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[Kirche von unten]

Ottmar Palmer 1873 - 1964

Versuch einer Annäherung und Deutung

10. Kapitel


Die Entfernung Palmers aus Blankenburg unter Beye/Schlott 1933/34


Die Wahlen zum Braunschweiger Landeskirchentag und zu den Gemeindekirchenräten am 23. Juli 1933 hatten einen überwältigenden Sieg der Deutschen Christen gebracht. Kirchenrat Palmer hatte eine Mehrheit in seinem eigenen Kirchenvorstand und auch im Kirchenkreis verloren. Die Bemerkung in seinen Erinnerungen, daß „90 und mehr % unserer Gemeinden ebenso fest hinter uns (Lachmund und Palmer) standen“, wird sich auf die sonntägliche Gottesdienstgemeinde bezogen haben.
Der bereits zum 28.7.1933 rasch einberufene erste Landeskirchentag hatte eine neue Kirchenleitung gewählt. Die juristischen Oberkirchenräte Dr. Breust und Dr. Lambrecht blieben in ihren Ämtern, der theologische Oberkirchenrat Meyer ging aus Altersgründen in Pension, OKR August Heydenreich zurück in die Gemeinde und der 70jährige Landesbischof Bernewitz nach Blankenburg in Pension. An ihre Stelle wurden als kommissarische Oberkirchenräte Johannes Schlott und Wilhelm Beye gewählt. Das lag nahe, denn beide hatten die Pfarrerliste der Deutschen Christen angeführt. Zu Mitgliedern der Kirchenregierung wurden Staatsrat Bertram, Geschäftsführer Wrege und Pfarrer Beye gewählt. Bertram hatte die Liste der DC der Weltlichen Abgeordneten angeführt, Wrege war auf Platz 6 postiert. Aus Blankenburg waren noch Pfarrer Adolf Kellner, Dr. med. Alfred Leidig, nach Auskunft des Amtsblattes Sturmbannarzt in Blankenburg, und der Lackierer Walter Pfeil aus Rübeland in den Landeskirchentag gewählt worden. (Amtsblatt 1933 Nr. 4835 S. 44)

Palmer, seit 1924 im Landeskirchentag, war ausgeschieden. Da Domprediger v. Schwartz nach der parteiischen mitternächtliche Rede Hitlers die Liste „Evangelium und Kirche“ in der Nacht vor der Wahl zurückgezogen hatte, war der neue Landeskirchentag trotz der 18 % Stimmen für „Evangelium und Kirche“ ausschließlich von Deutschen Christen besetzt. Palmer urteilt zu Recht „wahrscheinlich ein Fehler.“

Schon im August traten die neu konstituierten 20 Kreiskirchentage zusammen, die von den OKR Schlott und Beye abwechselnd besucht wurden, und die die Grundsätze des deutsch-christlichen Umbaus der Landeskirche propagierten. Zwischen dem 13. und 19. August absolvierten Beye/Schlott allein acht Kreiskirchentagssitzungen. Es sollte alles zügig vonstatten gehen. Am 18. August beschloß die Kirchenregierung obendrein eine straffe Gebietsreform. Sie löste sämtliche Kirchenkreise auf und beließ nur noch sieben Kirchenkreise, deren Umfang den Landkreisen entsprachen. Die Kirchenräte sollten ihr Amt aufgeben und konnten ihren Titel mit dem Zusatz a.D. behalten. Es ist erstaunlich, in welchem Tempo die Juristen im Landeskirchenamt dieses Kirchengesetz entscheidungsreif gemacht hatten. (Amtsblatt 1933 S. 41 Nr. 4834) Dieses Gesetz sollte ein Beitrag zur Gleichschaltung der inneren Struktur der Landeskirche an die politischen Strukturen sein. Im Harz war eine Strukturreform auch überfällig und die Zusammenfassung der drei Kirchenkreise Blankenburg, Hasselfelde und Walkenried vernünftig. Unter Palmers Leitung war die Zusammenarbeit seit 9 Jahren erprobt, die Kreiskirchentage hatten gemeinsam getagt, die Pfarrer der drei Kirchenkreises hatten sich zweimal im Jahr zu gemeinsamer Arbeit in Sorge getroffen und die organisatorische Zusammenlegung war im Gemeindeblatt 1929 auch vorgeschlagen worden.


Palmers Absetzung als Kirchenrat während des Kreiskirchentages am 20. August 1933
Zwei Tage nach der beschlußfassenden Kirchenregierungssitzung tagten die Mitglieder des gemeinsamen Kreiskirchentages von Blankenburg und Hasselfelde/ Walkenried am Sonntag dem 20. August 1933 in Blankenburg. Es war zugleich der Abschluß der Singewoche, zu der das Burckhardthaus nach Blankenburg eingeladen hatte. Hauptthema des Kreiskirchentages war daher die Musik. Nach der Festpredigt sollte Kantor Stier aus Dresden einen Vortrag über die Erneuerung der Kirchenmusik halten. Für Propagandareden über den deutsch-christlichen Neubau der Landeskirche blieb im Grußwort von OKR Beye in der Versammlung am Vormittag im Anschluß an den Gottesdienst wenig Platz. Er war in Uniform gekommen, begrüßte die Versammlung mit Heil Hitler, was auf die Teilnehmer komisch wirkte. (Palmer MzGK S. 24)
Beye berichtete das Neuste aus der Kirchenregierung, vom Abbau der Kirchenkreise und der Führung des neu gebildeten Blankenburger Kirchenkreises durch „unseren lieben Parteigenossen“ Adolf Kellner.(in: acc 11/75 Nr. 35) Diese Besetzung war folgerichtig. Kellner hatte für die DC kandidiert, war in den Landeskirchentag gewählt worden, die Gemeindekirchenräte waren überwiegend deutsch-christlich formiert, Palmer konnte den Kirchenkreis als Mann der anderen Seite nicht mehr gut repräsentieren. Die nicht geringere Überraschung verschwieg Beye: Nümann hatte die Kirchenregierung zum Stellvertreter Kellners gewählt.

Nach dem im Programm nicht vorgesehenen Grußwort Beyes hielt Kantor Stier seinen Hauptvortrag und mit seinem Dankeswort für den Vortrag verband Palmer ein Abschiedswort an die Kreiskirchentagsmitglieder. Die Durchführung der Kirchenkreisreform war erst ab 1. Oktober und die Einführung der neuen Kreispfarrer für den 8. Oktober im Braunschweiger Dom vorgesehen. Palmer hätte die Ankündigung von OKR Beye auch ignorieren und schweigen und seine Verabschiedung als Kirchenrat Ende September in einer Predigt organisieren können. Außerdem standen auf dem Programm nach dem Mittagessen noch einige Regularien, z.B. Wahlen für die Ausschüsse im Kreiskirchentag an, mit denen der Kreiskirchentag beendet werden sollte. Palmer wählte den Augenblick der größeren Publizität, um dem Kreiskirchentag die Ungehörigkeit der Form, die Beye gewählt hatte, vorzuführen. Der Kreiskirchentag war förmlich am frühen Nachmittag zu Ende, die Singwoche hingegen klang im Kloster Michaelstein mit einem Vortrag von Palmer über die Klostergeschichte, einem Vortrag von Hartwieg über die Baugeschichte und einem mehrstimmigen Singen der Singwochenteilnehmer im Refektorium aus. Hier fühlte sich Palmer, befreit von dem deutsch-christlichen Schmutz, zu Hause und getröstet..

Die Tatsache der Ablösung Palmers beschäftigte die Öffentlichkeit weiterhin, denn so folgerichtig die Besetzung des neugeschaffenen Postens mit Pfr. Kellner kirchenpolitisch war - es war die von der neuen Kirchenleitung gewählte unverschämte Form, die auf berechtigt anhaltende Ablehnung stieß. Das Verhalten des 30jährigen OKR Beye ohne jede kirchenleitende Erfahrung gegenüber dem 60jährigen Kirchenrat Palmer wurde zu Recht als eine bodenlose Frechheit empfunden.


Beyes Rache
Beye indes hatte einen persönlichen Grund für diese demonstrative öffentliche Geste. Beye war in Blankenburg kein Unbekannter. Er hatte im Monat Mai zweimal in Blankenburg geredet und dabei einmal Kirchenrat Palmer persönlich angegriffen und behauptet, dieser habe verhindert, daß Hakenkreuzfahnen in der Kirche aufgestellt würden und daß die SA die Kirche in Uniform betreten dürfe. Beye hatte die Reserve Palmers gegenüber der NSDAP richtig herausgespürt, Palmer hatte auch eine bereits am 4. März vor der Reichstagswahl gehißte Fahne wieder einziehen lassen und so seine Reserviertheit öffentlich gemacht, aber der Vorwurf Beyes, der sich auf einen Vorgang zum Volkstrauertag bezog, war falsch. Palmer wollte diese falsche Tatsachenbehauptung Beyes aus der Welt schaffen, und Gemeindemitglieder hatten sich beim Landeskirchenamt über den Auftritt von Beye beschwert. Die Beschwerde wurde am 9. Juni 1933 in der Kirchenregierung beraten, die daraufhin beschloß: „Die Kirchenregierung mißbilligt mit dem Vorsitzenden das gerügte Auftreten des genannten Pfarrers und überträgt dem Vorsitzenden die Erledigung der Angelegenheit.“ Landesbischof Bernewitz untersagte in einer förmlichen Verfügung Pfarrer Beye, diese Behauptung aufrecht zu erhalten oder gar zu wiederholen.

Palmer veröffentlichte diese Verfügung im Gemeindeblatt die „Bergkirche“: „Da Pfarrer Beye nach Ihrem Bericht fortfährt, seine Behauptung aufrecht zu erhalten, haben wir ihm unmißverständlich mitgeteilt, daß seine Behauptung den Tatsachen widerspricht, indem von keiner Seite der Wunsch geäußert ist, das Landeskirchenamt möge den geschlossenen Aufmarsch der SA am Volkstrauertag nicht gestatten. Es ist vielmehr beantragt worden, das Landeskirchenamt möge die Frage des Hineintragens von Parteifahnen in den Gottesdienst nicht der Entscheidung der einzelnen Kirchenvorstände überlassen, sondern durch eine für das ganze Gebiet der Landeskirche geltende Verfügung regeln. Da jene unzutreffende Behauptung sich als eine Diffamierung der „Kirchlichen Kreise in Blankenburg“ auswirkt, haben wir ihm untersagt, sie aufrecht zu erhalten oder zu wiederholen. Palmer.“

Diese Veröffentlichung mußten die Deutschen Christen in Blankenburg und Beye als schwere Niederlage empfinden. Die Veröffentlichung war in der Juliausgabe der „Bergkirche“ erschienen und vielen Teilnehmern des Kreiskirchentages natürlich in frischer Erinnerung. Nach dieser öffentlichen Bloßstellung konnte Beye die erste Gelegenheit in Blankenburg dazu nutzen, sich seinerseits an Palmer zu revanchieren.

Aber auch für Adolf Kellner wäre diese Form der Beförderung als Kreispfarrer und zum Nachfolger Palmers eine Peinlichkeit gewesen, wenn sie ihm nicht von Beye vorher mitgeteilt worden wäre. Schließlich hatten Palmer und Kellner 18 Jahre lang einvernehmlich in Blankenburg nebeneinander ihren Dienst versehen. Kellner hatte jedoch Palmer vorher keinen Wink gegeben. Der Riß zwischen ihnen beiden hatte sich seit Mai angedeutet und war immer größer geworden.


Palmers Bericht vom Abschluß der Singewoche
Die Verbindung Palmers zur Lokalredaktion waren noch so gut, daß das Blankenburger Kreisblatt am Mittwoch nach dem Kreiskirchentag, dem 23. August, den zur Entlastung der Redaktion abgefaßten Bericht aus der Feder Palmers als eigenen Bericht abdruckte. Die Wiedergabe der Festpredigt von Kunze las sich wie eine Kampfansage an die Deutschen Christen. „Er zeigte in seltener Tiefe, Kraft und Klarheit die unverrückbaren Grundlagen, auf denen die Kirche gewachsen und allein gebaut werden kann. Die Grundlage ist allein der Glaube an Jesus Christus, wer aus irgendwelchem anderen Material eine Kirche bauen will, der bringt Irrlehre.“ Das Erscheinen Beyes ordnete Palmer deutlich dem Thema des Kreiskirchentages unter. „Palmer wies in seinem Grußwort auf den Sinn der Tagung hin und gab dann Beye das Wort“, der zum Thema Kirchenmusik allerdings nichts beizutragen hatte. Palmer hob drei Themen aus dem zu lang geratenen Grußwort Beyes hervor: volksmissionarische Durchdringung der Landeskirche, „Schulung der Pfarrer vor allem in Rassenhygiene, in den Aufgaben der Verhütung erbkranken Nachwuchses. Diese neue und große Aufgabe der Kirche kann nur erfüllt werden durch einen äußeren Umbau der Kirche“. Vermutlich hatte sich Beye tatsächlich auch so ausgedrückt, aber die Wiedergabe und der sinnlose Zusammenhang von Rassenhygiene und Umbau der Landeskirche machte Beye in den Augen der Zeitungsleser lächerlich. „Es folgte der Vortrag von Kantor Stier, der ursprünglich als einziger der Tagesordnung vorgesehen war,“ leitete Palmer in seinem Bericht spitz zur Wiedergabe des Vortrags über. Stier sprach von der Loslösung der neuen evangelischen Kirchenmusik aus dem Liberalismus und der Empfindungsseligkeit des 19. Jahrhunderts. Das neue Lied rede weniger vom Gefühl der Gläubigen als davon, was Gott getan habe.

Es war unter diesen Umständen fraglich, ob Palmer überhaupt neben und nunmehr unter Kellner weiter Dienst tun konnte. Es hätte nahe gelegen, in Vorbereitung der Übergabe der Amtsgeschäfte auch gemeinsam zu überlegen, ob für Palmer eine andere angemessene Pfarrstelle in der Landeskirche in Frage kommen würde. Palmer ging noch davon aus, daß er in seiner Blankenburger Pfarrstelle bleiben könnte. Dafür sprach sein Alter. Palmer war 60 und hätte sich in fünf Jahren pensionieren lassen können. Das dauerte indes den jungen Nationalsozialisten in der Kirchenleitung viel zu lange. Unter ihrer Führung mußte alles „blitzartig“ erfolgen. Und blitzartig erfolgte dann auch die Verdrängung Palmers aus dem Bartholomäuspfarramt.


Die Verdrängung Palmers aus dem Pfarramt St. Bartholomäus
Die Kirchenregierung hatte am 23.9. in der Zusammensetzung von Beye, OKR Dr. Breust, Bertram und Wrege beschlossen, Palmer solle „unter Drohung mit einem Dienststrafverfahren aufgeforderrt werden, sich spätestens zum 1.11.1933 um eine andere Pfarrstelle“ bemühen. Palmer „hetze in unverantwortlicher Weise“ gegen Kellner. (in: acc 11/75 Nr. 35) Offenbar fehlte es dafür an einer stichhaltigen Begründung. Kellner wird sich beschwerdeführend an das Landeskirchenamt gewandt haben. Palmer sammelte nämlich immer wieder seit dem Frühsommer 1933 in einer „jungreformatorischen Konferenz“ Pfarrer aus dem Harzer Kirchenkreis und hatte am 20. September die Pfarrer Karl Helmer, Braunlage, Julius Seebaß, Börnecke, Gerhard Stosch, Wienrode, Heinrich Lachmund, Blankenburg und Hermann Wicke, Zorge bei sich versammelt (Eintragung im Amtskalender). Witterte Kellner eine anhaltende Oppositionsgruppe gegen die Deutschen Christen im neuen Kirchenkreis?

Palmer hatte aber diesen Beschluß, sich um eine andere Pfarrstelle zu bemühen, nie erhalten. Es gab nach dem Kirchengesetz von 1922 die Rechtsverhältnisse der Geistlichen betr. die Möglichkeit, einen Pfarrer im Interesse der Gesamtkirche zu versetzen. Dazu bedurfte es einer mit Gründen versehenen Verfügung und einer Frist, Einwendungen dagegen zu erheben. (Kirchengesetz Nr. 2788 § 12). Möglicherweise wünschte die Kirchenregierung eine Regelung, ohne diesen Rechtsweg zu beschreiten.
Aber der Beschluß machte deutlich, daß die deutsch-christliche Kirchenleitung ein Nebeneinander des neuen Kreispfarrers Kellners und des früheren Kirchenrats Palmer für unmöglich hielt und daß Palmer die Stelle an der Bartholomäuskirche für den neuen Kreispfarrer vollständig räumen sollte. Nach einigen Urlaubswochen predigte Palmer wieder zum ersten Mal am 8. Oktober vormittags in Michaelstein und abends im Georgenhof. Er ahnte nicht, daß es die letzten Gottesdienste in Blankenburg sein sollten.
Am Nachmittag dieses Sonntages waren die neuen Kreispfarrer im Braunschweiger Dom in ihr Amt eingeführt worden. Das Blankenburger Kreisblatt brachte dazu am Montag einen Ausschnitt aus der Einführungsansprache Beyes: „Im Namen des dreieinigen Gottes. Lieber Bruder. Es hat dem Herrn der Geschichte gefallen, die Herzenstüren in unserem Volk weit aufzutun. Ein Volk lauscht auf Gottes Wort. Ihr seid dazu berufen, Führer zu sein, daß das Wort Eingang finde zu den Menschen, berufen, daß das Wort rein gepredigt und gelehrt wird, berufen, dem Führer und Reichskanzler und der sichtbaren Braunschweiger Landeskirche Treue zu halten.“
Die Vorgänger und der Hausherr des Braunschweiger Domes hatte sich von der Zeremonie ferngehalten. Nach dem Abendgottesdienst Palmers im Georgenhof besuchte Palmer Lachmund, wo auch der Domprediger v. Schwartz eingetroffen war. Es war das letzte, von Disziplinarmaßnahmen unbeschwerte Gespräch dieser drei führenden Lutheraner und Freunde.


Der gesuchte Anlaß zur Verdrängung aus dem Pfarramt
In dieser Woche bot sich eine aus der Sicht der Kirchenleitung günstige Gelegenheit. In Blankenburg machte das Gerücht die Runde, Palmer habe am Donnerstag vor einer Mädchengruppe den Reichsjugendführer v. Schirach als Juden bezeichnet. Tatsächlich hatte Palmer gegenüber den Jugendlichen die ironische Bemerkung gemacht, Schirach hieße mit Vornamen vielleicht Moritz, und Moritz war der Vorname eines stadtbekannten jüdischen Blankenburgers. Diese Bemerkung, die in einem persönlichen Gespräch rasch hätte geklärt werden können, war der hochwillkommene Aufhänger für die Kirchenleitung, um Palmer auch das Pfarramt an Bartholomäus zu nehmen. Die Bemerkung Palmers wurde denunziert und nun mischte sich energisch der NSDAP Ortsgruppenleiter Ehelebe ein und verlangte vom gerade eingeführten Kreispfarrer und Parteigenossen Kellner entsprechende, umgehende Maßnahmen.

Nur zwei Tage nach der Bemerkung in der Mädchengruppe, am Sonnabend vor Sonntag, dem 15. Oktober, wurde Palmer ins Amtszimmer vom frisch eingeführten Kreispfarrer Kellner zitiert, in dem Palmer den im September nunmehr zum Bischof gewählten Wilhelm Beye vorfand. Beye warf Palmer vor, er habe den Reichsjugendführer lächerlich gemacht, er habe ein zerrüttetes Verhältnis zur Gemeinde und im übrigen habe man im Landeskirchenamt für belastende Tatsachen Unterlagen. Als Palmer Auskunft über derlei belastende Unterlagen bat, wurde der Bischof laut und erklärte: „Ich bin nicht gekommen, um mich ausfragen zu lassen, sondern um Ihnen mitzuteilen, daß Sie hiermit beurlaubt sind und sich um eine andere Pfarrstelle bewerben können.“ Palmer zitiert diesen Vorgang wörtlich in seinen Erinnerungen.
Beye war offenbar schon den ganzen Tag in Blankenburg gewesen, denn Palmer vermerkt in seinem Amtskalender: „Von 10 Uhr an Angelegenheit Ehelebe-Kellner-Beye. 14 1/4 Trauung. Gegen 17.00 bei Kellner-Beye, „beurlaubt“, 18 im Gottesdienst bei Lachmund.“ Danach hatte sich Beye der Unterstützung der örtlichen NSDAP versichert. (Palmer MzGK S. 29f)

Es bleibt im Rückblick erstaunlich, daß Palmer diese mündliche Benachrichtigung durch den Bischof befolgt hat. Denn eine „Beurlaubung“ vom Dienst war im Kirchenrecht überhaupt nicht vorgesehen. Es gab Versetzungen auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand und in ganz schweren Fällen eine vorläufige Amtsenthebung, aber keine, wie in diesem Falle, zeitlich begrenzte Beurlaubung bis zum Antritt der nächsten Dienststelle. Außerdem bedurfte eine solche Entscheidung der Kirchenleitung wenigstens der Schriftform, und ein Schriftstück hatte der Bischof nicht zur Hand. Es war also fraglich, ob überhaupt ein Beschluß der Kirchenregierung vorlag. Zwar hatte der deutsch-christliche Landeskirchentag das Skandalgesetz vom 12. September 1933 erlassen, wonach Pfarrer, die „nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat und die Deutsche Evangelische Kirche eintreten“, in den Ruhestand versetzt werden können. Das Gesetz trug im Amtsblatt die Unterschriften von Bischof Beye und OKR Dr. Breust, in dessen Rechtsabteilung das Gesetz ausgearbeitet war. Aber auch dieses Gesetz sah eine „Beurlaubung“ nicht vor. Es gab für Kirchenrat Palmer als einem in Rechtsfragen durchaus kompetenten Mann also durchaus mehrere Möglichkeiten, die Attacke von Bischof Beye für einige Tage abzuwenden.

Kirchenrat Palmer konnte außerdem sicher sein, daß in seiner Personalakte und im Landeskirchenamt gegen ihn nichts vorlag. Tatsächlich hatte Bischof Beye gelogen. Palmer hatte auch im Spätsommer 1933 ein sehr gutes Verhältnis zur Blankenburger Gemeinde und belastende Unterlagen konnte Beye auf Nachfrage von Palmer nicht nennen. Deshalb reagierte der Bischof erregt. Beye hatte tatsächlich die Personalakte von Palmer durchgesehen und dort einen Bericht der Braunschweiger Landeszeitung vom 12. 1. 1932 über eine Versammlung der Freunde der ev. Volks- und Bekenntniskirche in Braunschweig gefunden, die von einem Vortrag Palmers über die völkische Religiosität berichtete. Palmer hielt die völkische Religion für unvereinbar mit der Bibel. Die Deutschkirche suche durch biblische Quellenkritik einen Gegensatz zwischen dem Christentum Jesu und dem überlieferten Christentum der Kirche zu konstruieren. Das müsse abgelehnt werden. „Sie wird auch nicht die Kraft entfalten, die wir zu einer radikalen Erneuerung unseres Volkes gebrauchen“, endete der Artikel. Der Artikel setzte sich unausgesprochen mit Thesen auseinander, die der braunschweigische Innenminister Dietrich Klagges in seinem Buch „Das Urevangelium Jesu, der deutsche Glaube“ publiziert hatte.
Quer über den Bericht hatte Beye mit dickem rotem Strich „Palmer“ geschrieben. Das war die einzige „Unterlage“ des Bischofs.

Hatte es sich bis Beye herumgesprochen, daß Palmer am 24. September aus seinem Urlaubsort Voldagsen einen Gottesdienst in Beyes alter Gemeinde Wenzen besucht hatte, den der Beye zur Entlastung beigeordnete 24 jährige Kandidat der Theologie Friedrich Elster hielt?

Beye hatte aber auch einen politischen Grund, den er natürlich nicht nannte. Am nächsten Tag wurde im ganzen Land der „Tag des Handwerks“ mit großen Umzügen begangen. Der Mittelstand gehörte zur traditionellen Klientel der Landeskirche und ein Kirchgang war im Oktober 1933 noch selbstverständlich. Das Festprogramm sah vor: 9 Uhr Antreten der Innungen, Abmarsch zum Gottesdienst. 10 Uhr Festgottesdienst. In den Kirchennachrichten konnte man lesen, wer für den Gottesdienst zuständig war: Pastor Palmer. Palmer sollte in Bartholomäus die Festpredigt halten. Das wollte Beye auf jeden Fall mit der blitzartigen, formal unrechtmäßigen Beurlaubung verhindern. Palmer seinerseits war zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten erzogen und erwog offenbar gar nicht, auf die Predigt nicht zu verzichten und den Zugang zur Kanzel mit seinen Jugendlichen zu besetzen.

Außerdem war die Brutalität der SA und Partei gegenüber Sozialdemokraten und Kommunisten stadtbekannt geworden. Nach den zynischen sog. „Überholungsaktionen“ im März 1933 hatten SS und NSDAP vom 20.-30. September in der Stadt Blankenburg erneut zahlreiche sozialdemokratische und kommunistische Parteimitglieder verhaftet und gefoltert und öffentlich vom Gasthof „Zur Erholung“ zum „Blankenburger Hof“ abgeführt. Ein Protest der Konservativen und auch der Kirchen zu diesem Terror war ausgeblieben. Die Einschüchterung der Bevölkerung hatte bereits deutliche Ausmaße erreicht. Es war also Vorsicht geboten. Das Vorgehen gegen Palmer in Blankenburg konnte als Teil einer kirchenpolitischen „Überholungsaktion“ verstanden werden.

Die Gemeinde in der Bartholomäuskirche war am 18. Sonntag nach Trinitatis, dem 15. Oktober, doch überrascht, daß sie nicht „ihren“, in den Kirchennachrichten angekündigten Gemeindepfarrer Ottmar Palmer auf der Kanzel sahen, sondern – Bischof Beye. Palmer vermied es auch, am Gottesdienst als zuhörendes Gemeindemitglied teilzunehmen. Er wollte offenbar jede demonstrative Geste vermeiden. Er war bei Lachmund im Gottesdienst, der an diesem Sonntag Martin Niemöller über die Vorgänge in Blankenburg unterrichtete (PNB 1/10). Niemöller reagierte prompt und bat die Reichskirchenregierung um Überprüfung. (PNB 1/13)

Der Gottesdienstbesucher Konrad Visbeck hingegen schrieb wenige Tage nach dem Gottesdienst an Reichsbischof Müller. Er hätte sich am 15. Oktober in der überfüllten Bartholomäuskirche mit einer „Kanzelrede des Landesbischofs Beye begnügen“ müssen und das habe ihm keinesfalls gefallen. „Unverschämt“ schrieb Beye mit rot an den Rand, der den Brief zur Kenntnis erhalten hatte.(Brief Viskes vom 20.10.1933 in der Personalakte Palmer)

Das Blankenburger Kreisblatt zitierte am 16. Oktober aus der Predigt Beyes unter anderem folgendes: „So wie schon Wieland, der Schmied, der Recke Siegfried, der Bergmannssohn Martin Luther, Hans Sachs und in unseren Tagen Adolf Hitler aus der Treue und Ehrbarkeit im Kleinen heranwuchsen zu ihren unvergänglichen Taten, so nur kann unser Volk in der Verbundenheit mit der Scholle und dem ewigen Gott im Himmel seinen Weg zu einer besseren Zukunft gehen“ Das war die viel abgespulte deutschchristliche Platte von der Mutter Erde und dem Vater im Himmel, von Martin Luther und Adolf Hitler, was dem Gottesdienstbesucher Viske nicht gefallen hatte.

Neben dem Bericht vom Ablauf des Tags des Handwerks stand die Notiz von der Beurlaubung Palmers unter der schonenden Überschrift: „Kirchenrat Palmer ist seit dem gestrigen Tag im Urlaub“. Er werde sich ein Pfarramt in einer anderen Gemeinde suchen. „Er war seit 17 Jahren in unsrer Stadt und hat mit großer Tatkraft an der St. Bartholomäuskirche gewirkt. Die Schaffung des Gemeindeblattes, der intensive Ausbau des inneren Gemeindelebens in mannigfachen Veranstaltungen und Vereinen, die Erneuerung der Orgel in der Kirche, die Neuordnung des Friedhofwesens, besonders der Bau des Gustav Adolf Hauses sind, um einiges Hervortretendes zu nennen, vornehmlich sein Werk. In dankbarer Erinnerung an alles, was er seiner Gemeinde bedeutet hat, begleiten ihn deren beste Wünsche auf dem zukünftigen Arbeitsfeld.“ Das war nun just das Gegenteil, was Beye noch am Sonnabend behauptet hat und Kreispfarrer Kellner hätte die Notiz beschämen können. Denn den Dank an den Kollegen hätte er bei dessen Verabschiedung als Kirchenrat aussprechen können. Aber Kellner brachte es nicht mehr über die Lippen. Die Gegensätze waren zu groß geworden.

Erst am Mittwoch erhielt Palmer das Schreiben mit der Mitteilung seiner Beurlaubung, wozu dem Bischof allerdings ein Beschluß der Kirchenregierung fehlte. Bezeichnenderweise vermied Beye im Schreiben auch jeden Hinweis auf die am Sonnabend mündlich ausgesprochene Beurlaubung und schrieb: „Um Sie vor weiteren Schwierigkeiten zu bewahren, hat Sie der Landesbischof mit sofortiger Wirkung von Ihren Amtsgeschäften beurlaubt und Ihnen aufgegeben, sich umgehend um eine andere Pfarrstelle zu bewerben.“

Dem Angebot von Beye, er möge das Dorfpfarramt Frellstedt übernehmen, wich Palmer aus, indem er versprach, das Angebot ernsthaft zu prüfen. Er schlug es nach einer Besichtigung aus, weil das Pfarrhaus für die neunköpfige Familie mit sechs Kindern und der Haushaltsstütze zu klein wäre.

Daß die deutsch-christliche Kirchenleitung eine kirchenpolitische Bereinigung der Landeskirche wünschte, wurde daran deutlich, daß zwei Tage nach dem Besuch Beyes in Blankenburg der Domprediger v. Schwartz zum Landesbischof nach Wolfenbüttel bestellt wurde und ihm eröffnet wurde, er möge die Dompfarrstelle in Braunschweig aufgeben und sich auf die Kirchengemeinde Pabstorf bewerben. (persönlicher Bericht von v. Schwartz in PNB 1/12 vom 17.10.) Der Landesbischof nannte vor allem politische Gründe, der Ministerpräsident wünsche die Beseitigung des Dompredigers, in der schriftlichen Begründung, die wenige Tage später eintraf, wurde die Einrichtung einer landeskirchlichen Pressestelle genannt, dessen Inhaber zugleich Domprediger sein sollte. „Damit wir in diesem Sinne über die Dompfarrstelle verfügen können, ersuchen wir Sie, sich um die Pfarrstelle in Pabstorf zu bewerben.“ Beye sprach v. Schwartz gegenüber keine ominöse „Beurlaubung“ aus und v. Schwartz konnte bis zu einer endgültigen Versetzung auf eine andere Stelle im Dom zunächst weiter amtieren.
Aber die Sache war im Zusammenhang mit der Palmerschen Entfernung aus Blankenburg geplant. In derselben Kirchenregierungssitzung vom 23.9., in der Palmer aufgefordert werden sollte, sich auf eine andere Pfarrstelle zu bewerben, wurde über eine „demnächstige Neubesetzung der Dompredigerstelle“ gesprochen. Dazu würden „Verhandlungen mit dem Staatsministerium in Aussicht genommen“. (in: acc 11/75 Nr. 35)
In der nächsten Sitzung am 9. Oktober berichtete Beye über ein Gespräch mit Ministerpräsident Klagges. Klagges halte „ein Verbleiben des Dompredigers Dr. v. Schwartz in seinem Dompredigerpfarramt für untragbar“. Klagges habe aber zugesagt, einem neuen Domprediger weiter das Gehalt zu zahlen. Sieben Tage später zitierte der Bischof v. Schwartz nach Wolfenbüttel, um ihn aufzufordern, sich auf eine andere Pfarrstelle zu bewerben. (ebd)

Im November/Dezember 1933 erschien keine Ausgabe der Bergkirche. Der Artikel Lachmunds in der Oktobernummer „Die Judenfrage und die hohe Politik“ hatte bei Parteistellen Anstoß erregt. Lachmund hatte geschildert, wie die Besiedlung Palästinas mit Juden auf Schwierigkeiten stoße. Die Frage der Einwanderung war vor den Völkerbund gebracht worden, dabei sollten auch die antisemitischen Vorgänge in Deutschland angeprangert werden. Lachmund stellte richtig fest, daß es im Grunde keine „jüdische Minderheit“ in Deutschland gäbe, weil sich die Mehrheit der Juden als gute Deutsche fühlten, im Krieg ihr Leben für Deutschland eingesetzt hätten und auch ansonsten ihren vaterländischen Pflichten nachgekommen wären. Das entsprach nicht mehr dem von Regierung und Partei verbreiteten Klischee über die jüdischen deutschen Mitbürger..
Lachmund verwies auf eine zweite Schwierigkeit. Die Judenfrage sei keineswegs nur eine Rassenfrage sondern auch eine religiöse Angelegenheit. Nach dem Weltplan Gottes würde das Volk der Juden wieder Gnade finden. „Dies hochbegabte Volk soll seine Gaben nicht nur, wie manches Mal in der Vergangenheit, zum Schaden der anderen gebrauchen, sondern es wird in seiner nicht unterwertigen, aber andersartigen Veranlagung den andern zum Segen werden können. Es sind aus dem Judentum ganz hervorragende Menschen, Christen und Pfarrer hervorgegangen.“

In dieser Situation erfolgte Ende des nächsten Monates die Gründung des Braunschweiger Pfarrernotbundes am 30. November, zu dessen Vorbereitung sich die Blankenburger Pfarrer Lachmund und Palmer in der Wohnung von Domprediger v. Schwartz in Braunschweig trafen.



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