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Als die Sprache explodierte ...

Tod und Auferstehung Jesu

aus der Sicht des ersten Auferstehungszeugen Simon Petrus

Von Eckhard Etzold

  1. Es hatte alles so gut angefangen
  2. Jesus hatte vorausgesehen, wie ernst die Lage war
  3. Simon Petrus war wie betäubt
  4. Simon wollte die Welt anhalten
  5. Endlich hatte Simon begriffen, was Jesus wollte

Es hatte alles so gut angefangen: Da war endlich einer, der Vollmacht hatte. Jesus hieß er, ein Mensch, der faszinierte. Im Auftreten den Frommen gegenüber provokativ bis auf die Knochen und gütig im Umgang mit den Menschen, die am Rande standen. Kranke wurden durch sein Wort gesund und Zweifelnde glaubten wieder dem Herrn. Es hatte allen Anschein, als ob er von Gott in einzigartiger Weise begnadet war. Er sprach Gott mit "Abba" an: Väterchen. So herzlich, so vertraut, als wäre Gott selbst sein Blutsfreund, und er sein besonderer Liebling. Und Simon Petrus hieß sein erster Jünger, der Haus und Familie zurückließ, um Jesus nachzufolgen, elf weitere gesellten sich dazu. Auf sein Wort hin ließen sie ihr früheres Leben hinter sich, und sein Blick entfachte in ihrem Herzen glühende Liebe zu ihm. Fast ein Jahr lang zogen sie mit ihm durch das Land, er öffnete ihnen die Augen für die Nöte der Menschen und sprach heilende Worte. Sie sahen den Himmel offen stehen und wurden getragen von seiner Wärme und Zärtlichkeit. Zwölf Männer warteten darauf, dass er ein Feuer entfachte und sahen den Widerschein des zukünftigen Weltenbrands bereits am Horizont: In Jerusalem sollte die große Wende kommen, die Wende der Welt. Dort sollte Gott seine Herrschaft aufrichten.

Jesu Einzug in Jerusalem wurde ein Fest: Viele Leute breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere Laubbüschel, die sie auf den Feldern abgeschnitten hatten. Und die voran zogen und nachfolgten, schrien: "Hosianna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!"

Ist er der Messias, der erwartete Retter? Das war die Frage, die den Jüngern auf den Nägeln brannte. Jesus hatte sie schon unterwegs gefragt, als sie durch die Dörfer von Cäsarea Philippi kamen: "Für wen halten mich die Menschen?" Wusste er nicht, wer er war? Musste er sich das von den Leuten sagen lassen? Nur eines wusste er: der Messias ist er nicht! Nämlich jener Herrscher über Israel, der auf dem Zion thront und das Land von den Römern befreien wird. Der ist er nicht. Und da sagte Simon in die Stille hinein: "Du bist der Messias!" Jesus verbot ihm, darüber zu sprechen und erklärte, er rechnete damit, aufs Kreuz gelegt zu werden. Da nahm ihn Simon beiseite: Er wollte sich nicht damit abfinden, dass Jesus sein Leben aufs Spiel setzte. Und Jesus wies Simon vor der Jüngerschaft zurecht, mit den scharfen Worten: "Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen!"

Es gab nur einen Grund, der schwer wiegend genug war, um Jesus so in Zorn zu versetzen: Weil Petrus verraten hatte, was ein Geheimnis bleiben sollte, dass er der Messias ist. Nun wussten es die anderen. Aber zunächst war es nur ein Gerücht, ein Gerücht, das Jesus Kopf und Kragen kosten konnte. Wer in dem Ruf stand, der erwartete Messias zu sein, gefährdete die öffentliche Ordnung. Jesus hatte zwar allen verboten, darüber zu sprechen. Trotzdem verbreitete sich das Gerücht wie ein Lauffeuer. Es drang bis an die Ohren der religiösen Führer in Jerusalem vor, die einen Vorwand suchten, um Jesus aus dem Weg zu schaffen.

