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[Kirche von unten]

Ottmar Palmer 1873 - 1964

Lebenserinnerungen

9. Kapitel


Berka, die letzte Gemeinde

1937-1950


Schon manches Mal hatte ich gedacht, es sei wohl gut für einen Pfarrer und für die Gemeinde, wenn er nicht in der Stadt alt würde. Amtsbruder Kiel sagte einmal: „Im Dorf wächst der Pastor in die Gemeinde hinein, in der Stadt wächst er heraus“. Es ist viel Wahres an diesem Wort. Die Stadt ist unbeständiger, anspruchsvoller, die geistige und geistliche Struktur der Gemeinde verlangt viel Beweglichkeit, dauerndes Vertrautsein mit den wechselnden geistigen Strömungen der Zeit, mehr Eingehen auf die immer neuen Fragen und Probleme der Gegenwart, als sie durchschnittlich von einem alten Pfarrer erwartet werden können; der personelle Bestand der Gemeinde ist fluktuierender, es muß immer aufs neue Konnex gesucht werden mit neu zuziehenden oder heranwachsenden Gemeindegliedern, während man es auf dem Dorfe in allen diesen Beziehungen mit konstanten Situationen zu tun hat, die einzelnen Familien und ihre Entwicklung besser kennen lernt und sich mit Gottes Hilfe und ernstem Wollen das Vertrauen der Gemeinde mehr und mehr erwerben kann. Bei all dem Gesagten ist es mir freilich durchaus bewußt, daß die angedeuteten Unterschiede sich heute bei der allgemeinen Verstädterung des flachen Landes bereits weithin einander angenähert oder gar ausgeglichen haben, es gewiß auch immer noch mehr tun werden. In Berka lagen aber diese Verschiedenheiten noch in hohem Maße vor.

Aus solchen Gedanken heraus hatte sich bei mir im stillen schon immer einmal der Wunsch geregt, den Schluß meiner Amtszeit in einer kleineren und übersichtlicheren Gemeinde zu erleben, wenn ich auch nicht geahnt hatte, daß sich dieser Wunsch unter solchen Umständen und aus solcher Veranlassung verwirklichen sollte, wie sie das Jahr 1933 und seine Folgen mit sich brachten. Nun saßen wir also wirklich in einer kleinen Dorfgemeinde, wie ich sie vor 29 Jahren verlassen hatte und von der nun der vorletzte Abschnitt meiner Aufzeichnungen berichten soll, und ich durfte dankbar sein, mit 64 Jahren noch über die geistige Elastizität zu verfügen, die es mir möglich machte, mich in die äußerlich und innerlich so ganz anders gearteten Verhältnisse des Dorfes zu finden.

Ich will nun zunächst einiges Allgemeine über das Dorf, die Gemeinde und meine Arbeit in ihr sagen, weiter unser häusliches und familiäres Leben und Erleben schildern, dann das Wichtigste über unser Kriegserleben berichten und zum Schluß nur chronologisch diejenigen Ereignisse aufzählen, die mir einerseits bemerkenswert erscheinen, andererseits im bisherigen Bericht noch nicht erwähnt waren.


Das Dorf, Land und Leute, die Kirche
Die mannigfachen Vorzüge Berkas waren bei der Wahl unserer neuen Heimat durchaus mitbestimmend gewesen. Es konnte mit seinen im landschaftlichen Stil erbauten Häusern, Höfen und behäbigen Wirtschaftsgebäuden, noch wenig berührt von aller Verstädterung, den Anspruch erheben, ein „schönes Dorf“ zu sein. Landschaftlich, klimatisch und verkehrsmäßig war seine Lage günstig. Seine größtenteils fruchtbare Feldmark umfaßte einschließlich großer Waldungen annähernd 1400 ha; die schnell dahinfließende, der größten Quelle Europas entspringende Ruhme, die nicht weit vom Dorfe vom Harz her die Söse in sich aufnahm, belebte das Bild der Landschaft. Von dem größeren Katlenburg trennte es nur die Ruhme und die Eisenbahnlinie Northeim–Nordhausen; in 10 Minuten konnte man den Bahnhof Katlenburg erreichen. In dem benachbarten Northeim (9 km) und noch mehr in Göttingen (30 km) konnte man alle Ansprüche befriedigen, die Kinder konnten dort die höhere Schule besuchen, fast alle Arbeiter fanden dort guten Verdienst. Die Bevölkerung setzte sich ungefähr zu gleichen Teilen aus Bauern und Arbeitern zusammen, letztere waren fast alle Maurer, und es war fast allgemeine Regel, daß die Kinder dieses einträgliche Gewerbe des Vaters und Großvaters fortsetzten. Der Bauernstand mußte als „mittlerer“ gelten, nur ein Hof hatte über 25 ha, die meisten etwa 12–16, doch waren häufig auch die sog. Arbeiter kleine Bauern („Kuhbauern“), die bis zu 3 oder 5 ha bewirtschafteten. Das hatte natürlich zur Folge, daß ein großer, oft auch zu großer Teil auch der schweren landwirtschaftlichen Arbeiten auf den Schultern der Frauen und Töchter lag, was ihre Gesundheit ganz offensichtlich beeinträchtigte.

