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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Zum 70. Geburtstag von Kurt Dockhorn
(Download (mit Fußnoten) als pdf hier)


Lothar Kreyßig als Jurist

von Helmut Kramer

Mit der juristischen Zeitgeschichte, auch mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Justiz, ist es nicht zum Besten bestellt. Die Beschäftigung damit gehört zwar längst zur Richterfortbildung, ein Verdienst vor allem der Deutschen Richterakademie. In der Juristenausbildung findet das Thema aber kaum Platz. Immerhin gehört heute zum Basiswissen aller Juristen, dass unsere Vorgänger im Dritten Reich versagt haben, schlimmer noch: das Recht verbrecherisch missbraucht zu haben. Nur: Was sagt uns diese Tatsache heute? Meine Erfahrungen auch in der Richterfortbildung: Die bloße Schilderung der Schrecknisse etwa am Volksgerichtshof unter einem Roland Freisler macht zwar betroffen, löst Entsetzen und Empörung aus, lässt aber eher Sprachlosigkeit zurück. Das jedenfalls solange man nicht zugleich danach fragt, wie die meisten Juristen damals zu ihren entsetzlichen Ergebnissen gekommen sind, nämlich auf mitunter durchaus professionelle Weise und unter Einsatz des reichhaltigen juristischen Methodeninstrumentariums, um das Unrecht mit dem Schein des Rechts zu versehen. Eine viel größere geistige Anstrengung als die Beschäftigung mit den juristischen Tätern verlangt die Auseinandersetzung mit ihrem Gegenbild, nämlich mit den Juristen, die sich damals nicht angepasst haben. Davon gab es unter den rund 14.000 Richtern und Staatsanwälten des Dritten Reiches nur ganz wenige. Einer davon, vielleicht der einzige, der sich konsequent von Anfang bis Ende dem NS-Regime verweigert und dabei viel, vielleicht auch sein Leben riskiert hat, war Lothar Kreyßig.

Lothar Kreyßig, geboren im Jahre 1898, kam aus einem gutbürgerlichen Haus. Sein Vater unterhielt eine Getreidehandlung und eine Spedition. In seinem Lebenslauf findet sich anfangs wenig, was die spätere Entwicklung hätte vorausahnen lassen. Selbstkritisch berichtete er später, nach seinem in Chemnitz 1917 abgelegten Abitur habe er nichts anderes werden wollen als Seeoffizier zu werden. Dann habe die Ermordung Walter Rathenaus ihn zwar gewaltig aufgescheucht. Aber – ich zitiere Kreyßig – „Ich blieb Waffenstudent, ja als Zeitfreiwilliger Mitglied eines illegalen Wehrverbandes und in angestrengter Verachtung der Weimarer Republik. So eingepuppt habe ich sogar eine ganze Weile die NSDAP gewählt und Gregor Strasser 1930 oder 31 einen Plan zur konstruktiven Lösung der Arbeitslosennot eingereicht. Das Erwachen kam schon vor der ‚Machtübernahme’, als Hitler unter Drohungen die Begnadigung einiger Mörder verlangte, die einen politischen Gegner nächtens überfallen und getötet hatten.“ (Gemeint ist die Potemka-Affäre).

Nach dem Jurastudium bestand Kreyßig 1922 und 1924 die beiden juristischen Examina mit „gut“, zwischendurch promovierte er. Nach kurzer Zeit als Rechtsanwalt trat er in die Justiz ein, erst an einem Amtsgericht, dann am Landgericht Chemnitz, wo er im Mai 1928 zum Landgerichtsrat ernannt wurde.


Demonstrative Distanzierung vom Nationalsozialismus und erste Proteste

War Kreyßig bis Anfang 1933 somit ein eher unauffälliger Jurist, sollte sich dies im Unrechtsstaat alsbald ändern. Erst nach längeren Gewissenskämpfen entschloss er sich im Frühjahr 1933, Richter zu bleiben. Im Unterschied zu der Mehrzahl seiner Kollegen, die „unter Zurückstellung aller bisherigen Bedenken gegen eine parteipolitische Bindung eines Richters“ nach dem 30. Januar 1933 der NSDAP beitraten, verweigerte er trotz wiederholter Aufforderungen den Parteibeitritt. Denunzianten übermittelten bald Material: demonstratives Verlassen des Gerichtssaales während des Gemeinschaftsempfanges einer Rede des „Führers“ und bei einer anderen Feier vor der Enthüllung eines Hitlerbildes im Gerichtsgebäude; Nichtbeteiligung an gemeinschaftlichen Spenden (zugunsten einer von ihm 1930/31 gegründeten Notgemeinschaft für Arbeitslose). Bei dem anlässlich der Einführung des neuen Landgerichtspräsidenten ausgebrachten „Heil“ auf den Führer blieb Kreyßig demonstrativ stumm. Das waren alles disziplinarisch ahnbare Vergehen. Dem von den Machthabern im März 1933 aus Amt und Dienstwohnung geworfenen republikfreundlichen, linksorientierten Landgerichtspräsidenten Dr. Ziel half er bei dem Wohnungsumzug und pflegte mit dem jetzt als Staatsfeind geächteten Kollegen weiterhin freundschaftlichen Verkehr - ein umso bemerkenswerteres Verhalten, als der konservativ eingestellte Kreyßig und prononciert linksgerichtete Ziel in politisch konträren Lagern standen. In einer gemeinsam mit einem Kollegen zusammengerufenen Richterversammlung übergab er eine von ihm ausgearbeitete Denkschrift: Er sprach persönlich im sächsischen Justizministerium in Dresden vor und forderte eine Rücknahme der Zwangspensionierung von Ziel und zweier weiterer republikanisch gesinnter Richter.

Seit ungefähr 1928/29 hatte Kreyßig sich auf Anstoß eines Kollegen zunehmend mit Glaubensfragen beschäftigt. Das führte ihn im Jahre 1934 zur Bekennenden Kirche, in der er sich bald in leitenden Funktionen betätigte. Auf zahlreichen Versammlungen der Bekennenden Kirche richtete er in verschiedenen Orten scharfe Angriffe gegen die nationalsozialistische Führung wegen ihrer Haltung im evangelischen Kirchenstreit. Wegen dieser Äußerungen forderte der Gauleiter und Reichsstatthalter von Sachsen, Martin Mutschmann, im März 1935 von der Justizverwaltung die Entlassung Kreyßigs nach § 6 Berufsbeamtengesetz von 1933. Die Standfestigkeit, mit der der Richter alle Vorwürfe zurückwies, beeindruckte die Dienstvorgesetzten. Der Dresdener Oberlandesgerichtspräsident schloss seinen Bericht mit der Feststellung, der fachlich hervorragend beurteilte Kreyßig vertrete das von ihm als richtig Erkannte selbst dann offen, „wenn ihm aus seinem Bekennermut persönliche Nachteile erwachsen“. Gegenüber einer so überdurchschnittlichen Persönlichkeit mit wertvollen Eigenschaften müssten die erhobenen Vorwürfe als „verhältnismäßig belanglos“ bewertet werden. Nach der zu erhoffenden Beendigung des Kirchenstreites könne erwartet werden, dass Kreyßig „sich in kirchlichen Dingen unauffällig verhalten“ werde. Im Januar 1936 entschied das Reichsjustizministerium, dass das Verhalten Kreyßigs eine Versetzung in den Ruhestand nicht rechtfertige. Ausschlaggebend könnte die Erwägung gewesen sein, dass eine Amtsenthebung Kreyßigs „die in Sachsen erfreulich fortschreitende Befriedung in den kirchlichen Angelegenheiten unter Umständen empfindlich stören könnte.“


Kirchenbesetzung und Nötigung in Brandenburg

Bei einer von ihm erbetenen persönlichen Vorsprache im Reichsjustizministerium im April 1936 wurde Kreyßig bedeutet, dass „die bisherigen Vorkommnisse wieder herangezogen würden, wenn sich ein neuer Anlass zum Einschreiten ergeben sollte.“

Der so unter „Bewährung“ stehende Richter ließ sich von der Warnung nicht beirren. Vorerst unternahm er einen Schritt, der noch heute das Kopfschütteln karrierebewusster Kollegen hervorrufen würde: Im Jahre 1937 beantragte er unbezahlten Sonderurlaub von einem halben Jahr. Er hatte nämlich (von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht) einen wenig rentablen landwirtschaftlichen Hof in Hohenferchesar bei Brandenburg zur Eigenbewirtschaftung erworben, den er in einem christlich geprägten Mitbestimmungsmodell in biologisch-dynamischer Anbauweise bewirtschaften wollte. Erstaunlicherweise genehmigte das Justizministerium nicht nur den Sonderurlaub, sondern kam auch dem Wunsch Kreyßigs nach, ihn von Chemnitz an das nur 13 km von seinem Gut entfernte Amtsgericht Brandenburg (Havel) zum 1. 8. 1937 zu versetzen. Zugunsten Kreyßigs wurde sogar auf die übliche Stellenausschreibung verzichtet. Nachdem er schon in Chemnitz aus der Spruchgerichtsbarkeit insbesondere der Strafjustiz geflissentlich ferngehalten worden war, wurde ihm in Brandenburg allerdings „nur“ ein Vormundschaftsdezernat zugeteilt.
Vielleicht versprach sich das Justizministerium von der landwirtschaftlichen Betätigung Kreyßigs, dass sie seine Energien von den kirchenpolitischen Aktivitäten ablenken könnten. Kaum mit seiner Familie umgezogen, schon im Sommer 1937, verteilte der Richter aber „unter Verletzung presserechtlicher Vorschriften“ Flugblätter der Bekennenden Kirche, was ihm eine ernsthafte Verwarnung des Präsidenten des Kammergerichts einbrachte. Auch ließ er sich in seiner neuen Heimat bald wieder in wichtige Gremien der Bekennenden Kirche wählen. Im Juni 1938 beteiligte er sich in Berlin-Nikolassee an der Ausarbeitung einer Kanzelabkündigung der Bekenntnissynode der Altpreußischen Union mit scharfer Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen Martin Niemöller und andere Pfarrer der Bekennenden Kirche. Das führte zu einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den „Kanzelparagraphen“ (§ 130 a StGB) und gegen das „Heimtückegesetz“ vom Dezember 1934. Im April 1939 beteiligte sich der Richter an einer Aktion, die ganz und gar nicht in das überkommene Richterbild passte und einem Richter auch heute neben einer Nötigungsanzeige ein Disziplinarverfahren unter anderem wegen Verletzung des Mäßigungsgebots eingebracht hätte: Am 23. April 1939 drang er an der Spitze von 150-200 Christen in die St. Gotthard-Kirche in Brandenburg ein, hinderte den Pfarrer der Deutschen Christen am Besteigen der Kanzel und erzwang, dass der Gottesdienst von dem suspendierten Pfarrer der Bekennenden Kirche abgehalten wurde. Bei einer versuchten Wiederholung wurde er am 30. April von der Geheimen Staatspolizei vorläufig festgenommen. Gegen ihn wurde ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen Hausfriedensbruchs und Gottesdienststörung eingeleitet. Der Kammergerichtspräsident prüfte, ob Kreyßigs Verhalten die Einleitung eines Dienststrafverfahrens oder sogar ein Untersuchungsverfahren nach § 71 Deutsches Beamtengesetz - DBG - zur Entfernung des Richters aus seinem Amt erfordere. Bei der Vernehmung durch die Gestapo rechtfertigte Kreyßig die Aktionen als „Handlungen geistlicher Notwehr“. Übrigens hätten seine Gewissensbedenken gegen einen Eintritt in die NSDAP seit 1933 noch zugenommen. Kreyßig, der nie literarischen Ehrgeiz entfaltet hat, übergab dem Untersuchungsführer des Kammergerichtspräsidenten am 19. März 1940 eine ebenso erschütternde wie mutige Erklärung, mit der er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in eine Anklage gegen den NS-Staat umwandelte.

„Ich bin durch Erfahrungen und Nachdenken zur Überzeugung gekommen, dass alles, was ich seit 1933 an Rechtsnot erlebt habe, auf dieses Selbstverständnis des Staates als eines Totalen zurückzuführen ist. Der besondere rechtsphilosophische Ausdruck der Sache ist die seit 1933 immer wieder in offiziellen und wissenschaftlichen Meinungsäußerungen - soweit ich sehe, völlig unwidersprochen - aufgestellte Behauptung: „Recht sei, was dem Volke nützt“. Ich müsste dem mit Entschiedenheit widersprechen. (...) Ich habe wegen der Rechtsnot ungesühnt gebliebenes Unrecht in solchem Maße ansehen müssen, dass meine Meinung, es gebe eine in der sittlichen Befähigung eines Menschen liegende Gewähr für Recht, nie wieder aufleben kann.“

Und er distanzierte sich von dem Unrechtsstaat:

„Ob ich nach alledem in meiner richterlichen Berufsausübung nicht mehr die Gewähr gebe, dass ich jederzeit für den NS-Staat eintreten werde, will ich nicht beurteilen.“

Der Kammergerichtspräsident empfahl die vorläufige Dienstenthebung des Richters unter Kürzung der Bezüge: Kreyßig habe unter anderem seine Stellung als Richter missbraucht, um sich in der Bekennenden Kirche eine führende Position zu verschaffen. Dies Verfahren fand so bald keinen Abschluss.
Die Juristenprominenz schweigt zum Anstaltsmord

Schon vor Kriegsausbruch hatte Kreyßig dem Regime in einer Weise die Spitze geboten, für die es unter Richtern kaum Vergleichbares gibt. Über ihm schwebte mit ungewissem Ausgang das dienstrechtliche Verfahren, in das man alle bisherigen Vorfälle einbezogen hatte. Das hielt ihn von einer weiteren Protestaktion nicht ab, die ihm heute den Ruhm sichert, einer der ganz wenigen amtierenden Richter der Jahre 1933 bis 1945 gewesen zu sein, der den Machthabern mit vollem existentiellen Risiko entgegentrat.

Der Widerstand Kreyßigs richtete sich diesmal gegen eine von höchster Stelle angeordnete Mordaktion, die aufgrund eines formlosen Geheimbefehls Hitlers im Januar 1940 eingeleitete Massentötung von Geisteskranken. Wie verhielt sich die Justiz zu der „Aktion T 4“, die selbst nach nationalsozialistischem Rechtsverständnis ein durch kein Gesetz gedeckter Mord war? Die Justiz verhielt sich - in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Vertreter - zunächst abwartend. Allerdings verursachte die strikte Geheimhaltung der Aktion bei Gerichten und Staatsanwaltschaften Verhaltensunsicherheiten. Sollte man sogenannte „gewissenlose Hetzer“, die die Aktion als „Mord“ bezeichnet hatten, wegen Heimtücke anklagen? Wie sollten die Staatsanwälte Strafanzeigen wegen Mordes behandeln? Häufige Anfragen, auf die auch das Reichsjustizministerium hätte Farbe bekennen müssen, und auftretende „Pannen“ (eine ahnungslose Staatsanwaltschaft leitete z. B. ein Ermittlungsverfahren gegen Tötungsärzte ein) wurden im Justizministerium anscheinend als unangenehmer empfunden als der Massenmord selbst. Das Ministerium griff jetzt endlich ein, allerdings nur, um das Verhalten der Justiz den rechtswidrigen Tötungsmaßnahmen anzupassen. Diesem Zweck diente eine große Konferenz - am 23. April 1941 -, zu der das Reichsjustizministerium sämtliche Oberlandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und das gesamte sonstige Führungskorps der Justiz geladen hatte. Nach Unterrichtung über das Mordprogramm nahmen die Teilnehmer trotz möglicher Diskussion widerspruchslos das Ansinnen hin, die Morde vor jedweder Störung abzublocken. Insbesondere sollten Strafanzeigen und sonstige gegen die Aktion gerichtete Eingaben unter den Teppich gekehrt werden. Die widerspruchslose Entgegennahme der Stillhalteweisung bestärkte die Haupttäter und war deshalb Beihilfe zum Mord.


Kreyßigs Protest

War den Konferenzteilnehmern eine unmittelbare dienstliche Befassung mit dem Mordkomplott zugemutet worden und schwiegen sie trotzdem, so hatte sich ein anderer schon viel früher ungefragt zu Wort gemeldet: Lothar Kreyßig. Nach seinen bisherigen Erfahrungen war - wie er nach dem Krieg einmal gesagt hat - „von den obersten Justizorganen nicht viel zu hoffen, was mich von eigenem verantwortlichen Handeln würde entbinden können. Unbedingt mussten sie aber sofort auf ihre Verantwortung angerufen werden. Die fünf Schreibmaschinen-Seiten, mit denen er beim Kammergerichtspräsidenten in aller Schärfe protestierte, sind ein Dokument der Rechtsgeschichte. In dem Schreiben vom 8. Juli 1940 heißt es:

„. . . Die Anstalt Hartheim nennt in jedem Bericht eine natürliche Todesursache . . . Jeder aber weiß wie ich, dass die Tötung Geisteskranker demnächst als eine alltägliche Wirklichkeit ebenso bekannt sein wird, wie etwa die Existenz der Konzentrationslager . . . Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechts in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten.
Das bürgerliche Recht besagt nichts darüber, dass es der Genehmigung des Vormundschaftsrichters bedürfe, wenn ein . . . unter seiner richterlichen Obhut stehender Geisteskranker ohne Gesetz und Rechtsspruch vom Leben zum Tode gebracht werden soll. Trotzdem glaube ich, dass „der Obervormund“, wie die volksverbundene Sprechweise den Vormundschaftsrichter nennt, unzweifelhaft die richterliche Pflicht hat, für das Recht einzutreten. Das will ich tun. Mir scheint auch, dass mir das niemand abnehmen kann. Zuvor ist es aber meine Pflicht, mir Aufklärung und Rat bei meiner vorgesetzten Dienstbehörde zu holen. Darum bitte ich.“

Kreyßig wurde zum Kammergerichtspräsidenten zitiert. Dieser bezeichnete das Schreiben Kreyßigs als „ungehörig“ und forderte ihn - vergeblich - auf, es zurückzuziehen. Der Kammergerichtspräsident sandte nunmehr den Brief an das Reichsjustizministerium. Noch im Juli 1940 wurde Kreyßig in das Ministerium gebeten. Staatssekretär Freisler eröffnete das Gespräch mit teils sarkastischen Bemerkungen zum Unterschied zwischen einem förmlich geäußerten und einem formlosen Führerwillen, ging dann aber zu der Mitteilung über, in Sachen der Vernichtung unwerten Lebens werde zwischen Ministerium und Kanzlei des Führers über die mögliche Schaffung von Rechtsgarantien verhandelt. Es sei richtig, dass Eile geboten sei. Er, Kreyßig, solle in Bälde wieder vorsprechen. In der ersten Augusthälfte 1940 kam es zu einer zweiten Unterredung zwischen Freisler und Kreyßig. Möglicherweise war inzwischen im Ministerium ein Brief des Reichsleiters Bouhler eingegangen, in dem sich Bouhler unter Bezugnahme auf den Mordbefehl Hitlers jedes Hineinreden in die „Aktion T 4“ verbat. Als Kreyßig im Verlauf des Gesprächs die Absicht einer Strafanzeige wegen der Mordaktion durchblicken ließ, nannte ihm Freisler - nicht ohne insgeheime Schadenfreude? - den Reichsleiter Bouhler als den „zuständigen Mann“ und bezeichnete auf weitere Frage auch den Generalstaatsanwalt in Potsdam als zuständige Staatsanwaltschaft. Auf diese Weise werde man in der Kanzlei des Führers sehen, dass eine rechtliche Regelung ernstlich und dringlich nötig sei. Kreyßig fuhr direkt vom Ministerium zur Generalstaatsanwaltschaft in Potsdam, wo er bei Oberstaatsanwalt Potjahn Strafanzeige wegen Mordes erstattete.
Unter dem 27. August 1940 richtete Kreyßig an die Leiter von sieben Landesheilanstalten Schreiben, in denen er jede Verlegung von Mündeln ohne seine Zustimmung verbot. Außerdem begab er sich in die Anstalt Brandenburg-Görden und erklärte dem Anstaltsleiter und den anderen versammelten Ärzten, dass der Tötungsaktion jede gesetzliche Grundlage fehle. Von diesen Schritten verständigte er das Ministerium. Eine Aufforderung des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg zur Rücknahme des Verbots der Verlegung von Mündeln, das die Landesverteidigung beeinträchtigte, lehnte Kreyßig ab.

Einige Zeit danach wurde der unbequeme Richter erneut ins Ministerium bestellt. Diesmal (am 13. 11. 1940) empfing ihn Minister Gürtner selbst. Gürtner eröffnete ihm, den Tötungen läge ein Befehl Hitlers zugrunde. Kreyßig müsse die Weisungen an die Anstaltsleiter widerrufen, wofür ihm Gürtner eine praktische Formulierung anbot. Zum Beweis hielt Gürtner Kreyßig eine erst jetzt dem Justizministerium übermittelte Kopie des Hitler'schen Ermächtigungsschreibens vom 1. 9. 1939 hin. Kreyßig lehnte es ab, dies als Rechtsgrundlage anzuerkennen. Gürtner entgegnete mit den Worten: „Ja, wenn Sie den Willen des Führers als Rechtsgrundlage nicht anerkennen können, dann können Sie nicht Richter bleiben.“ Mit Schreiben vom 30. 11. 1940 teilte Kreyßig dem Ministerium mit, dass er aus Gewissensgründen nicht in der Lage sei, seine Anordnung an die Anstaltsleiter zurückzuziehen, und bat von sich aus, ihn in den Ruhestand zu versetzen. Wenige Tage darauf bat Kreyßig um eine (ihm nahegelegte?) einstweilige Beurlaubung vom Dienst, die ihm mit Wirkung vom 10. 12. 1940 gewährt wurde.


Der glimpfliche Ausgang

Bis zur endgültigen Entscheidung vergingen weitere 1 1/2 Jahre. Am 15. 11. 1940 war der Schlussbericht des Kammergerichtspräsidenten in dem schon erwähnten Dienststrafverfahren im Ministerium eingegangen, unter Auflistung der zahlreichen „Dienstvergehen“ Kreyßigs seit 1933. Der Kammergerichtspräsident beantragte die Versetzung Kreyßigs in den Ruhestand nach § 71 DBG und die Fortführung des Dienststrafverfahrens mit dem Ziel, Kreyßig gegebenenfalls auch den Anspruch auf Pension abzuerkennen. Nach Eingang des Schlussberichts des Untersuchungsführers beantragte das Ministerium unter dem 10. Mai 1941 mit Zeichnung durch Staatssekretär Schlegelberger beim Chef der Reichskanzlei die Versetzung Kreyßigs in den Ruhestand gemäß § 71 DBG. Der Widerstand Kreyßigs gegen die Morde wurde auch diesmal nicht erwähnt. Fast zehn Monate später (unter dem 4. 3. 1942) übermittelte der Chef der Reichskanzlei dem Justizministerium die Entscheidung Hitlers über die Zurruhesetzung Kreyßigs (zum 1. 7. 1942 unter Wahrung der Pensionsansprüche). Das noch laufende Dienststrafverfahren wurde eingestellt. Die früher erwähnten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren waren schon früher aufgrund der zu Beginn des Krieges erlassenen Amnestie eingestellt worden. Irgendwelche Schwierigkeiten wurden Kreyßig nicht mehr gemacht. Kreyßig seinerseits schwieg nicht. Auf der letzten preußischen Bekenntnissynode am 16./17. Oktober 1943 in Breslau beschloss unter seiner Mitwirkung und wohl auch unter seiner Federführung die Bekennende Kirche eine scharfe Kanzelabkündigung gegen „Begriffe wie Ausmerzen, Liquidation und unwertes Leben“ und gegen die Tötung von Menschen, „weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören.“

Wichtig für die Beurteilung des „Falles Kreyßig“ ist die Frage nach den Risiken, die Kreyßig für sich und seine Familie einging. Es steht fest, dass ein Richter, der die Beteiligung an gesetzeswidrigen Maßnahmen des NS-Regimes oder die Ausschöpfung der vollen Härte etwa des Strafgesetzes ablehnte, jedenfalls seit etwa 1935 keine Sanktionen zu befürchten hatte, die auch nur einigermaßen im Verhältnis zu der angesonnenen Mitwirkung am Unrecht standen. So oft in der apologetischen rechtshistorischen Literatur nach 1945 das Gegenteil behauptet worden ist: Wegen einer im Rahmen seiner Zuständigkeit getroffenen politisch unliebsamen Entscheidung ist keinem Richter des Dritten Reiches irgendein gravierender Nachteil erwachsen. Allerdings ging Kreyßig in seiner Widersetzlichkeit weit über die engeren Kompetenzen seines Amtes hinaus. Das hatte er in seinem Schreiben vom 8. Juli 1940 ja selbst offen eingeräumt. Auch hätte man seine außerdienstlichen Oppositionshandlungen als Vorwand für brutalere Maßnahmen nehmen können. 1933 war in Chemnitz erwogen worden, ihn in ein Konzentrationslager zu bringen; Kreyßig wird das gewusst und mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Gewiss wäre man mit einem Opponenten mit „linker“ Vergangenheit anders umgesprungen. Auch kamen Kreyßig die Machtkämpfe zwischen Ministerium und Kanzlei des Führers zustatten; in den anfänglichen Bemühungen des Ministeriums, die Anstaltsmorde einzudämmen (nicht etwa völlig zu verhindern), mögen die Vorstöße Kreyßigs Schlegelberger und Freisler nicht ungelegen gekommen sein. Zum anderen hatten die Machthaber mit der Unruhe zu rechnen, die ein brutaleres Vorgehen gegen den in Kreisen der Bekennenden Kirche bekannten Mann ausgelöst hätte. Darauf bauen konnte Kreyßig nicht. Sein Handeln war Widerstand. Der Mut Kreyßigs tritt noch deutlicher hervor, wenn man sein Verhalten mit der Feigheit seiner Antipoden vergleicht: Es war einem einzigen „kleinen Amtsrichter“ überlassen, frontal gegen die Mordaktion vorzugehen, während die aus viel gesicherter Position heraus agierenden Teilnehmer der Konferenz vom 23. April 1941 mit ihrer Stillhaltezusage dem gegen das Unrecht ankämpfenden Kreyßig in den Rücken fielen. Die bis heute im Kern unveränderte Juristenausbildung und die Personalpolitik der Justizverwaltung hatten es nicht geschafft, charakterfeste Persönlichkeiten an den rechten Platz zu bringen. Die meisten Teilnehmer der Konferenz hatten ihre Ausbildung und berufliche Sozialisation schon vor 1933 abgeschlossen. Gerade die ranghöchsten Konferenzteilnehmer, darunter Staatssekretär Franz Schlegelberger und Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke, hatten schon vor der „Machtübernahme“ höchste Positionen erreicht.


In der Bundesrepublik ein Vergessener

Nach dem „Zusammenbruch“ bot das Ostberliner Justizministerium dem als konservativ bekannten Juristen vergeblich die Rückkehr in die Justiz an; aus Westdeutschland kam kein solches Angebot. Kreyßig blieb der Kirche treu und übernahm teils nacheinander, teils nebeneinander, das Amt des Konsistorialpräsidenten in Magdeburg, des Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen und der Altpreußischen Union sowie des Präsidenten der Berliner Kirchenkanzlei und des Vizepräsidenten Ost des damals noch gesamtdeutschen Kirchentages. Den Regierungsstellen der DDR war er kein bequemer Partner. Ende 1954 wurde er persönlich bei Bundeskanzler Adenauer vorstellig, um sich für den sowjetischen Vorschlag einer Neutralisierung ganz Deutschlands unter Verzicht auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik einzusetzen. Adenauer verhielt sich Kreyßig gegenüber ebenso abweisend, wie er es bekanntlich auch in der Sache tat.


Schlussbemerkung

Das Gedenken an Lothar Kreyßig können wir dann am besten lebendig halten, indem wir über uns selbst und unser Handeln nachdenken. Seine Unerschrockenheit könnte ein Beispiel gerade in einer Zeit sein, in der niemand, der im Staatsdienst Zivilcourage zeigt, ein existenzielles Risiko eingeht. Vor allem Richter – im Unterschied zu manch anderem vom Stellenabbau bedrohten Arbeitnehmer – sind, zu welcher Gewissensentscheidung sie auch kommen, sogar vor einer vorzeitigen Pensionierung geschützt. Der Blick auf Lothar Kreyßig könnte auch die selbstkritische Reflexion von Juristen stärken. Kreyßig bewies Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit. Ist die Versuchung, an der Macht und ihren nicht nur äußeren Annehmlichkeiten teilzuhaben oder einfach nur im Frieden mit seiner Umwelt zu leben, nicht aber ein Problem, das sich zu allen Zeiten stellt? Macht die Befähigung zum Richteramt, die der Jurist mit dem zweiten Staatsexamen erwirbt, immun gegen jede Anfechtung?

Gewiss, die damalige Zeit und die Gegenwart sind nicht vergleichbar. Eines lehrt jedoch die Geschichte Kreyßigs: Er hatte vorzeitig, noch unter demokratischen Rahmenbedingungen die Kritikfähigkeit und die Übung zum Widerspruch erworben, ohne die auch dem Rechtschaffendsten unter totalitären Bedingungen eines Tages die Kraft zur Gegenwehr ausgehen wird. Auch wäre sein Widerstehen nicht denkbar gewesen ohne die Prägung durch einen unkorrumpierbaren christlichen Glauben. Dazu kam der moralische Rückhalt und die Einbindung in einer Gruppe, der „Bekennenden Kirche“, außerhalb der Abgeschlossenheit des Berufsstandes. Das Beispiel Lothar Kreyßigs gibt allen Juristen, die nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen wollen, Mut und Kraft.




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