Homepage Eckhard Etzold - Cyty - Menschen

Karl May: Am Ort der Sichtung

Ein literarisches Todesnähe-Erlebnis.

Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 81 - 1989

Von Eckhard Etzold, Pfarrer in St. Jakobi, Braunschweig

© Karl-May-Gesellschaft e.V., Hamburg

neu durchgesehene und erweiterte Fassung, 1998


I N H A L T

Einleitung

  1. 1. Ist mit dem Tode alles aus?
    Die Erforschung einer ungewöhnlichen Erfahrung
    Raymond A. Moody
    Elisabeth Kübler-Ross
    Weitere Arbeiten
    Kritik

  2. 2. Karl May
    Das Ausleibigkeitserlebnis
    Der Seelenkörper
    Das Tunnel- oder Torerlebnis
    Die Waage der Gerechtigkeit
    Die Lebensrückschau
    Ganzheitliches Erleben
    Unaussprechlichkeit

  3. Das Gericht
    Gericht als "Selbstgericht"
    Sein und Sprache
    Selbsterkenntnis, Sünde,
    Gottesebenbildlichkeit
    Liebe als Essenz des Lebens
    Das "Lichtwesen"
    "Jenseitige" Welten
    Die Frage nach der Identität der Person
    Selbstsucht
    Ich und Wir
    Die ethische Konsequenz
    Das Rätsel der detaillierten Todesnäheschilderung

  4. 3. Fragen und Deutungen
    Die Frage nach Todesnähe-Erlebnissen allgemein
    Ist ein "Leben nach dem Tode" beweisfähig?
    Todesnähe-Erfahrungen und christlicher Glaube
    Anfragen
    Deutungen

    A n h a n g
    Anmerkungen / Literaturverzeichnis / Dank


Einleitung

Wer nicht nur Winnetou und Old Shatterhand kennt, wer einen tieferen Blick in das reiche Romanwerk des sächsischen Schriftstellers geworfen hat, der weiß: Karl May schreibt nicht nur Indianergeschichten. Gebrandmarkt als phantastisch, trivial, klischeehaft -zum Teil auch zu recht - wagen sich nur wenige an das Gesamtwerk. Spätestens im Reifealter legen viele Jugendliche ihren Karl May aus der Hand. Ein ernstzunehmender Schriftsteller ist er in vielen Kreisen selbst bis heute nicht.

Karl Friedrich May stammte aus ärmlichen, proletarischen Verhältnissen.(1) Von der Mutter erfuhr er wenig Zuwendung. Er wurde als fünftes von 14 Kindern im Jahr 1842 geboren, in einer Zeit, als es auf ein Kind mehr oder weniger noch nicht ankam, weil Kindersterblichkeit sehr hoch war. Diese kinderverachtende und lebensverachtende Einstellung der Erwachsenen spürte schon der junge May. Aus seiner Kindheit wissen wir, daß er bis zum fünften Lebensjahr blind war. Schlechte hygienische Verhältnisse bedingten seine Blindheit, ärztlicher Behandlung in späteren Jahren verdankte er sein Augenlicht. Diese Erblindung bewirkte schon früh eine intensive Selbstbeobachtung mit bevorzugter Wahrnehmung der Innenwelt. Diese nahm später derart selbständige Formen an, daß es ihm schwerfiel, Außenwelt und Innenwelt, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Betrug und Diebstahl ließen ihn wiederholt straffällig werden. Über acht Jahre Zuchthaus hat May in seinem ganzen Leben abgesessen.

In der modernen Psychologie würde man von einer narzißtischen Persönlichkeit sprechen: Ein Mensch, der -extrem auf sich bezogen - kaum liebevolle Zuwendung erfuhr und diese sich durch Tricks und Mogeleien ergaunerte. Aber gerade dadurch war er besonders prädestiniert für die Wahrnehmung innerseelischer Vorgänge. So schreibt er selbst einmal in einem Brief aus dem Jahre 1905: "Ich schreibe nicht Romane und nicht Reiseerzählungen, sondern ich bin Psycholog."(2) Bei aller Gebrochenheit seines Charakters dürfen wir bei ihm ein besonderes Sensorium für die innerseelische Erfahrungswelt erwarten.

Soweit zum äußeren. Religiöse Gespräche zwischen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar verraten ein großes Interesse an Themen, die man eher auf der Kanzel als in Abenteuerromanen vermutet. Wer darüber hinaus die visionären Schilderungen des Jenseits kennengelernt hat, den wundert es nicht, wenn May auch außergewöhnliches zu sagen hat in Hinsicht auf ein Leben nach dem Tode. Inwieweit hält das, was er zu sagen hat, der kritischen Prüfung stand? Dieser Frage werden wir nachgehen, wenn wir uns einer Todesnäheszene zuwenden, die in dem 25. Band der gesammelten Reiseerzählungen "Am Jenseits"(3) zu finden ist. Diese Todesnäheszene ist so etwas wie ein literarisches Todeserlebnis. Literarisch meint hier: Der Schriftsteller läßt etwas in seiner Phantasie auf dem Papier Wirklichkeit werden, um mit Hilfe des literarischen Erlebens zu tieferer Klarheit über sich selbst zu gelangen. Streng genommen handelt es sich also um ein Phantasieprodukt.

May verfaßte diesen Roman 1898, auf der Höhe seines Ruhmes. Nicht leicht zugänglich ist dieses literarische Todesnähe-Erlebnis. Wir brauchen Vergleichsmöglichkeiten. Deshalb werden wir dem May'schen "Phantasieprodukt" Forschungsergebnisse der Gegenwart zur Seite stellen, die sich mit Todesnähe-Erlebnissen bei sterbenskranken Patienten im Krankenhaus befassen. In diesem Vergleich von "Wirklichkeit" und Phantasie wird es dann möglich sein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erfassen. Die Frage der Echtheit soll dabei nicht unberücksichtigt bleiben.(4)

Doch wenden wir uns zunächst der entscheidenden Frage zu, die uns im Umgang mit dem Tod und mit dem Jenseits beschäftigen sollte:

1. Ist mit dem Tode alles aus?

Ist mit dem Tode alles aus? Diese Frage galt noch vor zwanzig Jahren als abwegig, ja sinnlos. Das Reich des "Jenseits" war uninteressant, wer sich damit beschäftigte, wurde schnell als weltfremder Träumer abgetan. Dieses Schicksal erlebte auch Karl May.

Ist es ein vergebliches Unterfangen, zu fragen, was danach kommt? Der Amerikaner Raymond A. Moody hatte den Mut aufgebracht, sich dieser Frage zu stellen. Er fand heraus, daß man keineswegs ein Toter zu sein braucht, um eine Ahnung vermitteln zu können von dem, was uns einst erwarten könnte. Vor elf Jahren erschien auf dem deutschen Büchermarkt sein Buch mit dem ausführlichen Titel: "150 Menschen, die einmal im medizinischen Sinne gestorben waren und doch überlebt haben, berichten über ihr Leben nach dem Tod". Worum geht es?

Die Erforschung einer ungewöhnlichen Erfahrung

Raymond A. Moody

Moody ist Mediziner. Als Mediziner traf er immer wieder auf Menschen, die gesundheitliche Krisensituationen erlebten. Krisensituationen mit Atem- oder Herzstillstand, die sofortige Wiederbelebungsversuche nötig werden ließen. Nachdem diese Menschen wieder zu Bewußtsein kamen und die Krise überstanden hatten, berichteten sie von ungewöhnlichen Erlebnissen während ihrer Bewußtlosigkeit. Diese Erlebnisse werden deshalb Todesnähe-Erlebnisse genannt. Moody begann, solche Berichte von sterbenden und dann doch wiederbelebten Menschen zu sammeln und zu vergleichen. Dabei stellte er zunehmend fest, daß es erstaunliche Ähnlichkeiten gab. Bestimmte Teile dieser Todesnähe-Erlebnisse kehrten in den Berichten immer wieder. Zum Beispiel Gefühle von Glück und Frieden, das Verlassen des Leibes und die Entdeckung, einen neuen Leib zu haben mit neuen Eigenschaften. Die Lebensrückschau, das Tunnel- oder Torerlebnis, die Begegnung mit anderen Wesen, zum Teil frühere Verstorbene oder sogenannte Begleiter. Den Höhepunkt bildet die Begegnung mit einem "Lichtwesen", das den Verstorbenen mit Liebe und Wärme gegenübertritt. Nach der Rückkehr aus der Bewußtlosigkeit haben diese Menschen große Mühe, ihr Erlebnis in Worte zu fassen, weil vieles schlicht unaussprechlich bleibt. Noch dazu erfahren sie oft Spott und Ablehnung, wenn sie es Bekannten oder Verwandten erzählen wollen.

In seinem Buch "Nachgedanken über das Leben nach dem Tod" faßt Moody seine ersten Forschungsergebnisse zu den Todesnähe-Erfahrungen in einem kurzen Abschnitt zusammen, der uns in das Zentrum unserer Überlegungen führen soll:

"Ein Mensch liegt im Sterben. Während seine körperliche Bedrängnis sich ihrem Höhepunkt nähert, hört er, wie der Arzt ihn für tot erklärt. Mit einemmal nimmt er ein unangenehmes Geräusch wahr, ein durchdringendes Läuten oder Brummen, und zugleich hat er das Gefühl, daß er sich sehr rasch durch einen langen, dunklen Tunnel bewegt. Danach befindet er sich plötzlich außerhalb seines Körpers, jedoch in derselben Umgebung wie zuvor. Als ob er ein Beobachter wäre, blickt er nun aus einiger Entfernung auf seinen eigenen Körper. In seinen Gefühlen zutiefst aufgewühlt, wohnt er von diesem seltsamen Beobachtungsposten aus den Wiederbelebungsversuchen bei.
Nach einiger Zeit fängt er sich und beginnt, sich immer mehr an seinen merkwürdigen Zustand zu gewöhnen. Wie er entdeckt, besitzt er noch einen "Körper", der sich jedoch sowohl seiner Beschaffenheit als auch seinen Fähigkeiten nach wesentlich von dem physischen Körper, den er zurückgelassen hat, unterscheidet. Bald kommt es zu neuen Ereignissen. Andere Wesen nähern sich dem Sterbenden, um ihn zu begrüßen und ihm zu helfen. Er erblickt die Geistwesen bereits verstorbener Verwandter und Freunde, und ein Liebe und Wärme ausstrahlendes Wesen, wie er es noch nie gesehen hat, ein Lichtwesen, erscheint vor ihm. Dieses Wesen richtet - ohne Worte zu gebrauchen - eine Frage an ihn, die ihn dazu bewegen soll, sein Leben als Ganzes zu bewerten. Es hilft ihm dabei, indem es das Panorama der wichtigsten Stationen seines Lebens in einer blitzschnellen Rückschau an ihm vorüberziehen läßt. Einmal scheint es dem Sterbenden, als ob er sich einer Art Schranke oder Grenze näherte, die offenbar die Scheidelinie zwischen dem irdischen und dem folgenden Leben darstellt. Doch wird ihm klar, daß er zur Erde zurückkehren muß, da der Zeitpunkt seines Todes noch nicht gekommen ist. Er sträubt sich dagegen, denn seine Erfahrungen mit dem jenseitigen Leben haben ihn so sehr gefangengenommen, daß er nun nicht mehr umkehren möchte. Er ist von überwältigenden Gefühlen der Freude, der Liebe und des Friedens erfüllt. Trotz seines inneren Widerstandes -und ohne zu wissen, wie - vereinigt er sich dennoch wieder mit seinem physischen Körper und lebt weiter.
Bei seinen späteren Versuchen, anderen Menschen von seinem Erlebnis zu berichten, trifft er auf große Schwierigkeiten. Zunächst einmal vermag er keine menschlichen Worte zu finden, mit denen sich überirdische Geschehnisse dieser Art angemessen ausdrücken ließen. Da er zudem entdeckt, daß man ihm mit Spott begegnet, gibt er es ganz auf, anderen davon zu erzählen. Dennoch hinterläßt das Erlebnis tiefe Spuren in seinem Leben; es beeinflußt namentlich die Art, wie der jeweilige Mensch dem Tod gegenübersteht und dessen Beziehungen zum Leben auffaßt."(5)

Elisabeth Kübler-Ross

Moody ist mit seinen Forschungen nicht allein geblieben. Auch von der Medizinerin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross wurden ähnliche Berichte gesammelt und ausgewertet.(6) Dabei kam sie zu annähernd denselben Ergebnissen:

Kübler-Ross unterscheidet drei Phasen des Sterbens: die physische Energiephase mit Atem- und Herzstillstand, EEG-Nullinien. Hier wird die Wiederbelebung eingeleitet, die bis zu zwanzig Minuten dauern kann, ohne daß der Patient Gehirnschäden davonträgt. Währenddessen geschieht der Austritt der Seele aus dem Körper und damit der Wechsel in die psychische Energiephase. Hier hat die Seele einen neuen Körper, der wieder ganz ist: Vorher Blindgewesene können wieder sehen, Taube können wieder hören und Beinamputierte haben beide Beine. Dazu kommen neue Wahrnehmungsfähigkeiten: Hören und Sehen ist intensiviert. Die Geschwindigkeit der eigenen Gedankenprozesse ist erhöht. Zugleich wird man von anderen Menschen nicht mehr gesehen und gehört. Raum-und Ortswechsel geschehen mit Gedankenschnelligkeit, Entfernungen von mehreren tausend Kilometern können mühelos überbrückt werden. Man begegnet früheren Verstorbenen, Personen, zu denen man im engen Kontakt stand, daneben auch sogenannten "Führern" oder "Schutzengeln". Diese führen den Sterbenden durch ein Tor, einen Tunnel oder über eine Mauer, je nach kulturellem Hintergrund. Damit betritt man die spirituelle Energiephase, das Sein in der Ewigkeit. Die vorherige psychische Körperlichkeit wird abgelegt und man trifft auf das Lichtwesen. Dabei handelt es sich um ein lebendiges, personales Wesen, das in seinem Wesen als reine, bedingungslose Liebe erfahren wird. Man fühlt sich zutiefst bejaht und angenommen. Der Sinn des Lebens wird einem eröffnet: zu lernen, bedingungslos zu lieben. Dazu behilflich ist die Lebensrückschau. In Zeitrafferform zieht das ganze Leben vorüber und jede Situation, jeder Gedanke wird bewertet, inwiefern sie von Liebe durchdrungen und getragen waren. "Hiermit wird uns die Gelegenheit gegeben, selbst über uns anstelle eines gestrengen Gottes zu Gericht zu sitzen."(7) Man urteilt über sich selbst. Denn man muß sich jede einzelne Tat, jedes Wort und jeden Gedanken seines Lebens noch einmal ansehen. So schafft man sich seinen eigenen Himmel oder seine eigene Hölle, je nachdem, wie man lebt. Hier an diesem Punkt der Lebensrückschau erfolgt spätestens die Rückkehr.

Elisabeth Kübler-Ross versah die Systematisierung des Sterbevorgangs mit reichhaltigen Deutungen, die ihre wertvollen Beobachtungen zum Teil unnötig problematisieren.

Abweichend von der christlichen Vorstellung eines ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott sieht sie das Todesstadium als Übergangssituation an. Das Leben setzt sich fort in neuen Wiederverkörperungen. Das Fachwort: Reinkarnation. Geburt und Wiedergeburt stellen für sie einen Ring zeitlosen Seins dar, in dem der Mensch lernt, bedingungslose Liebe zu leben.(8) Das irdische Leben ist demnach nur eine Schule, die die Möglichkeit zum Wachsen, zum Fortschritt bietet, aber auch zum Rückschritt, zum Stillstand. "Unerledigte Geschäfte" beschreiben die Defizite im zwischenmenschlichen und spirituellen Bereich, die es zu auszuräumen gilt.

Weitere Arbeiten

Soweit das Ergebnis von Elisabeth Kübler-Ross. Neben diesen Arbeiten sind noch zahlreiche andere Bücher über ähnliche Forschungsarbeiten erschienen. Johann Christoph Hampe veröffentlichte 1975 eine Darstellung mit dem Titel "Sterben ist doch ganz anders. Erfahrungen mit dem eigenen Tod."(9) Hampes Beobachtungen decken sich im wesentlichen mit denen von Moody und Kübler-Ross.

Statistische Untersuchungen über Todesnähe-Erlebnisse haben Osis und Haraldsson vorgelegt. Insgesamt werteten sie über tausend Protokolle und Fragebögen aus. Das Buch heißt: "Der Tod - ein neuer Anfang."(10) Eine Untersuchung, die dadurch einen besonderen Wert erhält, weil hier Ärzte und Krankenschwestern befragt wurden, die sterbende Menschen bis zum Tod begleiteten. Viele von ihnen berichteten, daß Menschen kurz vor ihrem Tod von Visionen oder Halluzinationen erzählen, in denen ihnen bereits verstorbene Verwandte oder himmlische Paradieszustände begegnen. Grundtenor aller dieser Untersuchungen ist die Überzeugung, daß solche Berichte die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod belegen, wenn nicht gar beweisen.

Kritik

Von theologischer Seite sind dazu wiederholt Vorbehalte formuliert worden. Hans Küng stellt lapidar fest in seinem Buch "Ewiges Leben?": Solche Sterbeerlebnisse besagen für ein Leben nach dem Tode "gar nichts". Küngs Begründung: Hier geht es um Erfahrungen vor dem Tode. Für das, was danach kommt, können sie deshalb nichts aussagen. Einzig und allein läßt er solche Erfahrungen als Zeichen dafür gelten, "daß ein neues Sein nicht von vornherein auszuschließen ist: ein Zeichen für eine Transzendenz im Tod."(11)

Für Reinhart Hummel, den Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Stuttgart, sind solche Todesnähe-Erfahrungen allenfalls Schwellenerfahrungen, die "keineswegs wertlos (sind), solange sie nicht als Offenbarungen aus der jenseitigen Welt ausgegeben werden." In welcher Hinsicht sie wertvoll sein könnten, wird nicht gesagt. Umgekehrt gesteht Hummel ein, daß die Kirchen in der "seelsorgerlichen und theologischen Arbeit der letzten Jahrzehnte dieses Feld nur mit mäßigem Eifer beackert" haben. "Sterben und Tod sind stets wichtige Themen gewesen und die Scheu innerhalb der Kirchen, darüber klare Auskunft des Glaubens zu geben, rächt sich nun."(12)

In diesen und ähnlichen Äußerungen wird eine unterschwellige Verunsicherung unserer Theologen sichtbar, denen ein Ernstnehmen und eine Analyse dieses Forschungsgegenstandes immer noch suspekt erscheint.

2. Karl May

Mit diesem ersten Arbeitsgang haben wir alles Nötige an Informationen zusammengetragen, um uns nun May selbst zuzuwenden. Das soll auf die Weise geschehen, daß in Auszügen die Todesnäheszene aus dem Buch "Am Jenseits"(1) gelesen wird, verbunden mit Einschüben, die May's Schilderungen auf dem Hintergrund der theologischen und psychologischen Forschung kommentieren und erläutern.

Zum Näheren: Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und sein Stamm der Haddedihn sind in der arabischen Wüste unterwegs. Ein blinder Seher, genannt: der "Münedschi", den sie unterwegs aufgelesen haben, begleitet sie. Der Erblindete erlebt visionäre Zustände, in denen ein anderes Wesen mit dem arabischen Namen Ben Nur (zu deutsch: Sohn des Lichts) durch ihn spricht und Wegweisung gibt.

Zum weiteren Ablauf: Die Gruppe wird, als sie einem Verbrecher, dem "Ghani", auf der Spur ist, der ein islamisches Heiligtum beraubt hat, von dem Stamm der Beni Khalid überfallen. Ein Mitreisender, der Perser Khutab Agha, Beschützer dieses Heiligtums, der sich aufgemacht hatte, um die Verbrecher zu stellen, wird bei einer Auseinandersetzung von einen Schuß getroffen. Er verliert das Bewußtsein und bricht zusammen, kommt aber nach einiger Zeit wieder zu sich und berichtet von einer ungewöhnlichen Selbsterfahrung. Ein aufgeregt-dramatischer Sprachstil spiegelt den Versuch wider, das Unbegreifliche in angemessene Worte zu kleiden. Kara Ben Nemsi, mit dem sich der Autor identifiziert, erzählt:

Das Ausleibigkeitserlebnis

(...) Ich suchte die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Das Loch befand sich genau in der Gegend des Herzens. Da mußte er doch tot sein! Und doch war zwar die Kleidung blutig, aber es schien kein Tropfen mehr zu fließen! Jetzt wendete er mir das Gesicht zu und sagte mit tonloser Stimme:
"Effendi, ich war dort!" (...)
Er senkte den Kopf, hob ihn nach einer Weile wieder und fügte hinzu:
"Wo der Münedschi mit Ben Nur war!"
"In der Phantasie?"
"Nein, wirklich!"
"Das kann doch nicht sein!"

Nach der überraschenden Rückkehr des Khutab Agha zu den Lebenden berichtet er den Umstehenden von seinen Erlebnissen während der Bewußtlosigkeit und bezieht sich dabei auf die visionären Erfahrungen des blinden Münedschi, die bereits vorher im Jenseitsroman geschildert wurden. Kara Ben Nemsi, der eine rationale Position einnimmt, möchte die Erlebnisse des Khutab Agha während der Bewußtlosigkeit in das Reich der Phantasie verweisen, wogegen dieser energisch Einspruch erhebt. Was ihm widerfahren war, ist für ihn unbedingte Wirklichkeit, die über jeden Zweifel der Täuschung erhaben ist. Auf denselben Unterschied zwischen Phantasie, Visionen oder Halluzinationen und der eher wirklichkeitsgesättigten Todesnähe-Erfahrungen weisen auch Moody und Hampe häufiger hin.(2)

"Es ist so, Effendi! Ich bin soeben erst von dort zurückgekommen! Da wachte ich auf und sah mich im Blute liegen. Es fiel mir ein, daß ich erschossen worden bin, und fragte mich, ob ich gestorben oder lebend sei. Ich dachte nach, und da kam ich zu der Ueberzeugung, daß ich nicht mehr tot sei, denn ich bin ja nur wieder ich allein und nicht mehr ich und mein Leib. (...) Mein Sterben war folgendermaßen (...).
Ich sah dich mit den Beni Khalid ringen, ich sah, daß der Ghani seine Pistole auf mich richtete und schoß; ich hörte den Schuß und fühlte die Kugel in mein Herz dringen. Doch schnell war dieser Schmerz vorüber, denn nur der Körper fühlt diese Art von Schmerz; ich aber war nicht mehr in ihm, sondern ich stand als Seele bei ihm. Ich sah ihn liegen, ich sah euch alle, dieses Thal, die beiden Höhen, den Himmel darüber, die Mekkaner, die Beni Khalid, ihre Kamele, dein Kamel und auch dich selbst, der seine Füße befreit hatte und den sie nun wieder banden."
"Das, das alles hast du gesehen?" fragte ich betroffen.
"Ja."

Das erste Element des Todesnähe-Erlebnisses erscheint hier: der Austritt aus dem Körper, wobei die Umgebung noch dieselbe bleibt. Wie Moody und Kübler-Ross berichten, empfängt der Sterbende einen neuen Körper und er wohnt als Beobachter der Szenerie bei. Währenddessen halten ihn die Anwesenden für tot. Kara Ben Nemsi reagiert auf die Erzählung des Khutab Agha mit heftigem Erstaunen:

Der Seelenkörper

Was sollte ich da denken? Der Schuß, der ihn niederwarf, war schon längst gefallen, als ich wieder gefesselt wurde. Wie also konnte er davon wissen? Totgestellt hatte er sich doch jedenfalls nicht! Man denke, mit der Kugel im Herzen! Und nur erraten konnte er es auch nicht, denn ich war ja nicht mehr gebunden. Ueberhaupt war es mir, wenn ich ihn so neben mir sitzen sah und in dieser Weise sprechen hörte, ganz und gar unmöglich, anzunehmen, daß er uns auch nur mit dem geringsten Worte täuschen wolle.
"Ja, (...) ich stand mitten unter euch und sah meinen Körper, meine Leiche liegen. Ich war also Seele, als Mensch gestorben, als Seele aber weiterlebend."
"Konntest du diese deine Seele, also dich selbst, sehen?"
"Ja, denn ich besaß alle meine Sinne noch und mein Seelenkörper glich genau dem irdischen, ganz genau, bis auf das einzelne Haar meines Bartes und dem Nagel meines kleinen Fingers."

Auffallend ist bei May die Feststellung, daß der Seelenkörper dem irdischen genau gleicht. Es ist keineswegs so, daß die Seele hier als eine Art entbößtes, fliehendes Gespenst erscheint. Die Betonung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit sowie die Übereinstimmung mit dem irdischen Körper bis in Einzelheiten unterstreicht die Leibhaftigkeit dieses unvergänglichen Seelenkörpers.

Mays Anthropologie setzt eine Zweiteilung des Menschen voraus, in der der Körper lediglich die materielle Hülle der Seele ist, und er bewegt sich damit zunächst im Rahmen der platonischen Unsterblichkeitslehre. Der Münedschi legt sie an anderer Stelle ausführlich dar:

"Es gibt (...) überhaupt keinen wirklichen Tod, denn das, was ihr so nennt, das ist eben nichts anderes als scheinbarer Tod. Es ist das Ablegen des irdischen Kleides, welches wir unter dem Namen 'Körper' hier getragen haben, aber niemals wieder tragen werden. Dieser Körper bleibt zurück, um sich in seine Grundbestandteile wieder aufzulösen, die Seele aber, die in ihm gekleidet war, wird auf ewig frei von ihm, der sie beengte."(3)

May selbst bringt an dieser vordergründig griechischen Unsterblichkeitsauffassung der Seele jedoch eine entscheidende Korrektur an, die dieser ein neues Profil verleiht:

"Durch das Zusammenwirken der Seele und des Leibes in diesem Leben bildet sich ein zweiter, für uns unsichtbarer Leib, welcher, für uns unbemerkbar, die Poren des irdischen durchdringt und die Verbindung zwischen ihm und der Seele herstellt; er entsteht aus den unwägbaren Stoffen des sterblichen Leibes und geht nicht mit diesen verloren, sondern begleitet die Seele in die Ewigkeit. Dieser für unser Auge nicht erkennbare Leib ist es, welchen der Apostel, also auch die Bibel meint, wenn von der Kijahma (= Auferstehung, Anmerkung des Verfassers) des Leibes die Rede ist."(4)

Damit hat May die Synthese von griechischer Unsterblichkeit der Seele mit der biblischen Lehre von der Auferstehung des Leibes vollzogen wie sie von dem Kirchenvater Origenes, auf den er sich im folgenden sogar ausdrücklich bezieht, bereits entworfen wurde.

Das Tunnel- oder Torerlebnis

Vor dem Tode fürchtete ich mich nicht vor ihm; ich war voller Mut und bot der Waffe des Ghani ruhig meine Brust. Kaum aber war mein Körper tot, so erfüllte mich der Gedanke, gestorben zu sein, mit Entsetzen. Ich dachte an die Mauer mit den vielen Todespforten - - - Allah w' Allah, kaum hatte ich an sie gedacht, so war ich schon dort! Während der Mensch auf Erden nur langsam zur Einsicht kommt, gelangte ich, da ich nun Seele war, nicht nach und nach, sondern sofort zu der Erkenntnis, zu der Ueberzeugung, daß Gedanke und That, Wunsch und Wirklichkeit in jenem Leben nur eins, nicht zweierlei ist. Kaum dachte ich an Es Setchme, den Ort der Sichtung hinter jener Mauer, so war ich schon da. Und als mir El Mizan, die Wage der Gerechtigkeit, einfiel, stand ich auch schon vor derselben. Was Ben Nur dem Münedschi zeigte, muß ein Gesicht, eine Uebertragung gewesen sein, denn in Wirklichkeit vollzieht sich alles viel, viel schneller, ja mit Gedankenschnelligkeit! Nur die Zeit vor der Wage dünkte mir (...) eine ganze (...) Ewigkeit zu sein. Mich schauert noch in diesem Augenblick vor ihr." (...)

Die Mauer mit den Todespforten entspricht dem Tunnel-oder Torerlebnis, von dem Moody und andere berichten. May beschreibt nicht näher, was der Perser sieht. Die Todespforten drücken lediglich den Übergang zwischen dem "Diesseits" und dem "Jenseits" aus.

Diese Vorstellung ist dem Koran entnommen: Hier wird in der siebten Sure, im 47. Vers von der Zwischenmauer, der Scheidewand gesprochen, eine Trennungslinie zwischen Himmel und Hölle. Dabei handelt es sich um gnostisches Gedankengut: in gnostischer Mythologie werden die sieben Tore der Archonten erwähnt, die die Seele "Kraft der erworbenen Qualität und bestimmter wirksamer Anreden" durchschreiten kann.(5) Diese Vorstellungen haben ihre Wurzel in altägyptischer Überlieferung: Im Totenbuch der Ägypter ist die Rede von den "Pforten der Unterwelt", die ein Verstorbener durchschreiten muß, bevor er zur "Halle der vollständigen Wahrheit" gelangt. An diesen Pforten stehen Torhüter, die erst Durchgang gewähren, wenn ihre Namen genannt werden.(6) Die "Halle der vollständigen Wahrheit" könnte also jenem "Ort der Sichtung" entsprechen, von dem der Perser berichtet.

Die Waage der Gerechtigkeit

Es war kein Zweifel daran zu setzen, daß ihn die Kugel getroffen hatte, und zwar in das Herz. (...) Um mir Klarheit zu verschaffen, sprach ich jetzt die Bitte aus:
"Du hast viel geblutet und blutest wohl jetzt noch. Erlaube mir, daß ich vor allen Dingen einmal nach deiner Wunde sehe!"
"Warte jetzt noch!" antwortete er. "Das Bluten hat aufgehört. Ich habe keinen Schmerz. Was ich fühle, ist nichts als ein Druck, der mir das Atmen erschwert. Wahrscheinlich verblute ich mich, sobald die Wunde wieder berührt wird; aber doch ist mir auch gesagt worden, daß ich noch länger leben muß! Mag es nun das eine oder das andere sein, so will ich zunächst meine Seele von der Last erleichtern, welche sich an der Wage der Gerechtigkeit mit zermalmender Schwere auf sie gelegt hat." (...)

Das Symbol der Waage hat seinen Ursprung in den ägyptischen Totenbüchern. Wir wissen, daß May das "Totenbuch der Ägypter" kannte, vermutlich in der Ausgabe von Richard Lepsius, der es 1842 übersetzte und herausgab. Diese Ausgabe ist heute nicht mehr erhältlich, aber wir können uns anhand der neueren Ausgaben ein Bild machen von dem, was May hier vorgefunden hat.

Die ägyptischen Totenbücher enthalten bildliche Darstellungen des Totengerichtes und stammen aus der Zeit zwischen 1500 und 1100 vor Christi. Der Totengott Anubis führt den Verstorbenen "in die Halle der Maat, wo sein Herz (...) gegen die Feder der Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit gewogen wird."(7) Die Gerichtswaage erscheint in nahezu allen altägyptischen Totenbüchern, sie ist auch aus dem gnostischen Mithraskult(8) und der Bibel bekannt. Bei Jesaja (Jes. 28,17) spricht der Herr: "Ich will das Recht zur Richtschnur und die Gerechtigkeit zur Waage machen ...". Und entsprechend kann Hiob (Hi. 31,6) flehen: "Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld!" Ebenso sind altägyptische Überlieferungen im Koran(9) zu finden. In der 42. Sure, Vers 17 heißt es: "Gott ist es, der die Schrift mit der Wahrheit herabgesandt hat, und (der auch) die Waage (herabgesandt hat, damit für Recht und Gerechtigkeit gesorgt werde). Wer weiß, vielleicht steht die Stunde (des Gerichts) nahe bevor?" May hat ohne Zweifel das Symbol der Gerichtswaage aus dem Koran übernommen. Er dürfte das aber in dem Bewußtsein getan haben, damit auf viel ältere Traditionen zurückgegriffen zu haben.

"Der Münedschi scheint eine wirkliche Wage gesehen zu haben. Vielleicht haben bei ihm an jenem Abende die seelisch gemeinten Gegenstände eine körperliche Gestalt angenommen. Ich habe keine wirkliche Wage, kein Werkzeug zum Wiegen gesehen, aber dennoch und dennoch war diese Wage da."

Die Waage ist in der orientalischen Vorstellungswelt keine Metapher oder ein Symbol, sondern ein wirklicher Gegenstand, ein "Werkzeug zum Wiegen". Eben deshalb staunt der Agha über die nichtirdisch-ungegenständliche Erscheinungsweise der Waage, wobei dieses Erstaunen bester Ausdruck für die völlige Andersartigkeit des nahezu "jenseitigen" Erlebens ist.

Das wird noch besonders deutlich in der Gegenüberstellung zu den Visionen des Münedschi. Dessen Visionen waren vom orientalischen Traditionshintergrund geprägt und entsprechend anschaulich-gegenständlich. Das visionäre Erleben blieb im Rahmen irdisch-raumzeitlicher Kategorien, denn das geschaute Jenseits ist "ein Spiegelbild des Diesseits"(10). Dagegen setzt sich das hier geschilderte Todesnähe-Erlebnis völlig ab. Was hier erlebt wird, entspricht zwar dem intendierten Inhalt der überlieferten Bilder und Vorstellungen, aber der Rahmen wird gesprengt: Das Geschehen ist nicht mehr mit irdisch-raumzeitlichen Kategorien zu erfassen. Das wird auf Schritt und Tritt deutlich. Die Sprache explodiert förmlich bei dem Versuch, das Unaussprechliche zum Reden zu bringen. Obwohl es nicht zu fassen ist, ist das hier Erlebte "wirklich", wirklicher als das, was man in Träumen oder Halluzinationen erlebt. May betritt, ausgehend vom vorgegebenen Traditionshintergrund, hier völlig eigene Wege in der Darstellung.

Zweifelsohne spielen solche ägyptisch-orientalischen Vorstellungen aus der Tradition hier bei May mit herein. Aber gerade durch die Aufhebung der Gegenständlichkeit gewinnt die Szene ein so eigenes Profil, daß sie allein aus diesen vorfindlichen Traditionsstücken nicht erklärt werden könnte. Ein Moment besonderer Wahrhaftigkeit schwingt ständig mit.

Es drängt sich die Frage auf: Hatte er vielleicht im Bekannten-und Verwandtenkreis Menschen gekannt, die solches erlebten? Oder hatte er selbst dieses Erlebnis gehabt? Er spricht um die Jahrhundertwende häufiger davon, dem Tode nahe zu sein. Schon 1897 droht er, Münchmeyer, seinen früheren Verleger, gerichtlich zu belangen. Darüberhinaus wird immer häufiger sein Ruf in der Öffentlichkeit in Frage gestellt; Ereignisse, die ihn auch physisch beanspruchen. Und weiter ist bekannt, daß May eine besondere psychische Grundstimmung brauchte, um kreativ zu werden. In der Ekstase des Schreibens konnte er den gewohnten Wirklichkeitszusammenhang verlassen und sich in Räume vortasten, die nicht mehr mit raumzeitlichen Kategorien zu erfassen sind.(11) Ist er in der Ekstase des Schreibens bis an den Rand des Todes vorgedrungen? Ist das, was hier passiert, sozusagen ein literarischer Versuch, den eigenen Tod in der Phantasie vorwegzunehmen, mit dem Ziel, unverarbeitete Sehnsüchte zu therapieren?(12) Und wenn, gibt es dafür noch mehr biographische Anhaltspunkte?

Sicher mögen solche Dinge hier anklingen und sind nicht einfach mit irgendwelchen Erklärungen abzutun. Das alles reicht aber nicht aus, um die Dynamik des Geschehens und die immanente Kritik an den Vorstellungen zu deuten. Man muß sich klar machen: May übernimmt aus der Religionsgeschichte das alte Bild der Gerichtswaage, um es in seiner eigenen literarischen Gestaltung völlig neu zu interpretieren. Es hat den Anschein, als ob er nach dem Bild der Waage greift, um ein anderes Geschehen, für das ihm die rechten Worte fehlen, durch dieses Bild zum Ausdruck zu bringen.

Die Lebensrückschau

"Hast du, Effendi, schon einmal gehört, daß in der Todesstunde das ganze, ganze  Leben des Sterbenden, sogar mit allem, was er längst vergessen hat, an ihm vorüberziehe?"
"Ja. Das hat man mir schon öfters behauptet."
"Diese Behauptung ist wahr, ganz entsetzlich wahr!"

Die Lebensrückschau, wichtigstes Element der Todesnäheerlebnisse, ist für May keineswegs etwas Neues. Als der Agha fragt: "Hast du, Effendi, schon einmal gehört, daß in der Todesstunde das ganze, ganze Leben des Sterbenden, sogar mit allem, was er längst vergessen hat, an ihm vorüberziehe?" antwortet Kara Ben Nemsi: "Ja. Das hat man (...) schon öfters behauptet." Es klingt fast so, als werde hier allgemein bekanntes Wissen vorausgesetzt, als sei die Lebensrückschau im Sterbeprozeß ein Vorgang, der ihm vom Hörensagen so vertraut ist, daß sich jede Rückfrage erübrigt. Vielleicht dürfte May die kurze Abhandlung "Notizen über den Tod durch Absturz" des Schweizer Geologen Albert Heim aus dem Jahr 1893 gekannt haben. Sie ist die erste ernstzunehmende Studie über Todesnähe-Erlebnisse, die ähnlich wie Moody eine Systematisierung des Sterbevorgangs anstrebt.

Nach Albert Heim ist im Moment des plötzlichen Absturzes kurz vor dem Tod die

"Gedankenthätigkeit (...) enorm, wohl auf die hundertfache Geschwindigkeit oder Intensität gesteigert, die Verhältnisse wie die Eventualitäten des Ausganges werden weit hinaus objectiv klar überblickt, keinerlei Verwirrung tritt ein. Die Zeit erscheint sehr verlängert. (...) In zahlreichen Fällen folgt ein plötzlicher Rückblick in die ganze eigene Vergangenheit.. Zuletzt hört der Stürzende oft schöne Musik und fällt dann in einen herrlichen blauen Himmel mit rosenfarbenen Wölklein hinein. Dann erlischt das Bewußtsein schmerzlos -gewöhnlich im Momente des Aufschlagens, das aber höchstens noch gehört, niemals schmerzend gefühlt wird. Von den Sinnen erlischt das Gehör zuletzt."(13)

Heim geht davon aus, daß bei ca. 95% der Verunglückten ähnliche Erscheinungen auftreten.

Heims Darstellung des Sterbevorgangs ähnelt in den Anfangsphasen der Schilderung des Aghas, es fehlt allerdings die Begegnung mit einem Ben Nur vergleichbaren Wesen, und sie ist freilich nicht detailliert genug, um alle Einzelheiten im weiteren Verlauf bei May zu erklären. Insbesondere setzt die Schilderung Mays einen längeren Todesnähe-Zustand voraus als wie er beim Absturz während einer Bergwanderung möglich ist. Doch diese kurze Abhandlung ist ein Indiz dafür, daß zumindest die "Lebensrückschau" als ein Element des Todesnähe-Erlebnisses zur Zeit Mays schon einem größeren Kreis bekannt war.

"Als ich an die Wage der Gerechtigkeit dachte, stand ich sofort vor ihr. Ich wußte, daß sie es war, sah sie aber nicht."

Die Waage der Gerechtigkeit steht also in engem Zusammenhang mit der Lebensrückschau. Sie entspricht inhaltlich genau dem Vorgang, den Moody, Hampe und Kübler-Ross das Lebenspanorama (oder die Lebensrückschau) nennen. Das Leben zieht im Zeitraffer vorbei, wobei das Gewicht jeder Tat, jedes Gedankens bestimmt wird.(14) Je nachdem, ob aus Liebe heraus gehandelt oder gedacht wurde oder nicht. Diese Verknüpfung von der Waage mit der Lebensrückschau geht auf May selbst zurück und hat keinen Anhalt in der Tradition. Damit gelingt ihm eine Verbindung ältester Jenseitsvorstellungen der Menschheit mit den Erfahrungselementen moderner Todesnäheforschung, die in ihrer Überzeugungskraft einzigartig ist.

Ganzheitliches Erleben

"Ich wußte auch, daß viele, viele Seelen sich bei mir befanden, konnte sie aber weder sehen noch hören, denn meine Seele hatte nur mit sich selbst zu thun. Ihr Denken, Fühlen und Thun war mit ihr eins, war sie selbst. Außer ihr gab es nichts, als sie selbst und ihr vergangenes Leben. Und dieses Leben war doch auch wieder nur sie selbst." (...)

Hier haben wir die Beschreibung "interner Einheit", die für mystische Erlebnisweise bezeichnend ist. "Die wesentlichen Elemente interner Einheit sind der Verlust der gewöhnlichen Sinneseindrücke und der Verlust des Selbst, ohne daß es aber zur Bewußtlosigkeit kommt."(15) Typisch für dieses Erleben Mays Formulierung: "Ihr Denken, Fühlen und Thun war mit ihr eins, war sie selbst. Außer ihr gab es nichts, als sie selbst und ihr vergangenes Leben. Und dieses Leben war doch auch wieder nur sie selbst."

Unaussprechlichkeit

"Gäbe es doch eine Sprache, die wir aber alle auch sprechen und verstehen müßten, in welcher ich euch das alles begreiflich machen könnte, was zwischen dem Schusse und meinem Erwachen in mir und mit mir vorgegangen ist! Es beginnt ja schon jetzt, sich in mir selbst zu verwischen! Darum eben soll vorher gar nichts geschehen, und darum sollst du, Effendi, nicht einmal nach meiner Wunde sehen, bis ich nicht, so gut ich kann, davon gesprochen habe! Ich will es euch direkt und ohne Aufschub von dem ,Orte der Sichtung' herüberbringen. Jeder Augenblick löscht mehr davon aus!"

Immer wieder tritt das Problem der sprachlichen Vermittlung auf. Die "andere Welt" ist so sehr anders, daß unsere Sprache, die ja ein Abbild unserer irdischen Welt ist, nur scheitern kann bei dem Versuch, die andere Welt zu beschreiben. Dafür spricht auch das schnelle Verblassen der Erinnerung, die in ihren Wahrnehmungskategorien nur von der irdischen Wirklichkeit geprägt ist.(16)

Das sprachliche Vermittlungsproblem ist auch schon bei Paulus anzutreffen, der bei einer Entrückung in den "dritten Himmel" unsagbare Worte hörte, "die ein Mensch nicht aussprechen kann."(17) Flüchtigkeit und Unaussprechlichkeit sind von jeher Merkmale echter mystischer Erfahrung gewesen.

Das Gericht

Gericht als "Selbstgericht"

Er hatte sehr langsam und in wiederholten Pausen gesprochen. Jetzt ruhte er sich länger aus. Wir waren still, denn jeder von uns hatte das Gefühl, daß laute Worte auf seinen Gedankengang störend wirken müßten. Als er sich erholt und gesammelt hatte, begann er wieder:
"Es ist mir unmöglich, euch das nun Folgende in der gewünschten, richtigen Weise zu sagen: Es gab keine sichtbare Wage, denn auch diese Wage war ich selbst. Der Gewogene, die Wage und der Wägende, das war in mir vereint. Ich stand vor Gericht und war zugleich der Ankläger und der Richter."

Mit psychologischer Raffinesse schildert der Agha, wie der Vorgang des Richtens in ihm selbst passierte: Er selbst war Ankläger und Richter zugleich. Nicht der allmächtige Gott ist hier der Richter, sondern der Mensch selbst, genauer: sein Gewissen. Denselben Prozeß der Selbstbeurteilung bei der Lebensrückschau beschrieben auch Kübler-Ross und Hampe. Kübler-Ross behauptet, daß es dem Menschen dabei besser ergeht als wenn er von einem Gott gerichtet würde.

Ob es dem Menschen mit diesem "Selbstgericht" besser ergeht, sei noch dahingestellt. Im Gegensatz zu den Schilderungen bei Moody und Kübler-Ross bekommt diese "Gerichtsszene" mit ihrem Ernst bei May ein so besonderes Gewicht, daß keineswegs uneingeschränkt gesagt werden kann: "Der Moment des Todes ist ein ganz einmaliges, schönes, befreiendes Erlebnis".

Sein und Sprache

"Es wurde jeder, aber auch jeder meiner Gedanken in mir laut. Ueber einige wenige durfte ich mich freuen; die unendliche Zahl der andern aber machte mich erzittern! Es zeigte sich, daß jeder Ton, der über meine Zunge gegangen war, von ewiger Dauer sei. Der irdische Klang ist nur die Wirkung der Luftbewegung; ist sie vorüber, so ist er nicht mehr vorhanden. Aber der seelische Teil des Menschen, der in diesen Ton gekleidet wurde, um zu wirken, der ist unvergänglich und bleibt ihm angehörig für die Ewigkeit."

Biographische Bezüge stechen hier ins Auge: Es spricht aus diesen Zeilen noch das erblindete Kind, das Orientierung in einer unsichtbaren Welt sucht. Wie empfand May denn, als er blind war, wie erlebte er denn Sprache? Er selbst schreibt dazu in seiner Biographie:

"Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele. Nicht ein Aeußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag."(18)

Genau dieselbe Wahrnehmung steht hinter den Worten des Khutab Agha:

"Der irdische Klang ist nur die Wirkung der Luftbewegung; ist sie vorüber, so ist er nicht mehr vorhanden. Aber der seelische Teil des Menschen, der in diesen Ton gekleidet wurde, um zu wirken, der ist unvergänglich und bleibt ihm angehörig für die Ewigkeit."

May hat hier - wie auch an anderen Stellen - aus seinem Erfahrungsschatz geschöpft, um der Todesnäheschilderung Anschaulichkeit zu verleihen.

Das allein besagt doch nur, welcher Erfahrungshintergrund hier sichtbar wird. Um diesen zu erhellen, ist es erforderlich, das Wesen der Sprache genauer zu betrachten:

May vollzieht eine grundlegende Unterscheidung: Sprechvorgang und Sprachinhalt werden voneinander geschieden. Neben den rein physiologischen Wirkungen des Sprechens besitzt jedes Wort eine seelische Qualität. Diese Seele der Sprache zielt auf die Person, auf das Sein des Menschen, und wird besonders deutlich, wenn mir jemand mit Schimpfwörtern zu nahe tritt. Das ist verletzend. Oder wenn mich jemand lobt. Dann steigt mein Selbstbewußtsein. Gerade dieser "seelische Teil" der Sprache, der jenseits der physischen Sphäre von Luftbewegungen und Schallwellen liegt, ist derjenige, der die Grenzen der Vergänglichkeit transzendiert. So wie der Mensch nicht allein Körper und Materie ist, sondern ihm etwas innewohnt, das sein unverwechselbares Leben ausmacht. Es ist das Sein des Menschen, das sich in der Sprache lichtet.(19) Dieses Sein ist aber von Seiendem, den körperlichen und physischen Gegebenheiten unterschieden. Das Sein ist unsichtbar, gestaltlos, nicht ergründbar. Es wird aber in der Sprache offenbar, als "Seele" der Sprache erlebbar.

Selbsterkenntnis, Sünde, Gottesebenbildlichkeit

"Was alles hatte ich da gesprochen! Die entsetzliche Erkenntnis, daß auch nicht eine Silbe vernichtet sei, hätte mich zum glühenden Wunsche der Selbstvernichtung bringen können, wenn es überhaupt Vernichtung gäbe! Gegen die brausende Sündflut all dieser wieder erklingenden Worte giebt es keine andere Hilfe als den sie übertönenden Schrei nach Gnade, Gnade, Gnade! Und so wachten auch all meine Thaten auf. Es war keine von ihnen verschwunden, denn auch sie waren Teile meines Lebens, also Teile meiner selbst. Ich bestand aus ihnen; sie bildeten mein seelisches Gerippe, meine Muskeln; jeder Tropfen meines Blutes war eine That oder eine Folgerung meiner Thaten. Ich konnte also jede von ihnen, selbst die geringste, in mir nach ihrem Wert oder Unwert empfinden. Und da war ich denn so voller Aussatz und voller Schwären, daß ich, der ich doch berufen war, ein Ebenbild Gottes zu sein, in fürchterlichster Angst mir sagen mußte, daß es besser für mich gewesen wäre, gar nicht gelebt zu haben. So sprach die Wage. Sie mußte so sprechen, weil meine Seele, also ich selbst, zwar ein Dasein, aber kein Leben gelebt hatte."

Hier ist schön zu fassen, wie May mit seinen Figuren arbeitet: In Kara Ben Nemsi verkörpert er sich selbst als Ich-Erzähler. Zugleich begegnet uns sein Ich auch in den Worten des Agha - und zwar viel authentischer, als es bei Kara Ben Nemsi der Fall ist. May zieht die große Bilanz seines Lebens. Und die fällt verheerend aus. Er selbst sieht sich als Produkt seiner Gedanken und Taten.

Es ist - theologisch gesprochen - die Situation der Verzweiflung über die eigene Sündhafigkeit, die hier beschrieben wird, Diese Verzweiflung stellt sich ein, wenn das moralische Gewissen die Stelle des richtenden Gottes einnimmt. Und in ihr vollzieht sich das Gericht als Selbstgericht. Der Zielpunkt der Sündenerkenntnis liegt nicht bei Menschen und Moral, sondern im Gottesverhältnis: Zum Ebenbild Gottes bestimmt, kann er nur erkennen, wie sehr er dieser Ziel- und Sinnbestimmung nicht gerecht wird. (Das ist lutherisches Denken: Mit dem Sündenfall ist die Gottesebenbildlichkeit verwirkt.) Ein Forum, vor dem er sich zu verantworten hätte, fehlt. Die Wesen, die ihn umgeben, sind für ihn unsichtbar. Er ist allein, isoliert. Die quälende Einsamkeit seiner Kindheit mit ihren selbstzermürbenden Grübeleien, in denen sich seine Ichwerdung vollzog, wiederholt sich auf einer metaphysischen Ebene. Aber gerade das verstärkt die Gewissenhaftigkeit und Grausamkeit dieser Gerichtssituation. Der Angeklagte muß nicht erst durch eine andere Person überführt werden. Seine Tragik besteht darin, daß er sich selbst anklagt und darin verzweifelt. Hier kommt neben dem Gottesverhältnis auch das Selbstverhältnis zum Tragen. Das Gewissen vollzieht keine Unterscheidung zwischen Taten und Person. Mit der Verurteilung der Taten geht deshalb die Verurteilung der Person einher.

Die Tragik dieses Selbstgerichtes deutete schon Martin Luther an. Im Kommentar zum Römerbrief heißt es - nach Hans Joachim Iwand -sinngemäß: "Es ist ganz eigentümlich, daß das Gericht, das der angeblich freie Mensch in seinem Herzen über sich selber hält, ungleich schrecklicher ausgeht, als das, welches der Mensch erleidet, der sich Gott unterwirft. Denn dieses Gericht trifft nicht ihn, sondern eben Christus an seiner Statt."(20)

Wie kommt es zu dieser eigenartigen Tragik dieses Selbstgerichtes? Die Antwort ist aus rein psychischen oder biographischen Faktoren nicht mehr ableitbar. Sie ist in dem Selbstverhältnis des Menschen begründet. Dieses Selbstverhältnis ist schon immer durch die Sünde entstellt. Das wird auch dem Perser deutlich, der von einer wahren "Sündflut" in Bezug auf sein Denken und Tun spricht. Nun gibt es allerdings verschiedene Möglichkeiten, um sich mit der Sünde auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeiten werden wiederum ganz wesentlich von dem Sein des Menschen bestimmt. Ist der Mensch durch und durch Sünder, so kann er sich auch nur als Sünder erkennen: "Und da war ich denn so voller Aussatz und voller Schwären, daß ich, der ich doch berufen war, ein Ebenbild Gottes zu sein, in fürchterlichster Angst mir sagen mußte, daß es besser für mich gewesen wäre, gar nicht gelebt zu haben." Er erlebt sich als "durch und durch häßliche(n) Mensch(en)"(21). Und auf ebenso sündhafte Weise kann er nur auf diese Selbstwahrnehmung reagieren: Im Ekel vor sich selbst wird er zur Selbstverneinung gezwungen. Die Erkenntnis seiner eigenen Sünde wird dem Sünder zum Verhängnis. So sieht es bereits Kierkegaard, der diesen Vorgang dialektisch bestimmt hat: "Sünde ist Verzweiflung; die Potenzierung ist die neue Sünde, über seine Sünde zu verzweifeln. (...) Über seine Sünde verzweifeln ist der Ausdruck dafür, daß die Sünde folgerichtig in sich selbst geworden ist oder sein möchte."(22) Da die gerecht-sprechende Stimme Gottes in der Gerichtsszene - wie schon erwähnt -durch das moralische Gewissen ersetzt ist, welches nur anklagen, aber nicht rechtfertigen kann, wird der Mensch zum "glühenden Wunsche der Selbstvernichtung" getrieben. Er kann nicht anders, als die eigene Person für das Produkt seiner Gedanken und Taten zu halten: Im Spiegel seiner schlechten Taten sieht auch die Person so häßlich aus, daß sie ihr häßliches Ebenbild nicht länger mehr ertragen kann. Doch auch die Selbstvernichtung ist ihm verwehrt, da er zur schmerzlichen Einsicht kommt: "daß es überhaupt keine Vernichtung gibt". So feiert die Sünde in dem Selbstgericht des Menschen, der meint, mit sich selbst gnädiger umgehen zu können als irgendein Gott, ihren höchsten Triumph.

Daß die Person mehr ist als die Summe ihrer Taten und Gedanken, wird erst in der Gottesbeziehung sichtbar. Ihr "Mehr" besteht darin, daß sich die Person von Gott selbst her empfängt und damit einer letzten Verantwortung enthoben ist. Sichtbar würde dieses mehr erst im der Begegnung mit Gott, weil allein "Gottes Liebe den häßlichen Menschen schön und liebenswert"(23) zu machen vermag. Doch Gott bleibt unsichtbar. Der Sünder bleibt vorläufig sich selbst überlassen, mit seinem Ekel vor sich selbst und der Verabscheuung der eigenen Person. Befreiung aus diesem circulus vitiosus kann nur von außen kommen.

May hat die desparatio als Selbstgericht beschrieben. Sie öffnet den Menschen immerhin für die Möglichkeit der Gnade, nachdem er erfahren hat, daß er mit seinen Fähigkeiten am Ende ist. Luthers Zweischritt von Gesetz und Evangelium ist unübersehbar: Nach der Verzweiflung im Selbstgericht folgt die Erlösung in der Hinwendung zur Gnade. Insofern ist es folgerichtig, wenn der Khutab Agha um Gnade schreit, um Hilfe von außen. Schon dieser Schrei - oder milder ausgedrückt - diese Bitte um Gnade läßt deutlich erkennen, daß er sich nicht damit zufrieden gibt, seine Person als die Summe seiner Taten und Gedanken zu begreifen. Ihr "Mehrwert" liegt in der Gnade verborgen.

Deutlicher wird diese Möglichkeit an anderer Stelle, wo der Münedschi mit der Stimme Ben Nurs spricht: "Es giebt ein großes Gesetz der Gerechtigkeit, dessen Walten euch verborgen ist. Dasselbe Gesetz stellt neben die Gerechtigkeit die Gnade. Wenn die Gnade spricht, dann ist die Gerechtigkeit erfüllt!"(24). Dieses verborgene Gesetz der Gerechtigkeit liegt jenseits der vernunftmäßigen Erkenntniswege. Es ist das Gesetz, das den Agha vor der Selbstvernichtung rettet und ihm die Rückkehr in das Leben ermöglicht. Aber es ist auch hier in der Todesnäheszene nicht direkt sichtbar. Es wirkt im Verborgenen, was darauf hinweist, daß hier noch nicht jene "Verewigung des gelebten Lebens in Gott"(25) stattfindet, die der christliche Glaube erhofft. Erst in dieser würde es aus seiner Verborgenheit heraustreten und für alle sichtbar sein. Deshalb bleibt -was den Bereich des "wirklich" Erfahrbaren angeht - der Khutab Agha dem alten, sündigem Sein verhaftet. Trotz der neuen Körperlichkeit, trotz der anderen Wirklichkeit, in der er sich befindet. Die endgültige Verwandlung in die Gottesebenbildlichkeit steht ihm noch bevor - als Möglichkeit des Glaubens auch schon im "Diesseits".

Theologisch bedeutsam ist dieser Umstand, weil er anzeigt, daß der ganze Bereich der Todesnähe-Erfahrungen noch ein Teil der alten Wirklichkeit, ein Teil dieses geschöpflichen Lebens ist.(26) So gewiß die Möglichkeit der Gnade, der Befreiung in Person des Ben Nur sich bereits ankündigen mag.

Dieses Selbstgericht ist deshalb auch noch nicht das letzte, das jüngste Gericht. Es ist das erbarmungslose Selbstgericht des natürlichen, des in sich selbst verkrümmten Menschen, der unter der Last der eigenen Gewissensqualen nur zugrunde gehen kann. Erst das Gericht Gottes, das stattfindet, wenn das Leben des Menschen definitiv an sein Ende gekommen ist, wird ihn von diesen erbarmungslosen Selbstverwürfen befreien. Dann wird er im Spiegel der Liebe Gottes in seiner eigenen Person Gottes Ebenbild wiedererkennen.

Liebe als Essenz des Lebens

"Das einzige Licht der Seele ist die Liebe; die einzige Nahrung der Seele ist die Liebe; die einzige Luft, welche sie zu atmen vermag, ist die Liebe. In Liebe soll sie sich kleiden, sich mit Liebe schmücken, und wenn sie in Liebe thätig gewesen ist, soll sie auch in Liebe ruhen. Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer gewesen und hatte also nicht gelebt. Und was ich als Leben bezeichnet hatte, das war eine Aufeinanderfolge von Gedanken, Worten und Thaten gewesen, die mich jetzt hinab in den Abgrund des Verderbens ziehen mußten."

Der Tiefpunkt der Selbsterkenntnis ist erreicht. Richtig erkennt er, daß sein Leben nur in der gelebten Liebe Erfüllung finden kann. Alles andere führt in den "Abgrund des Verderbens". Die Liebe ist der Maßstab, an dem das Leben des einzelnen gemessen wird. Und die Liebe ist für May das Kriterium, an dem auch die verschiedenen Religionen gemessen werden. In einem Gespräch zwischen Kara Ben Nemsi und dem Agha wird das schon an vorheriger Stelle erörtert:

"Ich citierte das dreizehnte Kapitel des ersten Briefes Pauli an die Korinther. Er hörte andächtig zu und rief, als ich zu Ende war, aus: 'Das ist ja ganz so, als ob Ben Nur diese Sure auch so auswendig könnte wie du! Welch ein Wunder! Er hat immer ganz nach diesen herrlichen Worten gesprochen, und doch hat unser Kuran eine solche Sure nicht! Darum also, darum dieser Haß, dieser Kampf und Streit bei uns! Darum der gegenseitige Abscheu zwischen den Schiiten und Sunniten, und bei diesen wieder die ununterbrochene Feindschaft zwischen den Schafe'iten, den Hanesiten, den Hanbaliten und den Malekiten! Es fehlt die Liebe, nur allein die Liebe; Allah bessere es! Wie herrlich wäre es auf Erden, wenn die Liebe wirklich und allein die Regierung hätte! Aber Effendi - - -'
Er stockte, überlegend, ob er weitersprechen solle; dann fuhr er fort:
'Habt ihr eine große einige, eine ganze Christenheit?'
'Leider nicht!'
'Ja, ich weiß es; ich wollte nur hören, ob du es aufrichtig eingestehen werdest. Es giebt bei euch Katulikijihn, Rum, rum Katulikijihn, Ingilijihn, Mawarne, Protestanijihn und noch viele andere Spaltungen, deren Namen ich nicht kenne. Ich will dich nicht betrüben; aber beim Islam ist die Zwietracht kein Wunder, weil der Kuran keine solche Sure der Liebe kennt; ihr jedoch habt sie in eurem heiligen Buche stehen und kämpft trotzdem in noch mehr Heerlagern gegeneinander als wir! Ist da diese Sure in eure Herzen oder nur in euer Buch geschrieben? Seid ihr da nicht noch schärfer anzuklagen und nicht noch viel mehr zu bedauern als wir?'"(27)

Das ist nun allerdings eine Frage, auf die May an dieser Stelle keine Antwort gibt. Der Agha gibt sich selbst später die Antwort, als er zu der Erkenntnis gelangt: "Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer gewesen und hatte also nicht gelebt." (s.o.) Die Anklage, die der Agha vorher gegen die Christen gerichtet hat, richtet sich jetzt gegen ihn selbst. Nicht weniger als die Entscheidung über Leben und Tod hängt für May von der Beantwortung dieser Frage nach der Liebe ab. Damit befindet sich May durchaus auf der Höhe gegenwärtigen theologischen Denkens: Denn -  um mit dem Theologen Eberhard Jüngel zu sprechen - "zwischen Liebe und Nichtliebe gähnt ein Abgrund, im Vergleich mit dem der Gegensatz von Himmel und Erde seine Bedeutung zu verlieren droht."(28)

Hier an dieser Stelle ist es angebracht, die Schilderungen Moodys als Vergleich heranzuholen. Bei Moody geschieht die Lebensrückschau bekanntlich in der Gegenwart des "Lichtwesens", das diese mit einer Frage einleitet. In dieser werden die Verstorbenen aufgefordert, ihr Leben als Ganzes zu bewerten.

"Das Wesen, so berichten sie einmütig, richtet die Frage keineswegs anklagend oder drohend an sie, denn - gleichgültig, wie auch immer ihre Antwort ausfallen mag -fühlen sie doch nach wie vor dieselbe uneingeschränkte Liebe und Bejahung von ihm ausgehen. Der Sinn der Frage scheint vielmehr darin zu liegen, sie dazu anzuregen, ihr Leben offen und ehrlich zu durchdenken."(29)

Hier ist die Unterscheidung von Person und Tat offenkundig. Während das Leben nach seinen Taten durch das eigene Gewissen beurteilt wird, bleibt die Würde der Person durch die entgegenkommende Liebe des "Lichtwesens" gewahrt. Die Anwesenheit des "Lichtwesens" verhindert eine Gleichsetzung der Person mit ihren Taten durch das moralische Gewissen. Das "Lichtwesen", das der Lebensrückschau viel freundlichere Züge verleiht, fehlt jedoch bei May in der Gerichtsszene. Und auch das hat seinen Grund: Richtig hat bereits Vollmer festgestellt: "Bei May bedeutet Liebesverlust immer auch Gottesverlust, Abkehr und Entfernung von Gott."(30) Mit dem Liebesverlust ("... ich war liebeleer gewesen... ) geht der Gottesverlust einher, und der Agha muß sich ohne die beglückende Gegenwart des "Lichtwesens" den Anklagen des moralischen Gewissens stellen.

Das "Lichtwesen"

"Ich brach zusammen und stöhnte in meiner Angst und Not: ,O, hätte ich Liebe gehabt, mehr Liebe, mehr Liebe! Könnte ich noch einmal zurück, wie wollte ich lieben und leben, wie wollte ich leben und lieben!' Und kaum hatte ich das gesagt, so wurde es licht um mich her; eine helle Gestalt stand neben mir; sie faßte mich an die Hand und gab mir den himmlischen Trost: ,Dein Gebet sei erhört, denn der letzte Tag deines Erdenlebens ist Liebe gewesen, Liebe selbst für den Feind! Lebe sie weiter, diese Liebe, damit, wenn du hier wieder erscheinst, die Wage dann anders spreche, als sie jetzt gesprochen hat.' Beseligt von dieser Barmherzigkeit, fragte ich ihn: ,Bist du vielleicht Ben Nur, der am letzten Tage meines Lebens bei uns war?' Er lächelte gütig und sprach: ,Hier giebt es nur Liebe, die namenlos ist, und darum für ihre Boten auch keine Namen. Wenn einer ihrer Strahlen sich einen Namen gab, so that er das nur für euch. Nenne mich immerhin auch Ben Nur, denn ich bringe dir das Licht, um welches du hier flehtest!' Während er so sprach, wurden wir von einer mir unbekannten Kraft empor- und über die Mauer der Trennung hinübergetragen. Ich befand mich also an seiner Hand wieder diesseits der Sterbestunde."

Die desperatio sui, die Verzweiflung an sich selbst, findet ihr Ende: Der Ernst des Gerichts wird durch die Gnade aufgehoben.(31) Diese Gnade erscheint nicht als intuitive oder theologische Einsicht, sondern als Person. Ben Nur, der "Sohn des Lichts", die Verkörperung der Erlösung, fängt das harte Urteil über sich selbst so auf, daß es für den "Sterbenden" nicht "lebensbedrohend" wird. Sein Erscheinen beendet die quälende Einsamkeit und schafft den Raum für das befreiende Gespräch. Ben Nur entspricht in seiner Funktion hier genau dem "Lichtwesen" oder dem "Führer", von dem bei Moody und bei Kübler-Ross gesprochen wird. Dieses Lichtwesen stellt -wie Ben Nur - die Liebe in das Zentrum:

"Es betonte immer wieder, wie wichtig die Liebe sei. Am deutlichsten zeigte es mir das an den Stellen, an denen meine Schwester vorkam, zu der ich ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Erst führte mir das Wesen einige Beispiele vor, wo ich mich ihr gegenüber selbstsüchtig verhalten hatte, dann jedoch auch genauso viele Male, wo ich liebevoll und freigebig gewesen war. Es erklärte mir, ich solle versuchen, auch an andere zu denken und mich dabei nach Kräften bemühen. All das enthielt nicht den geringsten Vorwurf. Zu den Vorfällen, bei denen ich egoistisch gehandelt hatte, meinte das Wesen nur, daß ich auch aus ihnen gelernt hätte."(32)

Das Lichtwesen schwächt hier sogar das harte Urteil des Gewissens ab (s.o.), um die Würde der Person selbst nicht zu verletzen und befähigt so den Menschen, auf liebevolle Weise mit sich ins Gericht zu gehen. Im Kontrast zu diesen Protokollen Moodys wird bei May noch einmal sichtbar, welche Bedrohung in dem verzweifelten Selbstgericht liegt: Es wird hier die Möglichkeit eines anderen Todes in der Gerichtsszene angedeutet: das Verharren in sich selbst unter der Last der Anklagen und der Lebensverfehlungen. Es ist kein Tod im Sinne von Vernichtung. Das Ich existiert nur noch weiter wie sein eigener Schatten, fern von Gott und gefangen in sich selbst, weil es sich gegen die göttliche Liebe selber sperrt, die es erlösen kann.

"Jenseitige" Welten

Da er eine Pause machte, fragte ich ihn: "Das war wohl nun der Augenblick, an welchem du erwachtest?"
"Nein. Ich kehrte noch nicht in meinen Körper zurück, sondern ich wurde mit ihm durch eine Unermeßlichkeit getragen, in welcher es keine Schranken gab. Ich sah die Welten, die Sonnen und die Sterne; aber ich sah sie anders, als ich sie von der Erde aus gesehen hatte, denn mein Auge war ja dasjenige meiner Seele, nicht das irdische, welchem die Herrlichkeit, durch die wir schwebten, verborgen ist. Wir befanden uns in einem Oceane des Lichtes, welches so rein und so klar war, daß mein Blick die fernste aller Fernen schauen konnte. Ich sah, daß alle diese Welten bewohnt waren, so wie die Erde das Geschlecht der Menschen trägt. Das kam mir so leichtbegreiflich, so ganz selbstverständlich vor, daß ich mich wunderte, früher darnach gefragt und gar daran gezweifelt zu haben. Ich sah, daß alle diese Kinder des Lichtes herrlich gestaltet waren und aber doch auch wieder keine Gestalt hatten, denn sie besaßen keine sich durch den Stoffwechsel immer erneuernde und dem Tode verfallende Form, sondern sie waren: - - - sie selbst! Der Mensch aber ist, so lange er seinen sich stetig verwandelnden Körper trägt, in keinem Augenblicke er selbst; er ist niemals wahr; diese aber waren es; sie wohnten in Wahrheit und Klarheit, ja, sie bestanden aus ihr! Warum und auf welche Weise ich das sah und auch so mühelos begriff, das kann ich nun nicht sagen, da ich wieder in den Leib zurückgekehrt bin; mein Unsterbliches ist wieder eingehüllt in ihm, und darum der Klarheit beraubt, in welcher ich mich befand. Die Augen meiner Seele sind trübe geworden und mit ihnen die Gedanken; darum ist das Licht, welches ich euch mitbringen möchte, nun nichts als ein Nebelschein, den auch ich selbst nicht mehr durchdringen kann. Dort aber gab es eine wunderbare, ununterbrochene Helligkeit, die auch mich selbst durchdrang und mir ein Gefühl des Glückes, der Seligkeit verlieh, welches ich nicht beschreiben kann."

Diese Glückseligkeit wird immer wieder in Todesnäheberichten beschrieben. Seltener dagegen ist die kosmische Schau anzutreffen, in der sich ein ganzes belebtes Universum öffnet. Bei Moody findet sich folgende Schilderung:

"Es herrschte ein golden funkelndes Leuchten überall. Wunderschön war das. Nirgendwo konnte ich die Lichtquelle entdecken. Die Helligkeit erfüllte einfach alles und kam von überall her. (...) Das Seltsamste an der ganzen Sache war für mich, daß es dort Menschen gab. Nicht in irgendeiner Gestalt oder Körperlichkeit, wie wir es gewohnt sind, sondern sie waren einfach da, sie existierten. Es herrschte dort eine Stimmung wunschlosen Friedens und grenzenloser Liebe."(33)

Auch hier sind die Ähnlichkeiten auffallend. Man vergleiche nur die beiden Teilsätze:

May: "... sie besaßen keine sich durch den Stoffwechsel immer erneuernde und dem Tode verfallende Form, sondern sie waren: - - - sie selbst!"

Moody: "Nicht in irgendeiner Gestalt oder Körperlichkeit, wie wir es gewohnt sind, sondern sie waren einfach da, sie existierten."

Zweifelsohne liegt beiden Schilderungen ein- und dieselbe Erfahrung zugrunde: Die Menschen scheinen nicht mehr vom Stoffwechsel abhängig zu sein und ihre Existenz ist nicht etwas, das in irgendeiner Weise erst gesichert und erhalten werden müßte.

Betrachten wir uns nochmal genauer, wie May mit dem Motiv des Lichts umgeht. Es fällt im Vergleich zu Moody und zu Kübler-Ross verschiedenes auf: In den neueren Berichten ist das Lichtwesen durchweg ein personales Wesen, das als weißes, strahlendes Licht erscheint und dem Verstorbenen unaussprechliche Liebe und Wärme entgegenbringt. Bei May hingegen ist von diesem Lichtwesen nur das personale Wesen "Ben Nur" übrig geblieben, dessen Name "Sohn des Lichts" an ein Lichtwesen erinnert. Dieses Wesen bringt das Licht, um das gefleht wird. Die unaussprechliche Liebe und das strahlende Licht jedoch fehlen hier in der Beschreibung Ben Nurs. Sie erscheinen in der Schilderung des ozeanischen Lichtes, das die Weiten der Unermeßlichkeit ausfüllt. Verbindet man diese beiden Motive (Sohn des Lichts, personaler Aspekt -Ozean des Lichts, sinnliche Wahrnehmung) zu einer Erscheinung, so haben wir inhaltlich wieder genau die Bestimmungen, mit denen bei Moody das Lichtwesen geschildert wird:

"Meine Seele war ausgetreten! Zunächst drückte mich all das furchtbar nieder, aber dann erschien dieses gewaltig helle Licht. Am Anfang war es wohl ein bißchen matt, aber dann schwoll es zu einem Riesenstrahl - es war einfach eine enorme Lichtfülle, mit einem großen hellen Scheinwerfer überhaupt nicht zu vergleichen, wirklich ungeheuer viel Licht. Außerdem strahlte es Wärme aus; ich konnte sie deutlich spüren. (...) Die Liebe, die es ausströmte, ist einfach unvorstellbar, überhaupt nicht zu beschreiben. Es war ein Vergnügen, sich in seiner Nähe aufzuhalten, und es war auch humorvoll auf seine Art, ganz gewiß!"(34)

Die drei Elemente Lebensrückschau, personales Wesen und das "Licht der Liebe", die bei Moody fast immer in einem Erfahrungskomplex auftreten, folgen bei May im Ablauf zeitlich nacheinander. Ob damit eine theologische Abfolge nach dem Schema Buße - Reue -Erlösung intendiert ist, läßt sich mit Sicherheit nicht festmachen. Wohl aber verleiht diese zeitliche Abfolge dem Geschehen eine besondere Dramatik, die sich bei zeitsimultanem Erleben nicht eingestellt hätte.

Die Frage nach der Identität der Person

Selbstsucht

"(Es) sprach die Engelsgestalt an meiner Seite: (...) ,Was dich jetzt durchdringt, was dich umleuchtet, hält und trägt, es ist nicht Licht, es ist nicht Wärme, nicht Aether und nicht Luft, denn diese Bezeichnungen gehören nur der Erde an; es ist die Liebe! Ihr kennt einstweilen fast nicht mehr als nur das Wort, noch aber nicht sie selbst in ihrer ganzen Fülle und Unendlichkeit. Ihr sprecht von Liebe und sprecht auch vom Leben, doch beides ist dasselbe; nur eure Worte sind verschieden. Und weil sie das Leben ist, wird jede Lebensform und jede neu entstehende Welt aus ihr geboren. Hat diese Welt ihren Zweck erfüllt, die ihr anvertrauten Wesen zur Liebe zu erziehen, so übergiebt sie sie der Seligkeit und löst sich auf, um für dieselbe Aufgabe dann wieder zu erstehen. Dies ist der Zweck auch eurer Erdenwelt. Das Dasein auf ihr soll zum Leben, soll zur Liebe werden. Und dieses Ziel wird unbedingt erreicht, denn was ist euer Sträuben gegen die Allmacht dessen, der es will! Ob ihr es leugnet oder eingesteht, es ist doch wahr, daß ihr in Liebe atmet und in Liebe lebt. Die größte Selbstsucht ist mit allen Regungen, die ihr entspringen, doch nichts und nichts als Liebe, wenn auch nur Liebe zu dem eigenen Ich.'

Dieser Satz will noch einmal gehört werden: "Die größte Selbstsucht ist mit allen Regungen, die ihr entspringen, doch nichts und nichts als Liebe, wenn auch nur Liebe zu dem eigenen Ich." Das sagt Ben Nur, nachdem Khutab Agha vorher die verzweifelte Einsicht aussprach: "Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer gewesen und hatte also nicht gelebt." Die Absicht ist klar: Ben Nurs Vorgehensweise hat ein therapeutisches Ziel.(35) Er widerspricht dem Perser und entlarvt seine Ichbezogenheit, die ihn ins erbarmungslose Selbstgericht trieb, als Selbstverliebtheit. Für den Perser wird die Ichbezogenheit als eine Form der Liebe begreifbar, wenn auch nur der fehlgeleiteten Liebe. Als Form der Liebe ist die Ichbezogenheit noch keine "Nichtliebe". Es ist nicht alles verloren, er kann sich noch innerhalb des Bereiches orten, in dem die Liebe wirken kann. Die unbarmherzige Selbsteinschätzung des Persers wird durch Ben Nur korrigiert.

Ich und Wir

,Daß dieses Ich ohne die andern Ichs unmöglich wäre, das ist der große, unwiderstehlich zwingende Grund, der im Verlauf dessen, was ihr als Zeit bezeichnet, die Liebe zu sich selbst zur Bruder- und zur Menschenliebe macht. Dieser Mangel an Erkenntnis, dieses Sträuben des ,Ich' gegen das ,Wir', umhüllt die Erde mit dem Dunkel, welches das auf ihr ruhende Auge der Seligen betrübt, obgleich wir wissen, daß es sich in Licht verwandeln wird und muß.'

Für May ist das ganze Universum nur von einem Ziel bestimmt: die unermeßliche göttliche Liebe, die ihre höchste Gestalt unter den Menschen in der Bruder- und der Feindesliebe gewinnt. Der Grund, weshalb sie sich noch nicht durchgesetzt hat, liegt in einem "Mangel an Erkenntnis". Das klingt widerum gnostisch.

Aber hier geht es nicht um Gnosis, denn das würde heißen: Das Ich strebt zur wesenlosen, unpersönlichen unio mystica(36), in der die Differenz zwischen sich, Gott und dem All aufgehoben wäre. May legt hier vielmehr seine Deutung des Sündenfalls vor: Der besteht für ihn darin, daß der Mensch seine existentielle Bestimmung zum Miteinander nicht kennt. Ohne die anderen wäre er nicht da, ohne die anderen kann er nicht sinnvoll leben. Und doch tut er so, als sei er allein auf der Welt, als gäbe es nur ihn, um den sich alles dreht. Ausdruck für diese Selbstbezogenheit ist das Ich, in ihm findet die Liebe zu sich selbst ihre greifbare Gestalt. Das Ich ist daher die Quelle des Üblen: Als Ich ist er sowohl von Gott als auch von den anderen Menschen getrennt. Das Ich sträubt sich gegen das Wir und ist deshalb auch immer von der Möglichkeit der Nichtliebe bedroht. Die Überwindung der Sünde kann nun nicht in der Vergottung des Menschen liegen. Der Mensch selbst ist nicht die unermeßliche Liebe. Nur von Gott kann gesagt werden, daß er die Liebe ist.(37) Aber zugleich kann der Mensch ohne diese Liebe nicht leben: "Ob ihr es leugnet oder eingesteht, es ist doch wahr, daß ihr in Liebe atmet und in Liebe lebt." Es bleibt dem Menschen hier nichts anderes übrig, als durch sein Leben dieser Liebe zu entsprechen, wenn er seine Zielbestimmung nicht verfehlen will. Ihre volle Gestalt gewinnt die gelebte Liebe in der Bewegung von der Selbstliebe zur Menschenliebe, der die Schrittfolge vom "Ich" zum "Wir" entspricht. Diese Selbstbewegung der Liebe ist für May der tiefere Ursprung der Zeitlichkeit. Vielleicht kann man sogar sagen: Erst im Ereignis der selbstlosen Liebe wird der Mensch seiner Zeitlichkeit und seiner Endlichkeit gewahr. Diese Liebe kann der Mensch allerdings nicht "machen", sie ist selbst das Werk der "Allmacht dessen, der es will". Der Mensch kann nicht mehr tun, als sich nicht gegen die Liebe, gegen das Wir zu sträuben. In dem Moment, wo die Trennung zwischen den einzelnen Ichs im Wir aufgehoben wird und die Liebe an ihr Ziel kommt, ist die communio mystica, die mystische Gemeinschaft aller Menschen, erreicht. Dieses Ziel bestimmt den Sinn und Zweck der Welt: "Das Dasein auf ihr soll zum Leben, soll zur Liebe werden." Ben Nur nennt diesen Vorgang: "die ihr anvertrauten Wesen zur Liebe zu erziehen". Entsprechend versteht auch Kübler-Ross nach der Begegnung mit dem Lichtwesen das "ganze Erdenleben (...) als eine Schule", in der man bestimmte Prüfungen zu bestehen hat. Die wichtigste Lektion besteht darin, "bedingungslose Liebe" zu lernen. "Wenn (man) das gelernt und praktiziert (hat), dann (hat man) die größte Prüfung bestanden."(38)

Die ethische Konsequenz

,Sobald wir diesem Dunkel nahen, scheide ich von dir, doch höre vorher meine Bitte: Laß es wenigstens in dir und auch um dich hell werden! Streu Liebe aus! Je mehr die Zahl der Menschen wächst, die dieses thun, desto mächtiger wirkt das Licht auch auf die andern, und desto eher erreicht das Geschlecht der Sterblichen das Ziel - - die Seligkeit!' (...)

Die Liebe öffnet das Leben, läßt es erst menschlich werden. Sie stiftet neuen Beziehungsreichtum dort, wo der "Drang in die Verhältnislosigkeit"(39) alle Konturen zu verwischen drohte. Sie verleiht dem Leben eine Würde, die auch der Tod nicht trüben kann. Das ist das Geheimnis des "Jenseits", daß es uns auf behutsame Weise das Gewicht und die Bedeutung des Diesseits erkennen läßt.

Nur eine Gefahr scheint bei dieser ethischen Bestimmung im Hintergrund zu lauern, die auch schon in der Gerichtsszene hervortrat: Es wird zwar sichtbar, daß der Mensch ein Wesen ist, dem erst Liebe wiederfahren muß, um selber lieben zu können. Und die Aufforderung ist da: "Streu Liebe aus!" Aber wo empfängt der Mensch die Liebe, die ihn fähig macht zur Bruder-und zur Menschenliebe? Droht hier nicht eine heillose Überforderung des Menschen, der versucht, etwas zu geben, über das er nicht verfügen kann? May hat selbst auf diese Frage leider keine Antwort gegeben.

"Ich weiß nicht, sah ich ihn schwinden, oder war ich es, der sich von ihm entfernte. Es wurde dunkler, immer dunkler um mich her und auch in mir selbst; ich sah nichts mehr; ich hörte nichts mehr und fühlte einen drückenden Schmerz auf meinem Herzen. Dann, als ich angstvoll lauschte, hörte ich eure Stimmen und öffnete die Augen. Ich lag neben einer Blutlache und besann mich auf alles wieder, an was ich nicht mehr gedacht hatte. Ich versuchte aufzustehen, und es gelang mir trotz des Druckes auf meiner Brust, der mich nicht emporlassen wollte. Jetzt hat er sich vermindert; es ist mir wohler geworden. Und nun ich euch erzählt habe, was ich nicht aufschieben wollte, weil ich es zu vergessen befürchtete, bitte ich dich, Effendi, nach meiner Wunde zu sehen!"
Ich hatte ihm mit so gespannter Aufmerksamkeit zugehört, daß ich mich erst besinnen mußte, um seiner Aufforderung nachzukommen. Er mußte sich legen; dann knöpfte ich ihm die Nimtaneh (= Jacke) und das Dämihs (= Hemd) auf und - - - konnte mich eines lauten Ausrufes des Staunens nicht erwehren. Es gab keine Wunde; seine Brust war unverletzt. Ich sah nur eine dunkelgefärbte, unregelmäßig verlaufende Stelle, welche auf einen vorhanden gewesenen Druck schließen ließ. Welch ein Wunder! Es war gar nicht anders möglich, als daß sich auf der Brust ein Gegenstand befunden hatte, von welchem die Kugel aufgehalten worden war!

Dabei stellte sich heraus, daß die Kugel in einem Evangelienbuch in der Brusttasche steckengeblieben war, und der Khutab Agha - abgesehen von Schock und kleinen lokalen Wunden -unverletzt geblieben war. Dieser Schluß wirkt gekünstelt und fällt literarisch gegenüber dem Vorangehenden stark ab. Zusätzlich handelt sich May einen logischen Widerspruch ein, indem er zu Beginn der Nahtodschilderung behauptete, der Khtuab Agha sah sich selbst im Blute liegen (was eine größere Verletzung ja voraussetzen würde). Was May aber zum Ausdruck bringen will, ist der Umstand, daß ein Scheintod den veränderten Bewußtseinszustand herbeigeführt hat. Und damit befindet er sich wieder im Einklang mit den Beobachtungen der heutigen Todesnäheforscher. Nach Moody bedarf es nicht einmal der körperlichen Verletzung, damit ein Todesnähe-Erlebnis ausgelöst werden kann. Es reichte, wenn Menschen "ganz sicher glaubten, jetzt müßten sie gleich sterben"(40). Insofern liegt es nahe, wenn der Perser bei seinem Scheintod auch echte Todesnähe-Erfahrungen hat.

Das Rätsel der detaillierten Todesnäheschilderung

Soweit die Erörterung der Todesnäheszene aus "Am Jenseits". Die Fragestellung, die sich mittlerweile eingestellt haben dürfte, könnte folgendermaßen lauten: Wir haben die modernen Todesnäheberichte, und wir haben Mays Schilderung. Und die Übereinstimmungen, mitunter bis in den sprachlichen Bereich hinein, sind so verblüffend, daß die Frage laut werden muß: Woher konnte er so ein detailliertes Wissen haben? Richtig ist, daß May Vorlagen hatte: den Koran, die Bibel, das Ägyptische Totenbuch und vieles mehr. Aber dieses erklärt nicht, wie May dazu gekommen ist, bis in die Details hinein die Forschungsergebnisse der Todesnäheforschung schon vorwegzunehmen, lange bevor man begonnen hatte, auf diesem Gebiet ernsthafte Untersuchungen anzustellen. Die Antwort muß auf der biographischen Ebene gesucht werden. Und dort wird man schnell fündig, nämlich bei seiner Großmutter väterlicherseits, Johanne Christiane Kretzschmar. Sie erfüllte seine Kindheit mit Leben, sie verlieh seiner Phantasie die Farbigkeit, während seine Augen in das Dunkel starrten. Für May wurde sie im Verlauf seines literarischen Schaffens zum Inbegriff des Guten. Im Spätwerk wurde sie als Marah Durimeh zur Menschheitsseele schlechthin stilisiert. Von dieser Großmutter berichtet May, daß sie, Jahre vor seiner Geburt, dem Tode nahegewesen sei:

Während seiner Kindheit passierte es, "daß Großmutter während des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte." Mühsam konnte sie sich kurz vor ihrem Begräbnisse durch Fingerbewegungen bemerkbar machen. "Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als zuvor."

May vergaß ihren Scheintod nie:

"Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenem unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod."(41)

Der "Scheintod" der Großmutter ist der Schlüssel für die Todesnäheszenen des Romans. Hier liegt die Antwort auf seine detaillierten Kenntnisse der Vorgänge an der Schwelle zwischen Leben und Tod.(42) Kein Wunder, daß der Hinweis auf die Großmutter auch im Jenseits-Roman nicht fehlt. Im Gespräch zwischen Hadschi und Kara nach dem Scheintod des Münedschi fragt Hadschi:

"Hast du schon einmal von einer solchen Kijahma(43) gehört, Sidhi?"
"Ja. Ich habe sogar eine Auferstandene sehr gut gekannt und außerordentlich lieb gehabt; ich liebe sie noch heut, obwohl sie nun nicht mehr zu den Irdischen gehört."
"Wer ist das gewesen?"
"Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, welche der irdische Engel meiner Kindheit gewesen ist und jetzt nun sicher bei den Engeln weilt. Sie war, grad wie auch meine Mutter, so reich an Liebe, daß ich noch heute von und in diesem Reichtume lebe; es ist das der größte Reichtum, den es giebt, mein lieber Halef. Die Verletzung eines Nerven war schuld, daß sie in Starrkrampf fiel und für tot gehalten wurde. Man bettete sie in den Sarg, und erst ganz kurz vor dem Begräbnisse, als die Leidtragenden den letzten Abschied von ihr genommen hatten, wurde entdeckt, daß sie noch lebte."(44)

Hier haben wir eine weitere Schilderung der Begleitumstände. Und wie sieht es mit dem folgenden aus? Gibt es Aufschlüsse, daß die Großmutter wirklich Ausleibigkeitserfahrungen gehabt hat? Sehen wir, was Hadschi und Kara weiter dazu sagen:

"Du bist der Ansicht, Sihdi, daß die Seele der Mutter deines Vaters damals ihren Körper verlassen habe?"
"Ja," antwortete ich.
"Das ist mir von großer Wichtigkeit! Aus dem, was du erzählt hast, folgt, daß deine Großmutter eine Seele gehabt hat?"
"Allerdings."(45)

Diese Gespräche - wenn sie biographische Notizen sind - lassen keinen anderen Schluß mehr zu: May hat das Todesnähe-Erlebnis seiner Großmutter gekannt und selbst literarisch bearbeitet. Auch wenn May selbst betont: "Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenem unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte." Was sie erzählte, muß hinreichend detailliert gewesen sein, so daß May den Ablauf rekonstruieren konnte. Die Klage Mays, daß sie nur selten davon sprach, scheint eher darauf hinzudeuten, daß sie nur schwer mitteilen konnte, was sie erlebte und das ständig weiterfragende Interesse des jungen May nicht zu befriedigen vermochte.

Das ist aber auch noch nicht alles. May berichtet, daß die Großmutter kurz vor ihrem Tod im Jahr 1865 wiederum ein "Todesnähe-Erlebnis" hatte, das sehr an die Beobachtungen von Osis und Haraldsson bei Sterbenden erinnert. Er gibt die Erzählung der Eltern wieder, da er selbst sich zu der Zeit im Arbeitshaus befand:

"Je näher sie dem Tode kam, desto ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt (...). An einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor erschienen. (...) Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lächelnd gegrüßt, (...) und dann gesagt, daß sie sich ja nicht um mich sorgen solle (...). Nach diesen Worten nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder dunkel."(46)

Es ist eine Schilderung der Eltern. Hier ist nicht sicher, inwieweit diese Szene nicht auch Elemente des früheren Scheintod-Erlebnisses der Großmutter enthält. Fassen wir zusammen: Die Großmutter hatte Todesnähe-Erfahrungen gehabt, die May kannte. In Einzelheiten wußte er - wenn man die verstreuten Hinweise zusammenfaßt -, daß sie ein Ausleibigkeitserlebnis hatte, dabei die Lebensrückschau erlebte, die Erfahrung eines unbeschreiblichen Lichtes machte und den Sinn ihres Lebens in der praktizierten Menschenliebe fand. Nach ihrer Rückkehr war es ihr kaum möglich, das Erlebte mit Worten unserer Sprache zu beschreiben. Zugleich hatte sie die Gewißheit, daß im Tod selbst nicht das Nichts steht, sondern sie hielt "den sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und zu beweisen."(47) Die Annahme ist durchaus berechtigt, daß die Großmutter durch dieses Scheintod-Erlebnis eine Prägung ihres Charakters erfuhr, in der ihr alle jene Eigenschaften an Güte und Liebe zuwuchsen, die sie über alle bekannten Personen des May'schen Bekannten- und Verwandtenkreises weit hinaushoben.

Diese positiven Lebensveränderungen, die durch Todesnähe-Erlebnisse ausgelöst werden, werden auch durch neueste psychiatrische Studien bestätigt. Genannt werden "verminderte Angst vor dem Tod, ein verstärktes Gefühl von Sinnhaftigkeit und eine gesteigerte mitmenschliche Aktivität .... Selbst suizidale Antriebe bilden sich offenbar nach dem Eindruck der Todesnähe zurück."(48)

Gemessen an den Kriterien für Todesnähe-Erlebnisse ist diese Sterbeszene aus dem Buch "Am Jenseits" von May als ernstzunehmende literarische Todesnäheschilderung zu werten. Ausführlich wird von ihm die ethische Konsequenz im Sinne des christlichen Liebesgedankens herausgearbeitet: Das Ziel aller ethischen Bemühung ist der menschliche Mensch, der unter seinesgleichen die Liebe und den Frieden verwirklicht hat.(49) Ob man allerdings mit dieser Zielbestimmung dem Menschen selbst immer gerecht wird, bleibt zumindest fraglich. Solange es Menschen geben wird, wird Menschlichkeit auch darin bestehen, fehlbar, schuldig und lieblos sein zu können. Das sieht auch May. Deshalb wird Mensch zu sein auch immer bedeuten, auf die göttliche Gnade angewiesen zu sein.

3. Fragen und Deutungen

Die Frage nach Todesnähe-Erlebnissen allgemein

Am Ende bleiben wiederum Fragen. Sie betreffen die Erforschung von Todesnähe-Erlebnissen überhaupt: Wo verläuft die Grenzziehung zwischen Leben und Tod? Ist der Sterbende tot, wenn Herzstillstand festgestellt wird, oder Atemstillstand oder bei EEG-Nullinien? Keine dieser Grenzziehungen hat sich in der medizinischen Forschung als unverrückbar, feststehend erwiesen. Solange aber diese Grenze nicht zu fassen ist, ist auch nicht sicher, auf welche Seite Todesnähe-Erlebnisse zu verbuchen sind.

Sind sie gleichsam ein letztes Auflodern der Lebensflamme, bevor der kalte, stumme Schatten des Nichts über ein Leben fällt, um es auszulöschen?(1) Dann wären diese Erlebnisse dieser Welt noch ganz zugehörig, dann wären sie nichts anderes als Phantasieprodukte, geboren aus der unstillbaren Sehnsucht nach Liebe und Erlösung, die ihren unerfüllten Nachholbedarf im Jenseits befriedigt. Für May wäre dies eine plausible Deutung angesichts seiner entbehrungsreichen Kindheit. Und für viele Sterbenskranke mit ähnlichen Erlebnissen könnte dies auch zutreffen. Denn wer könnte im Ernst behaupten, daß er in Sachen Liebe keinen Nachholbedarf hätte? -Für solche Todesnähe-Erlebnisse würde deshalb gelten: Je unsagbarer die göttliche Liebe erfahren wird, desto unaussprechlicheres Leiden war auch mit der verwehrten Liebe verbunden.

Oder werden hier doch erste Blicke in eine schöne neue Welt, eine andere Wirklichkeit geworfen? Dann gehören diese Erlebnisse auf die Seite der Jenseitserfahrungen.

Die einfachste Antwort muß lauten: Diese exakte Grenzziehung zwischen Leben und Tod gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt der menschlichen Vernunft, vornehmlich der juristischen.(2) Der Übergang zwischen Leben und Tod ist unscharf, fließend. Dann wären die Todesnähe-Erfahrungen Übergangserlebnisse an der Nahtstelle zwischen Diesseits und einem "Jenseits", das in keiner Weise mit irdisch-diesseitigen Kategorien zu erfassen ist. So legt es auch der Titel des Romans nahe: Am Jenseits. Und entsprechend erklärt Ben Nur dem blinden Münedschi, als dieser sein visionäres Scheintoderlebnis hat:

"Du stehst hier a m  Jenseits, nicht  i n  demselben; das ist der äußerste Punkt, wohin ich deine unsterbliche Seele führen durfte, weil sie noch das irdische Gewand zu tragen hat. Du siehst dich hier also zwischen Zeit und Ewigkeit, nicht vor dem Tode und nicht nach dem Tode, sondern mitten in demselben, und alles, was du hier erblickst, geschieht mit der Seele während der Zeit des Sterbens."(3)

Was für den Münedschi gilt, trifft auch für Khutab Agha zu: Über diesen äußersten Punkt gibt es kein Hinaus mehr. Es geht also bei diesen Erlebnissen um nicht mehr - und nicht weniger! - als um Schwellenerfahrungen. Hierin decken sich Mays Aussagen mit der Kritik Reinhart Hummels, der diese Erlebnisse allein als Übergangserlebnisse oder "Schwellenerfahrungen" gelten lassen möchte. Küngs Kritik freilich, daß solche Erlebnisse für ein Leben nach dem Tode "gar nichts" aussagen, weil es um Erfahrungen "vor dem Tod" geht, erweist sich als zu kurz gegriffen. Es sind - um mit May zu sprechen -Erfahrungen "nicht vor dem Tode und nicht nach dem Tode, sondern mitten in demselben". Auch der Charakter der berichteten Todesnähe-Erfahrungen bei Moody und Hampe legt diese Deutung näher als die Annahme einer entfesselten Phantasietätigkeit des menschlichen Gehirns im Stadium des Verendens. Damit wird jedoch eine Grenze auf jeden Fall überschritten: die traditionelle Grenze zwischen Wissenschaft und Glaube. Wie sieht es damit aus?

Ist ein "Leben nach dem Tode" beweisfähig?

Kann ein "Leben nach dem Tode" bewiesen werden? Das ist die Frage, die sich beim Lesen der verschiedenen Arbeiten zu Todesnähe-Erlebnissen immer wieder stellt, und die von Todesnäheforschern durchaus bejaht wird. Diese Frage wird auch von May im Zusammenhang mit dem "Scheintod" der Großmutter aufgeworfen, denn sie selbst hielt auch "den sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und zu beweisen."(4) Wir müssen uns also dieser Frage stellen.

Ein Beweis setzt einen Grund und eine zu beweisende Behauptung voraus. Die Behauptung muß durch diesen Grund verifizierbar sein. Dann ist ein Beweisgang möglich. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. So kann ich zum Beispiel beweisen, daß die Wolken am Himmel aus Wasserdampf bestehen, indem ich meine Augen bei Regenwetter im Freien nach oben richte. Mein Gesicht wird naß, es regnet. Mein Sehen gibt mir also Grund genug, um zu behaupten: Wolken bestehen aus Wasserdampf. Das "Sehen von Wolken" ist so etwas wie ein Beweiskriterium, das es mir ermöglicht, einen Beweisgang durchzuführen.

Nun sind aber nicht alle Beweiskriterien zuverlässig. Bei den Wolken muß dann noch genauer bestimmt werden, was sie beinhalten. Staub, Wasserdampf oder gar giftige Gase, das kann vom bloßen Sehen oft nicht unterschieden werden. Schon gar bei trokkenem Wetter. Da wird mein Beweiskriterium "Sehen" unzuverlässig. Es gilt nur, wenn ich bestimmte Aussagen mache über bestimmte Gegenstände unter bestimmten Fragestellungen. Um den Kausalzusammenhang von Grund und Behauptung herzustellen, sind die Bedingungen, unter denen der Kausalzusammenhang gültig ist, zu nennen und zu klassifizieren. Also kann ich sagen: Das Sehen von Wolken ist für den Beweis, daß Wolken aus Wasserdampf bestehen, ein relatives Beweiskriterium. Im Gegensatz dazu wäre das Stehen im Regen bei bewölktem Himmel ein absolutes Beweiskriterium dafür, daß Wolken aus Wasserdampf bestehen, der jetzt kondensiert. Am Beweiskriterium "Regen" ist meine Behauptung von jedermann nachprüfbar und wiederholbar.

Als relatives Beweiskriterium fungiert also etwas, das für die Durchführung des Beweisganges unbedingt auf weitere Angaben von Bedingungen angewiesen ist, um den angegebenen Gründen und der zu beweisenden Behauptung Beweisfähigkeit zu verleihen. Ein absolutes Beweiskriterium ist nur bedingt auf die Hilfe weiterer Angaben angewiesen und stellt einen direkten Kausalzusammenhang her.

Diese Unterscheidung von relativen und absoluten Beweiskriterien liefert uns eine Möglichkeit, die Frage nach dem Beweis eines "Lebens nach dem Tode" genauer zu beantworten. Nehmen wir diese Todesnäheberichte, wie sie sich uns darstellen (mit nicht-raumzeitlicher Erlebnisweise, Ausleibigkeit und Beobachtung des Geschehens während der Bewußtlosigkeit, der Unfähigkeit, das Erlebte in irdischen Kategorien auszusagen etc.), so können wir sagen: Diese Berichte sind ein Grund, der den Beweisgang der Behauptung fordert: Der Tod ist das Ende des Lebens, aber er ist nicht das Ende des Menschen. Der Charakter der Berichte, die - nur schwer ausdrückbaren Inhalte - sind deshalb ein relatives Beweiskriterium für die Aussage: Nach dem Tod ist nicht alles aus. Relativ, weil dieser Satz ja so nicht absolut stimmt. Denn eben diesem Leben kann nun wirklich nichts mehr hinzugefügt werden. Es ist zu Ende, ein für allemal abgeschlossen.(5) Die Nachtodexistenz ist keine ontische, raumzeitliche Existenz in dem Sinn, wie wir hier existieren. Wir müssen daher von einer nichtontischen Existenzweise sprechen, in einer anderen Gegenstandsart: der eschatologischen Gegenständlichkeit, weshalb wir diese eben nur relativ unter Angabe bestimmter Bedingungen, unter denen sie gelten soll (die aber gerade nicht raumzeitlich bestimmbar sind), aussagen und festschreiben können.

Relativ meint auch: Unter bestimmten Bedingungen besitzt die Hypothese des "Lebens nach dem Tod" eine Plausibilität, die "Unerklärbares" deuten kann. Es scheint also sinnvoll zu sein, mit dieser Hypothese zu arbeiten. Doch ein absolutes Beweiskriterium kann es hier vorläufig nicht geben. An dieser Stelle gehen die Aussagen von Todesnäheforschern zu weit, die -direkt oder indirekt - behaupten, mit solchen Erlebnissen sei die Existenz eines Lebens nach dem Tod bewiesen. Das mag sich ändern mit dem Fortschritt in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaft. Aber heute ist es noch nicht möglich, Todesnähe-Erlebnisse jederzeit nachzuvollziehen, geschweige denn sie mit unserem wissenschaftlichen Instrumentarium "in statu nascendi" zu untersuchen.

Der Glaube hat also "relativ" begründeten Anlaß, an der Möglichkeit eines ewigen Lebens, das "den Tod nicht kennt", festzuhalten. Dagegen ist theologisch rein gar nichts einzuwenden. Trotzdem muß geklärt werden:

Todesnähe-Erfahrungen und christlicher Glaube

Anfragen

Ist das, was aus diesen Todesnähe-Erlebnissen hervorscheint, das, was im christlichen Verständnis mit Tod, Auferstehung, jüngstem Gericht und Ewigem Leben begrifflich erfaßt wird?(6) Werden Gnosis, heidnische Mysterien und christlicher Glaube an den Gott der Liebe aufs Unerträglichste miteinander vermengt? Oder sind Tod, Auferstehung, jüngstes Gericht und Ewiges Leben nur Chiffren, Umschreibungen dessen, was die Sterbenden schon immer erlebt haben?

Immer wieder stellt sich das Problem der sprachlichen Vermittlung in den Weg. Was stellen wir uns unter Auferstehung vor? Unter jüngstem Gericht? Was heißt das, wenn gesagt wird: "Der Mensch als solcher hat also kein Jenseits, und er bedarf auch keines solchen; denn Gott ist sein Jenseits"?(7)

Verhindern nicht die dogmatischen Formeln von der Auferstehung, von Gott als dem Jenseits und dem jüngsten Gericht, die allzu oft nur leer und abstrakt bleiben, die Möglichkeit, solche Todesnähe-Erlebnisse mit genau diesem Vokabular zu deuten?

Wir können auch noch weiter, allgemeiner fragen: Besteht nicht die Möglichkeit, daß der Todesvorgang als Verwandlung in eine andere Existenzform zu begreifen ist, wie von den ersten Christen behauptet wird? Hat die Vorstellung von der Hölle ihren wahren Kern darin, daß das Sich-selbst-Richten, das Verharren in der Ichbezogenheit, zur Hölle werden kann?

Deutungen

Bestechend ist, daß diese Schilderung bei May so etwas wie eine religiöse Neutralität hat. Die Elemente wie das Tor- oder Tunnelerlebnis, Ausleibigkeit, Totengericht, Engelbegegnungen, Lichterscheinungen, Unaussprechlichkeit etc. sind allgemeiner Natur. Es scheint sich um anthropologische Grundkonstanten zu handeln, die noch keine besondere religiöse Offenbarung verkörpern. Offenbarung ist ja durch präzises Wissen, durch Selbsterschließung und Verstehen gekennzeichnet. Der jüdisch-christliche Gott zumindest gibt sich so zu verstehen: Als der, der Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten befreite, als der, der Jesus von den Toten auferweckte. Dieser Gott ist hier nur schwer erkennbar. So klar und hell wie das Licht ist, was gesehen wird, so dunkel ist es, wenn es um das Verstehen, um die Identifizierung geht. Deshalb muß Kara Ben Nemsi nach der Todesnäheschilderung des Khutab Agha zur Bibel greifen und ihn an früher Gesagtes erinnern:

"Ich versicherte dir, daß Gott, welcher von dir die Liebe zu den Feinden fordere, auch die Macht habe, dich grad durch diese Liebe zu retten. Ich sagte, sein Evangelium sei ein starker Schutz und Schirm selbst in der größten Todesgefahr, und vielleicht stehe dir die Hilfe näher, als du denkest!"(8)

Erst dieser Schriftbezug macht deutlich: Rettung aus dem Tod gibt es nur durch das Evangelium. Die Liebe, die das Evangelium fordert, ist zugleich die Liebe, die den Menschen vor dem Tod bewahrt. Ohne diesen Evangeliumsbezug bliebe das Erlebte isoliert und vielsagend, aber doch im Kern nicht ortbar.

Lumen naturale und lumen revelationis stehen sich hier gegenüber: sehr fern voneinander, wenn es ums Verstehen geht, sehr nah beieinander, wo die Liebe aufstrahlt. Hierin bestätigt sich nocheinmal der Übergangscharakter dieser Erlebnisse, die ja keine neue Offenbarung oder eine Topographie des "Jenseits" vermitteln wollen.

Die göttliche Liebe ist namenlos. So unnennbar, wie der Heilige Gott Israels, für den in späterer Zeit kein Name angemessen ist. Das heißt, hier wird nicht mit einem Blick ins Jenseits die Richtigkeit oder Falschheit einer Religion oder Glaubensüberzeugung verfochten. Selbst dem Islam kommt hier keine Sonderstellung zu. Es läßt sich über dieses Erlebnis weder beweisen, daß Christus im Recht ist, noch daß Allah, Osiris oder eine andere Gottheit die ewige Wahrheit verkörpern. Denn es wird nur so etwas wie Gott hier erfahren. Der Glaube erst trägt das religiöse Element herein. Und dieses hat eine wichtige Funktion: der Glaube bietet die Möglichkeit für den Sterbenden, sein Todesnähe-Erlebnis, das so jenseits aller irdischen Erfahrungswelt liegt, mit Hilfe seines Glaubens zu interpretieren. Erst dadurch kann die Todesnähe-Erfahrung als eine Erfahrung seines Glaubens in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Diese Erfahrung bleibt kein Fremdkörper mehr, der verdrängt werden müßte. Spielt der Glaube in dieser Form herein, so ist die Grenze zwischen Glauben und Schauen noch nicht überschritten. Die Grenzen einer natürlichen Gotteserfahrung bleiben gewahrt. Das Gespräch der Religionen muß nicht abbrechen, wo es um Fragen dessen geht, was nach dem Tode kommt. Christliche Theologen werden allerdings durch diese Todesnähe-Erfahrungen auf eine Frage ihrer Dogmatik wieder angesprochen, die sie im Gefolge der Ganztodtheorie schon länger aus ihrem Gesichtskreis verbannt haben: Die Frage nach dem Zwischenzustand, also jenes Zwischenstadiums zwischen dem Tod und dem ewigen Leben, in dem nach katholischer Glaubenslehre die Läuterung der Seele im Fegefeuer stattfindet. Eine ausführlichere Beschäftigung mit diesem Themenkreis hat der englische Religionsphilosoph John Hick gewagt. Seine Überlegungen sollen in dem nun folgenden Exkurs vorgeführt werden.

Exkurs: John Hicks Lehre vom "Zwischenzustand"

John Hick hat in seinem Buch "Death and Eternal Life" eine Deutung des Todes vorgelegt, die gerade auf die Frage nach dem, was nach dem Tod kommt, eine Antwort geben möchte. Dabei ist sich Hick bewußt, daß die Frage nach dem Tod "a central concern of all the religions of the world"(9) ist. Von daher ist sein Entwurf religionswissenschaftlich angelegt: es kommen die verschiedenen Religionen zu Worte, und Hick bemüht sich, den spezifischen Wahrheitskern einer jeden herauszuarbeiten. Er nennt die Methode, nach der er vorgeht, "the method of spelling out possibilities"(10), im Bewußtsein darum, daß es hier keine letztverbindliche Antwort geben kann. Zugleich ist sein Gegenstand, der Tod, letztlich der Erforschung entzogen. Ein Zugang eröffnet sich nur durch das Leben, denn "death is as much and as mysterious a fact as life"(11) und beide sind unentwirrbar miteinander verflochten. Da es aber hinsichtlich des Todes "degrees of obscurity"(12) gibt, ist es wahrscheinlicher, zutreffende mögliche Aussagen für die Phasen zu machen, die unmittelbar nach dem Tode folgen als für jene Phasen, die zeitlich weiter entfernt sind. Das veranlaßt Hick, die Lehre von den letzten Dingen in zwei Abschnitte zu unterteilen. Er spricht von "pareschatologies", abgeleitet von "para-eschata", den vorletzten Dingen, und von "eschatology", den letzten Dingen.

Hinsichtlich der vorletzten Dinge ist es möglich, "to speculate more profitably"(13) als in Bezug auf die letzten Dinge. Hick macht also aus der theologisch umstrittenen Lehre vom Zwischenzustand, der die Zeit zwischen Tod und Auferstehung ausfüllen soll, ein eigenes Lehrstück. Wie kommt er dazu? Ausgangspunkt ist für ihn wiederum ein religionswissenschaftliches Ergebnis, in dem zum Ausdruck kommt, daß in den Quellenschriften der verschiedenen Religionen mitunter sehr differenzierte Läuterungsstufen nach dem Tod angenommen werden, in denen der Verstorbene eine Vervollkommnung seiner Person erfährt. Hick denkt an die verschiedenen Existenzebenen in Swedenborgs Schriften, an die hinduistische Vorstellung von der Seelenwanderung oder an den Bardo-Zustand des Tibetanischen Totenbuches, und er meint, solche Vorstellungen erscheinen uns Christen befremdlich und phantastisch. Aber sind sie nicht weniger befremdlich und phantastisch als der Himmel, die Hölle oder das Purgatorium des christlichen Glaubens?(14)

Nachdem Hick die verschiedenen religiösen Vorstellungskreise um das Leben nach dem Tod entfaltet hat, versucht er eine eigene Darstellung, die überschrieben ist mit "A Possible Pareschatology". Er geht davon aus, daß das selbstbewußte Ich nach dem Tod weiterexistiert.(15) Viele Menschen werden aber nicht sofort in den vollendeten himmlischen Zustand gelangen, denn der Zweck der zeitlichen Existenz wird oft nicht erreicht. Dieser Zweck des Lebens besteht in einer "gradual creation of perfected persons"(16). Hick gelangt zu dieser Bestimmung des Lebenszwecks als Selbstvervollkommnung über die Erörterung der Allversöhnungsproblematik.

Nach biblischem Zeugnis ist es Gottes Wille, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Auf der anderen Seite besitzt der Mensch ein Maß an menschlicher Freiheit, mit dem er sich dem rettenden Handeln Gottes verweigern kann. Tritt der Fall ein, daß Gott, der Herr der Welt, mit seinem Willen (alle Menschen zu retten) nicht ans Ziel kommt, dann ist er nur ein begrenzter Gott, besiegt durch ein Übel, dessen Existenz es eigentlich nicht geben dürfte, das er aber auch nicht überwinden kann.(17) Gott wäre nicht mehr Gott. Würde Gott den Menschen gegen seinen Willen zu seinem Heil zwingen, dann kann der Mensch nicht mehr in freier Verantwortlichkeit ("free, personal response") seinem Schöpfer gegenübertreten. Der Mensch wäre nicht mehr Mensch.

Diese Aporie ist nur aufzulösen, wenn es im Menschen selbst inmitten seiner sündigen Natur eine Ausrichtung auf Gott hin gibt. Hick knüpft an das Augustin-Zitat an: "... quia fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te" und sagt mit eigenen Worten: "God has so made us that the inherent gravitation of our being is towards him. We have here the notion of an inner telos of human nature, a quest of man's whole being for his own proper good"(18). Die Ausrichtung auf Gott hin resultiert aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Hick weiß natürlich, daß die imago Dei umstritten ist. Entweder sie ist durch den Sündenfall völlig zerstört (reformatorische Anschauung), oder sie ist lediglich beschädigt (katholische Anschauung: völlige Zerstörung der imago, aber nur eine Beschädigung der similitudo). Er geht einen Mittelweg und schließt sich der ostkirchlichen Auffassung an: "On this view man was not created as a finitely perfect being who then fell disastrously into sin and misery. Rather he was created as an immature and imperfect creature who was to grow in grace through time from the imago dei, which is the capacity for God, to the finite similitudo or 'likeness' to God, which is the perfection of our nature in relation to him."(19)

Trotz aller Rebellion gegen Gott wird der Mensch langsam, aber stetig sich auf Gott hin selbst ausrichten, weil er auf ihn hin in seinem innersten Wesenskern angelegt ist. Von dieser theologischen Bestimmung des Menschen aus definiert Hick den Zweck des Lebens: "The telos to which our existance is directed can be formally described as human perfection, man's full humanization"(20). Oder kurz gesagt: "Life, then, is a soul-making or person-making process."(21) Diese Definition ist nun freilich keine rein theologische mehr. Sie macht eine anthropologische Aussage, die aus einem theologischen Beziehungsfeld gewonnen ist. Freilich stößt dieser Prozeß schnell an seine Grenzen. Manche machen größere Fortschritte, manche nur ein bißchen und bei vielen sieht es so aus, als würden sie sich in ihrer moralisch-geistlichen Verfassung zurückentwickeln. Das innere telos unserer Existenz wird nur in den wenigsten Fällen erreicht. Es liegt nahe, daß er nach dem Tode fortgesetzt wird.

Diese Definition des Lebens als Person-konstituierender Prozeß (im Sinn einer wachsenden Zunahme von menschlichen Qualitäten) ist der Fixpunkt, von dem aus Hick seine "pareschatology" konstruiert. Diese Definition des Lebens kann sich auch auf einen breiten Strom biblischen Denkens gründen. Das Liebesgebot und die ethischen Imperative der jesuanischen Verkündigung zielen alle auf den Ernst dieser Menschwerdung ab: "Ihr sollt vollkommen sein wie euer Vater im Himmel vollkommen ist."(22) Die Gerichtsaussagen des NT belegen, daß das Leben des Verstorbenen immer an diesem inneren telos, das verwirklichte Maß an Menschlichkeit und Liebe, gemessen wird. 1. Kor. 3,11-15 legt sogar den Gedanken eines Läuterungsfeuers für das Gericht am Ende der Weltzeit nahe, wenn von einer Rettung "wie durch Feuer hindurch" gesprochen wird. Schmaus kommentiert: "Diese Stelle ist zwar kein unmittelbares Zeugnis für das Fegfeuer. Aber dessen Existenz wird durch sie hinreichend angedeutet. (...) Daraus darf man schließen, daß auch für die während der jetzigen Weltzeit Sterbenden eine Läuterungsmöglichkeit nach dem Tode besteht."(23) Paulus kann sogar soweit gehen, von diesem inneren telos her seine Existenz oder Nicht-existenz zu bestimmen: "Wenn ich aber Liebe nicht hätte, wäre ich nichts." (1. Kor. 13,2) Seine Aufforderung an die Korinther "Strebet nach der Liebe!" (1. Kor. 14,1) macht deutlich, daß der Mensch selbst etwas dazu beitragen kann und soll, um dieses telos zu erreichen.(24)

Wir folgen wieder der Argumentation John Hicks. Das innere telos des menschlichen Lebens wird also, für den Fall, daß es im irdischen Leben nicht erreicht wird, auf einer anderen Ebene verwirklicht werden. Dieser Vorgang ist, nach Hick, der tiefere Sinn der nachtodlichen Läuterungen im Zwischenzustand.

Er greift zuerst die buddhistischen Vorstellungen auf, wie sie im Tibetanischen Totenbuch (Bardo Thödol) zu finden sind. 'Bardo' ist der Begriff für diesen Zwischenzustand. Auf dem Läuterungsweg des Bardo Thödol richtet der Buddhist sich selbst und erkennt im Spiegel des Karma seine Taten und was sie bewirkt haben. Er durchschreitet das klare Licht der vollendeten Wirklichkeit(25) und muß erkennen, daß die verschiedenen Gottheiten, die ihm auf seinem Weg bedrohen, bloße Projektionen seines Verstandes sind. Den Charakter der personalen Verfassung beschreibt Hick als "subjective and dream-like"(26). Der christliche Läuterungsweg nach dem Tode war in vergangenen Zeiten ähnlich ausgefüllt: Gericht, Fegefeuer, Gott-Vater auf einem hohen, lichtumstrahlten Thron, umgeben von Engeln und Märtyrern, oder Christus, umgeben von seinen Aposteln und Engeln, die das Buch des Lebens aufschlagen: "These would be christian equivalents of the mahayana buddhist experiences described in the Bardo Tödol."(27) Sowohl die christlichen als auch die buddhistischen Vorstellungskreise um die Geschehnisse unmittelbar nach dem Tod beschreiben, daß etwas passiert mit dem Verstorbenen. Es sieht so aus, als würde es hier noch so etwas wie Zeit geben. Diese Zeit wird unterschiedlich lang bemessen, nach dem Bardo

Thödol sollen es 49 Tage sein, es können aber auch Wochen oder Jahre sein.(28) Hier entscheidet sich, in welches zukünftige Leben und in welche Welt der Verstorbene wieder eintreten wird. Je länger der Bardo-Zustand dauert, desto mehr sinkt die Aussicht auf eine "gute" oder "bessere" Welt. Auch die christlichen Gerichtsvorstellungen betonen, daß mit diesem Gericht erst ein Ende des Lebens gesetzt wird, in dem das Leben als Ganzes da ist. Ein Ende des Lebens, das nach dem Tod definitiv wird.(29) Hier wird die Bilanz des Lebens gezogen, die für den weiteren Fortgang (in den Himmel oder in die Hölle) bestimmend ist. Was danach kommt, gehört zwar noch in dem para-eschatologischen Bereich, ist sehr viel schwieriger im Rahmen der Möglichkeiten zu erschließen. Eine unendliche Fortexistenz der Seele oder des Ego wirft so erhebliche Probleme auf, daß sie praktisch ausscheiden muß. Die Probleme liegen in der Erinnerungsfähigkeit des Menschen. Nur angenommen, ca. 10.000 Lebensspannen (das ist noch nicht unendlich viel!) würden zurückliegen. Soll die Erinnerung an jedes einzelne Jahr möglich sein, dann müßte das Bewußtsein über eine Speicherkapazität verfügen, die alles bekannte und menschenmögliche überschreitet. So eine Person, die das hätte, wäre kein Mensch mehr, so eine Person "would progressively become more and more unlike a person as we know persons now."(30) Die Annahme einer unsterblichen Seele führt sich selbst ad absurdum, da diese "Seele" schlicht in die Unendlichkeit hineinstirbt.

Hick wählt daher einen anderen Weg und spricht von einem Übergang "to a further embodiment in another world in another space."(31) Er greift hier auf seine Ausführungen zur paulinischen Rede vom "soma pneumatikon" (1. Kor. 15,44) zurück und beschreibt diesen Auferstehungsleib "as the divine creation in another space of an exact psycho-physical 'replica' of the deceased person."(32) Dieser andere Raum ist unserer Beobachtung entzogen, von uns aus sieht es so aus, als ob es diese andere Welt gar nicht gibt. Umgekehrt wäre für jemanden in der anderen Welt die unsrige unsichtbar und er könnte meinen, unsere existiere deshalb nicht.(33) Auf diese Weise kann es eine ganze Anzahl verschiedener Welten geben, die durch die unterschiedlichen Räume voneinander getrennt sind. Allein werden diese verschiedenen Welten alle beobachtet und durchdrungen von der Allgegenwart Gottes, die überall präsent ist. Um die Möglichkeit einer Auferstehung anzunehmen, müssen es aber mindestens zwei verschiedene Räume sein. Es dürfen aber auch nicht sehr viel mehr sein, da sonst die Möglichkeit besteht, daß zwei Nachbildungen der verstorbenen Person mit einem unvergänglichen Leib in zwei verschiedenen Räumen neu geschaffen werden. Welche von beiden wäre dann die echte? - Nimmt man an, daß diese anderen Räume auch noch ihre eigene Raumzeit haben, dann ist gar keine Kontinuität zwischen der irdischen Person und der von Gott neu geschaffenen mehr möglich. Daher will Hick von einer einzigen Zeit ausgehen, die in allen Räumen gleich ist ("single time sequence").(34)

Die Annahme verschiedener, voneinander geschiedener Räume wird auch durch biblische Aussagen gestützt. Das "Paradies" (2. Kor. 12,4 u.a.) und der "Himmel" aus Apg. 7,55 bezeichnen einen Raum, der unserer natürlichen Wahrnehmung verschlossen ist. Nach Paulus wird dort "geredet", er hört dort "Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann" und Stephanus "sieht" dort den göttlichen Lichtglanz. Diese Vorgänge sind schlechterdings nicht denkbar, wenn dieser "Raum" nicht in irgendeiner Art und Weise durch Zeit strukturiert ist. Daß die Zeit-und Raumbeschaffenheit dort aber eine völlig andere ist, wird auch an dem erkenntnistheoretischen Problem sichtbar, vor dem sich Paulus gestellt sieht. Er betont zweimal: "ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es" (2. Kor. 12,2 und 3). Damit überhaupt Wahrnehmungsinhalte von einem Raum in einen anderen vermittelt werden können, muß entweder der Wahrnehmungsträger eine ontologische Transformation erfahren, oder die Raumzeitstruktur des Wahrnehmungsgegenstands muß bei aller Unterschiedenheit kompatibel zu irdischer Raumzeitlichkeit sein.

Ein weiterer Themenkreis betrifft die Frage der Identität und des Geschlechts in der anderen Welt. Wenn davon ausgegangen wird, daß zur persönlichen Identität die Geschlechtlichkeit hinzugehört, dann ist davon auszugehen, daß auch der Auferstehungsleib männlich oder weiblich sein kann. "In that case, presumably children are born into the next world, those children - or their 'souls' - having previously lived on this earth. We then have essentially the hindu or buddhist picture of reincarnation, but from one world to another instead of within the same world."(35) Auf diese Weise gelingt es Hick, Auferstehungsglauben und Reinkarnation spekulativ miteinander zu vermitteln, wobei die Reinkarnationslehre aber entscheidende Veränderungen erfährt. Mit der Einkörperung in einer anderen Welt, wo unter anderen Bedingungen der Lebensgestaltungsprozeß in Richtung auf die vollkommene Menschlichkeit, fortgesetzt werden kann, wird die Reinkarnationsvorstellung von dem unerbittlichen Karmagesetz befreit. Die Erinnerungsleistung des Gedächtnisses muß nicht ins Unermeßliche gesteigert werden. Zugleich ist ihr Wahrheitskern, das Wachsen des Menschen auf vollkommene Menschlichkeit hin, positiv zur Geltung gebracht worden.

Damit ist in groben Zügen der "para-eschatologische" Bereich umrissen. Wurde bisher in der Argumentation das Augenmerk auf den einzelnen Menschen gerichtet, so tritt mit den Überlegungen zur Eschatologie die Gemeinschaft von Menschen in den Vordergrund. In Analogie zur Trinitätslehre entwirft Hick eine "trinitarian conception of the one-in-many and many-in-one to the eschatological community of perfected human persons."(36) Gott hat die Menschen befähigt, ihre Erfüllung in der Gemeinschaft zu finden. Diese menschliche Gemeinschaft entspricht der wechselseitigen Liebe, in der und durch die die drei Personen ein Gott sind.(37) Von daher wird einem einzelnen Menschen immer etwas an der vollkommenen Menschlichkeit fehlen, solange es andere Menschen gibt, die auf ihrem Weg zur vollkommenen Menschlichkeit stehengeblieben sind. Erst wenn alle am Ziel sind, kann die vollkommene Menschlichkeit in der unbegrenzten wechselseitigen Liebe verwirklicht sein. Dieses Stadium bleibt dem Eschaton vorbehalten. Die Begründung für diese eschatologische "corporate unity of mankind"(38) sieht Hick in der alttestamentlichen Rede von dem Volk Israel, das wie eine Person von Gott angeredet werden kann (corporated personality), und in der neutestamentlichen Rede vom Leib Christi. "What Christians call the Mystical Body of Christ within the life of God, and Hindus the universal Atman which we all are, and mahayana Buddhists the self-transcending unity in the Dharma Body of the Buddha, consists of the wholeness of ultimately perfected humanity beyond the existence of separate egos."(39) Damit ist der äußerste Punkt erreicht, über den Hick hinaus keine weiteren Möglichkeiten mehr zu formulieren vermag.

Eine angemessene Kritik hat zuerst zu würdigen, daß hier ein eschatologischer Entwurf vorgelegt wurde, der - im Rahmen des Möglichen -auch Gedanken aus fremden Religionen berücksichtigt und ernst nimmt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Theologisch unproblematisch sind seine spekulativen Aussagen über das Eschaton, mit denen er sich im Einklang mit der gegenwärtigen Diskussion befindet. Seine religionsgeschichtlichen Ausführungen lassen darüber hinaus deutlich werden, daß die Zwischenzustandsproblematik nicht so einfach übergangen werden sollte. Sie legen den Schluß nahe, daß sich der Vorgang des Sterbens und des Todes sich sehr viel differenzierter darstellt als bisher angenommen wurde. Der Tod wurde in der neuzeitlichen Theologie als feststehende Grenze angesehen. Diese Vorstellung von einer feststehenden Grenze ist mit der Diskussion um den "Zwischenzustand" und um eschatologische Dehnungsfristen in die Krise gekommen. Analog zu dem Unvermögen anderer Wissenschaften, die Grenzen ihrer Gegenstände zu beschreiben (siehe z.B. die Unschärferelation der Quantenmechanik), vollzieht sich diese Grenzverwischung auch im Bereich des Todes (am deutlichsten in der Medizin sichtbar). Dieser Eindruck erhärtet sich, wenn auch die Problematik der Todesnähe-Erlebnisse berücksichtigt wird.

Daß Hick in seinem eschatologischen Entwurf die Möglichkeiten mehrerer Leben in mehreren Welten erwägt, zeigt, welches Vakuum in der christlichen Eschatologie durch den Wegfall der Fegefeuerlehre und des Zwischenzustandes entstanden ist. Wie groß dieses Vakuum ist, wird gerade dadurch deutlich, daß Hick gleich nach mehreren Leben in mehreren Welten greifen muß, um dieses Vakuum in der christlichen Glaubenslehre angemessen ausfüllen zu können. Ob er damit der Wahrheit gerecht wird?

Die Aufdeckung der "ewigen Wahrheit" jedenfalls ist einem anderen Zeitpunkt vorbehalten. Mit den Worten Hans Küngs: "Sicher, was die Zukunft betrifft, ist nur das eine: am Ende sowohl des Menschenlebens wie des Weltenlaufs werden nicht Buddhismus oder Hinduismus stehen, aber auch nicht der Islam und nicht das Judentum. Ja, am Ende steht auch nicht das Christentum. Am Ende wird überhaupt keine Religion stehen, sondern steht der eine Unaussprechbare selbst, auf den alle Religion sich richtet, den auch die Christen erst dann, wenn das Unvollkommene dem Vollkommenen weicht, ganz so erkennen, wie sie selbst erkannt sind: die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht. Und am Ende steht so zwischen den Religionen nicht mehr trennend ein Prophet oder ein Erleuchteter, steht nicht Muhammad und nicht der Buddha. Ja, auch der Christus Jesus, an den die Christen glauben, steht hier nicht mehr trennend. Sondern er, dem nach Paulus dann alle Mächte (auch der Tod) unterworfen sind, "unterwirft sich" dann Gott, damit Gott selbst ("ho theos") -oder wie immer man ihn im Osten nennen mag - wahrhaft nicht nur in allem, sondern alles in allem sei (1 Kor 15,28)."(40) In diesem Augenblick erst wird auch die Verwandlung in die Gottesebenbildlichkeit, in die Person, die "ich ja immer sein wollte und als (die) mich Gott von Anfang an gemeint hat"(41), endlich Ereignis. Denn bisher "ist noch nicht offenbar, was wir sein werden."(42) Was wir aber sein werden, kann auch davon abhängen, wie wir uns zu der Liebe stellen, die der christliche Glaube mit Gott selbst identifiziert.(43) Dieser Grundtenor ist sowohl bei May wie auch in den neueren Todesnäheberichten durchgängig.

Daß sich diese Todesnähe-Erlebnisse also nicht auf eine Religion oder Glaubensform festlegen lassen, ist kein Argument gegen sie, sondern vielmehr die Bestärkung ihrer Echtheit. Dadurch tragen sie immer noch den Charakter der Vorläufigkeit und nicht des Endgültigen. Sie bleiben innerhalb der Grenzen unseres irdischen Lebens, das ein neues Sein nur im Glauben kennt. Was hier an der Schwelle zwischen Leben und Tod passiert, kann unser Geschick noch entscheidend beeinflussen. Das Leben ist hier noch nicht endgültig beendet, unkorrigierbar. Das ist erst der Fall, wenn es kein Zurück mehr gibt, wenn der Übergang vollzogen ist. Auch das angedeutete "Jenseits" ist somit kein echtes Jenseits. Diese Schwellenerfahrungen sind ja immer noch Teile dieses Lebens, dieser vergänglichen Existenz. Das ewige Leben in der Gemeinschaft bei Gott bleibt trotz und weil dieser Todesnähe-Erfahrungen Gegenstand des Glaubens. Einzig und allein läßt sich aus solchen Erlebnissen ableiten, daß mit dem Tode noch nicht alles aus sein muß. Im Gegenteil: Vieles spricht sogar dafür, daß wir in Gott, unserem einzigen Jenseits, gnädig geborgen werden - mit unserer Lebensgeschichte, mit unserer ganz persönlichen Identität.(44) Ein Jenseits aber ohne Gott, seine Liebe, seine Gnade - das wäre die Hölle. Rufen wir uns in Erinnerung, was May über die Bedeutung des Scheintodes seiner Großmutter für sein eigenes Leben sagte:

"Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod."

"... nicht aber an den Tod." - Über den Tod wird heute wieder viel geredet. Die Beschäftigung mit May gerade hinsichtlich der Frage nach dem Tod ist lohnend und faszinierend. May nahm seinen eigenen Tod in der schriftstellerischen Phantasie vorweg, um sich neu auf die Grundlagen seines Lebens zu besinnen. Auf das Leben selbst werden wir durch ihn verwiesen, auf die Liebe, die unser Leben erst lebendig werden läßt. Die Liebe setzt den Menschen in Bewegung. Auch den Menschen, der sich vom Jenseits faszinieren läßt. Auf liebevolle Weise wird sein Blick vom Jenseits weg wieder auf das Diesseits gelenkt. Das Diesseits, das irdische Leben erscheint in der Sterbevision in einem neuen Licht. Die Liebe verleiht dem Leben eine Würde, die auch der Tod nicht trüben kann. Das ist das Geheimnis des Jenseits: Es läßt uns auf behutsame Weise das Gewicht und die Wichtigkeit des Diesseits erkennen.(45) Wie wir hier unser Leben leben, davon kann auch abhängen, wie es uns im Tod ergehen wird. Bedroht sind wir allemal: der Liebestod lauert im Leben wie im Tod. Damit erweist sich aber das Leben selbst als das Geheimnis, welches erst im Sterben endgültig gelüftet wird.

Links:

Karl May and Dissociate Identity Disorder, a Study of Dr. William E. Thomas, Australia.

Homepage der Karl-May-Gesellschaft

Zur Homepage


[Menschen]
Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee