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Das Wort

Segen und Fluch

Predigt über Psalm 127 am 30. Juli 2000 in St. Jakobi

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Liebe Gemeinde,

wir kennen doch alle diese Sprüche: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Oder: "Der Mensch erntet, was er sät." Oder aus der Werbung: "Genießen Sie ihren Lebensabend, Sie haben ihn sich redlich verdient."

Schön, wenn es so wäre. Schön, wenn wir immer in der Lage wären, den Lohn unserer Arbeit, unseres Bemühens zu ernten. Schön, wenn das klappt: dass ich den Verdienst für meine harte Arbeit empfange. Aber offenbar wissen wir auch, dass das nicht immer so geht. Wir können uns anstrengen, und trotzdem geht alles daneben. Das ist dann so ein Montag, an dem mehr Ausschuss zustande kommt, als die Statistik eigentlich erwarten läßt. Unlust, schlechte Stimmung, schlechte Atmosphäre kann uns um den Lohn unserer Bemühungen bringen. Deshalb brauchen wir mehr als körperliche und geistliche Fittness, um unser Leben bestehen zu können.

Wenn man hier bei uns im Südniedersächsischen durch die alten Dörfer geht und aufmerksam die Fachwerkhäuser aus alter Zeit studiert, findet man in vielen noch Inschriften. Eine, die immer wieder kehrt, ist dem Psalm 127 entnommen, die ich hier vollständig wiedergebe:

"Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf." (Psalm 127,1-2)

Überschrieben ist dieser Psalm Salomos in meiner Lutherbibel mit den Worten "An Gottes Segen ist alles gelegen". Damit also das Leben gelingen kann und wir empfangen und genießen dürfen, was wir verdient haben, muss also noch etwas hinzutreten zu dem, was unsere Arbeit und Mühe ausmacht. Die Bibel bezeichnet dieses andere als Segen. Ein Wort sicher, mit dem unsere Zeitgenossen heute nur noch wenig anfangen können.

I.

Was ist das: Segen?

Segen ist etwas, das durch Segnen übertragen wird. Ich segne ein Kind bei der Taufe ein. Ich segne die Konfirmanden ein und lege meine Hände auf ihr Haupt, ich segne ein Brautpaar ein, ich segne einen Sterbenden ein. In allen diesen Segenshandlungen soll denjenigen, die davon profitieren, etwas mitgegeben werden, was ihnen beim Leben hilft. Und auch, wenn ihnen das jetzt sehr religiös erscheint, so gibt es im Alltag eines jeden Menschen ständig segnende Handlungen. Sie wissen es nur nicht. Aber es ist wahr, jeder von uns segnet ständig andere Menschen. Auch derjenige, der sich schon lange von der Kirche oder von der christlichen Religion entfernt hat. Der Segen durchdringt unseren Alltag, und er ist bei jedem einzelnen von uns in einer Aufdringlichkeit gegenwärtig, die wir - wegen ihrer ständigen Anwesenheit - kaum mehr zur Kenntnis nehmen. Das möchte ich Ihnen näher erklären: Der einfachste Segensakt spielt sich unzählig oft ab, sowie wir einem anderen Menschen begegnen. Er wird vollzogen, wenn ich zu einem anderen Menschen sage: "Guten Tag!" - Das heißt: ich wünsche diesem Menschen einen guten Tag, ich möchte, dass es ihm gut geht, gute Gedanken gehen von mir zu ihm. Die Amerikaner mit ihrer Neigung zum Überschwang rufen sich sogar zu: "Have a great day" - Erlebe heute einen großen Tag. Und wer möchte das nicht, einen wirklich großen Tag erleben.

Wie sehr wir diesen Alltagssegen brauchen und auf ihn angewiesen sind, bemerken wir erst, wenn jemand uns den Gruß nicht erwidert. Keinen "guten Tag" zu wünschen, den Gruß zu verweigern, das bedeutet geradezu Feindseligkeit, Geringschätzung. Das drückt auf die Stimmung, und wir können ganz schön unglücklich werden.

Den Segen jemanden entziehen, das bedeutet, biblisch gesprochen: jemanden dem Fluch aussetzen. Und dem Fluch aussetzen heißt, jemandem bewusst schaden zu wollen, heißt, ihm das Leben nicht zu gönnen, das er empfangen hat.

Es geht aber noch viel weiter: Geburtstagsglückwünsche und Ehrungen sind große Akte segnenden Handelns - immer noch ohne direkten religiösen Bezug. Und all die anderen kleinen Akte, von denen unser Alltag durchsetzt ist: Schlaf gut. Sich eine gute Nacht zu wünschen, ein frohes Schaffen oder einfach auch nur "Mahlzeit", überall geht es immer um dasselbe, nämlich den anderen hinein zu versetzen in eine Atmosphäre gelingenden Lebens. So definieren die Wissenschaftler übrigens das Wort Segen.

II.

Was passiert aber, wenn ein Mensch sich im Segen befindet oder den Segen verliert? Wenn er sich nicht wieder findet in einer Atmosphäre gelingenden Lebens? Mit dem letzterem, dem bedrohlichen, möchte ich zuerst beginnen, Sie bekommen danach auch die andere Seite, die gelingende, vorgeführt.

Ein Mensch, der den Segen verloren hat, wird uns in einem Märchen aus dem Orient beschrieben. Hören Sie genau hin und schauen Sie, was da passiert. Das Märchen heißt "Kalif und Knecht":

Ein reicher und angesehener Kalif schickte einen seiner Knechte auf den Markt zum Einkaufen. Kurze Zeit später stand der Knecht mit leeren Händen, bleich und am ganzen Leib zitternd vor ihm. Er warf sich vor seinem Herrn auf die Knie und flehte ihn an: "Herr, ich muss fliehen! Leih mir bitte dein schnellstes Pferd! Ich muss schleunigst fort! Ich muss weg von hier, diesem schrecklichen Ort!"
"Bei Allah," entgegnete ihm der Kalif, "was ist geschehen?"
"Er ist mir begegnet. Mitten auf dem Marktplatz traf ich ihn. Groß und schwarz stand er vor mir, mit einem breiten schwarzen Hut, der TOD! Angesehen hat er mich, und ich glaube, er wollte mich packen. Er hat es auf mich abgesehen. Ich bin gerannt, so schnell ich konnte, um zu dir zu gelangen. Du allein kannst mir helfen. Leih mir dein schnellstes Pferd! Ich will nach Ashdod fliehen! Das ist eine Hafenstadt. Da gibt es Millionen Menschen. Da sind enge Gassen. Da werde ich mich verstecken."
Der Kalif empfand großes Mitleid mit seinem verstörten Diener. Er lieh ihm sein schnellstes Pferd. Sein Diener jagte davon. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wollte er Ashdod, die ferne Hafenstadt, erreichen. Dort konnte er vor dem Tod sicher sein.
Der Kalif aber war neugierig geworden. Ihn wunderte die Beschreibung des Todes, mehr aber noch die Vorstellung, dass der Tod seinen Diener absichtlich erschreckt habe. So entschloss er sich, zum Markt zu gehen, um den Tod zu treffen.
Das bunte und geschäftige Treiben des Marktes nahm ihn augenblicklich gefangen. Es dauerte nicht lange, bis ihm die ersten Zweifel an der Schilderung seines Knechtes kamen. Was sollte der Tod wohl mitten in der Hektik des alltäglichen Marktgeschreis?
Doch dann sah er die Gestalt. Wie beschrieben, groß und schwarz, mit einem breiten schwarzen Hut. Er folgte der Gestalt. Bald standen sie sich gegenüber. Es gab keinen Zweifel, das war der TOD. Der Kalif sah ihn an und fragte: "Du hast heute morgen meinen Knecht erschreckt. Warum? Hattest du eine Verabredung mit ihm?"
Der Tod sah den Kalifen an, zuckte kurz mit den Achseln und sprach mit ruhiger Stimme: "Nein Kalif, ich wollte deinen Knecht nicht erschrecken. Ich hatte keinen Grund dafür. Eine Verabredung habe ich wohl mit ihm. Aber nicht heute, erst morgen. Aber auch nicht hier, sondern weit weg von hier in der Hafenstadt Ashdod. Da war ich schon sehr verwundert, deinen Knecht heute hier antzutreffen. Denn wie um alles in der Welt will er denn bis morgen nach Ashdod kommen?"

(Pause. Wirken lassen.)

Es ist eine unheimliche Geschichte. Unheimlich deshalb, weil wir spüren: es gibt im Leben noch andere Kräfte, die unser Wohlergehen bestimmen.

Sie haben bemerkt, was da passiert. Da kommt etwas ins Rutschen, da erscheint uns plötzlich der alltägliche Zusammenhang von Tun und Ergehen verdreht. Ein Mensch tut etwas, um eine Bedrohung abzuwenden, und gerade durch das, was er tut, liefert er sich ihr selbst aus. Das heisst, aus dem Segen zu fallen, das ist das, was das Wort Fluch bedeutet. Wer verflucht ist, der kann sich nicht mehr retten, der ist verloren. Das ist durchaus wörtlich gemeint: gerade eben ist eine wissenschaftliche Arbeit erschienen, die sich mit dem Voodoo-Tod befasst oder dem psychogenen Tod, wie er in unserer Kultur heißt. Dieser Tod tritt ein, meistens sehr schnell, allein durch die Tatsache, dass ein Mensch vom Bereich des Segens und aus der Gemeinschaft aller ausgeschlossen wird. Wer davon bedroht ist, kann nur hoffen, dass er jemanden findet, der stärker ist als der Fluch, der die Vollmacht hat, ihn wieder in den Segen zu versetzen.

Liebe Gemeinde, das ist der tiefere Grund, weshalb ich in jedem Gottesdienst alle, die gekommen sind, segne, und weshalb für mich als Geistlicher meine wichtigste Aufgabe ist, mit den Segenskräften erfüllt zu sein und selbst in der Atmosphäre gelingenden Lebens zu leben.

III.

Und nun erzähle ich Ihnen noch die andere Geschichte, die Geschichte vom Bauern und seinem Sohn, die uns vor Augen führt, was passiert, wenn man im Segen lebt.

Ein Bauer fürchtete Gott und lebte mit seinem Sohn in einem abgeschiedenen Dorf. Seine Kräfte ließen nach, und er galt als ein armer Mann und hatte nicht viel zu beißen. Sein Sohn war seine einzige Hilfe Tag und Nacht, und auf ihn konnte er sich verlassen. Eines Tages ging er in den Wald, um Beeren zu sammeln, und als er zurückkehrte, brachte er ein Wildpferd mit, welches er eingefangen hatte.
"Oh, welch ein Glück", riefen seine Nachbarn aus. Nun kann er das Pferd zähmen und vor den Pflug spannen, Getreide anbauen, und er wird Brot die Fülle haben. Der Bauer aber schüttelte den Kopf: "Ob das ein Glück ist, weiss ich nicht. Die Zeit wird es herausbringen."
Am nächsten Tag sprach der Sohn: "Vater, ich bin stark und kräftig, lass mich das Pferd einreiten, damit es uns zu guten Diensten sein kann." Der Sohn stieg in die Koppel und schwang sich auf das Pferd. Doch dieses bäumte sich auf und warf ihn ab und rannte fort. Der Sohn schrie laut auf. Er hatte sich beim Fall ein Bein gesprochen.
"Oh, welch ein Unglück", riefen seine Nachbarn aus. Nun hat der Bauer sein Pferd verloren, und sein Sohn muss im Hause liegen, bis er wieder gesund ist. Der Bauer aber schüttelte wiederum den Kopf: "Ob das ein Unglück ist, weiss ich nicht. Die Zeit wird es herausbringen."
Am nächsten Tag kamen Soldaten des Grafen ins abgeschiedene Dorf, und der Ausrufer verkündete: "Der Graf führt Krieg gegen den König, und er hat bestimmt, dass alle rüstigen Männer eingezogen werden, um gegen den König mit seiner Übermacht zu Felde zu ziehen..."
"Oh, welch ein Glück", dachte der Bauer, schloss seinen Sohn fest in die Arme, sie lobten Gott und dankten ihm und sie weinten vor Freude die ganze Nacht.

IV.

Das ist die Atmosphäre gelingenden Lebens, in der selbst das Unglück und auch eigenes Fehlverhalten zum eigenen Besten dient. Eine Segensgeschichte besteht, wie wir hier sehen können aus vielen kleinen Episoden, Glücksfällen oder Unglücksfällen. Ob aber ein Unglück wirklich zum Segen wird und das Glück ins Verderben führt, das hängt immer von dem ab, was danach kommt und von dem größeren Zusammenhang, in dem es steht.

Es ist fast so wie in der Mathematik: eine einzelne Zahl selbst besagt wenig. Aber ihr Vorzeichen entscheidet, welche Bedeutung sie hat. Aus Minus kann Plus werden und umgekehrt. Wenn das Leben selbst eine mathematische Gleichung wäre, dann wären unser Charakter, unsere Person die festen Ausgangswerte. Die Arbeit und die Mühe, die wir im Leben aufwenden, um etwas zu erreichen, wären die Variablen als bekannte Zahlenwerte, die als Quotienten und Multiplikatoren fungieren. Und der Segen wäre die Variable X, die wir nicht kennen. Sie aber, diese Größe X hat die Macht, jedes Vorzeichen aller anderen Zahlenwerte umzukehren, und nicht nur das: Sie kann noch so geringe Zahlenwerte bis ins Unendliche steigern und Hochpotenzen bis auf Null abstürzen lassen. An ihr liegt es, wenn ein noch so kleiner Arbeitseinsatz einen grossen Erfolg bringt und ein großer Einsatz nur im kläglichen Ertrag endet. An ihr, dieser Variable X entscheidet sich, ob Charakter, Mühe und Arbeit im Leben Früchte tragen.

Ist der Segen in einem Leben da, so kann er fast jedes Minus in ein Plus verwandeln. Fehlt er, so können wir im Plus schwelgen, doch es gerät uns zum Minus. Am Segen liegt es also, ob ein scheinbare Unglück uns zum Guten ausschlägt und ob wir uns am erarbeiteten oder geschenkten Glück erfreuen dürfen. Das heisst, ein gesegnetes Leben zu führen, und das ist es, was ich Ihnen jetzt zum Schluss dieser Predigt auch wünsche:

Der Herr segne Dich
Er erfülle Dein Herz mit Ruhe und Wärme
Deinen Verstand mit Weisheit
Deine Augen mit Klarheit und Lachen
Deine Ohren mit wohltuender Musik
Deinen Mund mit Fröhlichkeit
Deine Nase mit Wohlgeruch
Deine Hände mit Zärtlichkeit
Deine Arme mit Kraft
Deine Beine mit Schwung
Deine Füße mit Tanz
Deinen ganzen Leib mit Wohlbefinden
Deine Liebe mit Inbrunst und Hingabe
So lasse der Herr
alle Zeit seinen Segen auf Dir ruhen
Er möge Dich begleiten und beschützen
Dir Freude schenken Dein Leben lang
Dir Mut zusprechen in schweren Zeiten

Amen.

© Pfr. Eckhard Etzold


Hinführendes zum Thema Segen und Fluch in der Forschung:

-> Gottes Segen. Biblische und dogmatische Motive einer Theologie des Segens:
http://www.uv.ruhr-uni-bochum.de/Forschungsbericht/e01/e010107/p04.htm

-> Wolfgang Krischke: In einem Käfig ohne Türen. Manche Menschen sterben ohne körperliche Krankheit, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 16 vom 21. April 2000.

-> Gary Bruno Schmid: Tod durch Vorstellungskraft - das Geheimnis psychogener Todesfälle. Springer-Verlag, Wien/New York 2000.

-> Manfred Josuttis: Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge. Chr. Kaiser, Gütersloh 2000

-> Andreas Obermann: An Gottes Segen ist alles gelegen. Eine Untersuchung zum Segen im Neuen Testament. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1998

-> Walter Rebell: Alles ist möglich dem, der glaubt. Glaubensvollmacht im frühen Christentum. Chr. Kaiser, München 1989


Das Märchen "Kalif und Knecht" ist entnommen den "braunschweiger beiträgen" Nr. 21, September 1982, S. 51. Das Segensgebet am Ende ist formuliert nach einem alten irischen Segensspruch.

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[Menschen]
Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/predigt/, Stand: 13. März 2005, ee