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[Kirche von unten]

Ottmar Palmer 1873 - 1964

Versuch einer Annäherung und Deutung

12. Kapitel


Der lange Abschied Palmers aus Blankenburg - ein Predigtband, ein Abschiedsbrief und die Entwicklung des Pfarrernotbundes Jan. - März 1934


Wenn Beye/Kellner die Beurlaubung Palmers am 14. Oktober als „schneidigen Rausschmiß“ Palmers aus Blankenburg gedacht hatten, dann war das Manöver ein Mißgriff. Denn Palmer blieb monatelang in der Öffentlichkeit Blankenburgs präsent, ohne daß dies von ihm so geplant war. Wer ihn sehen und sprechen wollte, erlebte ihn bis zum Jahresende jeden Sonntag als regelmäßigen Gottesdienstbesucher bei Lachmund in der Georgenhofkirche. Er notierte unter dem 30. Oktober „eine ganze Anzahl Besuche seelsorgerlicher Art in der Gemeinde“, er wurde von Gemeindemitgliedern zum Abend eingeladen, er besprach sich mit Altbischof Bernewitz, der inzwischen nach Blankenburg umgezogen war und er beteiligte sich an dem Entstehen des Pfarrernotbundes, dessen Bruderrat sich in seinem Hause traf.


Der Predigtband Palmers
Am 7. Dezember konnten die Blankenburger in ihrem Blankenburger Kreisblatt eine Notiz lesen, daß „rechtzeitig für den Weihnachtstisch“ ein Predigtband von Palmer erscheinen würde.
Palmer hatte den November über die für ihn völlig ungewohnte predigtlose Zeit mit dem Abschreiben von Predigten überbrückt und konnte am 13. Dezember die Korrekturfahnen bei der Blankenburger Druckerei Johannes Briest abgeben. Die Predigtauswahl trug den programmatischen Titel „Um Evangelium und Kirche“. Er erinnerte provokativ an den Namen der jungreformatorischen Liste bei der Kirchenwahl im Juli 1933 „Evangelium und Kirche.“

Palmer kommt in seinen Erinnerungen immer wieder auf seine ausgedehnte Predigttätigkeit zu sprechen. Das Predigen hatte Palmer nicht im Predigerseminar gelernt. Es gab zwar, erinnerte er sich, sog. Kritikpredigten in der Wolfenbüttler Marienkirche, wo offenbar die gehaltene Predigt von einem Mitglied des Konsistoriums oder anderen Kollegiaten kritisch besprochen wurde, aber „im ganzen war der Betrieb kümmerlich“. Die beste Predigtschule werden für den Sohn die Predigten des Vaters gewesen sein und das mit der humanistischen Ausbildung verbundene Erlernen der Übersetzung und Interpretation von antiken Texten.

Zum Verständnis der biblischen Texte war Palmer von seinen Lehrern Prof. Hermann Cremer (1834-1903) in Greifswald und von Prof. Martin Kähler (1835-1912) in Halle geprägt. Beide verbanden kritisch wissenschaftliches Denken mit gemeindegemäßer Frömmigkeit. Martin Kähler hatte seinerzeit seine Abhandlung über „der sog. historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus“ veröffentlicht, in der sich Kähler kritisch mit der sog. Leben-Jesu-Forschung auseinandergesetzt hatte, eine Rekonstruktion eines historischen Jesusbildes ablehnte und diesem den „verkündigten“, kerygmatischen Christus entgegenstellte, wie Palmer in seinen Erinnerungen zu Recht schreibt „gerade heute wieder hoch aktuell“, nämlich durch die Theologie Rudolf Bultmanns.

Palmer lernte das Predigen vor allem durch die sonntägliche Praxis von früh an. In seiner ersten Vikarsstelle in Vorsfelde versah Palmer die zweite Pfarrstelle, hatte wöchentlich zu predigen und alle Beerdigungen zu halten. Das war für den 27jährigen ein Riesenpensum. Er lernte predigen durch den sonntäglichen Rhythmus und wiederum nicht durch das Vorbild eines Vikarsvaters. „Der Superintendent wirkte weder theologisch noch kirchlich als Hilfe oder Vorbild,“ erinnerte er sich.

Palmer hielt das Predigen für „das vornehmste Stück aller pastoralen Arbeit“, schrieb die Predigt wörtlich auf, memorierte sie und hielt sie dann im wesentlichen frei. Das Konzept war mit kleinsten Buchstaben beschrieben und kaum zum Ablesen geeignet. Selbstbescheiden vermerkt Palmer, es habe ihm an der Fähigkeit gefehlt, „das Wort an den Mann zu bringen, „d.h. es so zu sagen, daß der Hörer sich wirklich in der Welt, in der er lebt, „angesprochen“ fühlt. Aber wer kennt sich in dieser Aufgabe jemals wirklich aus?“ Tatsächlich aber hat das Formulieren Palmer Freude gemacht und der Vortrag der Predigt auch. Palmer vermied die gerne verwendete pathetische Kanzelsprache, verabscheute offenbar auch das Hilfsmittel von Texten populärer Predigtprominenz, wobei die Predigtbände von Oberhofpredigern in Berlin besonders beliebt waren. Die sonntäglichen Zuhörerinnen und Zuhörer konnten sich darauf verlassen, eine sorgfältig durchformulierte Predigt frei vorgetragen zu bekommen. Palmer galt zu Recht als rhetorische Begabung. Er konnte sich ohne Frage auch auf seine Zuhörer einstellen. Das beweist die große Zahl seiner Kindergottesdiensthelferinnen in Wolfenbüttel und die Kindergottesdienstarbeit. Und ohne technische Hilfsmittel füllte Palmers Stimme die große Hallenkirche in Wolfenbüttel und die ebenfalls für heutige Verhältnisse große, gefüllte Kirche in Blankenburg.

Die Frage, ob die Predigt auch „angekommen“ ist, gehört zu den bleibenden Rückfragen, die jeder sorgfältige Pfarrer an sich stellen wird. Palmer hatte ein dankbares Echo auf seine Predigttätigkeit erhalten und eines davon hat er auch aufgeschrieben. Ein regelmäßiger Gottesdienstbesucher aus seiner ersten Gemeinde in Ahlshausen sagte zu ihm: „Die Leute sind früher auch zur Kirche gekommen, aber jetzt kommen sie gern.“


Inhaltsangabe
Der Predigtband, den Palmer im Dezember 1933 vorlegte, war kein Querschnitt aus Palmers 17jähriger Predigttätigkeit, sondern es waren mit einer Ausnahme Predigten aus den letzten zwölf Monaten. Sie sollten den Leser und die Leserin an die Predigtsituation in der Bartholomäuskirche erinnern, wo sie in der Regel gehalten worden waren. Der Wiedererkennungseffekt wird sehr groß gewesen sein.
Palmer orientierte sich bei der Auswahl nicht an Themen sondern an dem Kirchenjahr. Der Predigtband enthält Predigten von Weihnachten 1932, Karfreitag, Ostern und Pfingsten 1933 , vom Juli 1933 und schließt mit einer Predigt am letzten Sonntag im Kirchenjahr, die nicht datiert ist.
Auffallenderweise hatte Palmer keine typischen „Zeitpredigten“ ausgewählt, was die Leser vielleicht erwartet hatten, etwa die Predigt nach dem 30. Januar 1933, oder am Sonntag nach dem Reichstagsbrand oder am Sonntag der Reichstagswahl, dem 5. März, oder die verhinderte Predigt am 15. Oktober, auch nicht die letzte Predigt am Erntedanktag in Michaelstein, der mit dem viel gefeierten ersten nationalsozialistischen Reichserntedankfest auf dem Bückeberg zusammengefallen war. Palmer begründet im Vorwort die Auswahl und den Verzicht auf Zeitpredigten lapidar: „Die Zeiten ändern sich, das Evangelium bleibt“.

Die Predigten sind überwiegend Textpredigten, die einen Bibelabschnitt auslegen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Bischof Bernewitz und Bischof Johnsen liebten z.B. thematische Predigten etwa über die Gnade, die Liebe oder die Barmherzigkeit, die in einer erstens-zweitens- drittens-Gliederung der Gemeinde einige behältliche Sätze „nach Hause mitgaben.“ Eine solcher thematischen Predigten enthält auch die Palmersche Predigtauswahl, nämlich über das Thema „Schicksal“ (16. Juli 1933 S. 51ff), obwohl er auch dieser einen Bibeltext zugrunde legte.

Bei der Textauswahl fand Palmer kurze Bibelworte abseits der gängigen, allzu bekannten Bibelworte, z.B. zur Karfreitagspredigt Lukas 23,35: „Und das Volk stand da und sah zu.“ So erzeugte Palmer schon zu Beginn seiner Predigt eine gewisse Hörerneugier darüber, was er „wohl heute aus diesem Text machen werde.“
Palmer wollte seinen Leserinnen und Lesern die Bedeutung der hohen Feste des Kirchenjahres einprägen. Er wußte, daß diese Feste trotz aller politischen und kirchenpolitischen Veränderungen Bestand haben würden.

Auf zwei Predigten gehe ich näher ein:
Die Weihnachtspredigt
Der Weihnachtspredigt liegt die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2 zu Grunde. Palmer geht direkt auf die Zuhörer zu und versetzt das Hirtenfeld von Bethlehem mitten in die Gemeinde. Das historische Hirtenfeld ist gänzlich uninteressant. „Ob aber das Hirtenfeld hier in unserer Kirche ist und daheim in unsren Häusern und inwendig in unsren Herzen, davon hängt in der Tat für uns alles ab“. „Der Gang zum Hirtenfeld“ ist die Predigt überschrieben. Palmer stellt die rhetorische Frage „Wie kommt man dorthin? Was erlebt man dort?“ Palmer deutet die Hirten als die Armen vor Gott. Wer den Weg der Armut vor Gott geht, findet den Weg zum Hirtenfeld. Palmer arbeitet dabei stark den Gegensatz zu den materiell reich Beschenkten heraus. Die Satten, Stolzen und Selbstgenügsamen waren in Jerusalem und Rom, nicht auf dem Hirtenfeld von Bethlehem. Palmer beläßt es nicht bei dem sozialen Gegensatz. Er spitzt ihn auf die Kirche zu: „Wie Gott sich nicht im Tempel zu Jerusalem offenbarte, wo die Priester feierlich ihr Amt versahen und der Weihrauch in Wolken gen Himmel emporstieg, so ist auch die Kirche keine Garantie dafür, daß man Weihnachtsoffenbarung erlebt, daß man zum Kern des Festes durchdringt. Auch unsere Bartholomäikirche bietet diese Garantie nicht, auch nicht unsre schönen Gottesdienste, auch nicht die überfüllteste Christvesper. Gewiß, unsere Kirche k a n n zum Hirtenfeld werden, aber sie muß es nicht, Gott bindet seine Liebesoffenbarung an gar nichts, auch nicht an unser Singen und Beten, es gibt nur eins, was ihn herniederruft: Der Weg zum Hirtenfeld geht durch das Armwerden vor Gott.“
Im zweiten Teil beantwortet Palmer die Frage „Was erlebt man auf dem Hirtenfeld?“ textgemäß: die Hirten erleben, wie die Engel Gott die Ehre geben. Wieder weist Palmer die historische Frage - der Vorgang wäre kein Protokoll – und die üblichen sentimentalen Vorstellungen vom holden Knaben schroff ab. Das Lied „Stille Nacht“ fehlt in der angegebenen Liedauswahl. „Hörst du es? Gott, nur Gott die Ehre! Nicht menschlicher Hoheit und Kraft, nicht der Titanenhaftigkeit menschlichen Ringens und Strebens, auch nicht der lieben, guten bürgerlichen Moral und Ehrenhaftigkeit, auch nicht dem hohen Fluge gottsuchender Gedanken! Nur Gott die Ehre! „Ich bin der Herr, dein Gott, ich will meine Ehre keinem andern geben, noch meinen Ruhm den Götzen“, und seien es auch die Götzen des 20. Jahrhunderts.“ Nur denen, die sich von diesem Choral der Engel erschüttern ließen, gelte auch die Fortsetzung „Friede auf Erden“, den Palmer als Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen auslegt. „Liebe Freunde, das heißt doch ganz einfach, daß Gott und die Menschen zusammengehören..... Gott schlägt über die von Menschlichkeit, Schwachheit, Vergänglichkeit und Tod geprägte tiefe Kluft eine Brücke, er überschreitet von sich aus die Grenze zum Menschen: Gott ist offenbart im Fleisch, Himmel und Erde vereinen sich beide, Schöpfer wie kommst du uns Menschen so nah.“

Die Predigt bleibt nahe am biblischen Text, der Prediger rückt ihn dicht an die Situation seiner Gemeinde und wirbt missionarisch für den Weg zum Hirtenfeld: „Kennst du den Weg? Gehst du den Weg? Den Weg, der da anfängt in der Wüste und Einsamkeit der Buße und der da endet an der Krippe? Den Weg, der anfängt in der Nacht der Verzweiflung und endet unter dem hellen Glanz der göttlichen Liebe? Der da anfängt mit der Verzweiflung an sich selbst und endet mit der Anbetung des unergründlichen Gottes und seiner unfaßbaren Liebe?“

Palmer hat das gebildete, persönlich gut abgesicherte, kultivierte Bürgertum unter seiner Kanzel, dem er keineswegs nach dem Munde redet, sondern es mit dem Ernst und der Freude des Evangeliums konfrontiert und doch sich selber als Prediger mitten unter die Hörer stellt.


Die Predigt zum Landwehrverbandsfest
Aus dem Rahmen des Kirchenjahres, nach dem die Predigten ausgesucht sind, fällt die Predigt zum Landwehrverbandsfest 1929 heraus. Der Landwehrverein gehörte im ganzen Land Braunschweig zu den sehr gut organisierten traditionellen Vereinen in den Städten und Dörfern. Er war in Blankenburg im Februar 1869 gegründet worden und vereinte die Bürger und Soldaten, die bei der Revolution 1848/49 und in den Kriegen Bismarcks gegen Dänemark und Österreich 1864 und 1866 mitgekämpft hatten. Im Landwehrverein fühlte man sich den konservativen Werten von Zucht und Ordnung, vaterländischer Gesinnung und Herzogstreue verpflichtet. In der Öffentlichkeit war er durch Aufmärsche, Paraden, Übungen und Verbandsfeste präsent. Der Kirchgang gehörte zur Tradition des Verbandes. 1929 war 60jähriges Stiftungsfest der Blankenburger Landwehr, zu dem sich die Landwehrvereine aus dem Freistaat Braunschweig am 1./2. Juni 1929 getroffen hatten, um, wie Palmer eingangs sagt, „ein vaterländisches Fest zu begehen“.

Bei den Leserinnen und Leser werden Erinnerungen an das erst vier Jahre zurückliegende rauschende Fest mit einem historischen Umzug durch die Stadt geweckt haben. Damals nahmen die berittenen Braunschweiger Husaren, rot, blau, gelbe Ulanen, Kürassiere, Dragoner, die Schutztruppe in Friedensuniform, der Verein ehemaliger Artilleristen mit Kanone, der Verein der 165er in alten blauen Friedensuniformen, die Marine mit einem Torpedoboot, Trachtengruppen der alten Braunschweiger, insgesamt etwa 2.200 Teilnehmer am Umzug teil. Am Sonntag Vormittag war traditioneller Feldgottesdienst am Thie, 60 Fahnen schmückten links und rechts den Feldaltar, die herzogliche Familie mit Prinzessinnen und Prinzen nahmen Platz, die Stadtkapelle intonierte als Eingangslied „Lobe den Herren.“ Ein gewaltiger Chor aus Männerkehlen, wie man ihn in der Kirche am Sonntag nicht gewohnt war, erscholl. Zum Schluß „Nun danket alle Gott“ und dazwischen die Predigt von Kirchenrat Palmer.

Es ist eine relativ kurze Ansprache. Der Predigt ist das Wort aus 2. Chronik 15,2 vorangestellt: „Wenn ihr den Herrn sucht, wird er sich von euch finden lassen; werdet ihr ihn aber verlassen, so wird er euch auch verlassen.“ Die Predigt folgt der schlichten Gliederung: Deutschland lebte und lebt ohne Gott. Ein Deutschland aber, das aus Gott und aus den Kräften der Ewigkeit lebt, wird neu geboren und „würde sein ein Volk der Liebe und der Treue, der Reinheit und der Freiheit, ein Volk der Ehre und der Macht“. Die Hörer sprach Palmer als „Liebe Kameraden, deutsche Männer und Brüder“ an. Früher, zur Zeit der Freiheitskriege habe der Spruch gegolten: „Deutsches Herz, verzage nicht, tu, was dein Gewissen spricht“. Das deutsche Volk wäre ein „Volk des Gewissens“ gewesen. Nun aber müßte es umkehren „von Massenwahn und von der Schlagerkultur und Philisterhaftigkeit, von der Vergötzung des Goldes und vom Verknechtetsein unter die niedrigsten Instinkte, Umkehr zum lebendigen Gott, zu seinem Wort, zu seiner Kirche, zu seinem Sonntag“. Palmer beklagt die Niederlage von 1918 und die laufenden Reparationsverhandlungen, die darüber entschieden, „ob Deutschland auf 40 oder 60 Jahre Sklavenbrot essen soll“. Palmer warnte: „Wir haben so vieles verloren, wir sind geworden ein Volk ohne Raum, ein Volk ohne Glück, ein Volk ohne Geld, ein Volk ohne Ehre und ohne Heere. Aber alles läßt sich ertragen, alles kann wiederkommen. Wenn wir nur nicht ein Volk ohne Gott sind! Wenn aber der deutsche Bauer wieder anfängt, seinen Acker mit Gott zu pflügen..“

Diese Predigt ist keine Textauslegung sondern ein Appell an die in Reih und Glied angetretene konservative Schicht des Volkes, sich wieder auf Gott, Glaube und Kirche zu besinnen. Dazu griff der Prediger tief in das Vokabular und die Geschichtsvorstellungen der Deutsch-Nationalen. Palmer selber war Mitglied des Landwehrverbandes und auch Mitglied der Deutsch-Nationalen-Volks-Partei.
In der konservativen Herzogstadt Blankenburg fand die Predigt ein großes öffentliches Echo. Das Blankenburger Kreisblatt druckte sie zwei Tage später bereits komplett ab.

Der Grund, warum Palmer 1933 diese Predigt in die Sammlung aufgenommen hatte, ist einleuchtend. In dem Vorwort rechnete er mit dem Einverständnis der Leser. „Viele werden es verstehen, warum ich eine „Feldpredigt“ über unsren Dienst am Vaterlande mit einfügte.“ Palmer verwies mit dieser Predigt auf seine nationale, politische Zuverlässigkeit, die fest in die vaterländischen Traditionen eingefügt war. Als evangelischer Pfarrer und Kirchenrat, der seinen geistlichen Dienst nicht als Gegensatz zum Dienst am Vaterlande verstanden hatte, beanspruchte er, nun seinerseits „vom Vaterland“ gerecht und fair behandelt zu werden. Palmer empfand mit gutem Grund seine Absetzung als Kirchenrat und seine Entfernung aus der Blankenburger Kirchengemeinde als Unrecht der Kirchenleitung, aber auch als Unrecht seitens der nun tragenden politischen Kräfte, der örtlichen NSDAP und der Landesregierung. Das war deshalb bitter, weil sowohl bei der Pfarrstelle in Wolfenbüttel wie in Blankenburg der Herzog seinerzeit ein Mitspracherecht hatte und Palmer sich bisher im besten Einvernehmen mit den führenden gesellschaftlichen Kräften fühlen konnte. Aber die Rangfolge der städtischen und dörflichen Eliten hatte sich seit dem Regierungsantritt Hitlers grundlegend geändert. Die regionalen Parteigliederungen von NSDAP und SA spielten eine, gerade die konservativen Kräfte überraschende, große Rolle. Allerdings war der Gegensatz zwischen der politischen äußersten Rechten DNVP und der NSDAP bereits in den Wahlen des Jahres 1932 scharf aufgebrochen. Beide kämpften um dieselbe Wählerschicht und bekämpften sich erbittert als Konkurrenz.
Die Predigt Palmers verdeutlicht zugleich, wie stark das später von der NSDAP bevorzugte Vokabular und die schlichte Geschichtsvorstellung von der Verderbtheit der Weimarer Republik in den vaterländischen Verbänden und -vereinen bereits vorgebildet war und von der NSDAP nur aufgegriffen zu werden brauchte.

In der Märznummer 1934 von „Ruf und Rüstung“ empfahl Domprediger v. Schwartz die Lektüre des Predigtbandes. „Daß man gerade in unserm Leserkreis gern zu Palmers schlichten und dabei ganz in die Tiefe gehenden Predigten, die als Abschiedsgabe an seine Gemeinde gedacht sind, greifen möge, ist unser herzlicher Wunsch.“ Im Nu waren 300 Exemplare des Predigtbandes verkauft.

Diese Predigt hatte 72 Jahre später noch einen aparten Nachklang. In der Pfingstausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 17./19. Mai 1997 veröffentlichte Claus Heinrich Meyer unter dem Titel „Zeitgemäße Physiologen. Der Pastor“ eine billige Karikatur des Pfarrers im 19. und 20. Jahrhundert, in der alle kabarettistischen Stereotypen des geistlichen Standes aufgereiht wurden. Das mochte man lesen und dann in den Papierkorb tun, wenn nicht als einzige Namen Kirchenrat Palmer und Domprediger v. Schwartz zitiert worden wären, und von Palmer ausgerechnet ein Satz aus diesem Feldgottesdienst von 1929. Das wurde weder der Person und noch der Predigt Palmers gerecht, der Journalist bediente sich aus dem Predigtstoff und der reichhaltigen Biographie wahllos einiger Details, die seinem Vorurteil entsprachen. Wen mochte derlei unterhalten?


Der verzögerte Abschied – das Frühjahr 1934
Es sollte nicht bei diesem Abschiedsgeschenk vom Dezember 1933 bleiben, denn der Umzug Palmers zögerte sich unerwartet noch um weitere drei Monate über Ostern 1934 hinaus. Palmer besuchte weiterhin die Gottesdienste zunächst bei Lachmund in Blankenburg, nach dessen Beurlaubung in Börnecke bei Julius Seebaß und häufig in Wienrode und Cattenstedt bei Pfr. Stosch. Da immer mehrere Familienglieder von Palmers mitkamen, freuten sich die besuchten Pfarrer über den vermehrten Gottesdienstbesuch, der dann auffällig wurde, wenn der Gottesdienst mal in einem Gasthaussaal stattfinden mußte. Palmer hielt in seinem eigenen geräumigen Haus Gottesdienst für die Familie und für einen weiteren Bekanntenkreis. Den Gottesdienst zu Ostern 1934 besuchten 38 Gemeindemitglieder. Er hielt auch weiterhin in seinem Haus Bibelstunde. Gelegentlich ging er auch zu Beerdigungen, z.B. als sein ältester Kollege Frölich plötzlich verstorben war, der einzige, der auch seine Einführung 1916 miterlebt hatte. Palmer blieb in der Stadt präsent. Er hielt auch Kontakt zu befreundeten Pfarrern, allein fünf Mal war er Gast von Altbischof Bernewitz; als es wärmer wurde, unternahm er auch Wanderungen.

Vor allem aber nahm er lebhaften Anteil am dramatischen kirchenpolitischen Leben. Nach dem erregten und erregenden Gottesdienst am 14. Januar, den Palmer besuchte und an dem Lachmund eine Erklärung gegen einen drastischen Erlaß des Reichsbischofs Müller verlesen hatte, wurde Lachmund umgehend telephonisch von Bischof Beye jeder weitere pfarramtliche Dienst untersagt. An diesem Sonntagabend hatten die ev. Jugend und die HJ zu einem gemeinsamen Abend unter dem Thema „Alles für Deutschland –Deutsche Jugend für Christus“ eingeladen. Dagmar v. Hoerschelmann hatte ein Epiphaniasspiel eingeübt, der HJ Unterbannführer redete, der Landesführer und Volksmissionar Kurt Weferling hielt eine flammende Ansprache, wie beides zusammengehöre, aber Palmer, der mal wieder im von ihm errichteten Gemeindehaus einen erfrischenden Abend mit der Gemeindejugend erleben wollte, verließ mit seiner Frau in der Pause die Veranstaltung.

Während die Entfernung Palmers aus dem Blankenburger Pfarramt Anteilnahme und Bedauern hervorgerufen hatte, löste die für die Gemeinde grundlose Beseitigung des nächsten beliebten Pfarrers aus Blankenburg Erbitterung und Empörung aus. In den nächsten drei Tagen liefen im Landeskirchenamt mehr als 50 Protesttelegramme ein. Solidaritätsunterschriftenlisten kursierten, die im Nu von über 250 Personen unterschrieben wurden. Die Frauenhilfe meldete sich mit zahlreichen Unterschriften zu Wort und alle forderten die sofortige Wiedereinsetzung von Lachmund in sein Pfarramt. Die Deutschen Christen erwiderten diese unerwarteten Aktivitäten mit Unterschriften zur Entfernung Lachmunds, fingen die Unterschriftenlisten zugunsten Lachmunds ab und versahen sie mit bissigen Randbemerkungen: „dumm und konservativ“, „obere 10 Tausend“, „Gegner bis heute“, „Reaktionär“, „unzuverlässig“, „viele alte Frauen“, „scharfer Demokrat links“, „früher links“, „Gegner bis heute, früher Volkspartei“, „Reaktion schärfstens, Drahtzieherin“ – diese ehrenhafte Titulierung zog sich Dagmar v. Hoerschelmann zu, die ab 1935 die weibliche Jugendarbeit für die gesamte Landeskirche organisierte. (G 75)


Die Erklärung des Pfarrernotbundes zur Bischofseinführung
Palmer fuhr am Mittwoch, dem 17. Januar, mit Seebaß, Lipsius und Lachmund zu einer Bruderratssitzung und Vollversammlung des Notbundes nach Braunschweig. Es war nach der Erklärung zu den deutsch-christlichen Thesen vom Dezember 1933 und der Kanzelabkündigung am 14. Januar die erste Sitzung, in der die bewegten Ereignisse der letzten drei Wochen besprochen werden mußten. Außerdem stand die Einführung von Bischof Beye im Braunschweiger Dom bevor. Es war eine lange Sitzung. Palmer brach erst um 21.3/4 aus Braunschweig auf. Ein Ergebnis dieses Treffens konnte Bischof Beye in folgendem Brief lesen, den er unter dem Datum vom 19. Januar 1934 erhielt:

Herr Landesbischof!
Anläßlich Ihrer bevorstehenden Einführung am nächsten Sonntag sehen sich 50 (fünfzig) Mitglieder des Braunschweigischen Pfarrernotbundes in ihrem Gewissen verpflichtet, folgende Erklärung abzugeben.
Wir wissen uns Ihnen als der uns gesetzten kirchlichen Obrigkeit zum Gehorsam verpflichtet, soweit nicht Ihre Anordnungen im Widerspruch stehen zu Bibel und Bekenntnis. Dagegen müssen wir es ablehnen, in Ihnen, wie es auch das Wesen des Bischofsamtes erforderte, den Seelsorger, geistlichen Führer und Berater der Pfarrer zu sehen. Wir sind nicht imstande, Ihnen das Vertrauen entgegenzubringen, dessen Sie zur Führung Ihres Amtes bedürfen. Unsere Haltung begründen wir mit folgendem, wobei wir bemerken, daß wir bereit sind, unsere Behauptungen und Beanstandungen zu spezialisieren und zu belegen.
1.) Ihre kirchliche Machtstellung beruht auf einer Wahl, bei der innerer und äußerer Zwang geübt worden ist und bei der dem inneren Leben der Kirche völlig fernstehende Massen den Ausschlag gaben.
2.) Die Kirchenleitung, in der Sie den entscheidenden theologischen Einfluß ausüben, nimmt für sich die alleinige Verantwortung für die Reinerhaltung der lutherischen Lehre in Anspruch. Dabei müssen wir feststellen, daß Sie Äußerungen getan haben und für Kundgebungen verantwortlich sind, die Irrlehre enthalten.
3.) Wir stellen fest, daß trotz aller betonten Ablehnung des Staatskirchentums Maßregelungen von Pfarrern erfolgt sind auf Verlangen staatlicher und sonst außerkirchlicher Stellen.
4.) Wir bemerken seit der Übernahme der kirchlichen Gewalt durch Sie eine ständig zunehmende Unruhe und Verstörung in den Gemeinden,die uns mit schwerer Sorge erfüllt. Das Vertrauen zur Kirche ist in weitesten Kreisen aufs tiefste erschüttert.
Die Mitglieder des Pfarrernotbundes sehen sich daher außerstande, an Ihrer Einführung teilzunehmen.
Der Bruderrat
(NL 298)

Dieser Brief nahm gedanklich bereits einige Schritte vorweg, die erst auf der 2. Bekenntnissynode in Dahlem von der gesamten BK getan wurden. Der entscheidende Satz war die Feststellung, daß ein Bischof Irrlehre verkündete. Es war in seinem Gewicht ein nicht mehr zu überbietender Vorwurf. Der Pfarrernotbund nahm den reformatorischen Grundsatz für sich in Anspruch, daß die Gemeinde über Lehre und Irrlehre entscheide In vergangenen Zeiten hatten die kirchlichen Gruppen in der Landeskirche, insbesondere die Liberalen und die Orthodoxen, in ihren Publikationsorganen immer wieder saftige Kontroversen öffentlich ausgetragen. Der Vorwurf der Irrlehre mochte gelegentlich mitgeschwungen sein, aber dabei blieb es auf der Ebene des theologischen Geplänkels.

Der in dem Schreiben vom 19. Januar erhobene Vorwurf erhielt sein Gewicht dadurch, daß er nicht von Einzelnen, sondern von einer großen Gruppe der Braunschweiger Pfarrerschaft gemeinsam erhoben wurde. Er stand kirchengeschichtlich einzigartig da, weil er gegenüber der Kirchenleitung erhoben wurde. Die Verfasser werden sich über die Tragweite dieses Vorwurfes sehr wohl klar gewesen sein. Er bedeutete den Anspruch, selber der rechte Hüter von Lehre und Bekenntnis zu sein.
Trotzdem versagten die Unterzeichner dem irrenden Bischof nicht den Gehorsam, sondern bekräftigten eingangs ihren pflichtgemäßen Gehorsam, schränkten ihn jedoch noch im selben Satz mit der Bemerkung ein, daß der geforderte Gehorsam sie nicht in Widerspruch zu Schrift und Bekenntnis bringen dürfte. Geschickt relativierten die Unterzeichner den erforderlichen Gehorsam, entzogen diesen ihm aber nicht gänzlich. Damit deuteten sie an, daß der Dienstverkehr mit dem Bischof wohl aufrechterhalten bliebe. Allerdings entzogen sie ihm ihr Vertrauen und beschwerten diesen Entzug mit der Bemerkung, daß dieses Vertrauen essentiell zum Bischofsamt dazugehöre.
Schließlich war der Vorwurf, daß durch den Landesbischof in den Kirchengemeinden Unruhe und Verstörungen hervorgerufen worden wären, das gängige Argument zur Versetzung eines Pfarrers aus seiner Pfarrstelle. Es wurde auch von Beye gegenüber Palmer im Gespräch geäußert, das der Beurlaubung voranging.

Das vorgebrachte Mißtrauen bedeutete im Zusammenhang mit den Vorwurf der Irrlehre und der Erregung von Unruhe in den Gemeinden, daß der Landesbischof nicht nur auf seine Einführung sondern überhaupt auf sein Bischofsamt verzichten sollte. Beye hatte sich demnach selber von der auf Schrift und Bekenntnis gegründeten Kirche geschieden. Die Folge davon war, daß die Unterzeichner sich aus ihrer Verbindung zum Bischof herauslösten und an der Bischofseinführung nicht teilnahmen. Das bedeutete nicht die Verweigerung der Teilnahme an einem repräsentablen Ereignis, sondern die Verweigerung auf die Frage, ob die Pfarrerschaft ihrem Bischof Vertrauen und Gehorsam entgegenbringen würde.

Dieses Dokument von theologischer Klarheit, taktischer Klugheit und konsequenter Entschiedenheit hinsichtlich seiner Folgen gehört in die Galerie hervorragender theologischer Zeugnisse der Braunschweiger Landeskirche.


Die Antwort Beyes auf die Protesterklärung
Die Antwort Beyes ließ nicht lange auf sich warten. In der Ausgabe des Blankenburger Kreisblattes vom Wochenende (20./21. Januar) konnte Palmer lesen, daß er und v. Schwartz sich nicht mehr um eine weitere Pfarrstelle zu bemühen brauchten, sie wären für die Zukunft beurlaubt, also für immer außer Dienst. „Außerdem soll, wie wir hören, gegen Pfarrer Lachmund in Blankenburg das Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Dienstentlassung eröffnet werden.“
Damit hatten Beye und Schlott, erst seit fünfeinhalb Monaten an der Macht, ihre Drohung an die „Störenfriede“ vom April 1933 wahr gemacht. v. Schwartz, Palmer und Lachmund, mit anderen die führenden Leute des Pfarrernotbundes, waren nicht mehr auf der Kanzel und im Dienst.

Die Woche fand am 21. Januar ihren programmäßigen krönenden Abschluß durch eine aufwendige, pompöse Einführung von Beye als zweiten Bischof im Braunschweiger Dom durch Reichsbischof Müller und sehr viel kirchlicher und parteipolitischer Prominenz. Mehr als 100 Pfarrer, also mehr als es deutsch-christliche Gefolgsleute in der Landeskirche gab, begleiteten Beye zum Einführungsgottesdienst in den Dom und später zum Festakt in die Stadthalle. Beye war der jüngste Landesbischof in der Welt – und das in Braunschweig. (Palmer MzGK S. 43 ff)

Der Braunschweiger Pfarrernotbund hatte sich innerhalb eines Monats dreimal gegen den Landesbischof ausgesprochen. Viele Notbundpfarrer hatten die vorgeschriebene Abkündigung der 28 deutsch-christlichen Thesen am 1. Weihnachtstag mit persönlichen Bemerkungen verbunden, 30 Pfarrer hatten am 14. Januar eine ausdrücklich verbotene eigenständige Kanzelabkündigung gegen den Reichsbischof verlesen, sie hatten schließlich dem Landesbischof vor der Einführung schriftlich ihr Vertrauen entzogen. Das ist in dieser Dichte ein landeskirchengeschichtlich beispielloser Vorgang, bedrohlich für die Kirchenleitung, tapfer und voller Risiko für die Notbundpfarrer und ihre Familien. Trotzdem zeigte sich Beye am Einführungstag im Glanz seines Amtes. Er sollte ihn sogar noch überbieten.


Die Pfarrerversammlung am 2. Februar 1934
Dem frisch eingeführten Landesbischof fehlte zwar noch das originelle Bischofskreuz mit einer Kette von zahlreichen Hakenkreuzchen, das nicht rechtzeitig fertig geworden war, aber ihm fehlte das zustimmende Votum der ganzen Pfarrerschaft. Dazu berief er eine Pfarrerversammlung zum 2. Februar ein. Sie stand unter einem für Beye günstigen Stern, denn Hitler hatte bei einem Empfang von deutsch-christlichen und lutherischen Bischöfen und auch M. Niemöller am 25. Januar 1934 den erhofften Bruch mit Reichsbischof Müller verhindern können und beiden Parteien gut zugeredet, „brüderlich“ aufeinander zuzugehen. Während dieses Empfangs hatte Göring unverfroren Material aus einem abgehörten Telephongespräch Niemöllers verwandt, was nicht etwa den Protest der anwesenden Bischöfe hervorgerufen hatte, weil es ihnen in Zukunft ebenso ergehen könnte, sondern betretenes Schweigen.
In einem weiteren Gespräch zwischen Reichsbischof Müller und den Kirchenleitungen am 27. Januar, an dem Niemöller nicht teilgenommen hatte, unterwarfen sich die Bischöfe Marahrens, Meiser und Wurm dem Reichsbischof, was in die Kirchengeschichte als „Kapitulation“ einging und von diesen schon wenige Stunden später bedauert wurde. Die Deutschen Christen im Reich hingegen triumphierten.

Beye hatte kurz vor der Pfarrerversammlung mit einigen Notbundbrüdern unter Leitung von Julius Seebaß auf deren Wunsch ein langes Gespräch. Daraufhin hielt er bei der Pfarrerversammlung eine gemäßigte Ansprache und die ganze Versammlung einschließlich der 40 anwesenden Notbundpfarrer schickte eine Art Gehorsamstelegramm an den Reichsbischof Müller: „Die gesamte Pfarrerschaft der braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche steht geschlossen hinter dem Reichsbischof.“ Es hatte zwar eine Debatte über das Telegramm gegeben, aber es war schließlich das Drängen von Brandmeyer, dem der neue Sprecher des Pfarrernotbundes Julius Seebaß nachgab und in den Wortlaut des Telegramms einwilligte.

Beye und Schlott hatten wiederum recht behalten. Kaum waren die drei Störenfriede von der aktiven Pfarrerschaft ausgeschaltet, war diese fügsamer und bequemte sich endlich zur erforderlichen geschlossenen Gefolgschaft. Aber schon unmittelbar nach der Versammlung brachen vor allem bei den Jüngeren die Zweifel über die Richtigkeit des Votums auf. Julius Seebaß verteidigte sein Vorgehen, später auch in einem Schreiben an den Notbund in Dahlem, aber er stellte doch sein Amt umgehend zur Verfügung. Bis tief in den Abend beriet er sich mit Palmer in Blankenburg.
Beye und Schlott waren auf der Höhe ihres Triumphes, von der Beye hart herunterstürzte.


Der Sturz Beyes
Vier Notizen in Palmers Amtskalender markieren die Beobachtungen Palmers am schweren Sturz von Bischof Beye. (Palmer MzGK S. 50 ff) Am Sonntag den 11. Februar notierte Palmer „Mit E.A. Börnecke Ki. Lachmund hier betr. „geplatzter Bombe“. Samstag den 10. März: „Verhandlung gegen Beye“ Sonntag 11. März: „Verhdlg Beye z.E. Freispr. wegen Mangels an Beweisen. („Das Gericht konnte sich nicht entschließen, B. als unschuldig anzusehen.“). Am Mittwoch 4. April „... abds. Stenogramm Prozeß Beye (2. Tag) lesen. (117 Schreibmasch.Seiten)“.
( MzGK S. 50 ff). Am 12. März berichtete das Blankenburger Kreisblatt ganzseitig vom Prozeß unter der Überschrift „Der frühere Landesbischof Beye vor Gericht. Der Angeklagte freigesprochen“.
Palmer hatte also noch von Blankenburg aus den Rücktritt Beyes im Februar und den Prozeß gegen ihn vor dem Landgericht Braunschweig wegen Unterschlagung im März mitverfolgt. Die Verhandlung war von Karl Bode mitstenographiert worden. Palmer bekam den Text umgehend zur Lektüre ausgehändigt. Der Text lagert heute noch unberührt und unaufgearbeitet im Kirchenarchiv der hessen-nassauischen Landeskirche. (MzA S. 127)


Das Abschiedswort beim Wegzug aus Blankenburg
Palmer ließ im April 1934 vor seinem Wegzug am 11. April 1934 ein gedrucktes Abschiedswort an die Gemeinden herausgehen.
Palmer beklagte darin eingangs, daß er keine Abschiedspredigt halten durfte und wies die gegen ihn erhobenen Vorwürfe (Verbot der SA in der Kirche, Witz über Schirach, Zerrüttung der Gemeinde, die Unrechtmäßigkeit seiner Versetzung in den Ruhestand) zurück. Ein Christ müsse gerade vor seiner Gemeinde für das Recht eintreten.
„Mit vielen Gemeindegliedern beklage ich den vor aller Augen liegenden Rückgang des kirchlichen Lebens in Blankenburg, den Unfrieden und die Zerrissenheit, die da eingebrochen sind, wo doch eine Herde sein sollte.“ Palmer sah darin einen Bußruf Gottes an die ganze Kirche. Gewalt wäre beim Staat wohl angebracht, aber nicht in der Kirche.

„Wir danken es Gott, daß wir, geführt von einer starken Hand, auf dem Wege zur wahren und festeren Volksgemeinschaft, die Gemeinschaft derer, die durch Blut und Boden, durch Geschichte und Lebensnotwendigkeiten verbunden sind.“ Palmer wurde von der Partei und auch von der Kirchenleitung politische Unzuverlässigkeit und Rückständigkeit vorgeworfen. Er würde sich nicht mehr in die neuen Verhältnisse fügen und wäre zum Umlernen auch zu alt. So war dieser Satz auch in Richtung der eigenen Kirchenleitung gesprochen. Aber es war nicht zufällig, daß Palmer den Namen Hitlers vermied.
Dieser Satz wirkt heute merkwürdig, aber er paßt zur Barmer Erklärung vom Mai 1934, wo sich die Bekennende Kirche auch stark gegen die DC abgrenzte, aber einen Dissens zu Hitler und dem Nationalsozialismus durchaus vermieden sehen wollte.
Die Kirche könne sich zu Nutzen des deutschen Volkes am besten nach ihren eigenen Gesetzen entfalten, fährt Palmer in seinem Abschiedswort fort.
Der Bußruf sei auch ein Gnadenangebot. Es bildeten sich Kerngemeinden, Gemeinden schließen sich ungezwungen und freiwillig zu Bekenntnisgruppen zusammen.
Demgegenüber wäre die Dienstenthebung oder Maßregelung von 100 Pfarrern, weil sie den Weg der Kirche Deutschlands für falsch hielten, ein geringes.
Die Kirche könnte aber auch noch auf schwerere Wege geführt werden.
Palmer dankte für viel Liebe und Mitarbeit in den zurückliegenden 17 Jahren und befahl mit Apgsch. 20,52 die Gemeinden Gott und dem Wort seiner Gnade.

Palmer beschränkte sich nicht darauf, als Seelsorger sich von seinen Gemeindegliedern zu verabschieden. Er rechtfertigte sich. Er deutete seine Staatstreue an. Er warb für die neue BK, er vermied jeden Ausfall gegenüber Landesbischof Beye, der schon sein Verfahren vor dem Landgericht Braunschweig hinter sich hatte, und gegen Oberkirchenrat Schlott. Er erwähnte die zahlreichen Verhaftungen und deutete die Zeit als Bußzeit und als Gnadenangebot. Das gibt dem Abschiedswort einen etwas trockenen, dogmatischen, belehrenden Charakter. Erst am Ende gestattete sich Palmer auch persönliche Worte an seine Gemeindeglieder.


Das freundliche Echo auf den Abschiedsbrief
Freiherr von Zedlitz dankte mit Schreiben vom 27.4.34. Er gehöre nicht zum näheren Bekanntenkreis, aber bedaure seinen Abschied aus Blankenburg. Die Klärung des Palmer vorgeworfenen Sachverhaltes würde „nur zu einem vernichtenden Urteil über das gegen Sie beliebte Vorgehen führen.“ (iFb)
Pfarrer lic. Dosse schrieb am 3.5.34 aus Braunschweig. Landgerichtsrat Gerhard zähle die Tage der Zusammenarbeit mit Palmer zu den „schönsten Tagen seiner kirchlichen Arbeit“. (iFb)
Ernst Niemann schrieb am 20.4.34: „wir sind beide auf das tiefste ergriffen. Herzl. Grüße in die „neue Heimat“. In den Unterlagen des Reichsbischofs Müller befindet sich das Abschiedswort Palmers, am 3. Mai 1934 abgesandt von Generalmajor a. D. Wilhelm Woltag aus Blankenburg, der auf der Rückseite vermerkte: „Sehr geehrter Herr Reichsbischof! Als Frontkämpfer – dem Frontkämpfer übersende ich Ihnen das Abschiedswort unseres früheren hochgeschätzten Seelsorgers. Heil Hitler Wilhelm Woltag.“ (EZA A 4/357)


Das Echo von Kreispfarrer Kellner
Das Echo von Kreispfarrer Kellner fiel begreiflicherweise negativ aus. Er äußerte sich zum Abschiedsbrief in der Mai/Juni Ausgabe der Bergkirche (S. 6f). Darin bestätigte er die Version des früheren Bischof Beye, daß Palmer die SA in geschlossener Formation am „Heldengedenktag“ lieber nicht in der Kirche gesehen hätte. Auffälliger ist seine erheblich andere Darstellung des Gespräches zwischen Palmer und Beye in seiner Anwesenheit. In der Besprechung wäre ausschließlich die Angelegenheit um Baldur v. Schirach zur Aussprache gekommen. Beye habe eine „Bitte“, die Gemeinde zu wechseln, an Palmer ausgesprochen und keineswegs eine Beurlaubung. Vom Verbot, am nächsten Tag die Predigt zu halten, sagte Kellner nichts. Kellner wird die Aversion Palmers gegen den SA-Uniform- und Fahnenaufmarsch richtig gespürt und beschrieben haben, trotzdem bleibt der fade Geschmack, daß Kellner die sehr lange gemeinsame Arbeit mit Palmer unbrüderlich – Palmer würde vielleicht sagen: treulos – beendet und an der Ablösung Palmers auch mitgewirkt hatte.

Es bleibt trotzdem die Frage, warum Palmer nach einer 17jährigen segensreichen Tätigkeit nicht in Blankenburg blieb, eine der geräumigen Wohnungen gemietet und dort vor Ort die weitere Entwicklung beobachtet hat. Das Blankenburger Kreisblatt berichtete in der Wochenendausgabe 7./8.April 1934 unter der Überschrift „Pfr. Lachmund in den Ruhestand versetzt“, daß die Anklage eine Dienstentlassung ohne Pensionsansprüche beantragt, aber das Gericht zwar die Dienstentlassung ausgesprochen aber die Pension belassen hätte. Trotz seiner Suspendierung blieb Lachmund in Blankenburg. Lachmund sah sich zwar, anders als Palmer, nicht genötigt, ein Pfarrhaus zu verlassen, da er eine Mietwohnung als Dienstwohnung hatte. Aber ein Verbleiben in Blankenburg neben dem durch Dienstentlassung ungleich härter betroffenen Pfr. Lachmund hätte die dortige Bekenntnisgemeinde wohl stärken können.
Warum wechselte Palmer mit dem Umzug in die „Villa Sartorius“ in Rauschenwasser, sieben Kilometer von Göttingen entfernt, auch die Landeskirche? Palmer hätte auch in die Stadt Braunschweig ziehen können. Palmer gibt in seinen Lebenserinnerungen darauf keine Antwort. In dem hier nicht abgedruckten Kapitel X. „Zwischenspiel in Rauschenwasser“ schildert Palmer indes die mehrfachen, jedoch vergeblichen Versuche, in der lutherischen Freikirche der Freiburger Gemeinde und auch in der Hannoverschen Landeskirche eine Anstellung zu finden. Er besuchte zwar von Rauschenwasser aus einige Male die Sitzungen des Bruderrates in Braunschweig, erhielt auch Besuch von Gemeindegruppen aus Blankenburg, aber die lebensbestimmende Phase seines Lebens und Arbeitens in der Braunschweiger Landeskirche mit den Stationen Neu-Erkerode, Ahlshausen, Wolfenbüttel und Blankenburg war von ihm abgebrochen.

Ich verstehe diesen Wegzug Palmers aus der Landeskirche als Antwort auf den Einbruch in sein bisheriges Welt- und Kirchenverständnis als den eingangs beschriebenen in sich geschlossenen christlichen Kosmos. Die immer totaler werdende Dominanz des Nationalsozialismus in Politik und Gesellschaft und die die Grundlagen der Landeskirche berührende Vorherrschaft der Deutschen Christen bedeuteten zugleich eine Zerstörung des christlichen Kosmos, in dem sich Macht und Recht die Balance hielten. Palmer überliefert ein Gespräch zwischen dem jungen Karl Adolf v. Schwartz mit OKR Schlott, in dem letzterer darauf hinwies, es ginge in Zukunft nicht um Recht sondern um Macht, woraufhin v. Schwartz trocken erwiderte, darüber wären sich alle Betroffenen vollkommen klar (Material zur Geschichte des Kirchenkampfes S. 32). In Palmers Welt- und Kirchenverständnis bewahrte jedoch die versöhnende Gestaltung der Macht das Recht vor starrer Gesetzlichkeit und die ordnende Gestaltung des Gesetzes die Macht vor Willkür und Rechtlosigkeit. Diese zentrale Balance war in der nationalsozialistischen Politik und Öffentlichkeit und eben auch in der Landeskirche gründlich zerstört. Palmer erlebte den Verlust seines Amtes als Kirchenrat nicht nur als beleidigende Stilfrage, sondern bereits als unverständliches Macht- und Gewaltgehabe. Die rechtswidrige sog. „Beurlaubung“ aus dem Dienst an der Bartholomäuskirche im Oktober und seine Pensionierung gegen seinen Willen am 19. Januar waren für Palmer wie ein Dammbruch in den bisher gehüteten und gepflegten Lebens- und Kirchenraum. In diesem Land konnte und wollte Palmer nicht leben und erhoffte sich von einem völligen Wechsel die Wiederherstellung der bisherigen Bedingungen des bewährten Grundmusters seines Wirkens. Palmer schildert die neun Monate in Rauschenwasser auch als Erleben der gewohnten Wirklichkeit mit Garten und viel Gottesdienstvertretung, Besuche erhalten und Besuche machen, Ausflügen und wissenschaftlicher Arbeit.



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