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Eckhard Etzold

Der heilige Atem -

Physiologische und psychische
Begleiterscheinungen der Glossolalie

Seit dem Auftreten der charismatischen Bewegung in den Kirchen gibt es eine Auseinandersetzung über den Charakter des geistgewirkten "Zungen-" oder "Sprachenredens" (Glossolalie). Diese hat ihre Wurzeln in dem öffentlichen Erscheinungsbild der frühen Pfingstbewegung. In Kassel kam es beim Auftritt von zwei norwegischen "Zungenrednerinnen" 1907 zu ekstatischen Phänomenen mit starken körperlichen Symptomen. Die "Gemeinschaftsbewegung" (Gnadau) vermutete hinter diesen ekstatischen Phänomenen satanische Einflüsse, reagierte mit der "Berliner Erklärung" vom 15. 9. 1909 und formulierte eine scharfe Ablehnung der Pfingstbewegung, die bis heute nachwirkt.

Glossolalie und Ekstase

Von diesen Ereignissen wurde auch das Bild der Glossolalie in der akademischen Welt geprägt. In dem Lexikon "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" findet sich folgende Definition: "Zungenreden bezeichnet ein Reden, das weder vom Willen des Redenden ausgeht noch in seiner Macht steht, das also psychologisch zu den Automatismen zu rechnen ist. Es äußert sich im krankhaften Seelenleben und tritt vielfach auch in jenem noch unkontrollierbaren Bereich in Erscheinung, den die Parapsychologie zu erforschen sucht." (Bd. VI, Sp. 1940) Amerikanische Untersuchungen aus den Zwanziger Jahren ziehen sogar den Schluß, "daß Zungenredner im schlimmsten Fall Schizophrene, im besten Fall hysterische Neurotiker seien". (Zit. nach Malony / Lovekin 1985, S.9) Es wird sprachgleiches, sprachähnliches und stammelndes Zungenreden unterschieden. "Paulus beschreibt es als ein Reden im Zustand der Verzückung, in unverständlicher Sprache, als ein an Gott gerichtetes Beten, Loben und Danken." (RGG; Bd. VI, Sp. 1941 ) Das Zungenreden soll demnach an Ekstase und Verzückung gebunden sein. So beschrieb es auch Hermann Gunkel um die Jahrhundertwende: "Der Mensch ist bei der Glossolalie von einer gewaltigen Macht überfallen, welche ihn völlig in Besitz genommen hat. In solchen Zuständen ist er passiv." (Gunkel 1899, S. 19)

Dieser Eindruck wird durch die Schilderung der Kasseler Ereignisse aus dem Jahre 1907 bestätigt: "Es kam zu allerlei unguten Ausbrüchen einer entfesselten Ekstase, die starken Widerspruch hervorriefen. Männer und Frauen wälzten sich unter Stöhnen, Zuckungen, Krämpfen und Hallelujageschrei auf dem Boden. Auf dem Gipfelpunkt der Erregung setzte das Zungenreden ein." (Hutten 1961, S.489) Der Verstand ist demnach bei der Glossolalie ausgeschaltet, und der Geist wird als numinose, wunderkräftige Macht erfahren, die den Willen des Menschen außer Kraft setzt. Ähnliche Beurteilungen der Glossolalie sind in nahezu sämtlichen älteren exegetischen Kommentaren zu den entsprechenden Bibelstellen zu finden. Diese Einschätzung wird auch durch religionsgeschichtliche Quellen bekräftigt. Philo von Alexandria beschreibt die Ekstase als einen Vorgang, in dem der Verstand ("nous") dem göttlichen "pneuma" weicht. Ebenso ordnet der Apostel Paulus die Ekstase der Gottessphäre zu, während der Verstand den Menschen zugute kommt: "Wenn wir in Ekstase geraten, dann für Gott; doch wenn wir bei Sinnen sind, für euch!" (2. Kor. 5,13) Wenn es sich bei der Glossolalie um ein ekstatisches Phänomen handelt - wie es ja die Schilderungen der Konflikte in Korinth auch nahelegen, dann darf angenommen werden, daß auch das Bewußtsein dabei verändert ist.

Ganz anders lauten dagegen die Beschreibungen von Erfahrungen in der charismatischen Bewegung. Dazu bemerkt Arnold Bittlinger von evangelischer Seite: "Glossolalie ist eine Sprache, kein Stottern, Stöhnen, Jauchzen oder Lallen. Die Bezeichnung der Glossolalie als ,ekstatisches' Reden ist falsch und irreführend. Der Sprachenredner ist bei vollem Bewußtsein [...]. Er hat völlige Kontrolle über sein Sprechen. Er kann nicht nur jederzeit anfangen und aufhören, sondern er kann auch laut oder leise, langsam oder schnell reden." (Bittlinger 1979, S. 6) Gleiches hebt auch Heribert Mühlen hervor, der Wortführer der katholisch-charismatischen Gemeindeerneuerung in Deutschland: "Es [= das Sprachenreden] ist nicht - wie viele Bibelübersetzungen nahelegen - ein ,verzücktes' oder ,ekstatisches' Reden, sondern ein ganz normales Sprechen in normalem Tonfall." (Mühlen 1978, S. 151 ) Diese Beschreibung der Glossolalie zieht sich durch die gesamte Literatur der charismatischen Bewegung und ist auch in der autobiographischen Darstellung von Dennis /. Bennetts »In der dritten Stunde« zu finden: Nachdem er begonnen hatte, "in einer neuen Sprache zu sprechen", stellte er fest, "daß es sich um eine echte Sprache handelte, kein ,Baby-Lallen'. Sie kannte grammatische Regeln und eine Syntax; sie besaß Intonation und Ausdrucksmöglichkeiten - und war zudem noch recht schön!" (Bennett 1973, S.32) Zu seiner Bewußtseinsverfassung bemerkt Bennett: "Ich befand mich in keinerlei eigenartiger Geistesverfassung und war im vollen Besitz meiner sonst auch vorhandenen Geisteskräfte!" (S.33f)

Es drängt sich die Frage auf: Sind geistgewirkte Glossolalie und Ekstase zwei völlig getrennte Sachen? Oder gehören sie zusammen, bedingen sie einander - und wenn, wie?

Deutlich ist das Interesse der charismatischen Bewegung an der Abgrenzung zu nicht "gemeindefähigen" Formen der Glossolalie. Glossolalie kann sehr "nüchterne Formen" annehmen, sie hört sich "in der Regel an wie eine Nachrichtensendung im Radio in einer dem Hörer völlig unbekannten Sprache". (Mühlen 1978, S. 151) Zugleich ist aber nicht von der Hand zu weisen: In den korinthischen Gemeinden, wo die geistgewirkte Glossolalie gepflegt wurde, traten auch ekstatische Phänomene vermehrt auf - in einem Maße, daß Paulus einschreiten mußte. Aber auch bei ihm selbst fehlen ekstatische Erfahrungen nicht.

Ekstatische Erlebnisse des Apostels Paulus

Von sich selber kann Paulus behaupten, in den dritten Himmel entrückt worden zu sein: "Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich's nicht;

oder ist er außer dem Leibe gewesen, so , weiß ich's auch nicht; Gott weiß es - da ' ward derselbe entrückt bis an den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen - ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es-; der ward entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche ein Mensch nicht sagen kann." (2. Kor. 12,2-4)

Die Rede in der dritten Person ist kein paulinischer "Bescheidenheitsstil", sondern "jener ,Mensch', von dem Paulus spricht, [ist] das ekstatische Doppel-Ich, das sich in den dritten Himmel erhoben hat". (Roloff, 1980, S. 151 ) Für das hebräische Denken ist eine leiblose Existenz nicht vorstellbar. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn Paulus zweimal die paradoxe Aussage macht, er wisse nicht, ob er im Leib oder außerhalb des Leibes war: "Der in der Ekstase Verzückte unterscheidet sich von dem normalen Menschen und spricht von ihm als von einem anderen. Wenn er von sich selbst als verzückt redet, benutzt er Ausdrücke in der dritten Person, als spräche er von einer anderen Persönlichkeit." (Lindblom 1968, S.45) Solche ekstatischen "Himmelsreisen" oder "Seelenexkursionen" sind auch bei den Schamanen verschiedener religiöser Kulturen verbreitet. Die Ekstasetechniken sind austauschbar: Sie reichen von der rituellen Einnahme halluzinogener Pflanzen bis hin zu Atemregulierungen, mehrwöchigem Fasten, Trommeln und Tanzen. Zu der Himmelsreise der karibischen Schamanen bemerkt Mircea Eliade: "Es handelt sich weniger um ein ,Besessenwerden' als um eine ekstatische Vision, welche den Umgang und das Gespräch mit den Geistern ermöglicht. Diese Vision ist an einen Himmelsaufstieg geknüpft. Doch kann der Novize diese Reise erst unternehmen, wenn er einerseits in der traditionellen Ideologie unterwiesen, andererseits durch die Trance physisch und psychologisch vorbereitet worden ist. Die Lehrzeit ist von einer außerordentlichen Härte." (Eliade 1956, S.132) Welche Vorbereitungen und welche Ekstasetechniken der Apostel Paulus sich zunutze machte, können wir nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

Paulus als Zungenredner

Der Apostel war aber nicht nur Ekstatiker, er war auch Zungenredner. Er kann in der Auseinandersetzung mit den Korinthern Gott für seine Zungenrede danken: "Ich danke Gott, daß ich mehr in Zungen rede als ihr alle." (1. Kor. 14,18) Hans Conzelmann schreibt dazu: "Die Bemerkung hat keine polemische Spitze. In Korinth wird offensichtlich nicht bezweifelt, daß er ein echter Pneumatiker ist." (Conzelmann 1981, S.292) Der Nutzen dieser "Zungenrede" kommt dem einzelnen zugute: Wer so redet, baut sich selbst auf (1. Kor. 14,4). In welcher Hinsicht diese "Selbstauferbauung" geschieht, wird nicht erwähnt. Wenn angenommen werden darf, urchristliche und neuzeitliche Glossolalie seien gleichartige Phänomene, könnte "Selbstauferbauung" bedeuten: emotionaler Spannungs- und Affektabbau mit der Erfahrung spürbarer Gottesnähe. Beides kann die "heilende Funktion des Sprachenredens" ausmachen. Der Jungianer Morton Kelsey meint diesbezüglich: "Es gibt Leute, die ohne diese Erfahrung niemals fähig gewesen wären, zu psychologischer Reife zu gelangen. Die Erfahrung des Sprachenredens schloß sie auf für das unbewußte und vollere, aber auch schwierigere Leben." (Bittlinger 1979, S. 11 ) Paulus setzt voraus, daß Glossolalie in nüchterner, kontrollierter Weise geschehen kann: ,Wenn jemand in Zungen redet, so seien es ihrer zwei oder aufs meiste drei, und einer nach dem andern; und einer lege es aus." (1. Kor. 14,27) Schon diese Beobachtungen zeigen: Das Phänomen der Glossolalie ist in sich vielschichtig. Weder ist es möglich, Glossolalie mit Ekstase einfach gleichzusetzen, noch ist es möglich, das Auftreten von ekstatischen Phänomenen bei der Glossolalie gänzlich auszuschließen.

Glossolalie, Ekstase und veränderte Atemregulierung

Wie aber kann nun ein pneumatisches Reden in unbekannten Sprachen zu Entrückungen oder Ekstasen führen? Diese Frage ist in der deutschen Forschung noch nicht eingehender bearbeitet worden. Das mag seinen Grund darin haben, daß der Sprache selbst, den gesprochenen Worten, die Hauptaufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese aber bleiben unverständlich. Linguistische Untersuchungen ergaben nur, daß Glossolalie so etwas wie eine Grammatik oder eine Syntax besitzt. Sie ist "von einer nicht verstandenen Fremdsprache nicht zu unterscheiden." (Bittlinger 1979, S.6) Es fehlt jedoch die semantische Dimension. Deshalb bedarf sie der geistgewirkten Übersetzung.

In der Sprachengabe drückt sich nach Heribert Mühlen das Geheimnis des unaussprechlichen Gottes selbst aus, das nicht weiter analysierbar sei. (Mühlen 1982, S. 127-139) In den geheimnisvollen Worten der geistgewirkten Glossolalie wird Gott als Geheimnis sinnenhaft erfahrbar. So wie der Sinn der Worte sich dem Verstehen entzieht, so entzieht sich Gott dem Verstehen des Menschen. Aber gerade in seiner Unbegreiflichkeit kommt Gott dem Menschen im glossolalischen Lobpreis nahe, ohne dabei seine Verborgenheit aufzugeben. Das ist die theologische Bedeutung der Glossolalie, die von allen Überlegungen zur physiologischen und psychologischen Struktur des geistgewirkten Redens unberührt bleibt. - Doch: Wie hängen Glossolalie und Ekstase zusammen?

Glossolalie ist auch ein Sprechvorgang. Und wie jeder Sprechvorgang wird auch sie von physiologischen und psychologischen Prozessen begleitet, die Einfluß auf die Bewußtseinsverfassung nehmen können. Dazu gehören suggestive Einflüsse: Der Gedanke, jetzt redet der Geist Gottes selbst durch mich, kann einen Menschen schon in Trance versetzen. Ebenso können motorische Rhythmen, verursacht durch wiederkehrende Sprachmuster während der Glossolalie, die Bewußtseinsverfassung verändern. Und nicht zuletzt wird das Bewußtsein auch durch eine veränderte Atemregulierung stimuliert, wie sie bei jedem ausdauernden Sprechen auftreten kann. Alle diese Faktoren bestimmen die religiöse Erlebnisqualität während des glossolalischen Sprechvorganges.

Im Vordergrund soll bei den weiteren Überlegungen die Bedeutung veränderter Atemrhythmen für das Auftreten ekstatischer Phänomene stehen. Das legt auch schon der Anlaß glossolalischen Redens nahe: Nach dem Neuen Testament ist Glossolalie eine Erscheinung, durch die der Geistempfang sinnenhaft wahrnehmbar wird (vgl. Mk. 16,17; Apg. 2,4; 10,44ff; 19,6). Wo das "pneuma" wirkt, da geraten Menschen in Ekstase. Das griechische "pneuma", die hebräische "ruach" und der lateinische "spiritus" können sowohl mit Geist als auch mit Atem, Lufthauch und Leben übersetzt werden. Die Übersetzung von "pneuma" / "spiritus" mit "Geist" war zu Beginn der Germanenmission nicht unangefochten: "Im südlichsten Teil des südgermanischen Raumes (also im Süddeutschen) bestanden anfangs starke Widerstände gegen den Gebrauch des Wortes ,Geist' in der Kirchensprache. Auch hier hielt man sich an eine ,Lehnübersetzung' von spiritus: âtum. Ein Bekenntnis wie: ih gilaubu in heilagan geist - mag in vielen süddeutschen Ohren anfangs tatsächlich geklungen haben wie: ,Ich vertraue dem unverletzlichen Schreckgespenst.' Man bekannte also lieber: gilaubu in âtum wihan." (Hasenfratz 1986, S. 91 ) Die Unterscheidung von Geist und Atem, wie wir sie heute kennen, war dem antiken Menschen fremd.

Was haben Atem und geisterfülltes Reden in unbekannten Sprachen in theologischer und philologischer Hinsicht miteinander zu tun? Um das noch genauer zu erfassen, fragen wir weiter nach der psychischen und somatischen Dimension des Atems. Dazu nehmen wir ein Atemphänomen ins Auge, das im besonderen Zusammenhang mit ekstatischen Begleiterscheinungen steht: die Hyperventilation.

Hyperventilation

Der Atemrhythmus steht in enger Beziehung zu veränderten Bewußtseinszuständen. Das ist eine Erkenntnis, die zum medizinischen Allgemeinwissen gehört. Wird der Atemrhythmus in der Weise strukturiert, daß auf kräftiges Einatmen eine Phase langsameren Ausatmens folgt, so tritt ein Phänomen ein, das als Hyperventilation bezeichnet wird. Sie kann durch eine gezielte Atemtechnik herbeigeführt werden oder als Folge einer (pathologischen) Erregung des zentralen Nervensystems auftreten: "Als häufigste ätiologische Faktoren der Hyperventilation werden Emotionen, und hier vor allem Angst, [...] beschrieben." (Herrmann, Schonecke, Uexküll 1981, S.487)

Bei der Hyperventilation wird mehr Kohlendioxyd mit der Atemluft ausgeatmet als im Körper durch Oxidation erzeugt wird. Kohlendioxydmangel - oder Sauerstoffüberschuß - führt so zu veränderten somatischen und psychischen Symptomen. Dauert diese veränderte Atmung über einen längeren Zeitraum bis zu einer Stunde fort, so tritt ein Zustand ein, der als Hyperventilationssyndrom (HVS) in der medizinischen Praxis bekannt ist. Parästhesien stellen sich ein, die Lippen werden taub, im Bereich von Nase und Mund macht sich ein Kribbeln bemerkbar. Kiefersperre, "Pfötchenstellung" und körperliche Verkrampfungen sind Symptome einer fortgeschrittenen respiratorischen AIkalose. "Der Anfall ist im allgemeinen vom Erlebnis starker Angst, oft Vernichtungsangst, begleitet. [...] Die Empfindung von Todesangst, das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins und ohnmächtiger Überwältigung berichten die meisten Kranken sehr eindrucksvoll." (Rose 1976, S. 260)

In diesem Zustand fällt auch das Reden schwer. Es ist kaum möglich, artikuliert zu sprechen, statt dessen sprudelt aus dem Mund ein hilfloses Stammeln oder Lallen. Damit einher geht ein "in der Regel unauffällige[r] Bewußtseinszustand. [...] Abwandlungen im Sinne von Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen kommen vor, erwähnt wird ein ,Gefühl der Unwirklichkeit'. Der Krise folgt meist ein Bild hochgradiger emotioaffektiver Labilisierung mit Weinen, Niedergeschlagenheit und ,völligem Aufgelöstsein', das gar nicht so selten vom Erlebnis der Befreiung, ,als ob sich eine Spannung entladen hat', gefolgt ist." Regressive und depressive Züge prägen das psychische Erscheinungsbild. (Rose 1976, S.260; 264ff) Mit Beruhigungsmitteln oder Kalziumspritzen kann die Tetanie schnell wieder aufgelöst werden, mitunter reicht es aus, dem Klienten eine Plastiktüte vor den Mund zu halten. Er atmet die ausgeatmete kohlendioxydreiche Luft wieder ein, und der Kohlendioxydgehalt des Blutes steigt wieder auf ein normales Maß. In der klinischen Situation wird diese Hyperventilationstetanie als krankhafte Erscheinung gewertet, weshalb ihr mit den entsprechenden Hilfsmitteln rasch begegnet wird.

Hyperventilation kann auch bei erregtem und ausdauerndem Sprechen auftreten, wenn z. B. nach zehn Sätzen nur einmal Luft geholt wird, wie es auch beim aufgeregten Sprechen während eines Vortrages der Fall sein kann. Die Redewendung "sich in Ekstase reden" bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt. Mundtaubheit und rauschähnliche Bewußtseinsverfassung (die berühmte "Mattscheibe") sind die ersten Symptome einer respiratorischen Alkalose.

Hyperventilation in der transpersonalen Psychologie

Im Zusammenhang mit der New Age-Bewegung hat sich im Rahmen der transpersonalen Psychologie eine regelrechte Hyperventilationstherapie herausgebildet. Der tschechische Psychologe Stanislav Grof, heute im kalifornischen Esalen zu Hause, entwickelte diese, um Klienten ohne halluzinogene Drogen (LSD 25) zu Selbsterkenntnis und veränderten Bewußtseinszuständen zu führen. Das Neue bei Grof ist: Wenn die Hyperventilationstetanie-scheinbar-bedrohliche Formen annimmt, schreitet er nicht ein, um die Symptome abzustellen. Denn wenn der Klient weiteratmet, "so bauen sich die Zonen fester Anspannung sowie die ,karpopedalen Spasmen' in der Regel ab, statt an Intensität zuzunehmen, und er erreicht schließlich einen extrem ruhigen und gelösten Zustand mit Visionen von Licht und Gefühlen der Liebe und der Verbundenheit. Häufig ist das Endergebnis ein tiefer mystischer Zustand, der für die betreffende Person von dauerhaftem Wert und persönlicher Bedeutung sein kann.

[...] Recht häufig berichten die Teilnehmer von authentischen Erfahrungen ihrer embryonalen Existenz oder ihrer Empfängnis, von Elementen des kollektiven Unbewußten [...]. Ebenso häufig finden sich Begegnungen mit archetypischen Verkörperungen von Gottheiten oder Dämonen sowie mit komplexen Handlungsabläufen aus der Welt der Mythologie." (Grof 1985, S. 369f)

Das ist aber noch nicht alles. Denn "das Erfahrungsspektrum, das sich einem durchschnittlichen Teilnehmer erschließt, umfaßt auch telepathische Eingebungen, außerkörperliche Erfahrungen, Astralprojektionen und andere parapsychische Phänomene. Im Idealfall braucht der Betreffende nichts anderes zu tun, als ein bestimmtes Atemmuster beizubehalten und sich, was auch immer geschieht, allem voll und ganz zu öffnen. Unter diesen Bedingungen gelangen viele in einen total gelösten und entspannten Zustand, der tiefgehenden spirituellen Charakter oder zumindest mystische Anklänge hat." (Grof 1985, S.370f) Diese "Therapie" ist allerdings mit Vorsicht zu genießen (vgl. MD 1984, S. 326ff). Aus rein physiologischer Sicht müßte bei fortdauernder Hyperventilation, nachdem die Tetanie schon eingesetzt war, mit dem Umkippen des Blut-PH-Wertes Bewußtlosigkeit eintreten, die medizinisch nicht unbedenklich ist. Nach der "Therapiebeschreibung" Grofs würden diese visionären Erfahrungen also während eines sehr kurzen Zeitraums von nur wenigen Sekunden an der Schwelle zur Bewußtlosigkeit auftreten.

Glossolalie und Hyperventilation

Die Vermutung liegt nahe: Auch beim ausdauernden Sprachenreden über einen längeren Zeitraum hinweg (in manchen Pfingstkreisen am Anfang des Jahrhunderts wurde über eine Stunde ausdauernd in Sprachen geredet!) kann der Glossolale, wenn er nur kurz und heftig während des Sprechens einatmet und über einen längeren Zeitraum langsam ausatmet, hyperventilieren. Die ekstatischen und spirituellen Erlebnisse, die im Kontext von pfingstlerischen glossolalischen Praktiken auftreten, können auch das Ergebnis der das Reden begleitenden veränderten Atmung sein.

Diese Vermutung steht in enger Berührung mit der amerikanischen Auseinandersetzung um veränderte Bewußtseinszustände bei Glossolalie. Eine Zusammenfassung dieser Auseinandersetzung ist in dem Buch »Glossolalia - Behavioral Science Perspectives on Speaking in Tongues« von H. Newton Malony und A. Adams Lovekin zu finden, auf die ich mich in den beiden folgenden Absätzen beziehe:

Felicitas D. Goodman untersuchte das glossolale Verhalten in religiösen Randgruppen des mittel- und südamerikanischen Bereichs, und sie kam zu dem Ergebnis, "Zungenreden ist kein linguistisches, sondern vielmehr ein Trance-erzeugendes Phänomen". (Zit. nach Malony / Lovekin 1985, S. 101 ) Zur Begründung ihrer These weist sie auf Gemeinsamkeiten zwischen Trancezuständen bei Glossolalie und beim "automatischen Schreiben" hin. In beiden Fällen wird sichtbar, "daß der einzelne die äußere Selbstkontrolle in Reaktion auf rhythmische Aktivität (Gebet oder Gesang), Hyperventilation oder Entspannung aufgibt". (Malony / Lovekin 1985, S. 102) Die entgegengesetzte Position wird von W. J. Samarin vertreten, dessen Untersuchungen zu dem Schluß kamen: "Glossolalie ist in jeder Hinsicht den linguistischen Regeln für die Entwicklung einer Pseudosprache unterworfen und ist gerade nicht das Ergebnis eines veränderten Bewußtseinszustands." (Malony / Lovekin 1985, S. 107) Samarins Schlußfolgerungen gipfeln in der Feststellung: "Glossolalie ist ein erlerntes Verhalten." (Malony / Lovekin 1985, S. 107)

Diese unterschiedlichen Beurteilungen hängen mit den untersuchten Zielgruppen zusammen. Goodman führte ihre Studien vorwiegend in religiösen Randgruppen durch, während Samarin sich der amerikanischen Mittelklasse zuwandte. M. E. lassen sich diese unterschiedlichen Beobachtungen auf zwei verschiedene Erscheinungsbilder der Glossolalie zurückführen, die schon von dem Psychiater E. M. Pattison beschrieben wurden. Er nennt sie "scherzhafte" und "ernste Glossolalie". Die "scherzhafte Glossolalie" ist eine leichte, verspielte Form, bei der keine einschneidenden Veränderungen der Bewußtseinsfunktionen wahrgenommen werden. "Bei dieser Art der Glossolalie scheinen die Personen Vergnügen daran zu finden, sich selbst sprechen zu hören. [...] Sie wirken entspannt und sind oft mit Zungenreden beschäftigt beim Autofahren, beim Arbeiten, Spazierengehen und so weiter. Sie haben es vollständig unter Kontrolle und können in Zungen reden, wann immer sie es wollen." (Malony / Lovekin 1985, S. 71) Die Bewußtseinsverfassung bei dieser Form der Glossolalie unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die auch beim Aufsagen eines zuvor gelernten Textes vorhanden ist.

Die "ernste Form" der Glossolalie ist dagegen deutlich von der scherzhaften Form unterschieden: "In Kontrast dazu bringt ernste Glossolalie stärkere Gefühlsausbrüche, schweres Atmen, geringere Selbstkontrolle, mehr Automatismen und Bewußtseinstrübung mit sich." (Malony / Lovekin 1985, S. 71 ) Wenn es eine Form der Glossolalie gibt, bei der mit veränderten Bewußtseinszuständen gerechnet werden kann, dann ist es die von Pattison beobachtete "ernste Glossolalie", deren Erscheinungsbild auch auf eine das Sprechen begleitende mögliche Hyperventilation schließen läßt.

Gibt es für diese Vermutung weitere Anhaltspunkte? Sieht man sich die Kasseler Vorgänge und das öffentliche Erscheinungsbild der frühen Pfingstbewegung an, so liegen sie auf der Hand. Die mit dem Reden in unbekannten und neuen Sprachen auftretenden heftigen Emotionen des Erstaunens und des eigenen Befremdens (auch der verdrängten Angst, sich "gehen zu lassen") können durchaus ein akutes Hyperventilationssyndrom auslösen. Körperliche Verkrampfungen, erregtes Sprechen, mitunter nur Stammeln und Lallen, die Erfahrung von Liebe oder "dämonischer Besessenheit", das alles sind Symptome der "ernsten Glossolalie", die im Zusammenhang mit der Hyperventilation stehen können. Ebenso treten auch Zustände höchster Glückseligkeit auf. Kurt Hutten bringt ein Beispiel: "Ich war völlig in Seligkeit hingenommen, meine Seele war ganz untergegangen in tiefster Anbetung, daß ich nur noch stammeln konnte. Mitten während des Gebets wurde ich mit himmlischer Seligkeit und Kraft erfüllt. Ich hatte das Gefühl, als ob meine Brust zerspringen wollte, und ein Strom fremder Sprachen floß über meine Lippen." (Hutten 1961, S. 508)

In der Mithrasliturgie ist der Zusammenhang von Atmung und Geist-Ekstase offensichtlich. Hier spielt die Autosuggestion jedoch eine größere Rolle. Der Myste erhält die Anweisung: "Hole von den Strahlen Atem [= "pneuma", d. Vf.], dreimal einziehend, so stark du kannst, und du wirst dich sehen aufgehoben und hinüberschreitend zur Höhe, so daß du glaubst mitten in der Luftregion zu sein. Keines wirst du hören, weder Mensch noch Tier, aber auch sehen wirst du nichts von den Sterblichen auf Erden in jener Stunde, sondern lauter Unsterbliches wirst du schauen." (Dieterich 1966, S. 7) Wenig später, nachdem der Gott erschienen ist, wird er aufgefordert: "Du aber blicke zu ihm auf und ein langes Gebrüll wie mit einem Horn, deinen ganzen Atem dran gebend, deine Seite pressend, gibt von dir [...]. Wenn du das gesagt hast, wirst du Tore sich öffnen sehen und kommen aus der Tiefe sieben Jungfrauen in Byssosgewändern mit Schlangengesichtern." (Dieterich 1966, S.13) Ebenso werden in der hellenistischen Mantik physische Wirkungen des "pneuma" beobachtet, "wie sie z. T auch der Wind verursacht: aufgelöstes, sich sträubendes Haar, keuchender Atem, gewaltsames Erfüllt-, Ergriffen- und Hineingerissenwerden in einen bacchantischen Taumel" der Ekstase. (ThWNT VI, S. 343)

Das "pneuma" wird hier als unpersönliche Kraft erlebt, der man sich mit Hilfe einer bestimmten Ekstasetechnik öffnen kann. Das christliche Geistverständnis hebt dagegen die Souveränität und Unverfügbarkeit des pneuma hervor Qoh. 3,8). Doch es ist möglich, daß auch im urchristlichen Gemeindeleben Anleitungen und Instruktionen weitergegeben wurden, um für das Wirken des pneuma empfänglich zu bleiben. Wie anders sollte 1. Thess. 5,19 verstanden werden? Begünstigende Faktoren für Hyperventilation bei lang andauernder Glossolalie sind das Fehlen von langen Gedankenpausen und Anregung beim Sprechen in der Gruppe. Zudem fließt die Sprache wie von selbst, man muß ihr manchmal bewußt ein Ende setzen.

Trotzdem muß die Glossolalie nicht ins Hyperventilationssyndrom münden. Es gibt auch leichtere Ekstaseformen bei der Glossolalie, in denen die Hyperventilation kaum einen Einfluß nehmen kann.

Sehen wir uns an, wie Dennis J. Bennett seine glossolalische Anfangserfahrung beschreibt, bei der John, ebenfalls Glossolale, zugegen war: "Meine Zunge stolperte, so etwa wie wenn man einen Zungenbrecher aufsagen will, und ich begann in einer neuen Sprache zu sprechen!" Er schildert, wie dies auf völlig natürliche Weise vor sich ging, ohne irgendwelche Anzeichen von Bewußtseinstrübung oder Verlust der Selbstkontrolle: "Mir war in keiner Weise ,der Boden unter den Füßen fortgerissen', sondern ich befand mich im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten und Willenskraft." (Bennett 1973, S. 32) Und er fährt fort: "Noch immer verspürte ich nichts, was aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel: keine große geistliche Inspiration, keine besondere innere Wärme der Gegenwart Gottes. Es war jedoch interessant und irgendwie erquickend, und so sprach ich einige Minuten lang weiter. Ich wollte gerade innehalten, als John sagte: ,Höre nicht auf! Sprich weiter! Sprich weiter!' [...] Nach drei oder vier Minuten begann ich etwas Neues zu verspüren. Diese Sprache wurde mir aus einer zentralen Stelle in mir gegeben, wo Gott war, meilenweit jenseits der Sphäre meiner eigenen Emotionen. Je länger ich sprach, desto mehr wurde ich mir der Gegenwart Gottes in mir bewußt." (Bennett 1973, S. 34)

Die kritische Selbstbeobachtung ist noch vorhanden, aber Veränderungen der Wahrnehmungs- und Bewußtseinsverfassung werden schon sichtbar: "Ich wollte weiter und weiter und weiter sprechen; und das tat ich ungefähr 30 Minuten lang, wobei ich diese schöne, mir unbekannte Sprache über meine Lippen strömen ließ und in einer fließenden Beredsamkeit, die ich nicht für möglich gehalten hatte, mein Herz vor Gott, dem Vater, darlegte." (Bennett 1973, S.35) Das ausdauernde Sprechen bleibt nicht folgenlos: "... während ich so weitersprach, ereignete sich noch etwas anderes. Ich wurde glücklicher und glücklicher! [...] Nie zuvor hatte ich die Gegenwart Gottes in solch einer Realität wie jetzt empfunden." (Bennett 1973, S. 35)

Das entspricht der spirituell-mystischen Erfahrungsqualität, wie sie von Grof u. a. beschrieben wurde. Bennett vergleicht diese Erfahrung mit dem religiösen Erlebnis seiner Bekehrung und stellt fest: ,Wenn jene frühen Erlebnisse Blitzlichtern glichen, war dieses so, als habe jemand Flutlichter eingeschaltet. Die Realität Gottes war etwas, das ich durch und durch verspürte - sogar im Leibe. Doch anstatt mich zu fürchten, fühlte ich mich unheimlich glücklich, ja überglücklich." (Bennett 1973, S. 35)

Verschiedene Ekstaseformen

Bennett selbst lehnt den Begriff "Ekstase" für diesen Bewußtseinszustand ab, da er Ekstase mit "Besessenheit" gleichsetzt. Eine genauere Beurteilung seines veränderten Bewußtseinszustandes muß daher mit einem differenzierteren Ekstasebegriff ansetzen.

Der schwedische Alttestamentler Johannes Lindblom schreibt dazu allgemein in seinem Buch »Prophecy in ancient Israel«: "Ekstase hat verschiedene Grade, von vollständiger psychischer Bewußtlosigkeit und psychophysischer Betäubung bis hin zu einem Bewußtseinszustand, der sich von einer normalen geistigen Zerstreuung kaum unterscheidet. Ekstase ist nicht ein Bewußtseinszustand, der scharf eingegrenzt werden könnte, sondern der einen Bereich höherer und niedrigerer Grade von psychischer Unbeschwertheit verkörpert." (Lindblom 1963, S.35) Zum Verhältnis der verschiedenen Ekstasegrade erklärt Lindblom in seiner Monographie »Gesichte und Offenbarungen«: "Die Wörter ,Ekstase' und ,Trance' werden oft promiscue verwendet. Es scheint, als ob der Sprachgebrauch sich in die Richtung entwickelte, daß Ekstase alle Formen und Grade von Verzückung umfaßte, während Trance vorzugsweise ruhige, passive, lethargische, schlafähnliche Zustände der Verzückung bezeichnete. Die orgiastischen Formen der Verzückung, die wir z. B. im ältesten israelitischen Prophetismus finden, bezeichnen wir lieber als Ekstase, nicht als Trance (natürlich können bisweilen die betreffenden Zustände ineinander übergehen). Ekstase ist somit der umfassendere Begriff. Ekstase umfaßt sowohl die gewaltsame, orgiastische Verzückung wie die ruhige Trance. Will man sich klar und unmißverständlich ausdrücken, spricht man von orgiastischer Ekstase und lethargischer Ekstase, letztere ist dasselbe wie Trance." (Lindblom 1968, S.32f, Anm. 1)

Im Fall der Schilderung Bennetts können wir durchaus von einer "lethargischen Ekstase" sprechen, die als glossolalisches Begleitphänomen auftritt. Zu dieser lethargischen Ekstase tragen das monotone rhythmische Sprechen, die gleichmäßige Regulierung des Atemflusses sowie das Reden, ohne sich dabei die Worte überlegen zu müssen, gleichermaßen bei. Das alles schafft einen Zustand tiefer Entspannung und meditativer Beschaulichkeit. Im Gegensatz zu Bennett scheint es sich bei den Kasseler Ereignissen um Formen "orgiastischer Ekstase" zu handeln, zu deren Auslösern die Hyperventilation mit gezählt werden kann.

Glossolalie in Grofs Hyperventilationstherapie

Mit der Hyperventilation gehen ekstatische Phänomene einher; und die beobachteten ekstatischen Begleitphänomene bei der Glossolalie lassen sich auch auf veränderte Atemrhythmen und Hyperventilation zurückführen. Umgekehrt kann auch bei gezielt hervorgerufener Hyperventilation Glossolalie auftreten. Stanislav Grof schildert, wie Gladys, Teilnehmerin eines Workshops, durch Hyperventilation von schwerer Depression "geheilt" wird: "Wir forderten sie auf, sich mit geschlossenen Augen hinzulegen, etwas schneller zu atmen, der Musik, die wir spielten, zuzuhören, und sich allen Bildern und Körperempfindungen, die in ihr hochkamen, hinzugeben. Etwa 50 Minuten lang waren bei Gladys heftiges Zittern und andere Anzeichen starker psychomotorischer Erregung zu erkennen. [...] In einem bestimmten Augenblick wurde ihr Schreien artikulierter und nahm mehr Ähnlichkeit mit Worten einer unbekannten Sprache an. Wir forderten sie auf, die Laute, so wie sie kamen, aus sich herauszulassen, ohne sie intellektuell zu beurteilen. Plötzlich wurden ihre Bewegungen extrem stilisiert und ausdrucksstark, und sie stimmte einen Gesang an, der sich wie ein inbrünstiges Gebet anhörte. [...] Als Gladys mit ihrem Gesang zu Ende war, beruhigte sie sich und verfiel in einen Zustand glückseliger Ekstase, in dem sie völlig bewegungslos länger als eine Stunde verharrte. Rückblickend war sie nicht in der Lage, das Geschehen zu erklären, und sie hatte überhaupt keine Ahnung, in welcher Sprache sie gesungen hatte. Ein argentinischer Psychoanalytiker aber, der in der Gruppe anwesend war, erkannte, daß Gladys in perfektem Sephardisch gesungen hatte, das er zufällig kannte." (Grof 1985, S. 340)

Auch hier ist der Zusammenhang von Atmung und Glossolalie offensichtlich. Im übrigen ähnelt dieser Bericht den zahlreichen Schilderungen von Fremdsprachenreden aus der Pfingstbewegung. Ein Beispiel aus John L. Sherills »Sie sprechen in anderen Zungen«: "Dr. T. J. McCrossan aus Minneapolis erzählt die Geschichte von neun U.S.-Marinesoldaten, die an einem Samstagabend angelockt durch die Musik, eine kleine pfingstliche Versammlung in Seattle, Washington, betraten und dann mit wachsender Verwunderung zuhörten, wie eine ihnen bekannte Amerikanerin aufstand und eine Zungenbotschaft gab. Alle neun Soldaten waren Filipinos, alle neun erkannten einen unbekannten Filipino-Dialekt und waren sich über den Sinn des Gehörten einig. Sie wußten, daß die Frau von Natur aus absolut kein Filipino sprechen konnte, viel weniger diesen seltenen Dialekt aus einer Gegend, die kaum jemals von Menschen des Westens besucht wird." (Sherill 1967, S. 126) Wir haben hier den seltenen Fall der Xenoglossie vor uns. Sie ist nach A. Bittlinger "ein Spezialfall des Sprachenredens. Es handelt sich dabei um das Reden in einer nicht gelernten Fremdsprache, die irgendwo auf Erden gesprochen wird oder wurde." (Bittlinger 1979, S. 6) Sherill legte Tonbandprotokolle von Zungenreden Sprachforschern vor, um die Möglichkeit des Redens in Fremdsprachen wissenschaftlich abzusichern. Doch Xenoglossie konnte in keinem Fall gesichert nachgewiesen werden (vgl. Sherill 1967, S. 131 ff; Malony / Lovekin 1985, S. 28f).

Zusammenfassung

Wir können am Schluß festhalten: Glossolalie ist als sprachlicher Vorgang geistgewirkten Erlebens nicht unbedingt ekstaseträchtig. Ekstatische Erlebnisse und körperliche Symptome werden von suggestiven Faktoren und auch von der Atemregulierung beeinflußt, die durch den Sprachfluß gesteuert wird. Dabei hängt die Intensität der Bewußtseinsveränderung von dem Sprechenden selbst ab, insbesondere, inwieweit dieses Reden für ihn emotional besetzt ist und er dem geistgewirkten Redefluß über einen längeren Zeitraum freien Lauf gönnt. Geschieht das Sprachenreden in einer Gruppe, so wird der bewußtseinsverändernde Aspekt durch das suggestive Gruppengeschehen verstärkt. Ebenso kann der geheimnisvolle Charakter der unbekannten Worte diesen Effekt autosuggestiv noch zusätzlich verstärken.

Das Phänomen der Glossolalie kann daher nicht auf eine einheitliche Erscheinungsform festgeschrieben werden (siehe Pattison). Es kann besinnliche, intime Gebetssprache sein, es kann aber auch in den ekstatischen Strudel persönlichkeitsprägender spiritueller Erfahrung münden. Mit den Worten Gerd Theißens: "Glossolalie ist an sich neutral. Sie kann ein Rückzug weg von reiferen Verhaltensweisen sein, kann aber auch Erweiterung psychischer Kompetenz bedeuten." (Theißen 1983, S. 314) Malony und Lovekin gehen noch einen Schritt weiter, indem sie den Schluß ziehen: "Zungenredner sind nicht dadurch aufgefallen, daß sie theologische Neuerungen durchsetzen oder ungewöhnliche soziale Aktionen eingeführt haben. Sie haben die Kategorie der Erfahrung als das Herz der Religion wiederentdeckt und ihr zu ihrem Recht verholfen." (1985, S. 260)

Mit obiger Beschreibung der physiologischen Begleitumstände von spirituell-mystischen Erfahrungen ist allerdings noch keine Wertung ihrer religiösen Inhalte vollzogen. Ich will es im Gleichnis sagen: Wenn im Fernsehen ein Gottesdienst übertragen wird, der mich in der Tiefe meiner Person aufwühlt und betroffen macht, dann werde ich dieses Geschehen nicht entschlüsseln können, indem ich die Rückwand des Fernsehers abnehme und das Chassis aufklappe. Ich kann mir zwar die elektronischen Baugruppen und Platinen ansehen, ich kann verstehen lernen, wie die Synchrondemodulatoren arbeiten. Damit ist mir aber für das Verstehen des gerade gesendeten Gottesdienstes herzlich wenig geholfen. Entsprechend sagt das Auftreten von bestimmten Atemmustern und anderen physiologischen Begleiterscheinungen noch nichts über die gnädige Zuwendung Gottes in einem solchen spirituellen Erlebnis aus. Ekstatische Begleiterscheinungen schaffen nur die äußeren technischen Bedingungen für spirituelle Erfahrungen, in denen wir die Gegenwart Gottes wahrnehmen können. Aber sie sind nicht die Gotteserfahrung selbst.

Im Buch Hiob heißt es: "Gottes Geist hat mich erschaffen, der Atem des Allmächtigen mir das Leben gegeben." (Hi. 33,4) Der Geist erforscht nach Paulus die Tiefen der Gottheit, wir erkennen Gott nur durch den Geist (1. Kor. 2,10-13). Soll das heißen, daß wir weniger durch unsere geistigen Verstandeskräfte als durch die Hingabe an den lebenspendenden Atem, an das lebenschaffende "pneuma" und seine ekstaseträchtigen Wirkungen der verborgenen Weisheit Gottes innewerden? Eliade meinte: "Nur durch die Ekstase gelangt der Mensch zur vollen Realisierung seiner Situation in der Welt und seines endlichen Schicksals." (1956, S. 375) Die Ekstase entsteht jedoch nicht von allein, genausowenig wie es zum Glauben ohne die Predigt des Wortes Gottes kommt. Weil sie die menschliche Existenz auch gefährden kann, sollte man sie aber nicht unvorbereitet suchen.

Literatur

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Arnold Bittlinger: ... und sie beten in anderen Sprachen. Charismatische Bewegung und Glossolalie. Hrg.: Koordinierungsausschuß für Charismatische Gemeindeerneuerung i. d. Evangelischen Kirche, 19793.

Hans Conzelmann: Der erste Brief an die Korinther, KEK Bd. 512, Göttingen 19812.

Eine Mithrasliturgie, erläutert von Albrecht Dieterich, Darmstadt 1966. Unveränderter reprographischer Nachdruck der von Otto Weinreich herausgegebenen 3., erw. Aufl., Leipzig und Berlin 1923.

Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich 1956.

Stanislav Grof: Geburt, Tod, Transzendenz. Neue Dimensionen in der Psychologie, München 1985. Hermann Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 18992

Hans-Peter Hasenfratz: Die Seele. Einführung in ein religiöses Grundphänomen, Zürich 1986.

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Morton T Kelsey: Zungenreden. Mit einer Einführung von Kurt Hutten und einem Vorwort von Upton Sinclair, Konstanz 1970.

Johannes Lindblom: Gesichte und Offenbarungen. Vorstellungen von göttlichen Weisungen und übernatürlichen Erscheinungen im ältesten Christentum, Lund 1968.

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H. Newton Malony / A. Adams Lovekin: Glossolalia. Behavioral Science Perspectives on Speaking in Tongues, New York / Oxford 1985.

Heribert Mühlen: Das Sprachengebet, in: Ders. (Hg.): Geistesgaben heute, Mainz 1982, S. 113-146. Ders.: Einübung in die christliche Grunderfahrung. Bd. 1, Mainz 19785.

Jürgen Roloff: Persönliche religiöse Erfahrung und Theologie des Kreuzes, in: Herausforderung: Religiöse Erfahrung. Vom Verhältnis evangelischer Frömmigkeit zu Meditation und Mystik. Herausgegeben von Horst Reller und Manfred Seitz, Göttingen 1980.

H. K. Rose: Die Psychosomatik der Kranken mit normokalzämischer Tetanie, in: Arthur Jores (Hrsg.): Praktische Psychosomatik-Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende der Medizin, Bern / Stuttgart / Wien 1976.

John L. Sherill: Sie sprechen in anderen Zungen, Schorndorf (Württ.) 1967

Gerd Theißen: Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983.

L. M. Vivier-van Eetveldt: Zungenreden und Zungenredner, in: Walter I. Hollenweger (Hg.): Die Pfingstkirchen, Stuttgart 1971, S. 183-205.

Der Text ist auch zugänglich in: "Materialdienst der EZW 1/91, S. 1-12
Evangelische Zentralstelle für Welanschauungsfragen, Auguststraße 80, 10117 Berlin
Internet: http://www.ekd.de/ezw

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