Obgleich die Sozialdemokratie zahlenmäßig sehr stark war, zeitweilig auch die Majorität in der Gemeindevertretung hatte, hatte man bis zum Jahre 1933 nicht von heftigen oder auch häßlichen Parteigegensätzen reden können; die „Arbeiter“ hatten eben auch ihre „landwirtschaftlichen“ Interessen; oft ist es mir rühmend gesagt, welche schöne Einheit im Dorf geherrscht habe, bis sie dann jenes unheilvolle Jahr radikal zerbrach. Auch Heiraten zwischen Bauern- und Arbeiterfamilien waren durchaus nichts seltenes. Über den Charakter der Bevölkerung zu reden, ist nicht leicht. Er mag im Ganzen nicht anders gewesen sein, als überhaupt derjenige Südhannovers, dem man ja einen über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Mangel an Offenheit vorwirft. Ob das, wie manche meinen, auf eine ungünstige Vermischung der Stämme, also eine Durchsetzung der ursprünglich rein niedersächsischen Elemente mit zugewanderten Franken und Thüringern zusammenhängt, vermag ich nicht zu beurteilen. Im übrigen und im allgemeinen mag doch auch für Berka das zutreffen, was man über den bäuerlichen Charakter, seine Licht- und Schattenseiten überhaupt zu sagen pflegt und in vielen Büchern über die bäuerliche Psyche nachlesen kann. Jedenfalls haben auch wir in der Beurteilung des dörflichen Menschen unsere Erfahrungen machen müssen, haben „solche“ und „solche“ kennen gelernt, sind vorsichtig geworden im gesprächlichen Verkehr, haben aber auch Familien kennen und schätzen gelernt, in deren Häuser wir noch heute gerne einkehren.

Mitten in diesem Dorf steht nach altem Herkommen nahe der Pfarre und der Schule die Kirche, ein anspruchsloser Holzbau aus dem Jahre 1784, mit seinem schlichten, aber anheimelnden Inneren und mit ihrem mächtigen und aus alter Zeit stammenden Turm (12. oder 13. Jahrhundert). Es war mir eine Freude, einiges zur Verschönerung oder besseren Ausstattung dieser Kirche beitragen zu können, so bereits im Jahre 1938 die Anlage eines elektrischen Antriebs für Glocken und Orgel, eine Überholung des Turms durch Entfernung des häßlichen Zementbewurfs und Bloßlegung des uralten Mauerwerks aus gewaltigen Bruchsteinen, die Anschaffung dreier neuer Gußstahlglocken aus Bochum im Jahre 1947 und schließlich vor allem die Instandsetzung des Inneren in meinem letzten Amtsjahr 1950.

Nur die Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre, sowie der Mangel eines ausreichenden Kirchenvermögens hinderten es, daß noch weitere und größere dringend nötige Verbesserungen bewirkt werden konnten.


Haus und Garten
Wie schon angedeutet, lag nur wenige Schritte über den Kirchplatz hinüber die Pfarre, die uns nun für mehr als dreizehn Jahre aufnahm, ein ebenfalls aus den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts stammender behäbiger Fachwerkbau mit den üblichen großen Fluren („Dielen“), zehn bewohnbaren, aber zum Teil unbeheizbaren Räumen, Küche, Waschküche, Keller und großem Boden. Das ganze Grundstück umfaßte 52 ar, einschließlich der Gebäudeflächen, ein kleines Stall- oder Vorratsgebäude lag abseits. Die Front lag nach Osten, an der Südseite waren zwei große Veranden angebaut, die ich zu den größten Vorzügen des Hauses rechnen möchte, und die vom Frühjahr bis zum Herbst fleißig benutzt wurden, ja selbst an sonnigen Wintertagen konnte man um die Mittagszeit oben neben meinem Arbeitszimmer bei 20º C sitzen und sich des schönen Blicks in den Garten und in die Nachbarhöfe erfreuen. Der fruchtbare Garten war reich an Obstbäumen , deren Ertrag uns freilich nur in den ersten Jahren zugute kam, da in dem strengen Winter 1939/40 der größte Teil von ihnen (annähernd 40!) erfror. Mein Amt ließ mir Zeit, den Garten, abgesehen von den meisten „groben“ Arbeiten, selbst zu bewirtschaften; ich arbeitete gewöhnlich in der ersten Frühe und gegen Abend, zuzeiten auch halbe und einmal ganze Tage in ihm und durfte viel Freude und guten Ertrag davon haben. Unter den Verhältnissen der Kriegs- und Nachkriegsjahre ist uns dieser Garten eine ganz wesentliche materielle Hilfe gewesen, zumal in Verbindung mit der Tierzucht, die man ja nur bei solchem Garten betreiben konnte. Wir haben alles Gemüse, reichlich Kartoffeln, Mais, Mohn, Birnen zum Saft- und Muskochen, dazu genügend Heu auf den Wiesenflächen ernten können, wir hielten Hühner, zeitweise auch Gänse, Enten, Ziegen, Schafe und Kaninchen. Das alles gewissenhaft, gründlich und sorgfältig betrieben wurde, dankten wir der Energie und dem Geschick meiner Frau, die sogar das Melken lernte und sich wieder mit ganz besonderem Eifer der Hühnerzucht widmete. Einige Jahre hindurch bewirtschafteten wir auch mit Hilfe unserer Nachbarn (Niethus) 25 ar Ackerland, um Kartoffeln, Hafer, Gerste oder Futter zu ziehen. Daneben aber durften wir doch auch die Schönheiten des Gartens ausgiebig genießen, immer einen reichen Blumenflor ins Haus tragen, an schattigen Plätzen sitzen, Krocket spielen und anderes. Der Kindergottesdienst oder der Jugendkreis durfte kleine Feste im Garten feiern, vor allem aber war er das Kinderparadies für unseren Jüngsten, der ihn auf und unter den Bäumen mit seinen musikalischen Darbietungen erfüllte.


Die Gemeinde und die Gemeindearbeit
Über die allgemeinen Verhältnisse der Kirchengemeinde habe ich in der – bis dahin nicht geführten – „Chronik der Kirchengemeinde Berka“ folgendes geschrieben:

„Die Gemeinde zählte am ersten Oktober 1937 etwa 600 Seelen, daneben gab es nur eine halbkatholische Familie. Auch Kirchenaustritte waren weder nach dem ersten Weltkrieg noch unter der Herrschaft des Nationalsozialismus vorgekommen, abgesehen von dem Fall eines Mädchens, das wegen Verheiratung mit einem S.S.-Mann das Band mit der Kirche löste und darum auch nicht getraut wurde, sondern durch einen „Kultredner“ der Partei in der Schule die „Eheweihe“ empfing. Die Gemeinde konnte als „nicht unkirchlich“ gelten, eine ganze Anzahl von Familien hielt bewußt und treu zur Kirche, wenn auch – bei aller gebotenen Zurückhaltung menschlichen Urteils – gesagt werden mußte, daß persönliches Glaubensleben im Sinne des 2. und 3. Artikels wohl kaum oder nur wenig vorhanden war. Der Durchschnitt der Kirchenbesucher betrug 1938 noch 50 an den Sonntagen. Jedoch machte sich seit 1936 der antikirchliche Einfluß der N.S.D.A.P. immer stärker bemerkbar. Besonders hatte sich wohl auch die Verdrängung des Pastor Kühner im Jahre 1934 durch die Partei schädigend auf das kirchliche Leben ausgewirkt. Während die Abendmahlsziffer noch um 1930 500 betrug, sank diese während des Krieges auf 150–300. Auch der Chorbesuch der Konfirmierten (eine Art Gottesdienstbesuchspflicht nach der Konfirmation), der zu Beginn meiner Amtstätigkeit mindestens noch 50% betragen hatte, ging infolge des „Dienstes“ und des Einflusses der Hitlerjugend immer mehr zurück. Der von der Pfarrfrau geleitete „Vaterländische Frauenverein vom Roten Kreuz“ war in den nach 1933 folgenden Jahren eingegangen. Der Jungmädchenbund existierte zwar noch, bekam aber keinen genügenden Nachwuchs. Der Posaunenchor hatte sich erhalten, auch der Kirchenaustritt seines Dirigenten, des Bürgermeisters Gebhardt, hatte keine weiteren Folgen gehabt, die Leitung übernahm der Kirchenrechner. Erst der Krieg lichtete nach und nach seine Reihen, bis er nach Kriegsende wieder vollzählig und aktiv wurde. Das Sonntagsblatt hatte nur etwa 30 Leser.“

Soweit die „Chronik“. Vielleicht darf noch ergänzend hinzugefügt werden, daß der allgemeine, ja auch für Berka und überhaupt für Südhannover nicht zu leugnende Rückgang des kirchlichen Lebens doch noch nicht soweit fortgeschritten war, als man es bei der großen Mehrzahl braunschweigischer Landgemeinden beklagen mußte. Ich hatte doch den starken Eindruck, daß sich hier noch mehr Sitte und Überlieferung erhalten hatte als in den Dörfern um Wolfenbüttel, Blankenburg oder Helmstedt herum. Manches, das dort einmal auch gewesen war, fand man hier noch vor: Prüfung der Konfirmanden durch den Superintendenten (die dann in Berka abends im Hause der „ersten Konfirmandin“ noch eine fröhliche Nachfeier fand, zu der auch die Pastors- und Lehrerfamilien eingeladen wurden), zweijähriger „Chorbesuch“ der Konfirmierten, Knien der Gemeinde beim „Christe“ am Karfreitag und Bußtag, Wochenabendmahle, Einüben der Sonntagschoräle in der Schule, täglicher Schulbeginn mit Choral und anderes mehr. Daß freilich auch viel alte kirchliche Sitte erweicht oder ganz vergessen war, kann nicht verschwiegen werden und auch nicht wundernehmen. Die Zerstörung des Sonntags war auch hier weit vorgedrungen, wenn auch eigentliche Feldarbeit, abgesehen von der Heu- und Erntezeit, nicht vorkam. Auch ein „angelobter“ Hagelfeiertag, zum Andenken an ein verheerendes Unwetter am 5. Juli 1915, kann unter dem Kapitel „Herkommen und Brauchtum“ erwähnt werden, und einen besonderen Eindruck machte uns doch immer die im Vergleich mit den städtischen Feiern musterhaft würdige Haltung der Gemeinde und der Kinder bei den Konfirmationen.

Schließlich darf noch erwähnt werden, daß das Verhältnis zum Kirchenvorstand ungetrübt war, nur im letzten Sommer gab es aus Anlaß der Erneuerung der Kirche mit einem Teil der Kirchenvorsteher Differenzen, die sich auch noch in der reichlich kühl-reservierten Verabschiedung am 1. Oktober 1950 auswirkten, die aber der Kirchenvorstand bei meinem 80. Geburtstag durch seinen offiziellen und vollständigen Besuch durch einige dankbare und auch entschuldigende Worte, sowie ein kleines Geschenk doch offenbar auszugleichen versuchte. Daß er in puncto Gottesdienstbesuch und sonstige Teilnahme am kirchlichen Leben ein Vorbild für die Gemeinde gewesen sei, kann bei der Mehrheit der Kirchenvorsteher nicht behauptet werden.

Unter diesen so geschilderten Gemeindeverhältnissen sollte nun am Ende meines Amtslebens noch 13 Jahre lang meine Arbeit als Landpfarrer geschehen, ähnlich derjenigen in Ahlshausen und doch wieder verschieden infolge der in rund 40 Jahren so völlig veränderten Lage. Meine Zeit war in den ersten Jahren bei der Kleinheit der Gemeinde nicht voll ausgenutzt, doch änderte sich das zu einem erheblichen Teil mit dem Ausbruch des Krieges und den in ihm übernommenen Vertretungen. Von den regelmäßigen Amtsfunktionen brauche ich nichts zu berichten. Die Predigten suchten sich der einfachen Geisteshaltung und Aufnahmefähigkeit der Hörer anzupassen. Im Unterricht empfand ich als besonders wohltuend im Gegensatz zu der unruhigen Haltung der Kinder in der Stadt die gute Disziplin, nicht so wohltuend freilich die geringere geistige Beweglichkeit und Aufgeschlossenheit derselben. Es wurden regelmäßig im Sommer zwei, im Winter vier Stunden, dazu eine für die Vorkonfirmanden, erteilt. In der Seelsorge hielt ich es so, daß zwar im Anfang die ganze Gemeinde „durchbesucht“ wurde, dann aber nur bestimmte Anlässe, vor allem also Alter, Krankheit, Tod, Konfirmation u.a. mich in die Häuser führten.

Reine Höflichkeits- oder „Schwatzbesuche“ habe ich kaum gemacht. Eine Enttäuschung bereiteten oft die Bibelstunden, die wenig Anziehungskraft auszuüben schienen, es ist wiederholt vorgekommen, daß sich nur zwei oder drei Frauen einfanden, erst in den letzten Jahren hob sich die Zahl bis zu 25 oder mehr. Auch die „Bibelwochen“, die sich seit den dreißiger Jahren in Deutschland eingebürgert haben, habe ich meistens gehalten, in den letzten Jahren mit nicht schlechtem Besuch. Volksmission und Missionsfest, letzteres einige Male mit der Nachfeier im Pfarrgarten, gehörten, abgesehen von den Jahren 1940 – 46, zum Jahresprogramm.

Im Jahre 1940 wurde der Kindergottesdienst eingerichtet, wobei meine Frau an der Orgel und bei einer Gruppe, meistens die einzige, immer aber die beste Helferin war. Ebenfalls fielen die neu eingerichteten „kirchlichen Frauenabende“ bei uns im Hause in ihren Aufgabenkreis. Vor allem aber widmete sie sich, ihrer Anlage, ihrem Eifer und ihren Fähigkeiten entsprechend, der Pflege des Gesangs. Sehr bald entstand ein Kirchenchor, den sie jahrelang mit unendlicher Geduld am Leben zu erhalten wußte, bis dann später durch das Flüchtlingselement und die neu angefangene Jugendarbeit die Zahl höher und stabiler wurde. Einige Singtage unter Kirchenmusikdirektor Doormann - Göttingen, Jugendpfleger Schäfer – Bad Sachsa oder Organist Weitzel – Northeim suchten auch das Interesse der an sich sangesfreudigen Berkaer am „Gemeindesingen“ zu gewinnen, doch waren greifbare Folgen in dieser Hinsicht kaum zu berichten. Immerhin war die nahe Verbindung zum Kirchenchor, wie auch mit dem Posaunenchor – beide wurden jährlich einmal zu einem geselligen Abend bei uns eingeladen – günstig für Weckung und Stärkung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Pfarre und Dorf.

Mehr Arbeit als im Braunschweigischen Pfarramt erforderte in Hannover die Verwaltung des Kirchen- und Pfarrvermögens, da im Gegensatz zu Braunschweig auch das letztere Eigentum der Gemeinde ist und demgemäß vom Kirchenvorstand verwaltet werden muß. Auch sind wohl die Klagen über zuviel Konservatismus, Bürokratismus etc. in der Hannoverschen Kirchenleitung nicht ganz unberechtigt. Da auch die Ausstellung zahlloser „arischer Urkunden“, wie sie die Hitlerzeit verlangte, und im Zusammenhang damit die von vielen Seiten geforderte Ahnenforschung nach den alten und oft sehr schwer lesbaren Kirchenbüchern sehr viel Zeit in Anspruch nahm, so war der Tag trotz der Kleinheit der Gemeinde doch einigermaßen ausgefüllt.

Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß ich bei den Vakanzen und aus anderen Anlässen wohl in allen Gemeinden des Kirchenkreises (Osterode) habe vertreten müssen; in Osterode in allen drei Kirchen, in Düderode, Harriehausen, Gillersheim, Schwiegershausen, Dorste, Katlenburg, außerhalb des Kirchenkreises auch in Herzberg, Hattorf, Osterhagen, Elvershausen, Marke und wohl noch mehr. Vor allem aber hatte ich während des Krieges ein halbes Jahr die volle Vertretung in Nienstedt und 4½ Jahre die von Wulften, einer Gemeinde von etwa 2500 Seelen. Besonders die letztere Vertretung mit Unterricht, sämtlichen Amtshandlungen und Besuchen sowie allen Arbeiten in der „Verwaltung“ haben mich viel Zeit und viele schlechte Wege gekostet, letzteres, weil die Zugverbindungen oft ungünstig waren, so daß das Fahrrad und sehr oft auch die Füße ihren Dienst tun mußten. Auf einem dieser Fußmärsche (Feldweg 6–7 km, Landstraße 11–12 km) habe ich mir 1942 bei verschneitem und gefrorenem holperigen Weg einen Leistenbruch geholt, der mir Jahre lang zu schaffen machte, bis er dann 1950 operativ geheilt wurde. So waren es, zumal bei den häufigen Gedächtnisfeiern für gefallene Soldaten, oft recht besetzte und anstrengende Sonntage, sie haben mich aber im Endergebnis beweglich erhalten. Auch die 1½ jährige Vertretung des Superintendenten und Wingolfsbruders Holscher in seinen Ephoralgeschäften habe ich gut bewältigen können.

Neben aller Gemeinde- und Vertretungsarbeit in Berka hat mich aber von 1937–1947 auch noch die Verbindung mit der alten heimatlichen Landeskirche mannigfaltig in Anspruch genommen. Nach wie vor war ich Mitglied im Bruderrat des Pfarrernotbundes, was häufige Reisen nach Braunschweig mit sich brachte. Ich blieb auch Leiter des Bruderkreises für Volksmission, von dem ich im Abschnitt „Helmstedt“ berichtet habe. Bis in das erste Kriegsjahr hinein konnte die Arbeit, wenn auch eingeschränkt, getrieben werden, die letzte vollzählig besuchte Rüstzeit fand im Mai 1939 statt. Übrigens hatten wir im Jahre 1938 eine solche auch bei uns im Hause gehabt, sie steht uns allen, die wir daran beteiligt waren, noch in bestem Andenken, sowohl wegen der auswärtigen Referenten, als auch wegen des echten brüderlichen Austausches unter den fünfzehn Teilnehmern. Die früher erwähnten Konferenzen der „Arbeitsgemeinschaft deutscher Volksmissionare“ sind noch Jahre lang auch im Kriege gehalten worden, ich selbst habe sie mindestens noch 1941 oder 1942 besucht.


1945 „Das Jahr des Deutschen Zusammenbruchs“
(Abschrift aus der Chronik der Kirchengemeinde Berka)

„Mit trübem Himmel ging das Jahr 1944 zuende, ebenso begann das neue. Voll schwerer Ahnungen und Sorgen waren die Herzen der Menschen. Trotz aller befohlenen und in allen Zeitungen und Versammlungen propagierten Siegeszuversicht – neue, geheimnisvolle Waffen sollten den gesicherten Endsieg bringen! – konnte kein vernünftig und ehrlich denkender Mensch mehr an einen erträglichen Ausgang des Krieges glauben. Im Silvestergottesdienst 1944 predigte der Chronist über den Doppeltext Eph. 5, 16 und 2. Kor., 6, 2: „Kaufet die Zeit aus, denn es ist böse Zeit“ – „Seht jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils“; und im Neujahrsgottesdienst über die Jahreslosung der Kirche: „Lasset uns aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens“. Da konnte dann alles gesagt werden, was bei solchem ahnungs- und sorgenschweren Jahreswechsel dem Chronisten zu wissen not tat.... Nach der letzten erfolglosen deutschen Offensive in den Ardennen kurz vor Weihnachten näherte sich die Westfront bald dem linken Rheinufer, im Osten brachte der 12. Januar den großen Durchbruch der Russen an der Weichsel und den Einbruch in Ostpreußen. Die Heimat ward immer mehr beunruhigt durch die dauernden Fliegerangriffe (im Februar Zerstörung Dresdens) und die Vernichtung des deutschen Eisenbahnwesens. Einzelheiten aufzuführen ist nicht die Aufgabe dieser Zeilen....

22. 2.: Fliegerangriffe auf Northeim und eine ganze Reihe wichtiger Bahnhöfe an der Strecke Hamburg – Kassel...

Äußerlich und innerlich unruhig verlief die Stille Woche; Angriffe der Tiefflieger mehren sich... die Nachrichten von der jetzt schon mitten in Deutschland stehenden „Front“ nehmen alarmierenden Charakter an. Am 23. März steht der Feind in Marburg. Seit dem 28. oder 29. fluten auch auf den hiesigen Bundesstraßen 241 und 247 Teile der zurückgehenden Front durch Katlenburg. Je näher der Feind rückt, desto mehr nehmen Fliegerangriffe, Bombenabwürfe, Tiefbeschuß zu. Doch ist in Berka kein Haus getroffen worden. Manche halben Nächte werden im Keller zugebracht. Doch konnten die Gottesdienste vor Ostern und an Ostern selbst noch ohne Störungen durchgeführt werden. Am 4. April flog morgens um 6 Uhr die Dynamitfabrik in Herzberg in die Luft. Am 3. April ist Gotha besetzt, am 6. Hameln. Von Westen und Süden her näherten sich die Amerikaner unserer Gegend. Am 6. April liegen 140 Mann Deutscher in Berka im Quartier. Am 7. (Sonnabend vor dem Weißen Sonntag) erfolgt ein starker Fliegerangriff auf den Bahnhof Northeim und legt ihn in Trümmer. Auch auf das Bahnhofsgebäude Katlenburg fallen Bomben und zerstören einige kleinere Gebäude.

Am Weißen Sonntag konnte nur eine Andacht in der Kirche abgehalten werden, außer der Pfarrfamilie nur von drei oder vier Gemeindegliedern besucht. An diesem Sonntag rückt der Feind in Göttingen ein, wo kurz vorher einige Häuser getroffen werden. Am Montag wird Northeim besetzt, gegen Abend die Eisenbahnbrücke am Ausgang des Dorfes von deutscher (S.S.)–Nachhut gesprengt. Endlich am Dienstag, dem 10. April, nachdem noch morgens 5 Uhr die beiden Brücken bei Katlenburg gesprengt waren, ist der Feind da, vormittags 8½ in Katlenburg, nachm. 14.15 in Berka. Während die Rückzugsgefechte sich über Dorste, Marke, Förste, Nienstedt, Osterode nach dem Harz hinzogen, erscheinen die ersten Proklamationen des Siegers und erfolgen die ersten Plünderungen durch Polen und Deutsche, z.B. des Zuckerlagers der Demuth‘schen Fabrik in Katlenburg, stehengebliebener Güterzüge u.s.w. Einzelne, vielfach betrunkene amerikanische Soldaten ziehen durch die Straßen, suchen nach Alkohol und anderen Dingen. Schwere Plünderungen oder Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen scheinen nicht oder nur ausnahmsweise erfolgt zu sein, wenn natürlich auch die wildesten Gerüchte im Dorfe umliefen. Schußwaffen und Photoapparate mußten abgeliefert werden, nach acht Uhr abends darf sich niemand mehr außerhalb des Hauses aufhalten. Gegen Ende des Monats werden zwecks Einquartierung eine Anzahl Häuser in der Pfarrgasse und im Oberdorf für etwa eine Woche geräumt, die Pfarre bleibt aber verschont, die Schule fällt – bis zum Herbst! – aus...

Im Juli verfügte die Militärregierung, daß Religionsunterricht erteilt werden müsse; zunächst übernahm ihn – im Auftrage der Kirche – der Lehrer Lange, der später freilich eine geraume Zeit, bis zu seiner „Entnazifizierung“ sein Schulamt nicht versehen und damit auch nicht den Religionsunterricht erteilen durfte.

2. 10: Gründung des – zunächst lokalen – Hilfswerks, später „Gemeindehilfe“ genannt und als solche dem „Evangelischen Hilfswerk“ angegliedert“.


1946 (noch aus der Chronik)
„Im Juli setzte der große Flüchtlingsstrom ein. Große Transporte kommen aus Schlesien (überwiegend), Pommern, Warthegau, Sudetenland, auch noch aus Ostpreußen. Es sind im Laufe der Zeit etwa 750 Personen, darunter 250 Katholiken. Die Unterbringung bereitet teilweise große Schwierigkeiten, die Wohnungen sind teilweise jämmerlich, die Aufnahme sehr verschieden. Neben mancher schlichten Tat der Nächstenliebe stehen auch sehr unliebsame Vorkommnisse, die von großer Verständnislosigkeit oder gar Hartherzigkeit zeugen. Der Pastor besucht nach und nach die neuen Familien, unter denen sich eine ganze Anzahl treuer Kirchenglieder befindet, so daß die Zahl der Gottesdienstbesucher, die die ganze Kriegsnot nicht zu steigern vermocht hatte, nunmehr erheblich wächst. Soweit Mittel vorhanden sind und die Aktionen des Evangelischen Hilfswerks in Gang kommen, sucht die Gemeindehilfe mit einer Anzahl freiwilliger Helferinnen die große Not etwas zu lindern. Über das Verhältnis von „Alt- und Neubürgern“ kann abschließend 1946 noch nicht geurteilt und berichtet werden.“

Bis hierher die Abschrift aus der Kirchengemeinde-Chronik

Nachträge aus dem persönlichen Erleben (in Auswahl)
Aus unserem persönlichsten Erleben seien noch folgende Erinnerungen aus 1945 nachgetragen:

30.Juni: Freund Lachmund kommt aus Blankenburg, ich soll die Leitung der zu bildenden „vorläufigen Kirchenregierung“ in Wolfenbüttel übernehmen.
Anfang Juli: die Russen rücken über die anfängliche Demarkationslinie vor, der östliche Teil des Harzes bis exklusive Hohegeiß-Braunlage wird russische Zone; Blankenburg ist abgeschnitten, der Herzog von Braunschweig, frühzeitig durch die Engländer benachrichtigt, zieht auf die Marienburg.

17. Juli: Ich werde von der Braunschweigischen „Rumpfkirchenregierung“ nach Blankenburg „zurückberufen“ – ohne die Stelle antreten zu können.

3. August: Reise nach Wolfenbüttel, Braunschweig, Lelm (Amtsbruder Erdmann) und Helmstedt; Beratungen im Landeskirchenamt, mit den Brüdern des Notbundes, mit Erdmann, der „Stellvertreter des Landesbischofs“ werden soll.

7. September: die Verhandlungen betr. Bildung der vorläufigen Kirchenregierung kommen zum Abschluß; ich übernehme den Vorsitz. In der Folge bis zum Februar 1946 zahlreiche Fahrten nach Wolfenbüttel bei schwierigsten Eisenbahnverhältnissen, wiederholt auf den Rückwegen Übernachtungen bei Amtsbrüdern, auch auf dem Bahnhof Kreiensen, die Wege nach und von Northeim manchmal zu Fuß.

11. Februar 1946: Mit meiner Frau in Wolfenbüttel. Eröffnung des neuen Landeskirchentages, wozu ich die Predigt in der Hauptkirche halte. Die vorläufige Kirchenregierung tritt ab; es wird ein „Landeskirchenpräsident“ gewählt (Erdmann – gegen meine Stimme).

23.-28. September 1948: Besuch in Blankenburg, mit meiner Frau. Predigt in St. Bartholomäi, Gemeindeversammlung im Gustav Adolf Haus.

1950
Das letzte Jahr im Amt brachte die Erneuerung des Kircheninneren. Viel Besprechungen, Schriftverkehr, Konflikt mit einem Teil des Kirchenvorstands, der die Pläne des Sachberaters, Prof. Dr. Witt – Bremen, nicht einsehen will, in der entscheidenden Sitzung aber überstimmt wird.
13. Mai: 50jähriges Amtsjubiläum. Morgenfeier in der Kirche mit hl. Abendmahl; im Laufe des Tages eine Anzahl Amtsbrüder und andere Gratulanten; abends Kirchen- und Posaunenchor. Ein Tag der Dankbarkeit und der Beugung im Gedanken an den Ordinationstext vom 19.5.1900 in der Hauptkirche zu Wolfenbüttel.
Dies letzte Amtsjahr brachte neben vielem Erfreulichen doch auch eine ernste Erkrankung.

1.Oktober: Erntedankfest und Einweihung der erneuerten Kirche. Die Predigt hielt Oberlandeskirchenrat Mahner aus Hannover, danach: mein Abschiedswort.

31. Mai 1951: Umzug nach Katlenburg.



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