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Schafft sich der Glaube
seine Wirklichkeit selbst?*

Religiöse Phänomene in konstruktivistischer Weltsicht

Aus: Pastoraltheologie 81, 429-442, ISSN 0720-6259
© Vandenhoeck & Ruprecht 1992

Eckhard Etzold

  1. Selbsterfüllende Prophezeiungen
  2. Glaubensüberzeugungen und Wirklichkeit
  3. Wirklichkeitsveränderung durch Glaubenstechnik?
  4. Die Rückbezüglichkeit religiöser Glaubensauffassungen
  5. Eine Wirklichkeit - verschiedene Wirklichkeitssichten
  1. Selbsterfüllende Prophezeiungen

    Im Jahre 1958 begann der koreanische Pfarrer Paul Yonggi Cho in Seoul mit einer kleinen Zeltmission in den Armenvierteln der Stadt. Und er betete darum, die für ihn ungeheuer große Zahl von 150 Menschen für seine Gemeinde zu gewinnen:

    "Zu der Zeit konnte ich nur für 150 Leute Glauben aufbringen. Ich dachte, daß ich bis in alle Ewigkeit mit so vielen Leuten zufrieden sein würde. Also steckte ich mein Ziel ganz klar mit 150 Leuten fest, und ich schrieb es auf ein Stück Papier und hängte es an die Wand. Ich schrieb diese Zahl auch auf andere Papierstückchen und legte sie überall hin (...). Wo immer ich mich hinwandte, sah ich die Zahl 150. Schließlich war ich bis zum Rand voll damit. (...) Ich schlief mit der Zahl 150 in meinen Träumen. Ich hatte diese Zahl in meinem Herzen, obwohl sich in der Gemeinde nur ein paar wenige Mitglieder befanden. Nach einer Zeit predigte ich, als ob ich zu 150 Menschen predigte, und ich bewegte mich wie ein Pastor einer Gemeinde mit 150 Mitgliedern. Noch bevor das erste Jahr vorüber war, hatte ich 150 Mitglieder."(1)

    Sein Glaube hatte die erste Wirkung gezeigt. Heute ist aus diesen spärlichen Anfängen (laut Klappentext) "die größte Gemeinde der gesamten Kirchengeschichte" hervorgegangen, mit über 600 000 Mitgliedern. Ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde! Wie kann das angehen? Besitzt der Glaube tatsächlich die Kraft, die Wirklichkeit in so gravierender Weise zu verändern? Kommen solche Gebetserhörungen auf übernatürliche Weise zustande oder liegen ihnen vielleicht ganz natürliche Gesetzmäßigkeiten zugrunde? Einer, der sich mit solchen Fragestellungen eingehender beschäftigt hat, ist der österreichische Psychotherapeut und Kommunikationsforscher Paul Watzlawick, der in den Vereinigten Staaten lebt und in Deutschland durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannt geworden ist. Seine Überlegungen gipfeln in der These: Das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ist ein Produkt unserer Glaubensansichten. Unsere eigenen Glaubensüberzeugungen beeinflussen unser Verhalten, und unser Verhalten prägt die Wirklichkeit, die wir erleben.

    So mag es auch im Fall des koreanischen Pfarrers Paul Yonggi Cho zugegangen sein. Seine feste Überzeugung, 150 Menschen für seine Gemeinde gewinnen zu können, erschuf eine neue Wirklichkeit, die es ohne seinen Glauben nicht gegeben hätte: Er stellte sich innerlich ganz auf die Gemeindegröße von 150 Leuten ein und so verhielt er sich auch: Er trat selbstbewußt vor anderen auf wie ein Pfarrer, der 150 Gemeindemitglieder hat. Das war beeindruckend und wirkte auf die Menschen anziehend.

    Watzlawick nennt den hier beobachteten Vorgang eine "selbsterfüllende Prophezeiung". Er erklärt dazu:
    "Eine aus einer selbsterfüllenden Prophezeiung resultierende Handlung (...) schafft erst die Voraussetzungen für das Eintreten des erwarteten Ereignisses und erzeugt in diesem Sinne recht eigentlich eine Wirklichkeit, die sich ohne sie nicht ergeben hätte."(2)

    Natürlich besitzt eine solche selbsterfüllende Prophezeiung zunächst keinen Wahrheitsgehalt. Es handelt sich um eine Zukunftsaussage, die für wahr oder falsch gehalten werden kann, aber doch zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Ihre Wirklichkeit produziert diese selbsterfüllende Prophezeiung, indem man -bewußt oder unbewußt - auf sie reagiert. Sie schafft sich selbst die Bedingungen ihrer eigenen Erfüllung, sie wird "rückbezüglich".