Die Bibel erzählt nicht, wie Simon auf den Tadel Jesu reagierte. Wollen wir es uns einmal ausmalen: Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Zorn gegen Jesus, der an seinen Worten immer wieder etwas auszusetzen hatte. Hatte er nicht wegen ihm alles verlassen: seine Frau, sein Haus, seine Familie? Wie hatte er diesen Mann geliebt und auf seine Gegenliebe gehofft. Warum konnte Jesus so schroff, so abweisend sein? Gerade zu ihm? Solch einen Zorn, wie Jesus ihn an den Tag legte, hatte er von seinem besten Freund zuletzt erwartet. Oder liebte Jesus ihn womöglich doch nicht?

Sie waren in Jerusalem. Jesus begab sich mit seinen Jüngern in die Stadt. Da war er: Der Tempel, Wohnsitz des Allerheiligsten. Aber von Heiligkeit war hier nichts zu spüren. Es ging zu wie auf dem Marktplatz. Hier wurde gehandelt mit Dörrfleisch, Hühnern, Schafen und Olivenöl. Hier trafen sich Menschen aus ganz Palästina, und sie bauten auf den Märkten im Vorhof ihre Stände auf, damit die Pilger ihre Opfergaben kaufen konnten (so hieß es offiziell). Da wurde gefeilscht und versteigert, Geld gewechselt und Schulden beglichen, einer schrie lauter als der andere, die Hühner gackerten und die Schafe blökten dazwischen, es roch nach Geflügel, Gewürzen, Dreck und Kot. Bettler und Kranke lagen im Dreck (die hier nichts zu suchen hatten), ausgeschlossen vom Reichtum der Stadt, angewiesen auf die Abfälle der Marktstände, die sie auf lasen, wenn abends die Stände abgebaut wurden. Und hinter den Kulissen der Marktstände wurde gefeilscht und betrogen, gehurt und geräubert. Jesus sah sich das an und konnte es nicht glauben. Er griff nach einer Geisel und trieb die Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus, stieß die Tische der Geldwechsler und die Stühle der Taubenhändler um und ließ nicht zu, dass jemand noch ein Gerät durch den Tempel trage. Er schrie: "Steht nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Haus des Gebets heißen für alle Völker. Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht!" Das hörten die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die von ferne das Geschehen beobachteten. Und sie berieten untereinander, wie sie diesen Unruhestifter aus der Welt schaffen könnten. In wenigen Tagen war Passah, da durfte es keine Zwischenfälle geben.

Unter den Jüngern aber, die den Auftritt Jesu miterlebt hatten, wuchs die Unruhe. Sie konnten den Tag gar nicht mehr erwarten, an dem Jesus das Gottesreich aufrichten würde. Sie stritten sich schon um die Ehrenplätze: Da traten Jakobus und Johannes, die beiden Söhne des Zebedäus, an Jesus heran und sagten: "Meister, wir möchten gern, dass du uns eine Bitte erfüllst!" Die anderen Jünger blickten sie erstaunt an. Jesus fragte: "Was soll ich euch denn tun?" Da sprachen sie: "Gib uns, dass wir bei deiner Verherrlichung die Plätze neben dir bekommen, einer rechts, der andere links von dir!" Jesus erwiederte: "Ihr wißt nicht, worum ihr bittet. Könnt ihr denn den Becher trinken, den ich zu trinken haben werde, und mit der Taufe getauft werden, mit der ich mich werde taufen lassen müssen?" Sie antworteten: "Ja, das können wir." Jesus sprach zu ihnen: "Sicher, ihr werdet den Becher trinken, den ich trinke, und mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde. Aber die Plätze zu meiner Rechten oder Linken zu vergeben, steht mir nicht zu. Sie werden denen gegeben werden, für die sie vorgesehen sind."

Nur wenige Tage später: Sie hielten Abendmahl zusammen. Jesus sprach es aus: "Wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern, einer von denen, die zusammen mit mir essen." Simon Petrus fragte: "Bin ich es etwa, Herr?" Spürte er, dass in ihm selbst die Möglichkeit des Verrates schlummerte? Jesus sagte: "Einer von euch Zwölf, der mit mir aus derselben Schüssel ißt!" - Wer hatte dieses Vorrecht, aus derselben Schüssel mit dem Meister zu essen, wenn er, Simon Petrus? Warum sagte er nicht gleich: "Ja, du!" Warum in aller Welt nur diese dunklen Anspielungen? Jesus wurde drohend: "Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre." Galt das auch ihm oder einem anderen?

