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[Kirche von unten]

Ottmar Palmer 1873 - 1964

Lebenserinnerungen

4. Kapitel


Lehr- und Wanderjahre

1900 – 1902


„Ob wir in diesem Leben auch wandern ein und aus...“

Predigerseminar
Am 1. März 1900 erfolgte auf Citation des Konsistoriums mein Eintritt in das „Herzogliche Predigerseminar“ in Wolfenbüttel. Im Gegensatz zu anderen Landeskirchen besuchten damals die Braunschweigischen Kandidaten das Seminar nicht nach dem 1., sondern nach dem 2. Examen, auch war die Zeit nicht auf 1 oder 2 Jahre begrenzt, sondern je nach den Anstellungsverhältnissen länger oder kürzer. Die zehn Mitglieder hießen „Kollegiaten“ und bekamen eine „Kompetenz“ von monatlich 100 Mark; drei von ihnen bildeten die sog. Schulserie und hatten an den Wolfenbüttler Bürgerschulen zu unterrichten, die andren, Predigtserie genannt, sollten für sonntägliche oder auch längere Vertretungen im Lande zur Verfügung stehen. Direktoren des P.S. (Predigerseminar) waren die geistlichen Mitglieder des Konsistoriums. Sie hielten mit den Kollegiaten „Sitzungen“ und „Konferenzen“ ab, in denen Exegese, Homiletik, Katechetik und Kirchenrecht behandelt wurden. Sog. Kritikpredigten wurden in der Hauptkirche B.M.V. (Beatae Mariae Virginis) gehalten, liturgische Übungen hielt der Organist dieser Kirche, Musikdirektor Saffe. Im ganzen war der Betrieb kümmerlich, die Sitzungen fielen oft aus, wer nicht eigene theologische Studien trieb, hatte unendlich viel Zeit, das Seminar konnte sich nicht vergleichen mit den ganz anders eingerichteten und gut geleiteten Seminaren in Wittenberg, Loccum, Friedeburg, Hofgeismar u.s.w., es ist aber später wiederholt reorganisiert und besser geworden. So konnte ich von Wolfenbüttel aus, wo ich eine nette Wohnung am Harztorwall hatte, oft in Neuerkerode sein, besonders natürlich, als meine Braut zweimal einige Wochen zu Besuch war, und auch im Juni wieder eine schöne Zeit in Lich (Hessen) erleben.

Am 13. Mai 1900 wurde ich mit zwei anderen Kandidaten in der Hauptkirche ordiniert, und zwar durch den Abt D. Moldenhauer, der zu seiner Ansprache das Abschiedswort des Paulus an die Ältesten von Ephesus gewählt hatte: Ap. Gesch. 20, 28. Mein lieber Vater, meine Schwestern und meine Braut konnten an der bedeutungsvollen Feier teilnehmen, ersterer mir auch bei der Einsegnung die Hand aufs Haupt legen.


Vorsfelde
Alles in allem war es doch eine Erlösung aus einem wenig befriedigenden Dasein, als ich im Oktober 1900 nach Vorsfelde „delegiert“ wurde, und zwar zur Verwaltung der dortigen vakanten Diakonatpfarrstelle. Die nötigsten Möbel wurden beschafft oder aus dem Elternhause mitgenommen, ein kleiner Möbelwagen bestellt, ein schöner weißer Spitz als Begleiter, Hausgenosse und Wächter für das große, leerstehende Pfarrhaus mitgenommen und am 25. Oktober 1900 der erste wirkliche Pfarrdienst angetreten.

Die Primariatspfarre hatte der Superintendent Bode inne, dem ich unterstand, und den ich, da er schwer gichtisch gelähmt war und sich nur schwerfällig an Krücken fortbewegen konnte, eigentlich in allen amtlichen Verrichtungen, außer den ihm zukommenden Gottesdiensten und der Verwaltungsarbeit vertreten mußte, das alles neben der mir als Verwalter der vakanten 2. Stelle ohnehin zufallenden Arbeit. So kann ich wohl sagen, daß ich in Vorsfelde arbeiten gelernt habe. Es war 14-tägig, oft aber auch alle 8 Tage zu predigen, es waren sämtliche Beerdigungen in der 5000 Seelen zählenden Parochie (mit 10 bis zu 12 km entfernten Außendörfern) zu halten, dazu vier Konfirmandenstunden mit 110 Kindern in einer (!) Abteilung und 12 Schulstunden wöchentlich in der Bürgerschule, außerdem natürlich viele Hausbesuche. Schließlich mußte ich auch noch in Vertretung des Superintendenten (als Kreisschulinspektor) wiederholt junge Lehrer einführen – und das alles zum 1. Mal und ohne eigentliche Anleitung. Auch der Superintendent wirkte weder theologisch noch kirchlich als Hilfe oder Vorbild; der Wunsch, mit dem mich mein Vater nach Vorsfelde entlassen hatte, ich möchte dort „wahrhaft kirchliche Persönlichkeiten finden, an denen ich mich emporranken könnte“, ist jedenfalls nicht in Erfüllung gegangen.

Immerhin sind mir die dort zugebrachten sechs Monate nützlich gewesen, auch konnte ich in den Dörfern, die teilweise schon Heidecharakter trugen, manche wertvollen Einblicke in konservative altbäuerliche Sitten, Gebräuche und Anschauungen tun.


Neu Erkerode
Den folgenden Sommer 1901 sollte ich auf Wunsch meines Vaters und mit der Genehmigung der Behörde in Neu Erkerode zubringen, um meinen Vater, der im Sommer 1900 im Abendgottesdienst am Altar ein Schwindelanfall gehabt und daraufhin den Winter mit meinen Schwestern zur völligen Erholung in Darmstadt zugebracht hatte, zu unterstützen. Ich teilte mich mit ihm in die Predigten, hielt Bibelstunden, Kinderlehren und half in der Verwaltungsarbeit. Zum 1. Oktober (1901) lief meine für Neu Erkerode gewährte Beurlaubung ab, und ich wurde nach Bad Harzburg „delegiert“ zur Unterstützung des dortigen Pastors Eyme.


Harzburg
Die Parochie, Harzburg und Bündheim, war groß; Eyme; bisher dort allein, bedurfte der Erleichterung. Er übertrug mir die gesamte Versorgung Bündheims – ohne das Verwaltungsmäßige – und ließ mich vierzehntägig auch in Harzburg predigen. Die Gemeinde Bündheim bestand aus Hütten-, Steinbruchs- und Waldarbeitern, daneben Handwerker, Gestütsbeamte, wenig Gewerbetreibende und schließlich auch eine Anzahl von Gastwirten und Pensionsinhabern; sie war wie alle am Nordrand des Harzes gelegenen Gemeinden der Kirche recht entfremdet, der Gottesdienstbesuch darum erbärmlich. Harzburg, vor kurzem zur „Stadt“ erhoben, war schon damals ein weltbekannter Badeort mit allen Vorzügen und Nachteilen eines solchen; fast alles lebte von den Kurgästen und Passanten, wer irgend einen Raum übrig hatte, vermietete ihn im Sommer, auch das Pfarrhaus machte davon keine Ausnahme, sogar die Ställe desselben wurden bei den großen Rennen im Juli für Rennpferde vermietet.

Auch hier stand die alt-ortsansässige Bevölkerung dem kirchlichen Leben größtenteils recht gleichgültig gegenüber, doch fanden sich nicht nur unter den Kurgästen, sondern auch unter zugezogenen Rentnern, Pensionären u.s.w. nicht wenig durchaus kirchliche Elemente, so daß die ziemlich kleine Kirche immer voll war. In dieser hielt ich im November 1901 die letzte Predigt, im Anschluß an den Gottesdienst wurde in Gegenwart des Abts D. Moldenhauer der Grundstein zur neuen „Lutherkirche“ gelegt und andren Tags begann der Abbruch der alten; während des Interims fanden die Gottesdienste in einer geräumigen Turnhalle statt.

Natürlich habe ich in meiner Harzburger Zeit, besonders im Sommer 1902, manche schöne Harzwanderung gemacht, konnte auch wiederholt meine Braut, zuerst in Falkenstein, dann wieder in Lich, wohin sie im September 1902 zurückkehrte, besuchen. Noch heute sehe ich mit Freude und Dankbarkeit auf diesen letzten Abschnitt meiner „Wanderjahre“ zurück. – Daß ich im dortigen „Progymnasium“ eine Zeit lang nicht nur in Religion, Latein und Deutsch, sondern auch im Turnen unterrichten mußte, mag immerhin – als curiosum – erwähnt sein.



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