentäres Bewußtsein"? Das ist die Frage, die sich dem Philosophen Guitton aufdrängt, doch Igor Bogdanov schränkt ein:

    "Beim heutigen Stand der Wissenschaft teilt die Mehrheit der Wissenschaftler diese Ansicht nicht. Einige jedoch wagen den Sprung und stellen sich vor, daß die Elementarteilchen eine mehr oder weniger mit dem freien Willen vergleichbare Eigenschaft besitzen."(25)

    Es muß also auf einer uns verborgenen Ebene so etwas wie eine geheime Verbindung zwischen allen Elementarteilchen geben, die ihr Verhalten insgesamt beeinflußt und dafür sorgt, daß das Licht einmal als Welle und einmal als Teilchen in Erscheinung tritt. Für Guitton ist das ein Beispiel für die wechselseitige Durchdringung von Materie und Geist:

    "Das Geheimnis ist, daß das Photon angesichts des Spalts A zu wissen scheint, ob der Spalt B offen oder geschlossen ist. Kurz, es scheint den Quantenzustand des Universums zu kennen. Was aber erlaubt es dem Photon, sich für diesen oder jenen Weg zu entscheiden?.... Einfach das Bewußtsein des Beobachters. Und damit sind wir wieder beim Geist: An den unsichtbaren Enden unserer Welt, unter und über unserer Realität, hält sich der Geist auf. Und vielleicht ist es so, daß dort unten, im Innern des seltsamen Reichs der Quanten, unser menschlicher Geist und der Geist jenes transzendenten Wesens, das wir Gott nennen, veranlaßt werden aufeinanderzutreffen."(26)

    Soweit unser Streifzug durch die neuere Physik. Die Zeiten, in denen der Atheismus die "vernünftigeren" Argumente für sich beanspruchen konnte, scheinen vorbei zu sein. Wer sich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse öffnet, muß nicht unbedingt zum Agnostiker oder zum Nihilisten werden.

    Doch wie sieht der Gott aus, der hier an den Grenzen der Erkenntnis sichtbar wurde? Er besitzt eine für uns unvorstellbare Intelligenz, er scheint ein Ziel und eine Absicht mit dem Universum zu haben. Anders als der Lückenbüßergott vergangener Jahrhunderte, der dort einsprang, wo das noch Unerklärbare begann, haben wir es hier mit einer Intelligenz zu tun, die dem Universum, ja der Materie selbst innewohnt, und in der Natur mit ihren Gesetzmäßigkeiten als eine solche erkennbar wird. Aber mehr können wir mit Hilfe der Physik nicht sagen. Alles andere gehört in den Bereich des Glaubens. Vielleicht müßte man den 139. Psalm nur geringfügig neu formulieren, damit er für denjenigen, der sich als Glaubender versteht, das Weltempfinden unserer Tage zum Ausdruck bringt:

    "Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Könnte ich zurückkehren den Ursprüngen des Universums, so bist du da; flüchtete ich mich in die Welt der subatomaren Teilchen, siehe, so bist du auch dort. Schreite ich voran bis an die Grenzen der Erkenntnis, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele."
© Eckhard Etzold, publiziert in "braunschweiger beiträge", Heft 72, 2/1995, S. 49-58,
mit freundlicher Genehmigung des
Amts für Religionspädagogik in der Ev.-luth. Landeskirche Braunschweig, Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, D-38300 Wolfenbüttel

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