Auf dem Weg zum Ölberg. Jesus sprach zu ihnen: "Ihr werdet alle an mir Anstoß nehmen und zu Fall kommen." Simon Petrus entgegnete: "Auch wenn alle an dir Anstoß nehmen - ich nicht!" Er ahnte bereits das drohende Unheil. Und Jesus spürte seine innere Unruhe, seine Abwehr gegen das, was nicht sein durfte. Jesus lenkte Simons Blick auf das, was der nicht wahrhaben wollte: "Noch heute nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen." Simon Petrus wehrte sich noch immer dagegen. Gegen das Böse in sich. Er beteuerte: "Und wenn ich mit dir sterben müßte, ich werde dich nie verleugnen!"

In Getsemanae. Jesus sagte zu Simon Petrus, Jakobus und Johannes: "Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt und wacht!" Er betete: "Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst soll geschehen." Seine Jünger schliefen ein. Jesus kam zurück und sagte zu Simon Petrus: "Simon, du schläfst?! Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben?" Und seine Jünger schliefen wieder ein.

Jesus hatte vorausgesehen, wie ernst die Lage war. Doch es hatte ihm keiner von den zwölf Jüngern geglaubt. Jesus hatte doch immer einen rettenden Einfall gehabt, wenn die Lage brenzlig wurde: ein kluges Wort, wie bei der Geschichte mit der Ehebrecherin, das seine Gegner zum Verstummen brachte, oder eine mutige Tat wie bei der Tempelaustreibung. Das bewunderte Simon so an Jesus: dass er aus jeder Krise einen Ausweg fand, mit dem keiner gerechnet hatte. Jeder hoffte insgeheim darauf, Jesus würde im letzten Augenblick das Ruder noch herum reißen - sie mussten nur fest daran glauben. So hatte es Jesus ihnen beigebracht: "Alles ist möglich dem, der glaubt." Es konnte doch nicht angehen, dass Jesus sich wehrlos seinen Feinden ausliefern würde. So dumm konnte er nicht sein! Nein, die große Wende würde kommen, da waren sie sich völlig sicher. Dann würde der Himmel auf Erden anbrechen, wie Jesus es vorausgesagt hatte. Und sie alle, die zwölf Jünger, würden auf zwölf Thrönen sitzen und mit Jesus über Israel herrschen, wie er es ihnen versprochen hatte.

Eine Schar von Männern, bewaffnet mit Knüppeln und Schwertern, durchstreifte den Garten. Sie sollten Jesus festnehmen. Sie fanden ihn und seine schlafenden Jünger. Die Jünger erwachten vom Lärm, Simon auch. Und Jesus stand da und ergab sich. Stumm und wehrlos wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führte. Simon konnte es nicht fassen. Jetzt musste er die Sache in die Hand nehmen, jetzt war für ihn die Stunde gekommen, zu seinem Meister zu stehen. Ihm den Beweis seiner Liebe zu geben. Er zog das Schwert und schlug auf die Leute ein. Haute dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr ab. Jesus rief Simon zurück. Er konnte gerade noch verhindern, dass Simon Petrus nicht verhaftet wurde. Aber Jesus selbst war verloren. Die Männer ergriffen ihn und nahmen ihn fest. Jesus wurde abgeführt, und die Jünger flohen in Panik davon.

Simon schlich dem Verhaftungstrupp nach. Noch gab er seinen Herrn nicht auf. Er hoffte, in den hohenpriesterlichen Palast hineinzukommen. Vielleicht gelang es ihm, Jesus wieder zu befreien. Er gesellte sich ganz unauffällig zu den Leuten am Lagerfeuer, im Hof vor dem Palast, und wärmte sich. Eine Magd des Hohenpriesters trat hinzu und blickte Simon von der Seite an. Er drehte sich um und wich ihren Blicken aus. Dann fragte sie ihn spitz: "Du hast doch auch mit zu diesem Nazarener Jesus Jesus gehört!" Simon sprach entrüstet: "Ich weiß von nichts und verstehe nicht, was du sagst!" Simon dachte an die Verhaftung, wie er mit dem Schwert dreinschlug. Dafür könnte man ihn immer noch verhaften und hinrichten. Dann hing er mit Jesus zusammen am Kreuz. Und keinem wäre geholfen. Er stand auf und ging hinaus in den Vorhof. Doch die Magd blickte ihm nach und fing noch einmal an, diesmal etwas eindringlicher zu den Umstehenden zu sagen: "Das ist einer von ihnen." Simon hielt inne und rief ihnen zu: "Nein, ich bin es nicht." Und ein anderer schrie: "Tatsächlich, du gehörst zu ihnen!" Er hatte Simon an seinem Dialekt erkannt: "Denn du bist ja ein Galiläer!" Simon schwor: "Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet!" Und gleich darauf krähte der Hahn zum zweiten Mal. Da erinnerte sich Simon Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: "Vor dem zweiten Hahnenschrei wirst du mich dreimal verleugnen." Jesus hatte ihn von Anfang an durchschaut. Simon ergriff die Flucht.

Simon Petrus hatte ausgeplaudert, Jesus sei der Messias. Während Simon versucht hatte, in den Palast zu kommen, um Jesus zu befreien (und damit so kläglich scheiterte), war dort schon der Prozeß im Gang. Das Gerücht, das Simon in die Welt setzte, wurde zum Hauptanklagepunkt im Verfahren gegen Jesus. Da sagte der Hohepriester zu ihm: "Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott - sag uns, ob du der Messias bist?" Da sagte Jesus: "Du sagst es." Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sagte: "Das ist Gotteslästerung! Was brauchen wir nun noch Zeugen? Siehe, jetzt eben habt ihr seine Gotteslästerung gehört: Worauf erkennt ihr?" Und sie antworteten: "Er ist des Todes schuldig." Simon Petrus hatte den Stein ins Rollen gebracht. Simon Petrus hatte Jesus an seine Feinde verraten, indem er verriet, was ein Geheimnis bleiben sollte, dass er der Messias ist.

Simon Petrus war wie betäubt. Er lag im Schatten der Stadtmauer. Jesus war tot. Shabbat. Passah in Jerusalem. Simon war mit Jesus losgezogen, um alles auf eine Karte zu setzen: Seine Existenz, seine Zukunft. Und er hatte alles verloren.

Aber das war noch nicht alles: Simon hatte auf der ganzen Linie versagt. Er hatte Jesus verraten und verleugnet. Er ließ Jesus im Stich, als Jesus ihn am meisten brauchte.

Simon dachte an Jesu Worte: "Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren."

Simon döste ein und hatte Schreckensvisionen: Das Opfer kehrt zurück. Jesus erwacht zu neuem Leben, um sich an ihm zu rächen. An ihm, Simon, dem Verräter. Erschrocken fuhr er hoch. Aber er verfiel sofort wieder in diesen Fiebertraum, so an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, dort, wo es keinen Unterschied von Fantasie und Wirklichkeit mehr gab.

Wie Visionen sieht er Jesus. Am Kreuz hängen und verbluten. Schreiend streckt er sich unter Schmerzen. Er hört die Hammerschläge: Rums! Rums! Sieht die Nägel, die durch seine Hände jagen. Rums! Sieht den Nagel, der sich durch seine Füße bohrt. Rums! Er hört Jesus schreien. Sein Schrei erstirbt im gellenden Schmerz. Sein Körper zuckt. Simon schreit und hält sich die Ohren zu: Weil er, Simon, nicht schweigen konnte, musste Jesus sterben. Dann: vorbei! Und dann alles wieder von vorn: Jesus am Kreuz. Im Todeskampf. Von ferne. Und wieder ganz nah. Blutüberströmt zwischen den Verbrechern am Kreuz. Und er, Simon, hat ihn verraten und verleugnet. Er hat es nicht verhindern können - nicht verhindern sollen?

Warum konnte er nicht an seiner Stelle sterben? Hatte er, Simon, nicht den Tod verdient, den Jesus starb? Er hatte das Gefühl, im Boden zu versinken und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Und doch musste er laufen. Ein paar Schritte am helllichten Tag durch die Gassen dieser Stadt. Aber es war ihm alles so fremd, so unwirklich. Als sei die ganze Welt nur noch Fassade. Die Menschen bewegten sich wie Schatten und Schemen. Plötzlich sah er Jesus, von hinten, in der Menschenmenge. Er rannte auf ihn zu, packte ihn am Ärmel, der Fremde drehte sich um und blickte ihn an. Er war nicht Jesus. Simon hatte sich getäuscht. Und er hätte schwören können, dass er es doch war.

Er sagte zu sich: "Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich werde nie mehr derselbe sein." Er schaute in die Ferne: gähnende Leere. Auf dem Hügel vor der Stadt standen drei Kreuze. Keiner sprach über Jesus, aber jeder schien an ihn zu denken. Warum fragt keiner nach ihm? Hat man ihn so schnell vergessen? Warum zeigt denn keiner mit dem Finger auf ihn, Simon, und sagt: "Schau mal, das ist der, der ihn verraten und verleugnet hat!" Alles ging seinen so furchtbar gewöhnlichen Gang. Wenn jetzt einer mit dem Messer käme, und es ihm in den Bauch rammen würde - aber es ging alles so unerträglich normal zu. Als ob es Jesus nie gegeben hätte.

Ein strahlender Frühlingstag in Jerusalem. Die Hügel um die Stadt standen in voller Blüte. Die Scharen der Pilger aus der Umgebung drängelten sich durch die engen Gassen. Die Menschen auf den Straßen feierten Passah, lachten und umarmten sich. Aber Simon dachte an Schuld und Sühne. Abgrundtiefer Zorn befiel ihn. Lachende Menschen kamen ihm entgegen. Anschreien wollte er sie, erzählen, warum er nicht lachen kann, warum zur Zeit niemand lachen darf. Er legte sich hin, im Schatten einer Hauswand und schlief wieder ein. Er träumte von seiner Heimat, von früheren Zeiten:

Es ist Abend am See Genezareth. Jesus hat am Seeufer zum Volk gesprochen. Die Jünger treibt er an, ins Schiff zu steigen. Sie sollen schon vorausfahren, über den See. Er würde schon irgendwie nachkommen, hat er gesagt. Nun will er Ruhe haben und entfernt sich von den Jüngern, um zu beten. Als die Jünger weit vom Land entfernt sind, erhebt sich plötzlich vom Himmel her ein Brausen wie von einem Sturm. Und es erscheinen ihnen Zungen wie Feuer, die auf der Wasseroberläche wild durcheinandertanzen, in einer langen Straße der untergehenden Sonne entgegen. Das Schiff schwankt, die Wellen schlagen höher und höher. Simon bekommt es mit der Angst zu tun. Plötzlich sehen sie am Horizont eine fremde, schwarze Gestalt, direkt vor der untergehenden Sonne, mit zerfließenden Armen im Sonnenlicht rudern. Wie ein riesenhafter Golem. Simon erstarrt vor Schreck. Die anderen schreien vor Furcht und rufen: "Da, ein Gespenst." Der Wind bläßt heftiger, der Himmel verdunkelt sich. Der Golem bewegt sich langsam auf sie zu, und wie er auf sie zukommt, verliert er seine schreckliche Gestalt. Simon Petrus flieht in den dunkelsten Winkel des Schiffes. Jetzt ist alles aus, rast es ihm durch den Kopf. Da hört er eine vertraute Stimme: "Habt keine Angst, ich bin es!" Simon Petrus springt auf und sieht: Es ist Jesus. Jesus, der auf dem Wasser läuft, ohne darin zu versinken. Er ruft ihm zu: "Herr, wenn du es bist, heiße mich, zu dir zu kommen auf dem Wasser." Jesus antwortet: "Komm zu mir!" Simon Petrus steigt aus dem Schiff, er probiert es, und das Unmögliche geschieht: das Wasser trägt. Er kann auf dem Wasser laufen, ohne darin zu versinken, und geht Jesus entgegen. Als er aber den starken Wind spürt, das Chaos, das Auf und Ab der Wellen, überfällt ihn wilde Angst. Er blickt in die Tiefe: unter ihm ein bodenloser, schwarzer Abgrund, dessen Tiefe unauslotbar ist. Er steht im Nichts. Kein Wasser, kein Grund unter den Füßen, der ihn tragen könnte. Er verliert den Halt und versinkt im Bodenlosen. Er schreit zu Jesus: "Herr, rette mich! Ich ertrinke!" Jesus streckt seine Hand aus, zieht ihn empor und spricht zu ihm: "Kleingläubiger, warum zweifeltest du?" Da erwacht er aus seinem Traum. Jemand hat mit einem Stein nach ihm geworfen. Drei lachende Kinder sieht er um die nächste Straßenecke flitzen.

Simon hielt es in Jerusalem nicht mehr aus. Er konnte das Lachen und das Feiern, das Treiben auf den Straßen nicht mehr ertragen. Er verließ die Stadt und begab sich auf den Weg in seine Heimat. Ein paar Tage später: zurück in Galiläa. Sein altes Leben hatten ihn wieder. Scheinbar? Unterwegs erfuhr er, dass auch die anderen Jünger nach Galiläa zurückgekehrt waren. Hatten sie die Sache Jesu aufgegeben?

Was hatte Jesus ihnen nicht alles versprochen? Simon erinnerte sich, wie Jesus zu ihm sagte: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es gibt niemanden, der Haus, Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker um meinetwillen verläßt und es nicht hundertfältig zurückempfängt, jetzt in dieser Weltzeit Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder, und in der kommenden Weltzeit das ewige Leben. " - Was war davon übrig geblieben? Nichts! Alles nur leere Versprechungen. Er stand nun mit leeren Händen da. Jesus hatte ihn an der Nase herumgeführt. Und er hatte Jesus geglaubt. Er war auf Jesus hereingefallen.

Es gab soviel ungeklärte Fragen, soviel, was offen geblieben war. An wen sollte er jetzt glauben? An Gott? An Jesus, den er für den Messias gehalten hatte? War alles nur ein böser Traum gewesen, eine leere Illusion?

Und was war mit Gott? Warum hatte er sich nicht zu Jesus bekannt? Wollte Gott nichts mehr von Jesus wissen? Hatte er nicht Jesus auch verleugnet als er ihn verließ? Was hatte Jesus falsch gemacht, dass es so kommen mußte? Warum hatte Gott das zugelassen? Und was war mit dem Gottesreich, das kommen sollte? War das nur ein Wunschbild? Ein Wunschbild, das in Wahrheit nur ein Trugbild war? Hatte Jesus sich geirrt, war er einer Fata Morgana gefolgt? Hatte Gott ihn verworfen? Wie Simon darüber nachdachte, war es ihm, als würde es ihm seine Brust zerreißen.

Solange wie Jesus noch da war, da war auch Gott noch da. Aber konnte er nach der Kreuzigung noch an Gott glauben?

Jesus sagte zu Gott immer "Abba" - Väterchen. Waren diese Worte nicht zum reinen Hohn geworden? Ging so ein Vater mit seinem Sohn um? Wie hatte Jesus selbst gelehrt: "Welcher Vater sollte unter euch sein, dessen Sohn ihn um einen Fisch bittet, und er gäbe ihm eine Schlange statt eines Fisches?" War Gott nicht viel grausamer als dieser Vater? Schlange statt Fisch: das war immer noch besser als Schweigen, als Fragen ohne Antworten. Dieser Vater lebte noch, der zeigte sich, wenn auch von seiner schlechten Seite. Aber dieser Gott hier rührte sich nicht. Er gab kein Lebenszeichen mehr. Als sei ihm alles gleichgültig geworden, was auf Erden sich ereignete. Als wäre er selbst tot. Wie Jesus jetzt. Warum hielt sich Gott verborgen, warum tat er so, als ginge ihn das alles nichts an? Oder war Gott am Ende selber tot?

Simon sank in sich zusammen. Wenn Jesus jetzt da wäre, der hätte ihm darauf eine Antwort gegeben. Eine Antwort, die seinen quälerischen Fragen ein Ende bereitet hätte.

"Ja, so ist es", sagte Simon zu sich, "der Gott ist tot, von dem Jesus uns erzählt hat. Zur Lüge sind die Worte geworden: Jeder, der bittet, empfängt; jeder, der sucht, findet; und jedem, der anklopft, wird aufgetan. Das gilt jetzt nicht mehr. Die Tür ist verschlossen. Verriegelt und vernagelt für alle Zeiten."

Simon klagte Gott sein Leid.

Doch er fand kaum noch Worte für das, was da aus ihm heraus wollte. Er konnte nur noch stammeln, und er "weinte bitterlich". Er rang nach Luft und klagte: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das ist das Ende, dachte er. Das Ende der Welt. Und keiner schien es bemerkt zu haben. Denn alles ging weiter als ob nichts gewesen wäre. Warum hielt denn keiner inne?

Simon wollte die Welt anhalten, aber es gelang ihm nicht. Die Sonne schien wie immer. Nichts hatte sich äußerlich verändert.

Kein Erdbeben. Keine Sonnenfinsternis, die es allen deutlich machen könnte: Seine Welt hatte ihre Bahn verlassen. Sie stürzte ins Bodenlose.

Unerbittlich fraß eine Sekunde die andere. Gefangen im Rad der Zeit, die gnadenlos voran jagte im Dreischritt Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit. Aber für ihn selbst stimmte das nicht mehr. Es gab keine Zukunft. Die Zukunft war wie abgeschnitten. Doch die Zeit lief weiter. Die Vergangenheit quetschte sich in eine Gegenwart, die aufgebläht und maßlos aufgequollen zu zerbersten drohte, weil ihr der Abfluss in die Zukunft fehlte.

Er hatte Angst vor den Worten: "Sei froh, du bist heil davongekommen." Tod, Messer, Schläge für den, der es sagt. Er hatte Angst, dass sie nicht begreifen: Jesus ist tot. Etwas in ihm ist tot, und er weiß nicht was. Es muss etwas von ihm selber sein. Sonst würde es ihm nicht die Luft zum Atmen rauben. Seine Fäuste ballten sich und wurden starr. Seine Lippen wurden taub und zitterten. Es war ihm, als stiege eine schwere Eisenkugel in ihm auf, oder eine dicke Blase, die sich unter Würgen und Schlucken durch den Hals zwängte und in der Mundhöhle zerplatzte. Er zitterte und stammelte und - plötzlich kamen neue Worte über seine Lippen, Worte, die er noch nie gehört hatte. Worte, die er nicht verstand, und die doch befreiend wirkten. Er hörte sich selbst reden, in unaussprechlichen Worten, wie in einer fremden Sprache, die er nicht gelernt hatte. Er verstand nicht, was da vor sich ging. Es schien ihm aber gut zu tun. Der ganze Druck der letzten Tage war wie fortgeblasen. Es ging wie von selbst. Etwas anderes war da, das in ihm redete. Ein neuer Geist, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Es kam ihm vor, als würde er über das Wasser laufen - und das Wasser trug ihn! Er konnte wieder glauben.

Bald darauf verspürte er etwas Neues. Diese Sprache kam aus einer zentralen Stelle in ihm, wo Gott war, meilenweit jenseits der Sphäre seiner eigenen Gefühle. Je länger er sprach, desto mehr wurde er sich der Gegenwart Gottes in ihm bewusst. Der Gegenwart desselben Gottes, den Jesus ihm nahe gebracht hatte. Alles, wofür ihm in der Muttersprache die Worte fehlten, konnte er sich von der Seele reden. Er hörte sich selbst erzählen von dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, mit unaussprechlichen Worten, die nicht von ihm selber zu stammen schienen.

Während er so weitersprach, ereignete sich noch etwas anderes. Er wurde glücklicher und glücklicher! Nie zuvor hatte er die Gegenwart Gottes in solch einer Realität wie jetzt empfunden. Als er Jesus begleitet hatte, bekam er manchmal eine Ahnung von der Nähe Gottes, wenn Jesus vom Reich Gottes sprach, das bald anbrechen würde, oder wenn er Kranke heilte. Doch es war da immer eine letzte Ungewissheit geblieben. Keiner hatte gewusst, wo es hingehen sollte. Nur Jesus selbst schien sich der Realität Gottes gewiss zu sein. Doch jetzt wurde alles anders: Die Realität Gottes war etwas, das er durch und durch verspürte - sogar im Leibe. Doch anstatt sich zu fürchten, fühlte er sich glücklich, ja überglücklich. Er hatte das Gefühl, als ob seine Brust zerspringen wollte, mit normalen Worten war diese Gegenwart des heiligen Gottes nicht mehr zu fassen. Seine Sprache explodierte förmlich, und er redete sich in Ekstase. Wie Visionen sah er eine helle Gestalt, die ihm doch vertraut vorkam, von Sonnenlicht durchflutet über Wassern schwebend. Er glaubte, soeben Seine Stimme zu hören.

"Jesus lebt. Ja er lebt", entfuhr es ihm, ohne dass er darüber nachgedacht hatte, was er da eigentlich sagte. "Er ist nicht bei den Toten! Jesus ist auferstanden. Ja, so muss es sein."

Und es war ihm, als sei ihm ein Licht aufgegangen, ein Licht, das alles, was er vorher dachte, in den Schatten stellte. Es war ihm, als stände Jesus selbst ihm gegenüber. Niemals mehr würde Jesus sie verlassen. Es war alles still um ihn herum, und doch hörte er ihn sagen: Siehe, ich bin bei euch, alle Tage bis an der Welt Ende.

Und wieder die Vision: Jesus fragt Simon: "Hast du mich lieb?" -Simon ist erschrocken. Jesus ist wirklich da. Er erscheint ihm, eingeschlossen vom prächtigen Farbenspiel des göttlichen Lichtglanzes. Alles ringsumher beginnt zu strahlen. Es ist ihm, als würde es keinen Schatten mehr geben, weil jeder Stein, jeder Baum, der von dem Licht berührt wurde, selbst zu strahlen begann.

Simon sah zu seinen Füßen hinunter: Die Erde war nicht mehr die Erde. Er stand auf einem ... was war es? Ein See? Ein riesiger Spiegel? Wie ein gläsernes Meer sah es aus, mit Feuer vermischt.

Immer noch hörte er die Frage: "Hast du mich lieb?" Simon sagte: "Ja Meister, du weißt, dass ich dich liebe!" Jesus sagte zu ihm: "Weide meine Schafe!"

Endlich hatte Simon begriffen, was Jesus wollte: All sein Versagen, der Krampf, das Missverstehen, seine Angst und sein Eifer, dieses ständige Vor und Zurück, sein Kleinglaube und sein Zweifel, Verleugnung und Verrat, Getsemanae und Caesarea Philippi, es war ihm vergeben. Seine Schuld war ihm vergeben worden. Und Jesus sprach zu ihm: "Ab heute bist du Petrus! Auf diesen Fels will ich meine Gemeinde bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen!" Und Petrus sprach: "Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!"

Petrus war sich gewiss, gewisser als jemals zuvor: Bald, nur noch eine kurze Zeit, dann würde Jesus seine Versprechen ganz einlösen: Wenn er in den Wolken des Himmels wiederkäme und die Herrschaft über die ganze Welt antreten würde. Und er, Petrus, würde mit ihm herrschen, nicht nur über Israel, sondern über die ganze Welt.

Jetzt hatte Petrus wieder eine Zukunft. Das Getriebe der Zeiten konnte weiterlaufen, bis Jesus selbst die Welt anhielt.

Petrus eilte zu den übrigen Jüngern in den umliegenden Ortschaften. Er strahlte: "Jesus ist auferstanden. Wir müssen zurück nach Jerusalem!" Und es verschlug ihnen die Sprache.

Sie erlebten dasselbe, was er erlebt hatte: Ihre Sprache explodierte. Jetzt, im Freudentaumel des geisterfüllten Zungenredens, erlebten sie, wie Gott zu ihnen kam.

Sie hörten, wie Jesus zu ihnen sprach: "Geht hin in alle Welt, verkündigt die Heilsbotschaft der gesamten Schöpfung. Wer zum Glauben findet und sich taufen lässt, soll gerettet werden. Wer aber nicht glaubt, soll dem Gericht verfallen. Und das sind die Zeichen, die den Glauben begleiten werden: Kraft meines Namens werden sie Teufel austreiben und in neuen Sprachen sprechen. Schlangen werden sie aufheben können, und wenn sie ein tödliches Gift getrunken haben, wird es ihnen nichts schaden. Kranken werden sie die Hände auflegen, und sie werden sich wieder wohl befinden."

Die zwölf Jünger kehrten zurück nach Jerusalem, um die Ankunft Jesu nicht zu versäumen. Vor den Toren der Stadt kamen ihnen ein paar Frauen entgegen, die damals mit ihnen gezogen waren. Sie riefen ihnen schon von ferne zu: "Das Grab ist leer..."

© Eckhard Etzold, erstmals publiziert in "braunschweiger beiträge", Heft 77, 3/1996, S. 38-44.

Weiterführende Links: Streit um die Auferstehung Jesu bei theology.de.

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee