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Verzückte Zungen

Die freie christliche Rede

© Eckhard Etzold

Mit dem Phänomen des Zungenredens kam ich das erste Mal in Berührung, als ich im Herbst des Jahres 1978 zu einem ökumenisch-charismatischen Gottesdienst in der katholischen Gemeinde einer niedersächsischen Großstadt eingeladen wurde.

Es war ein Freitagabend. Die Kirche war bis auf die letzten Plätze gefüllt. Rein äußerlich schien nichts darauf hinzudeuten, daß dieser Gottesdienst anders sein sollte als die, die landauf landab in den Kirchen stattfanden. Doch das änderte sich, nachdem der Gottesdienst begonnen hatte: An die Stelle der üblichen Gesangbuchlieder traten vertonte Bibelstellen. Der sonst schwerfällige Kirchengesang wurde durch flotte Rhythmen ersetzt, die zum Mitsingen einluden. Menschen standen auf, erhoben die Hände. Einige klatschten sogar mit. Es herrschte eine ausgelassene, beinahe heitere Stimmung. Phasen der Ruhe und der Gelöstheit wechselten sich im weiteren Verlauf ab, bis eine Veränderung eintrat: Während die letzten Töne eines Liedes nachhallten, begann jemand aus der Gemeinde, leise zu singen, in gleichbleibender Tonhöhe. Andere stimmten mit ein und sangen eine zweite, dritte, vierte Stimme dazu, bis sich aus den verschiedenen Stimmen ein vielstimmiger Akkord aufgebaut hatte, der durch das Kirchengebäude hallte. Verwundert stellte ich fest, daß fast alle Gottesdienstbesucher in dieser Weise sangen. Ich drehte mich um: auch meine nächsten Nachbarn sangen in dieser eigenartigen Weise. Und obwohl ich ihre Stimmen klar und deutlich hörte, verstand ich doch nicht, was sie da sangen. Es hatte eine Ähnlichkeit mit gregorianischen Gesängen. Doch hier wurde weder deutsch noch lateinisch gesungen. Jeder schien etwas anderes zu singen, und trotzdem wirkte dieser Gesang harmonisch. Nach ungefähr einer Minute war dieses improvisierte Singen, so möchte ich es einmal nennen, wieder zu Ende. Als ich nach dem Gottesdienst einen Nachbarn fragte, was das zu bedeuten habe, antwortete ermir: "Das war Singen in anderen Sprachen." Und als ich noch immer nicht verstand, fuhr er fort: "In der Bibel wird davon berichtet, daß Menschen plötzlich in fremden Sprachen reden, die sie nie gelernt haben. Man nennt das auch Zungenreden. Aber wir vermeiden diesen Ausdruck, weil er in die Irre führt."

Das Zungenreden kommt tatsächlich schon in der Bibel vor. Nachdem die Jünger zu Pfingsten den Geist empfingen, gerieten sie außer sich und fingen an in fremden Sprachen zu reden. Für den Apostel Paulus gehört das Zungenreden mit zu den besonderen Fähigkeiten, die dem Christen durch den Geist verliehen werden konnten, neben der Gabe der Heilung, der Prophetie und des Glaubens, der Berge versetzt.

Die Religion hat ja viele Kuriositäten zu bieten, aber Menschen, die in fremden Sprachen reden, ohne daß sie diese vorher gelernt hatten: Davon hatte ich bisher noch nichts gehört. Das klang ja auch sehr unwahrscheinlich. Und trotzdem hatte ich es ja miterlebt, mit eigenen Ohren gehört. Ohne daß ich sagen konnte warum, fühlte ich mich durch die bloße Existenz eines solchen Phänomens zutiefst verunsichert. Ich konnte es nicht erklären und auch nicht einordnen. Deshalb mußte ich mehr darüber wissen. Und schon sehr bald machte ich eine zweite Entdeckung: Bei dem Versuch, mir selbst über dieses Phänomen Klarheit zu verschaffen, stieß ich auf unerwartetes Mißtrauen und Befremden. Ein evangelischer Pfarrer fand es zum Beispiel schon sehr bedenklich, daß ich so etwas überhaupt mit angehört hatte, und hatte Sorge, ich würde in den Sog einer fanatischen Sekte geraten. Ein anderer Theologe erklärte mir geradeheraus, das Phänomen des Zungenredens oder der Glossolalie, wie das entsprechende Fremdwort dafür lautet, sei schon lange verschwunden, und was sich heute als Zungenreden ausgeben würde, sei nichts anderes als ein ekstatisches Stammeln, das mit dem urchristlichen Zungenreden nichts zu tun hätte. Auf meinenHinweis, ich hätte wirklich verschiedene Sprachen gehört, und mit Ekstase hätte das nichts zu tun gehabt, reagierte er bloß mit einem Achselzucken und mit der Rückfrage, ob ich mir sicher sei,nicht auf einen faulen Trick hereingefallen zu sein. Ich war zunächst verwirrt. Wem sollte ich Glauben schenken? Meiner eigenen Wahrnehmung, die mir etwas anderes sagte oder dem Urteil der Theologen, die es eigentlich wissen müßten?

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, daß hinter diesen Fehleinschätzungen und Vorurteilen eine lange Geschichte des Mißverständnisses im Umgang mit dem Zungenreden stand. Zungenreden ist aus der Urchristenheit bekannt. Aber es wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder zu einem Massenphänomen. Die längste Zeit der Kirchengeschichte ist es nur höchst selten aufgetreten. Von daher verwundert es nicht, wenn sich um das Zungenreden ein ganzer Kranz von Spekulationen rankt. Und so stieß ich bei meinenNachforschungen immer wieder auf Beschreibungen, die sich nicht mit den Beobachtungen in Einklang bringen ließen, die ich bereits gemacht hatte: In der Lutherbibel von 1971 zum Beispiel steht im Anhang unter Stichwort "Zungenreden" die Erklärung:

"Als eine Gabe des Geistes wurde das Reden in Zungen hoch geschätzt, bei dem in der Verzückung gebetet und gesprochen wurde, ohne daß die Töne verständlich waren; Paulus wehrte der Überbewertung dieses ekstatischen Betens."

In dem Lexikon für Religion und Geschichte in der Gegenwart, das zum Grundbestand einer jeden theologischen Bibliothek gehört, findet sich folgende Beschreibung des Zungenredens:

"Zungenreden bezeichnet ein Reden, das weder vom Willen des Redenden ausgeht noch in seiner Macht steht, das also psychologisch zu den Automatismen zu rechnen ist. Es äußert sich im krankhaften Seelenleben und tritt vielfach auch in jenem noch unkontrollierbaren Bereich in Erscheinung, den die Parapsychologie zu erforschen sucht". Und im theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament wird erklärt, "es handelt sich bei der Glossolalie (...) um ein unverständliches ekstatisches Reden, zu dessen Ausdrucksformen ein Stammeln von Wörtern oder Lauten ohne Zusammenhang und Sinn gehört."

Zungenreden als Begleiterscheinung der Ekstase: Diese Ansicht konnte ich so nicht teilen. Weder hatte ich den Eindruck, daß hier nur unzusammenhängend gestammelt wurde, noch war von einer entfesselten Ekstase in dem Gottesdienst, den ich miterlebt hatte, etwas zu spüren gewesen. Und doch ist diese Einschätzung des Zungenredens nicht aus der Luft gegriffen, was mir allerdings erst später klar wurde. Sie hängt mit Vorfällen zusammen, die sich um die Jahrhundertwende ereigneten. Damals trat dieses Phänomen nach langer Zeit das erste Mal wieder gehäuft unter Christen auf und versetzte sie in helle Aufregung. Daß aus einen Menschen plötzlich eine fremde Stimme sprach, und er sich selber Worte aussprechen hörte, die er vorher noch nie in seinem Leben gehört hatte, konnte diesen doch nicht kalt lassen:

"Es kam zu allerlei unguten Ausbrüchen einer entfesselten Ekstase, die starken Widerspruch hervorriefen. Männer und Frauen wälzten sich unter Stöhnen, Zuckungen, Krämpfen und Hallelujageschrei auf dem Boden. Auf dem Gipfelpunkt der Erregung setzte das Zungenreden ein."

Diese ersten Erfahrungen mit dem wieder neu auftretenden Zungenreden haben das Bild des Zungenredens negativ geprägt. Kirchen und Freikirchen fühlten sich von den Gefühlsausbrüchen abgestoßen.Vertreter der Gemeinschaftsbewegung, die sich als besonders ernste Christen verstanden, haben am 15. September 1909 in Berlin eine Erklärung verfaßt, mit der sie sich von der sogenannten Pfingstbewegung, in der das Zungenreden auftrat, distanzierten:

"An der Überzeugung, daß diese Bewegung von unten her ist, kann uns die persönliche Treue und Hingebung einzelner führender Geschwister nicht irre machen, auch nicht die Heilungen, Zungen,Weissagungen usw., von denen die Bewegung begleitet ist... Der Geist in dieser Bewegung bringt geistige und körperliche Machtwirkungen hervor; dennoch ist es ein falscher Geist. Er hat sich als ein solcher entlarvt. Die häßlichen Erscheinungen wie Hinstürzen, Gesichtszuckungen, Zittern, Schreien, widerliches, lautes Lachen usw. treten auch diesmal in Versammlungen auf. Wir lassen dahingestellt, wieviel davon dämonisch, wieviel hysterisch oder seelisch ist, - gottgewirkt sind solche Erscheinungen nicht."

Diese Berliner Erklärung hat bis heute Gültigkeit, und noch immer werden Christen, die die Gabe des Zungenredens haben, verdächtigt, sich satanischen Einflüssen geöffnet zu haben.

Zungenreden als Ausdruck satanischer Besessenheit oder als krankhafte Erscheinung des Seelenlebens: Das ist ein hartes Urteil,das sich so heute nicht mehr aufrecht erhalten läßt. Die Menschen, die über diese Fähigkeit verfügen, wirken keinesfalls krankhaft. Und wo dieser Verdacht vielleicht aufkommen könnte, mögen andere Gründe als das Zungenreden ausschlaggebend sein.

Dazu Arnold Bittlinger von evangelischer Seite, der sich schon in den sechziger Jahren eingehender mit dem Phänomen beschäftigt hat: Zungenreden

"ist eine Sprache, kein Stottern, Stöhnen, Jauchzen oder Lallen. Die Bezeichnung der Glossolalie als 'ekstatisches' Reden ist falsch und irreführend. Der Sprachenredner ist bei vollem Bewußtsein... Er hat völlige Kontrolle über sein Sprechen. Er kann nicht nur jederzeit anfangen und aufhören, sondern er kann auch laut oder leise, langsam oder schnell reden."

Gleiches hebt auch Heribert Mühlen, katholischer Professor für Dogmatik aus Paderborn und einer der Wortführer der charismatischen Gemeindeerneuerung in Deutschland, hervor: Das Sprachenreden" ist nicht - wie viele Bibelübersetzungen nahelegen - ein 'verzücktes' oder 'ekstatisches' Reden, sondern ein ganz normales Sprechen in normalen Tonfall."

Wer diese Fähigkeit besitzt, muß nicht vorher in Ekstase geraten oder seinen Verstand ausschalten, um in Zungen zu reden. Wohl aber kann eine Ekstase ausgelöst werden, wenn neben dem Zungenreden noch eine besondere Begeisterungsfähigkeit zur Seite tritt. An einem Beispiel aus der jüngsten Musikgeschichte läßt sich das schön verdeutlichen:

Als die Beatles in den 60ziger Jahren mit ihrer Beatmusik populär wurden, gerieten jugendliche Fans bei ihren Auftritten zu hunderten in Ekstase. Manchem sind diese Bilder noch in Erinnerung: Sowie die ersten Akkorde erklangen, setzte ein ohrenbetäubendes Kreischen im Publikum ein, Mädchen fielen in Ohnmacht, Jungen versuchten, die Absperrungen zu überwinden, und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, um die überschäumende Menge im Zaum zu halten. Trotz dieser Vorfälle würde heute kaum jemand ernsthaft behaupten, Menschen müßten zwanghaft in Ekstase geraten, wenn im Radio Beatles-Songs gespielt werden. Man kann die Beatles hören und ihre Lieder singen, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Ähnliches trifft auch auf das Zungenreden zu. Nachdem sich die anfängliche Aufregung um dieses Phänomen gelegt hat, können heute Menschen auch in Zungen reden, ohne dabei gleich zwanghaft in Ekstase zu fallen. Ich habe Zungenredner kennengelernt, die während ihres Gebetes von der Muttersprache in die Zungensprache wechselten und dabei völlig klar bei Verstand waren, als würden sie einen vorher auswendig gelernten fremdsprachigen Text aufsagen. Sie konnten willentlich bestimmen, wie lange, wie schnell oder langsam, wie laut oder leise sie in Zungen reden wollten. Wenn überhaupt eine Bewußtseinsveränderung wahrzunehmen war, dann vielleicht die einer zunehmenden inneren Gelöstheit. Es waren sonst völlig normale Menschen, und wenn ich einen von ihnen auf der Straße getroffen hätte, ohne daß ich um seine Fähigkeit gewußt hätte, ich wäre garnicht auf die Idee gekommen, so eine ungewöhnliche Begabung bei ihm zu vermuten.

Man schätzt, daß momentan ungefähr 100 Millionen Menschen auf der Welt über diese Gabe verfügen. Zungenredner findet man unter normalen Arbeitern, Angestellten, ja sogar unter Akademikern und Universitätsprofessoren. Sie sprechen aber meistens nicht darüber, weil Unkenntnis und Vorurteile auf Seiten der Außenstehenden oft jedes Verstehen verhindert. So bleiben sie mit sich und ihrer Fähigkeit allein und reden nur mit Menschen darüber, die ebenfalls dieselben Erfahrungen gemacht haben.

Was ist nun eigentlich Zungenreden? Nachdem bis jetzt hauptsächlich die Rede von den Vorurteilen und den Mißverständnissen war, denen das Phänomen des Zungenredens ausgesetzt ist, wird es höchste Zeit, einiges über den Charakter des Zungenredens zu sagen, wie es sich heute uns darstellt:

Zungenreden ist eine wirkliche Sprache, kein unartikuliertes Stammeln oder kindliches Lallen. Zungenreden kann in der Regel nicht von einer irgendwo auf der Erde gesprochenen Fremdsprache unterschieden werden.

Ein kleines Experiment soll dieses verdeutlichen. Es werden gleich drei verschiedene Texte eingeblendet, bei denen die Hörerinnen und Hörer selbst entscheiden sollen, welcher Text welcher Sprachgattung zuzuordnen ist. Es handelt sich bei diesen drei Einblendungen einmal um einen Text einer fremden Sprache, die irgendwo auf der Erde gesprochen wird oder gesprochen wurde, um den Text eines expressionistischen Gedichtes in einer erfundenen Kunstsprache und um den Text einer Zungenrede. Nehmen Sie sich etwas zu schreiben, und notieren Sie sich, während die Texte eingeblendet werden, welchen Text Sie der Zungenrede, der wirklich gesprochenen Fremdsprache oder der expressionistischen Kunstsprache zuordnen würden:

Text Nr. 1:

Ango Laina. Oiaí laéla aía ssísialu, ensúdio trésa súdio mischnumi. ja lon stuáz, brorr schjatt. oiázo tsuígulu. ua sésa masuluó tülü. ua sésa maschiato teró, oi séngu gádse ándola. oi ándo séngu, séngu ándola. oi séngu gádse. ina leíola kbaó sagór kadó.

Text Nr. 2:

gadáa shilepelään: jádia leshedík okulesía ktän. momródian na'omm geshída birnanáa, leshirna hässala wellidiláku as'ktäne harodiat kais. móori gloofaná máltam betoshídi magálla kúm? chid 'émro herogulaw hanóon geshíd, pälee welíadan moorat 'ála goshimine, láharóogul 'assiál.

Text Nr. 3:

En arché én ho logos, kai ho logos a pros ton theon, kai theos én ho logos. Houtos én arché pros ton theon. Panta di autou egéneto, kai choris autou egeneto oude en ho gegonen. Ev autou zoé én, kai he zoé én to phos ton anthropon.

Selbst einem erfahrenen Sprachforscher wird es nicht leichtfallen, diese drei Texte den verschiedenen Sprachgattungen zuzuordnen. Alle drei Texte besitzen Satzgliederung und eine eigene Sprachmelodie. Von keinem dieser Texte kann gesagt werden, daß es sich bloß um ein unartikuliertes Stammeln oder Lallen handele.Aber nun soll die Auflösung nicht länger hinausgezögert werden: Text Nr. 1 ist das expressionistische Gedicht "Ango Laina" von Rudolf Blümner. Bei dem zweiten Text handelt es sich um Zungenrede, die nach Tonbandprotokoll niedergeschrieben wurde und hier von einem Profisprecher gesprochen wurde. Dieser Kunstgriff war nötig, da Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, vor dem Mikrophon nur schwer ein Wort herausbringen und sich durch ihre Aufregung von den anderen Stimmen abgehoben hätten. Bei dem dritten Text handelt es sich um eine wirkliche Fremdsprache.

Dieser Sprachvergleich zeigt schon, wie schwierig es ist, eine unbekannte Sprache zu identifizieren. Ein Sprachforscher, vor diese Aufgabe gestellt, braucht dazu mindestens 16 DIN-A-4-Seiten Text in dieser Sprache, um sie sicher einordnen zu können. Das hat einen plausiblen Grund. Denn es sind zur Zeit über 150.000 verschiedene Sprachen und Dialekte bekannt, die auf der Erde gesprochen werden oder gesprochen wurden und längst ausgestorben sind.

Angesichts dieser Sprachenvielfalt ist schon häufig die Frage gestellt worden, ob es sich bei dem Zungenreden wirklich um das Sprechen einer fremden Sprache handelt, also einer Sprache, die irgendwo auf der Welt gesprochen wird oder gesprochen wurde. Aus der Pfingstbewegung wurden in der Vergangenheit häufig solche Berichte überliefert, wie das folgende Beispiel zeigen soll:

"Dr. T.J. McCrossan aus Minneapolis erzählt die Geschichte von neun U.S. Marinesoldaten, die an einem Samstagabend angelockt durch die Musik, eine kleine pfingstliche Versammlung in Seattle, Washington, betraten und dann mit wachsender Verwunderung zuhörten, wie eine ihnen bekannte Amerikanerin aufstand und eine Zungenbotschaft gab. Alle neun Soldaten waren Philipinos, alle neun erkannten einen unbekannten Philipino-Dialekt und waren sich über den Sinn des Gehörten einig. Sie wußten, daß die Frau von Natur aus absolut kein Philipino sprechen konnte, viel weniger diesen seltenen Dialekt aus einer Gegend, die kaum jemals von Menschen des Westens besucht wird."

Das klingt aufregend und reizt zu Spekulationen. Aber leider sind diese Berichte nicht so gut dokumentiert, als daß sie wissenschaftliche Zuverlässigkeit beanspruchen können. Mir selbst ist bisher kein Bericht in die Hände gefallen, von dem ich behaupten möchte, er könne den strengen Kriterien wissenschaftlicher Beweissicherung genügen. Von daher bin ich eher skeptisch, wenn behauptet wird, es handele sich bei Zungenrede um wirklich gesprochene Fremdsprachen, die der Sprecher nicht gelernt hat. Wo solche Ähnlichkeiten sichtbar werden, was durchaus der Fall ist, hängt das mit bestimmten Vokal-Konsonant-Kombinationen zusammen, die denen gesprochener Fremdsprachen ähnlich sind.

Die einzig einigermaßen gesicherten Belege für das plötzliche Sprechen in einer fremden Sprache, die dem Sprecher selbst unbekannt ist, stammen übrigens aus dem nichtchristlichen Bereich.Sie kommen aus Indien und stehen dort im Zusammenhang mit der Reinkarnationsforschung, in der es um die Frage geht, ob ein Mensch vor seinem Tod schon einmal gelebt hat:

Im Alter von drei bis dreieinhalb Jahren erklärt Swarnlata, die Tochter von Sri M.L. Mishra, den Eltern, sie habe schon einmal in einer anderen Stadt unter einem anderen Namen gelebt. Zwischen fünf und sechs Jahren beginnt Swarnlata, den Eltern unbekannte Tänze vorzuführen und dazu in einer unbekannten Sprache zu singen. Der Parapsychologe Ian Stevenson, der diesen Fall untersuchte, fand heraus, daß es sich dabei um eine wirkliche Fremdsprache handelte, die Swarnlata angeblich in einem vorherigen Leben gesprochen hatte. Stevenson spricht in diesem Fall von "rezitativer Xenoglossie", also vom Reden in einer Fremdsprache, das sich nur im Rahmen fester, wiederkehrender Textfragmente bewegt. Aber solche Vorfälle sind höchst selten.

Beim heute sehr häufig auftretenden Zungenreden handelt es sich dagegen um Pseudosprachen, also um ein Sprechen mit Syntax und Grammatik, das rein äußerlich von einer Fremdsprache nicht zu unterscheiden ist. Daß ein Mensch spontan in solch einer Pseudosprache zu reden vermag, gibt uns interessante Aufschlüsse über die Entstehung des menschlichen Sprachvermögens. Zwischen den Verstandesfunktionen und dem Sprachzentrum im Gehirn besteht nur ein loser Kontakt. Das Sprachzentrum kann offenbar sprachlich strukturierte Silben und Wortketten produzieren, ohne daß der Verstand dabei beteiligt ist. Die Fähigkeit, Töne und Laute in eine sprachliche Struktur zu bringen, mit einer festgefügten Syntax und Grammatik, die mitunter lyrischen Charakter haben kann, muß sich der Mensch nicht erst durch Nachahmung aneignen, sondern sie ist ihm schon von Geburt an mitgegeben.

Daher ist die wichtigste Voraussetzung für das Zungenreden sehr einfach: Es ist die Fähigkeit, überhaupt reden zu können. Wer stumm ist, wird auch nicht in Zungen reden können. Alle Erfahrungen mit dem Zungenreden haben gezeigt: Wer sprechen kann, kann im Prinzip auch in Zungen reden. Er muß nur dafür aufgeschlossen sein. Und diese Aufgeschlossenheit für das Zungenreden kann sich unterschiedlich einstellen:

Die häufigste Weise ist die der Initiation: Wer einmal andere Menschen in Zungen reden gehört hat und für diese Weise des Gebetes offen ist, bekommt ein unbewußtes Gespür dafür, wann für ihn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um selbst in Zungen zu reden.Das kann während eines Gottesdienstes geschehen, wo das Singen in Zungen gepflegt wird, das kann aber auch in der persönlichen Andacht passieren.

Es gibt auch Fälle, wo Menschen diese Gabe ohne jede Initiation empfangen, manchmal sogar gegen den eigenen Willen. Andere reden das erste Mal in Zungen nachts, wenn sie träumen, und stellen hinterher verblüfft fest, daß sie es auch im normalen Wachzustandkönnen. Problematisch wird die Vermittlung des Zungenredens erst, wenn jemand versucht, diese Gabe einem anderen gegen seinen erklärten Willen aufzudrängen, vielleicht mit dem Argument, jeder Christ müsse diese Fähigkeit besitzen, sonst sei er kein voller Christ.

Welchen Sinn hat nun dieses ja sogar für den Sprecher unverständliche Reden?

Ein 14jähriges Mädchen berichtet:

"In den letzten Wochen hatte ich fast nicht gebetet. und es ging mir auch dementsprechend schlecht. Als ich dann bei einem Bibelkurs so viel über das Sprachengebet hörte, wünschte ich mir, das auch zu können. Dieser Wunsch war unbeschreiblich stark in mir. Ich wollte in die Kapelle gehen, aber die war zu diesem Zeitpunkt gerade geschlossen.Darum rannte ich, so schnell ich konnte, in unseren Betraum auf dem Dachboden. Dort war ich allein und betete um diese Gabe. Plötzlich fing es in mir an zu singen. Und ich machte den Mundauf und fing laut an, in anderen Sprachen zu singen. Ich spürte, wie ich in diesem Gebet all das vor Gott bringen konnte, was in den letzten Wochen nicht in Ordnung gewesen war. Das hätte ich im normalen Gebet überhaupt nicht gekonnt."

Ein etwa 30jähriger Mann erzählte:

"Ich benutze das Zungenreden nur zum privaten Gebrauch, zum Beispiel beim Autofahren. Wenn ich mich über irgendetwas aufrege oder davor Angst habe, weil etwas schiefgehen könnte, stelle ich das Autoradio an, suche Musik, und dann fange ich an in Zungen zu schimpfen. Ich jammere und klage, manchmal schreie ich sogar dabei in dieser unbekannten Sprache. Währenddessen löst sich die Anspannung oder die Furcht. Ich weiß, daß Gott dadurch bewegt wird, etwas zu tun. So ist es dann auch. Oft nur kurze Zeit später löst sich das Problem in Wohlgefallen auf."

In beiden Fällen hat das Zungenreden eine psychische Entlastungsfunktion, so wie die natürlichen Regungen des Weinens oder auch des Lachens dazu dienen, Spannung oder Erregung abzubauen. Beidiesen scheinbar sinnlosen Drauflosreden werden Gefühle in Worte gefaßt, für die wir in der Muttersprache keine angemessenen Ausdrucksmöglichkeiten haben: Wer sich fürchtet, kann das zwar sagen: Ich fürchte mich! oder: Ich habe Angst. Aber diese sprachliche Mitteilung reicht nichtaus, um die Ängste wirklich abzubauen. Nach kurzer Zeit bleibtdem Geängstigten nichts anderes mehr übrig, als zu verstummen.Die Angst wird zur lähmenden Angst.

Es muß also mehr hinzutreten, damit sich etwas in der Gefühlslage ändert, und die Angst ihre lähmende Wirkung verliert. Bei der Angst passiert es oft sogar, daß wir gar nicht wissen, warum wir Angst haben oder wovor wir uns fürchten. Angst ist irrational. Ihre Ursachen liegen zum großen Teil in jenem Bereich der menschlichen Seele, der sich rationaler Kontrolle entzieht: dem Unbewußten. Infolgedessen muß ein Abbau der Angst auch im Unbewußten einsetzen und sich auf irrationale Weise vollziehen. Das kann aufverschiedene Weise geschehen: durch Freisetzung der unbewußtenBilderwelt in Tagträumen oder auch durch das Lautwerden der inneren Sprache, der Sprache des Unbewußten, wie es im Zungenreden geschieht. Wer in Zungen redet, versteht oft selbst nicht, was er sagt. Mit seinen eigenen Ohren nimmt er jedoch wahr, daß es Dinge gibt, die er beim besten Willen nicht begreifen kann. Der Apostel Paulus, selbst ein Zungenredner, gibt vermutlich eigene Beobachtungen wieder, wenn er schreibt:

"Wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist Geheimnisse. "

Das Geheimnis hat in unserem Weltbild kein Platz mehr. Wir leben in einer Zeit, in der alles erklärt werden muß. Doch spätestens, wenn man das erste Mal in Zungen redet und ein Schwall ganzer Worte über die Lippen strömt, deren Bedeutung sich dem Verstand entzieht, wird einem die verdrängte Dimension des Geheimnisvollen bewußt, und dieses umso drängender, als es nicht von außen an einen herantritt, sondern von innen her: Das Beunruhigende kommt ausder Tiefe der eigenen Person. Und man wird sich ihm deshalb umso dringender stellen müssen. Ein besonderes Gewicht hat daher inder Regel die erste Erfahrung mit dem Zungenreden, die so etwas wie ein seelisches Durchbruchserlebnis darstellen kann. Dennis Bennett, Pastor in einer amerikanischen Episkopal-Church, beschreibt seine Anfangserfahrung mit dem Zungenreden, die durchaus typisch ist:

"Meine Zunge stolperte, so etwa wie wenn man einen Zungenbrecher aufsagen will, und ich begann in einer neuen Sprache zu sprechen... Mir war in keiner Weise 'der Boden unter den Füßen fortgerissen', sondern ich befand mich im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten und Willenskraft."

Bennett war in dem Vorurteil befangen, daß er beim Zungenreden den Verstand verlieren würde, so wie es in den älteren Beschreibungen des Zungenredens, die wir schon gehört haben, gesagt wird. Das Ausbleiben des Kontrollverlustes ermutigte ihn jedoch zum Weitersprechen in dieser fremdartigen Weise:

"Noch immer verspürte ich nichts, was aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel: keine große geistliche Inspiration, keine besondere innere Wärme der Gegenwart Gottes. Es war jedoch interessant und irgendwie erquickend, und so sprach ich einige Minuten lang weiter. Ich wollte gerade innehalten, als John sagte: 'Höre nicht auf!Sprich weiter! Sprich weiter!'... Nach drei oder vier Minuten begann ich etwas Neues zu verspüren. Diese Sprache wurde mir aus einer zentralen Stelle in mir gegeben, wo Gott war, meilenweit jenseits der Sphäre meiner eigenen Emotionen. Je länger ich sprach, desto mehr wurde ich mir der Gegenwart Gottes in mir bewußt."

Erst nach einer längeren Zeit bemerkte er auch die ersten Veränderungen in seiner Gefühlsverfassung, die sich jedoch noch im Rahmen des Erträglichen abspielten:

"Ich wollte weiter und weiter und weiter sprechen; und das tat ich ungefähr 30 Minuten lang, wobei ich diese schöne, mir unbekannte Sprache über meine Lippen strömen ließ und in einer fließenden Beredsamkeit, die ich nicht für möglich gehalten hatte,mein Herz vor Gott... darlegte... Während ich so weitersprach, ereignete sich noch etwas anderes. Ich wurde glücklicher und glücklicher... Nie zuvor hatte ich die Gegenwart Gottes in solch einer Realität wie jetzt empfunden."

Bennett fühlt sich psychisch entlastet und spürt ein tiefes Glücksgefühl. Wichtiger ist ihm jedoch die religiöse Dimension. Ein Gott, der unerforschlich und verborgen ist, mit diesem kann man eigentlich nur auf rechte Weise in Kontakt treten, wenn man selbst auf unverständliche Weise mit Worten redet, die sich dem eigenen Verstehen genauso entziehen wie der Gott, an den sie gerichtet sind. Wer in Zungen redet, redet geheimnisvolle Worte und wird unüberhörbar damit konfrontiert, daß es in ihm oder um ihn herum Geheimnisse gibt, die er mit besten Willen nicht knackenkann. Man kann sich darauf einlassen, wie Bennett und viele andere es getan haben, und hineingenommen werden in die Glückseligkeit einer religiösen Geborgenheitserfahrung. Man kann sich aber auch dagegen sperren. Der besondere Wert des Zungenredens liegt vielleicht gerade darin: daß es uns in einer Zeit, in der alles erklärbar zu sein scheint, mit der verlorenen Dimension des Geheimnisses wieder konfrontiert. Und das dürfte uns eigentlich nicht schaden.

Text der gleichnamigen Rundfunksendung in der Reihe NDR 3 - Thema vom 13. Dezember 1991

Literatur

Bennett, Dennis J.: In der dritten Stunde, Erzhausen 1973, 3.Aufl..

Bittlinger, Arnold: Glossolalia. Wert und Problematik des Sprachenredens. Schloß Craheim 1969, 3. Aufl..

Ders.: ... und sie beten in anderen Sprachen. Charismatische Bewegung und Glossolalie. Hrg.: Koordinierungsausschuß für Charismatische Gemeindeerneuerung i. d. Evangelischen Kirche, 1979, 4.Aufl..

Christenson, Larry (Hrsg.): Komm Heiliger Geist! Informationen, Leitlinien, Perspektiven zur Geistlichen Gemeinde-Erneuerung, Metzingen/Württ., Neukirchen Vluyn 1989

Hinson, E. Glenn u.a.: 2000 Jahre Zungenreden. Glossolalie inbiblischer, historischer und psychologischer Sicht, Kassel 1968.

Hutten, Kurt: Seher, Grübler, Enthusiasten. Sekten und religiöse Sondergemeinschaften d. Gegenwart, Stuttgart 1961, 7. Aufl.

Keilbach, W.: Art. Zungenreden, in: RGG, Bd. VI, Tübingen 1962, 3. Aufl.

Kelsey, Morton T.: Zungenreden. Mit einer Einführung von KurtHutten und einem Vorwort von Upton Sinclair, Konstanz 1970.

Malony, H. Newton / Lovekin, A. Adams: Glossolalia. Behavioral Science Perspektives on Speaking in Tongues, New York, Oxford 1985.

Mühlen, Heribert: Das Sprachengebet, in: ders., (Hg.), Geistesgaben heute, Mainz 1982, S. 113-146.

Ders.: Einübung in die christliche Grunderfahrung. Bd. 1, Mainz 1978, 5. Aufl.

Sherill, John L.: Sie sprechen in anderen Zungen, Schorndorf (Württ.) 1967.

Stevenson, Ian: Reinkarnation. Der Mensch im Wandel von Tod und Wiedergeburt. 20 überzeugende und wissenschaftlich bewiesene Fälle, Freiburg im Breisgau 1986, 5. Aufl., S. 102-107.

Theißen, Gerd: Psychologische Aspekte paulinischer Theologie,Göttingen 1983.

Vivier-van-Eetveldt, L.M.: Zungenreden und Zungenredner, in: Walter J. Hollenweger (Hrsg.): Die Pfingstkirchen, Stuttgart 1971, S. 183- 205.

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