    Aber nicht immer verändern Glaubensüberzeugungen die Wirklichkeit in so positiver Weise. Sie können sich auch zum Nachteil der Person auswirken. Watzlawick schildert ein Beispiel aus dem medizinischen Bereich:

    "Man bewundert Menschen, die gelassen in den Tod gehen. 'Anständiges', gefaßtes Sterben, das nicht mit dem Unvermeidlichen hadert, galt und gilt in den meisten Kulturen als Ausdruck von Weisheit und ungewöhnlicher Reife. Um so überraschender und ernüchternder sind die Ergebnisse der modernen Krebsforschung. Sie legen nahe, daß die Sterblichkeitsrate jener Patienten höher ist, die sich in reifer, abgeklärter Weise auf den Tod vorbereiten."(3)

    Hier dürfte die gedankliche Vorwegnahme des eigenen Todes zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Wer sich dagegen in unreifer Weise gegen den Tod auflehnt und vehement ans Leben klammert, hat wesentlich bessere Überlebensaussichten. Doch sein Sterben verläuft, wenn es soweit ist, in der Regel nicht so friedlich wie bei denen, die sich in reifer, abgeklärter Weise auf den Tod vorbereiten. Auch dieser Fall ist mit einer Verunsicherung unserer allgemeinen Wirklichkeitsauffassung verbunden, da wir es ja aufgrund unserer christlichen Kulturprägung für lebensdienlicher halten, dem Tod auf gelassene und abgeklärte Weise zu begegnen.

    Wir erleben das, was wir erwarten. Diese Einsicht unterscheidet sich fundamental von der Weltbetrachtung vergangener Epochen, die davon ausging, daß es eine von uns unabhängige äußere, objektive Welt gibt, die wir als Beobachter lediglich wahrzunehmen brauchen, um ihr Wesen beschreiben zu können. Doch so einfach sind die Dinge nicht. Mittlerweile hat sich gezeigt, daß der Vorgang des Wahrnehmens bereits das beeinflußt, was wir wahrnehmen: Unsere Vorerwartungen bestimmen entscheidend, was wir erleben und zu sehen bekommen. Sie werden zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Das gilt nicht nur für soziale Realitäten, sondern auch für biologische und physikalische Realitäten.(4) Watzlawick bringt dieses neue Wirklichkeitsverständnis auf den Punkt, wenn er den Schluß zieht:

    "Bei den selbsterfüllenden Prophezeiungen (...) handelt es sich um Phänomene, die nicht nur an den Grundlagen unserer persönlichen Wirklichkeitsauffassung rütteln, sondern auch das Weltbild der Wissenschaft in Frage stellen können. Ihnen allen gemeinsam ist die offensichtlich wirklichkeitsschaffende Macht eines bestimmten Glaubens an das So-Sein der Dinge"(5). Wo dieses Element des Glaubens oder der Überzeugung fehlt, fehlt auch die Wirkung.

    Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und allgemein formulieren: Die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen und über die wir uns verständigen, ist nicht die Wirklichkeit so wie sie ist, sondern lediglich ein Konstrukt unserer Glaubensüberzeugung, daß sie so oder so beschaffen sei. In der Literatur hat sich für diese Art der Weltbetrachtung der Name Konstruktivismus eingebürgert, der insofern etwas irreführend ist, als dieser Begriff schon in anderen Zusammenhängen (zum Beispiel der Architektur) begegnet.

  2. Glaubensüberzeugungen und Wirklichkeit

    Glaube und Prophezeiungen: Das sind Begriffe, die normalerweise im Bereich des Religiösen zuhause sind. "Wie du glaubst, so geschehe dir", das wird in der Kirche gepredigt, und das würde Watzlawick auch unterstreichen. Von daher liegt es nahe, gerade im christlichen Umfeld weitere Beispiele für den Zusammenhang von Glauben und Wirklichkeit ausfindig zu machen:

    Jesus selbst wußte schon um die wirklichkeitsverändernde Kraft des Glaubens. Auf dem Weg nach Jericho lag am Wegrand ein Blinder, der Jesus schreiend um Hilfe bat: "Und Jesus wandte sich ihm zu und fragte ihn: 'Was willst du, soll ich dir tun?' Der Blinde antwortete: 'Rabbuni, daß ich sehen kann!' Und Jesus sagte zu ihm: 'Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen.' Und auf der Stelle konnte er sehen und folgte ihm nach auf dem Weg." (Mk 10,46-52)

    Von jeher ist in der katholischen Kirche der Wunderglaube besonders ausgeprägt gewesen. Wo fest mit übernatürlichen Heilungen gerechnet wird, wie in dem südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes, da kommen die Pilger weither mit ihren Kranken, und es wird seit 1858 von übernatürlichen Krankenheilungen berichtet.

    Bisher wurden über 5000 Heilungen gemeldet, von denen bis Ende 1959 insgesamt 58 von der katholischen Kirche als wunderbar anerkannt worden sind.(6) Wie auch immer diese Krankenheilungen zustande kommen, eines liefern sie auf jeden Fall: den Beweis für die Wirksamkeit des Wunderglaubens. Das Gegenteil ereignete sich jedoch in der Reformationszeit: Bevor die Reformation sich 1542 endgültig in der Stadt Regensburg, damals auch eine Wallfahrtsstätte, durchsetzte, wurden hier im Jahr 1521 nicht weniger als 209 Wunder registriert. Danach wurden in Regensburg keine Wunder mehr beobachtet.(7) Das plötzliche Ausbleiben der Wunder kann wiederum als eine Folge des protestantischen Glaubens gedeutet werden, der ihnen keinen besonderen Wert beimißt.

    Wo der Wunderglaube fehlt, da bleiben auch die Wunder aus. Das galt auch schon für die Zeit Jesu, wie der Evangelist Markus zu berichten weiß.(8)

    Glaubensüberzeugungen beeinflussen unsere Wirklichkeitserfahrungen. Das wird auch durch Beobachtungen in fremden Kulturkreisen nahegelegt: In den Religionen, in denen der Glauben an eine Seelenwanderung verbreitet ist, werden häufiger Vorkommnisse bekannt, die diesen Glauben zu bestätigen scheinen. Mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden, spürte der Parapsychologe Ian Stevenson während eines Zeitraumes von ca. 15 Jahren 600 solchen Fällen nach(9):

    Nahezu ausnahmslos handelt es sich um Kinder, die im Alter zwischen anderthalb und vier Jahren spontan beginnen, von Personen zu erzählen oder Namen zu erwähnen, die in der eigenen Familie unbekannt sind. Es werden auch fremde Ortschaften erwähnt, in denen das Kind vorher schon einmal gelebt haben soll, wobei zwischen "Tod" und "Wiedergeburt" nur wenige Jahre oder auch nur wenige Monate oder Wochen liegen. Manchmal kündigt eine Person vor ihrem Tod an, als Kind einer Verwandten zurückzukehren (mit Hinweis auf besondere Erkennungszeichen in Form von Narben oder Muttermalen), das später geborene Kind zeigt dann tatsächlich Ähnlichkeiten mit der zuvor verstorbenen Person. Allen diesen Fällen ist gemeinsam: Werden von Seiten der Angehörigen Nachforschungen angestellt, so bestätigen sich die Angaben des Kindes. Fahren sie mit dem Kind an den von ihm genannten Ort, kommt es zu erstaunlichen Wiedererkennungsphänomenen.

    Diese Berichte, die oft sehr spannend zu lesen sind, stammen alle aus Ländern, in deren Kultur der Glaube an die Seelenwanderung vorherrscht. Erstaunlich ist dabei, daß die Häufigkeit solcher Fälle schwankt: Der Durchschnitt liegt bei einem Fall auf tausend Einwohner in Indien, bei den Drusen im Libanon liegt der Wert am höchsten: ein Fall auf fünfhundert Einwohner.(10) Dagegen kommen solche Fälle so gut wie überhaupt nicht in den christlich geprägten Ländern vor.(11) Daß der Wert bei den Drusen im Libanon mit einem Fall auf fünfhundert Einwohnern am höchsten liegt, erklärt Stevenson damit, daß hier eine besondere Form des Glaubens an die Seelenwanderung verbreitet ist: Im Unterschied zu allen anderen Religionen glauben die Drusen an die sofortige Wiederverkörperung nach dem Tod, während bei den Hindus und bei den Buddhisten verschieden lange Zwischenzeiten zwischen Tod und Wiederverkörperung angenommen werden.(12) Diese schwankenden Häufigkeiten sind nur begreifbar auf dem Hintergrund, daß ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Glaubensüberzeugungen und ihrer entsprechenden religiösen Wirklichkeit besteht.

    Ein Fall, wo sich Wirklichkeitsveränderungen durch Glaubensüberzeugungen scheinbar nicht mehr restlos durch die Wirksamkeit selbsterfüllender Prophezeiungen erklären lassen, betrifft eine Untersuchung über die Wirksamkeit des Gebets für Kranke. So wurde Mitte der 80ziger Jahre in den USA eine Doppelblindstudie von Dr. Randy Byrd, einem Kardiologen aus San Francisco durchgeführt, die die Auswirkungen von Gebet auf die Verfassung von Herzpatienten untersuchen sollte:

    "In einer doppelblinden, randomisierten Studie organisierte Dr. Byrd für 192 Patienten der Koronarstation des San Francisco General Hospital Gebetsgruppen, 201 vergleichbare Patienten bildeten die Kontrollgruppe. Den in ganzen Land mobilisierten Fürbittern - Protestanten, Katholiken und Juden - wurden die Namen, die Diagnose und der Gesundheitszustand der Patienten mitgeteilt, für die sie beten sollten. Auf jeden Patienten der 'Verumgruppe' entfielen schließlich 5 - 7 allein oder in Gruppen Betende. Und Gott erhörte die Gebete. Patienten, die bei der Randomisierung Glück hatten und nicht in die Kontrollgruppe gerieten, benötigten laut Dr. Byrd signifikant seltener Antibiotika (3 gegenüber 16), erlitten seltener Lungenödeme (6 gegenüber 18) und mußten (im Gegensatz zu 12 Patienten der Kontrollgruppe) in keinem einzigen Fall intubiert werden. 'Diese Studie liefert den wissenschaftlichen Beweis für das, was Christen seit jeher glauben -daß Gott sie erhört', erklärte Dr. Byrd (...). Die Fakten der Untersuchung wurden von der American Heart Association als Vortrag angenommen. Aus: Medical Tribune, 14.3.1986"(13)

    Gesetzt den Fall, daß diese Untersuchung nach den strengen Regeln medizinischer Erhebungen durchgeführt wurde, so ist die Verbesserung des Gesundheitszustandes in der Versuchsgruppe nun allerdings kein Beweis dafür, daß Gott die Gebete erhört hat, sondern lediglich ein Beleg dafür, daß Beten nicht ohne Einfluß auf die Wirklichkeit bleibt. Ein New-Age-Verfechter würde diese Gebetswirkung zum Beispiel durch Fernheilungskräfte erklären, die von den Betenden ausgingen. Ob die Wirkung des Gebetes von Gott oder von den Menschen ausging, die gebetet haben, läßt sich also nicht sicher bestimmen. Die Beantwortung dieser Frage hängt wiederum von dem Glaubensüberzeugung ab, die man jeweils einnimmt.

    Doch schauen wir uns jetzt ein Beispiel an, wo dieser Zusammenhang von Glaube und Wirklichkeit im religiösen Bereich bedenklich wird: Ob jemand von Gott erwählt oder verworfen ist, zeigt sich schon in diesem Leben. Davon sind die Nachkommen der Puritaner in Nordamerika überzeugt. Und weil sie zu den Erwählten gehören, dürfen sie sich nicht gleichstellen mit den anderen: Sie leben sparsam, aber nicht geizig. So wie es Gott erwartet. Und sie sind jetzt schon erfolgreich und wohlhabend geworden. Das allein beweist in ihren Augen schon, daß Gott auf ihrer Seite ist. Ein kritischer Beobachter, der ihr Verhalten von außen betrachtet, würde jedoch im Sinne Watzlawicks entgegnen: Ihr glaubt, Gott hat euch erwählt, und so verhaltet ihr euch auch: konservativ und nicht verschwendungssüchtig. Aber weil ihr euch so verhalten habt, als wäret ihr erwählt, habt ihr euch den Segen selbst geschaffen.

    Ein anderer Bereich, in dem Glaubensüberzeugungen einen prägenden Einfluß auf die erlebte Wirklichkeit haben, ist die Seelsorge in freien charismatischen Gemeinden. Hier wird oft ein radikaler Bruch mit der Psychologie vollzogen. Auffälligkeiten, die ein psychotherapeutisch geschulter Seelsorger auf entsprechende unbewußte Fehlhaltungen zurückführen würde, haben hier ihren Ursprung in dämonischen Belastungen. So sieht es Wolfhart Margies von der Philadelphia-Gemeinde Berlin:

    "Als Geisterwesen ohne Körper haben die Dämonen den Drang, in eine Person zu fahren, um sich in ihrer Seele und ihrem Körper auszudrücken. Für böse Geister muß die Existenz außerhalb von Menschen offensichtlich Unlust erzeugend und peinigend sein."(14)
    Hat man sich erst einmal auf solch ein Weltbild eingelassen, so findet man es auch bestätigt. Margies selbst stellt fest:
    "In dem Maße, wie ich biblische Methoden und Anschauungsbeispiele zur Norm meiner seelsorgerlichen Praxis machte, wurde mir die Umfänglichkeit und Mannigfaltigkeit dämonischer Manifestationen zunehmend deutlich."(15) Und er scheint damit Erfolg zu haben.

    Glaubensüberzeugungen werden durch die Wirklichkeitserfahrungen, die sie hervorbringen, bestätigt. Doch das ist noch nicht alles. Glaubensüberzeugungen bewirken nicht nur neue Wirklichkeitserfahrungen. Es werden auch bestimmte Bereiche der Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen.(16) Wer an seine göttliche Erwählung glaubt, scheint in seiner Weltsicht einen blinden Fleck zu haben: er sieht zwar den Segen, den er empfängt, er ist jedoch blind dafür, wie er sich selbst durch sein Verhalten den materiellen Segen schafft. Wer an die Existenz dämonischer Mächte glaubt, wird ihre Bedrohlichkeit immer wieder zu spüren bekommen, und aus der Sicht eines psychologischen Menschenbildes doch nichts anderes wahrnehmen als die Realität des Unterbewußtseins im menschlichen Gegenüber, das seinen eigenen Gesetzen folgt. Wer an Wunder glaubt, und auch meint, welche erfahren zu haben, neigt aus der Sicht unseres modernen Weltempfindens dazu, alles auszublenden, was als natürliche Erklärung des Wunders gelten könnte.

    So herum zu argumentieren sind wir gewöhnt. Es ist jedoch aus konstruktivistischer Weltsicht durchaus legitim, den Spieß einmal herumzudrehen: Die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften haben den Glauben an Wunder oder göttliche Eingriffe in unseren Augen gründlich widerlegt. Ständig wird die moderne Grundüberzeugung scheinbar unter Beweis gestellt: Die Wirklichkeit gehorcht unveränderlichen Naturgesetzen. Für mystische Gotteserfahrungen ist daher in unserem Weltbild kein Raum mehr: Wenn Gott sich uns mitteilen will, dann tut er das nie anders als durch Menschen, auf menschliche Weise. Wenn Gott die Welt verändern will, dann hält er sich dabei an die Naturgesetze. Nie handelt er gegen die Naturgesetze. Und wenn jemand Gott erfahren will, muß er Gott im Menschen suchen. Woanders als unter Menschen ist Gott nicht zu finden. Gott selbst ist nicht erfahrbar.

    Das ist die Überzeugung vieler europäischer Christen, die trotz Naturwissenschaft und Aufklärung am Gottesglauben festhalten wollen. Man glaubt an Gott, aber man rechnet nicht damit, ihn erfahren zu können. Und folgerichtig werden heute auch keine Gotteserfahrungen mehr gemacht. Doch auch diese Überzeugung, Gott sei nicht erfahrbar, ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: Wer von der Nichterfahrbarkeit Gottes überzeugt ist, wird nur das wahrnehmen, was ihn in seiner Überzeugung bestätigt. Was dagegen für eine mögliche Gotteserfahrung sprechen könnte, wird er ausblenden und nicht wahrnehmen. Und mit den Wundern dürfte es sich ähnlich verhalten: wir erleben keine Wunder, weil wir sie gar nicht erst erwarten.(17) Und was uns an Wunderbarem widerfahren könnte, wird nicht wahrgenommen. Es wird ausgeblendet. Fazit: Auch unsere moderne, aufgeklärte Weltsicht ist im Sinne Watzlawicks rückbezüglich und dürfte sich die Wirklichkeitsbeweise für ihre Richtigkeit selbst erschaffen.(18)

  3. Wirklichkeitsveränderung durch Glaubenstechnik?

    Wenn die eigenen Überzeugungen und Glaubensansichten solchen Einfluß auf die Wirklichkeitserfahrung nehmen können, liegt freilich auch der Gedanke nahe, diese Glaubenswirkungen gezielt hervorzurufen, sozusagen durch eine regelrechte Glaubensanleitung. Das hat der schon zu Anfang erwähnte Pfarrer Cho getan. Er hatte aus seinen Anfangserfahrungen mit der Zeltmission in den Armenvierteln von Seoul gelernt und empfiehlt, das, worum man betet, sich eindrücklich und konkret vor Augen zu malen:

    "Wenn Sie sich als kinderloses Ehepaar nach einem Kind sehnen und nach dem Glück, das dieses mit sich bringt, dann beginnen Sie, in Ihren Träumen und Visionen dieses Kind zu sehen. Sie (...) sollten nicht nur beten und Gott um ein Kind bitten, sondern auch anfangen, ein kleines Baby zu sehen, einen Jungen oder ein Mädchen, fröhlich und gesund, das Ihr Leben mit Glück erfüllt."(19)

    Der Erfolg wird schon vorausgesehen. Diese Gebetsanleitung ist einer Methode des Psychotrainings nachgebildet, die als Visualisation bezeichnet und seit längerem bei Leistungssportlern eingesetzt wird, um sie zu Höchstleistungen zu motivieren. Diesem Psychotraining verdankten unter anderem Sowjetische Athleten ihre überragenden Ergebnisse bei den Olympischen Spielen. Der Bremer Professor Fritz Stemme schrieb 1987 im "Spiegel" über die Visualisation:

    "Dabei werden innere Bilder, geistige Vorstellungen und positive Bewußtseinsinhalte im Zustand tiefer Muskelentspannung produziert und durch wiederholtes Üben im Gehirn festgeschrieben. Wie in Hypnose kann man nicht mehr selbst unterscheiden, was wahr oder nur simuliert ist. Der Organismus reagiert auf diese Informationsdefizite, indem er dem Athleten im Wettkampf Leistungen ermöglicht, die er im Geiste bereits vollbracht hat. (...) Die neuen Forschungsergebnisse zeigen, daß man auf diese Bilder angewiesen ist, Worte allein reichen nicht. Denn die rechte Gehirnhälfte ist nicht nur für kreative Leistungen zuständig, sondern auch für das Raumgefühl und die Intuition. Diese Vorgänge sind schwer zu verbalisieren. Hierfür müssen praktisch 'Filme' produziert werden, die die Athleten bei Bedarf wie Kassetten in einen inneren Videorekorder einlegen."(20)

    Pfarrer Cho empfiehlt dieses Training nun auch für das persönliche Gebet:

    "Wir müssen lernen, uns die Antworten vorzustellen, bevor sie Gott uns gibt - die Dinge, die nicht sind, sehen, als wären sie."(21)

    Und sein Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Ein leichtes Unbehagen läßt sich trotzdem nicht beiseite schieben: Was führt hier zum Erfolg? Ist es Gott, der das Gebet erhört, oder schafft sich hier die Religion ihre Wirklichkeit selbst?

    Man könnte freilich so argumentieren: Der grandiose Erfolg des Pfarrers Cho hat weniger mit Gott als vielmehr mit seiner Person zu tun und mit gezielt eingesetzten Psychotechniken. Und außerdem ist es gefährlich: Was ist, wenn das Erhoffte nicht eintritt, wenn zum Beispiel das Ehepaar kinderlos bleibt, trotz Gebet und Visualisation? Dann geht mit der erhofften Gebetserhörung auch der Gottesglaube verloren. Pfarrer Cho würde solche Bedenken als bösartige Unterstellungen zurückweisen. Seine Wirklichkeit bestätigte ihm auf der ganzen Linie, wie sehr Gott heute wieder wirkt.

    Sehen wir uns jetzt einen Fall an, wo das Gebet erfolgreich war. Eberhard Mühlan, ein Bibelschullehrer bei den "Geschäftsleuten des vollen Evangeliums", berichtet:

    "Ich weiß, wie einmal der Heilige Geist in meiner Gebetszeit zu mir sprach. Unser Wagen war zu alt geworden und konnte für meine Reisen und unsere Familie nicht mehr richtig benutzt werden. Mich beschäftigte die Frage, wie es weitergehen solle und welches Modell das richtige wäre. Da kam mir der Impuls für ein recht ungewöhnliches Modell zu beten und es von Gott als ein Geschenk zu beanspruchen. Zuerst wies ich diesen Gedanken als eine Versuchung von mir, aber als er mehrmals wiederkam und ich mit meiner Frau darüber beriet, nahmen wir es als ein 'Rhema' Gottes, welches wir im Glauben in Anspruch nehmen sollten. Es war nicht einfach daran festzuhalten, als die Monate verstrichen und die Anschaffung eines neuen Wagens immer dringlicher wurde. Ich muß auch zugeben, daß es Tage gab, an denen ich zweifelte und mich nach etwas anderem umschaute, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie Gott seine Verheißung zu verwirklichen gedachte. Aber Gott hat seinen eigenen Zeitplan und arrangiert die Umstände. Er lenkte es, daß ein Christ zu einer Besprechung in meine Heimatstadt kam. Als ich ihn hinterher zum Bahnhof brachte und wir uns beiläufig über unsere Familien unterhielten, sagte er plötzlich: Eberhard, mir ist klar geworden, daß du mein Auto haben sollst. Mir klappte der Unterkiefer herunter als sich herausstellte, daß er genau das Modell besaß, das Gott mir Monate vorher in meiner Gebetszeit zugesprochen hatte."(22)

    Nun hat Mühlan dieses Erlebnis freilich so erzählt, daß der Leser den Eindruck gewinnen könnte, diese Gebetserhörung sei auf übernatürliche Weise durch das Wirken des heiligen Geistes zustande gekommen. Das ist ja auch beabsichtigt. Doch man kann sich nicht vorstellen, daß Mühlan die ganze Zeit untätig war und die Hände in den Schoß legte, bis Gott für ihn den Fall erledigt hatte. Man kann es sich nicht vorstellen, weil Mühlan in demselben Buch, in dem er dieses Erlebnis berichtet, dem Gläubigen, ähnlich wie Pfarrer Cho, Ratschläge und Prinzipien an die Hand gibt, wie man sich verhalten soll:

    "In der Zeit, in der du auf das wegweisende Reden Gottes wartest, ist es wichtig, daß du in Bewegung bleibst, so wie ein Auto besser in eine Richtung zu lenken ist, wenn es langsam rollt. Jedes Abkapseln und Verkrampfen kann die Situation nur schwieriger machen."(23)

    Auf diese Weise produziert der Gläubige selbst eine Atmosphäre, die das Eintreffen des erwarteten Wunders im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung vorbereitet. Ob man hier jedoch noch von einem göttlichen Eingriff oder von "Führung durch den Heiligen Geist" reden kann, ist fraglich.(24) Was Mühlan für einen göttlichen Eingriff hielt, ließe sich auch als Wirkung des Unbewußten erklären, dessen Einfluß durch Mühlans eigene Ratschläge zur angemessenen Gebetshaltung sogar noch besonders verstärkt wird. Für eine theologische Beurteilung von Glaubenserfolgen wird es von daher in besonderem Maße darauf ankommen, inwieweit Erklärungsmodelle im Sinne von selbsterfüllenden Prophezeiungen oder unbewußten Manipulationen des Ereigniszusammenhanges beim Zustandekommen der Glaubenswirkung auszuschließen sind. Erst wenn das der Fall ist, wird man von einem übernatürlichen Eingriff Gottes in den Wirklichkeitszusammenhang der Welt reden können, der für sich Glaubwürdigkeit beanspruchen darf.

  4. Die Rückbezüglichkeit religiöser Glaubensauffassungen

    Der Wundergläubige sieht überall Gottes Wirken. Der skeptische Christ ist davon überzeugt: Gottes Handlungsspielraum bewegt sich nur im Rahmen der Naturgesetze und ansonsten gibt er sich nicht zu erkennen. Das sind zwei verschiedene Wirklichkeitssichten. Und jeder findet bestätigt, was er erwartet hat. Das liegt begründet im menschlichen Unvermögen, die Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie wirklich ist. Denn was wir als Wirklichkeit ausgeben, ist nur unser Bild von der Wirklichkeit. Und das fällt verschieden aus, je nachdem, aus welcher Glaubensperspektive wir die Welt betrachten. Mit angeblichen Wirklichkeitsbeweisen für die Richtigkeit der eigenen Glaubensüberzeugung sollten wir vorsichtig sein. Das meint auch Paul Watzlawick: "Wer erfaßt hat, daß seine Welt seine eigene Erfindung ist, muß dies den Welten seiner Mitmenschen zubilligen. Wer weiß, daß er nicht recht hat, sondern daß seine Sicht der Dinge nur recht und schlecht paßt, wird es schwer finden, seinen Mitmenschen Böswilligkeit oder Verrücktheit zuzuschreiben(.)"(25)

    Auch der christliche Glaube insgesamt ist nach Watzlawick rückbezüglich und kann daher den Beweis seiner Richtigkeit nicht aus sich selbst gewinnen:

    "Wo einmal der Glaube an die Wahrheit und Verbindlichkeit der göttlichen Offenbarung besteht, leitet sich daraus ein scheinbar geschlossenes Weltbild ab, in dem der Gläubige Antworten auf seine Fragen und Zweifel erhält. Aber wie steht es mit dem Glauben selbst - worauf gründet er sich und woraus leitet er sich ab? In der christlichen Glaubenslehre ist er ein Akt der Gnade Gottes und wird damit rückbezüglich."(26)

    Kein Geringerer als Martin Luther hat diesen Zirkelschluß bereits scharf herausgearbeitet und zur Grundlage evangelischer Theologie gemacht:

    1. Abhängigkeit: Gottesvergewisserung allein durch den Glauben

    Ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung formuliert Luther:

    "Also daß ein Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott."(27)

    Die erfahrene Wirklichkeit Gottes ist vom Glauben des Menschen abhängig: Der Gott, der uns in der Wirklichkeit begegnet, ist scheinbar ein Konstrukt der eigenen Glaubensüberzeugung.

    2. Abhängigkeit: Der Ursprung des Glaubens in Gott

    Doch gerade so als wolle sich Luther gegen ein konstruktivistisches Mißverständnis seines Gottesbegriffes absichern, besteht er darauf:

    "Denn wider Du noch ich künnten immermehr etwas von Christo wissen noch an ihn gläuben und zum Herrn kriegen, wo es nicht durch die Predigt des Evangelii von dem heiligen Geist würde angetragen"(28).

    Der Glaube des Menschen ist von Gott abhängig: Der Gottesglaube hat selbst seinen Ursprung in dem Gott, den er durch Glauben gerade vorher hervorgebracht hat. Damit schließt sich der Kreis. Ob es jedoch wirklich einen Gott gibt, läßt sich objektiv nicht beweisen, auch nicht durch Belege über die Wirksamkeit von Glaubensüberzeugungen, da es nicht möglich ist, einen Standpunkt außerhalb des Glaubenssystems einzunehmen, um von ihm aus über Existenz oder Nichtexistenz Gottes entscheiden zu können(29). Und das soll der Gläubige auch gar nicht, da es nach christlicher Überzeugung allein darauf ankommt, ob er die Selbstoffenbarung Gottes für vertrauenswürdig hält oder nicht.

  5. Eine Wirklichkeit - verschiedene Wirklichkeitssichten

    Verschiedene Glaubensüberzeugungen produzieren ihre eigene Wirklichkeit. Und alle Glaubensüberzeugungen können sich dabei auf die Erfahrung berufen, die ihnen Recht zu geben scheint. Betrachtet man sie jedoch nebeneinander, so entstehen dabei logische Widersprüche, die sich rational nicht mehr miteinander vermitteln lassen: Der "Wunderglaube" produziert genauso seine Beweise für die eigene Richtigkeit wie die moderne, aufgeklärte Grundüberzeugung, nach der das ganze Weltgeschehen durch Naturgesetze festgelegt ist. Der Glaube an die Seelenwanderung läßt sich durch entsprechende Erfahrungen genauso belegen wie die moderne (auch theologische) Grundüberzeugung, daß es kein Weiterleben einer unsterblichen Seele nach dem Tode gibt. Das stellt denjenigen, der nach dem "wahren Glauben" oder nach der "eigentlichen Wirklichkeit" fragt, vor schier unlösbare Probleme. Denn er findet sich in einer Welt wieder, in der alles möglich ist, in der auch das Gegenteil der Wahrheit wahr ist. Wodurch kommen diese Irritationen zustande?

    Das Problem ist hier nicht der Glaube oder Gott selbst, sondern wiederum unsere Auffassung von der Wirklichkeit, die dazu mißbraucht wird, die Richtigkeit bestimmter Glaubensüberzeugungen unter Beweis zu stellen. Die Wirklichkeiten, über die wir reden, sind durch uns selbst hervorgebracht worden.(30) Aber die Wirklichkeit selbst können wir nie ganz erfassen (auch wenn wir dieser Selbsttäuschung immer wieder erliegen). Das, was wir Wirklichkeit nennen, ist ein Produkt unseres "Glaubens", und sie ist damit auch mit dem Mangel an Gewißheit behaftet, der jedem Erkenntnisvorgang und allen Glaubensüberzeugungen zueigen ist.(31) Das hat die Wirklichkeit übrigens mit Gott gemeinsam: Beide entziehen sich letztlich unserer Vorstellungskraft. Von Gott wissen wir das, doch in Bezug auf die Wirklichkeit müssen wir das noch lernen.(32) Von beiden haben wir nur ein Bild in uns, ein Bild, das für uns hilfreich sein mag und doch beiden nie ganz gerecht wird: weder der Wirklichkeit, noch Gott selbst. Wie es um beide in Wahrheit steht, das werden wir erst erkennen, wenn wir den Schritt vom Glauben zum Schauen tun; wenn wir alle unsere Bilder von Gott und der Wirklichkeit zurücklassen, um ihnen selbst gegenüberzutreten.(33) Oder mit den Worten des Apostels Paulus: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin." (1. Kor 13,12) Bis dahin werden wir immer wieder herausgefordert sein, uns auch von unseren Bildern wieder zu lösen, um für neue Erfahrungen offen zu sein, neue Erfahrungen mit der Wirklichkeit und vielleicht auch mit Gott.

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee