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[Kirche von unten]

Gemeinsam - zärtlich - radikal

Zur Einstimmung in die Lektüre

Wenn ein Pfarrer seinen Dienst beendet, dann möge er demütig vor sich hinmurmeln: "Wir sind unnütze Knechte. Wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren" (Lukas 17, 10). Er verliert also keine großen Worte mehr über das, was gewesen war, schickt sich fromm in das Kommende und rüstet sich für die Fahrt ins himmlische Jerusalem. Das letztere halte ich für zweifelhaft und die Anwendung des Zitates aus Lukas 17 für problematisch.

Trotzdem liegt über dem Projekt ein Hauch der Unbescheidenheit. Man müßte schon Bischof sein, um es anders zu machen. Die Großen der Kirche haben oft noch zu Lebzeiten aufgeschrieben, wie sie ihren Dienst verrichtet haben und was ihnen dabei wichtig war. Die Bischöfe von Hannover Lilje und Lohse, der Landessuperintendent von Lüneburg, Andersen, haben ihre Sicht der Kirche zu ihrer Zeit notiert und gedruckt. Das ist eine interessante historische Quelle. Einen solchen Bericht gibt es auch in der Braunschweiger Landeskirche aus der Feder von Landesbischof Bernewitz. Manche haben für ihre Familien und Enkel persönliche Erinnerungen aufgeschrieben. Solche gibt es z. B. in Auszügen von Kirchenrat Oelker.

Aber von einem Dorfpfarrer? Das folgende soll ein abschließender Arbeitsbericht sein. Es sind keine Memoiren. Er ist nicht für die Familie geschrieben, sondern zur Erinnerung für die kirchlichen Zeitgenossen, mit denen ich in der Kirchengemeinde und der Landeskirche zusammengearbeitet habe. Vieles war wie in anderen Kirchengemeinden auch. Manches war anders. Der Arbeitsbericht ist persönlicher Art. Mag sein, daß manches apodiktisch klingt, anderes abwertend.

Der Bericht ist ein Aspekt kirchlicher Arbeit unter vielen anderen. Es ist meine, - anfechtbare, - Sicht von Kirche in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Der Arbeitsbericht soll ein Anstoß für die Kollegen und Kolleginnen sein, ihrerseits ihre Sicht von Kirche, Dienst und Arbeit zu notieren. Erst aus der Sicht des Gegensätzlichen ergibt sich ein sich ergänzendes Ganzes.


Die Grenze ist der eigentliche fruchtbare Ort der Erkenntnis

Paul Tillich

Der richtige Moment für einen Rückblick

Von Dezember 1963 bis August 1999 war ich evangelischer Pfarrer in den Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben.

36 Jahre lang in einem Pfarramt an einem Ort - das ist unüblich. Üblich ist es, daß man nach etwa zehn Jahren die Gemeinde wechselt.

Der Wechsel hat gute Gründe: man nistet sich nicht zu sehr ein; es entstehen nicht zu starke persönliche Bindungen, während andere Gemeindemitglieder zum Nachteil der Seelsorge vernachlässigt bleiben; die Gemeinde wird nicht zu sehr auf eine theologische Richtung festgelegt. Also: 36 Jahre sind zu lang.

Aber ich blieb seßhaft. Die lange Zeit in einer Gemeinde hatte auch ihre Vorteile. Ich erlebte vor Ort die Wandlungen von Offleben als einem gemischt landwirtschaftlich/industriellen Dorf zu einem reinen Industriestandort und dann nach 1990 zu einem Durchgangsdorf. Mir kam es so vor, als hätte ich die Pfarrstelle zweimal gewechselt, so stark waren die Veränderungen im Ort im Laufe der Zeit.

In den Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben ist in den vergangenen Jahrzehnten ein beachtliches Kirchenprofil entstanden, das allein durch seine Dauer zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Allüberall wird ja heutzutage behauptet, wie wichtig es in einer bröckelnden Volkskirche sei, daß eine Kirchengemeinde durch ihre Arbeit "Flagge zeige" und sich ein deutliches Profil zulege. "Protestantisches Profil". Das möchte ich beschreiben. Dies ist also keine persönliche Biographie.

Die Gegend lebt und ist geprägt vom Abbau und der Verstromung der Braunkohle. Hohe Schornsteine und Strommasten, die den Himmel zerschneiden, sind die Wahrzeichen der Dörfer. Die Kohledörfer stehen durch die innerbetrieblichen Veränderungen bei den Braunschweigischen Kohlenbergwerken (BKB) vor einem grundsätzlichen Wandel. Die Braunkohle, deren Abbau und Verstromung hier mehr als ein Jahrhundert Arbeitsplätze für vier Generationen geschaffen hat, ist abgebaut. Zahlreiche Entlassungen sind angekündigt In den nächsten Jahren werden im Revier Büddenstedt, Schöningen, Helmstedt insgesamt 600 Arbeitsplätze verlorengehen. Vorher sind bereits viele Beschäftigte in den unerbetenen Vorruhestand gegangen. Manche bereits mit 54 Jahren. Neue Arbeitsplätze auf neuen Arbeitsfeldern halte ich für eine sehr unsichere Hoffnung. Die BKB hat mit der Müllverbrennung zwar einen modernen Arbeitsbereich entdeckt. Mir ist fraglich, ob dies wirklich ein zukunftsträchtiges Arbeitsgebiet ist, das vor allem regionale Arbeitsplätze schafft. In Zukunft werden die Dörfer vor allem wieder landwirtschaftlich geprägt sein. Das muß kein Rückfall in die Vergangenheit bedeuten.

Neben diesem wirtschaftlichen Umbruch hat das Dorf die politische Wende von 1990 noch nicht verkraftet. Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben liegen 10 km südlich von Helmstedt und wie Helmstedt direkt an der Grenze zu Sachsen-Anhalt.

Für 45 Jahre, von 1945 bis 1990, lagen unsere Dörfer an der Zonengrenze, die sich zur innerdeutschen Staatsgrenze verfestigt hatte. Wir befanden uns an der Schnittstelle zwischen dem Ostblock und Westblock, direkt am "Eisernen Vorhang", zwischen Freiheit und Unfreiheit, wie einige meinten. Ein Spaziergang an der Grenze entlang gehörte zum festen Programm vieler privater und offizieller Besucher. Noch 1989 wurde von einer gemeinsamen Grenzkommission der präzise Grenzverlauf von der Ostsee bis zum Bayrischen Wald und auch bei uns auf den Meter genau festgelegt, kartiert, und Grenzpfähle aufgestellt, die ein halbes Jahr später als begehrte Souvenirs geklaut wurden. Kein Mensch auf beiden Seiten hatte angenommen, daß diese Arbeit Monate später überflüssig werden könnte. Noch nicht einmal die westdeutschen Geheimdienste hatten eine Ahnung von der Wende.

Offleben und Hohnsleben besaßen je einen Grenzübergang, der nach 1945 noch offen war, dann aber bald endgültig dicht gemacht wurde. Die heute 10jährigen wissen bereits nichts mehr vom Grenzverlauf. Dabei hat allein ihr täglicher Anblick sich unvergeßlich eingeprägt. Wir sind für lange Zeit irgendwie eine "Grenzgeneration" gewesen, dürfen aber bald nicht mehr beanspruchen, als solche verstanden zu werden. "Grenzgeschichten" werden für die nächste Generation bald langweilig werden. Und natürlich haben sich bereits Legenden gebildet, z.B. von der Grenzöffnung am 2. Weihnachtstag 1989, die für die einen eine Heldentat war und für andere ein Ärgernis. Die Erinnerung an das "Dorf an der Grenze" soll mit diesem Rückblick wachgehalten werden.

Auch kommunalpolitisch steht eine Wende bevor: die Zeit der mehr repräsentativen Bürgermeister und der verwaltenden Gemeindedirektoren ist vorbei. In Zukunft wird dieser Posten in einer Hand vereinigt sein. Das bedeutet einen ganz erheblichen Einschnitt in die Aufteilung der politischen Macht im Dorfe. Sie wird jetzt zentralisiert. Die Parteien des Ortes werden es noch schwerer haben, im Rat der Gemeinde eine die Macht der Verwaltung kontrollierende Funktion auszuüben. Alle drei Parteien haben sich Ende 2000 auch schon auf eine Person geeinigt: Frank Neddermeier. In jedem Fall steht das Dorf auch kommunalpolitisch an einem Ende und einem Anfang.

Auch die Kirchengemeinden stehen vor einem Jahrhunderteinschnitt. Seit 1568 hat Offleben zusammen mit Reinsdorf-Hohnsleben einen eigenen evangelischen Pfarrer gehabt. In Zukunft werden die Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben sich mit der Kirchengemeinde Büddenstedt einen Pfarrer teilen müssen. Das ist auch gerechtfertigt. Die Zahl der Offleber Dorfbewohner ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. In Offleben sank die Zahl der Dorfbewohner von 2.827 (1950) auf 2.283 (1957) und von 2.101 (1966) auf 1.293 (2000) Die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder nahm ab von 2.018 (1950) auf 1600 (1961) bis auf 705 (2000).

In Reinsdorf sind von den 300 Einwohnern im März 2000 163 evangelisch, 56 katholisch und 81 Andersgläubige.

Die Büddenstedter Kirchengemeinde, zu der traditionell die Alversdorfer Kirchengemeinde als Tochtergemeinde gehörte, hat sich durch den Abriß des Dorfes Alversdorf schon seit mehr als 25 Jahren erheblich verkleinert. Sie zählte Anfang Januar 1999 1.196 Gemeindemitglieder. In der Einheitsgemeinde Büddenstedt, die die Kommunalgemeinden Büddenstedt, Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben vereinigt, waren Anfang 1999 von insgesamt 3.549 Einwohnern 2.122 evangelisch, 490 römisch-katholisch, 871 anderer Konfession

Im Predigerseminar in Braunschweig hing im Sommer 2000 eine braune Pappe im Chemnitz-Zimmer. Vikarinnen und Vikare hatten ihre ideale Kirche in Stichwörtern darauf notiert. Überschrift: "Ideales Zukunfts-Szenario". In der Mitte war eine Dorfkirche aufgemalt, daneben ein grüner Baum mit Blume und drum herum folgende Wünsche:

"Nicht im Pfarrhaus wohnen" - "ökumenisch orientiert" - "Neue Kasualien" - "Selbständiger Kirchenvorstand" - "politische Gemeinde mitgestalten" - "Profil-Gemeinde innerhalb des Quartiers" - "maximal zwei Predigtstellen" - "volle Kassen für Projekte" - "vernetzt" - "ökologische Kirche" - "Trauung Homosexueller" - "schlankes Landeskirchenamt" - "Kirche als Begegnungsstätte" - "schöne alte Kirche und Geld, sie zu erhalten" - "wirklich lutherische Gemeinde" - "schwungvolle Gemeinde" - "selbstbewußter Stamm Aktiver und Ehrenamtlicher" - "Dynamik, die nach vorn losgeht" - "liturgischer und ästhetischer Stil" - "Gemeinde, die über den Tellerrand guckt" - "keine Abnicker-Synoden".

Als ich die Wunschliste las, mußte ich schmunzeln und dachte mir: eigentlich haben wir die Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten an der Grenze dann nicht so falsch gemacht. Vieles davon waren auch unsere Ideale, die wir gemeinsam umzusetzen versuchten und die im folgenden beschrieben sind.

Die politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Veränderungen in unseren Dörfern legen es nahe, die Ereignisse noch einmal rückblickend zusammenzufassen und zu überlegen, was die Zukunft bringen könnte. Das Dorf steht an einem Wendepunkt.

Wer in den folgenden Kapiteln persönlichen Lebenserinnerungen erwartet, wird enttäuscht sein. Sie sind ein Arbeitsbericht.

Ich möchte herzlich allen danken, die zum Gelingen dieser Niederschrift beigetragen haben. Ich habe viel Bildmaterial über die Grenze von Ulrich Pohl erhalten, aus privaten Alben von Erika Werner, Ingrid Isensee, Joachim Brandes, Rüdiger Schwarz, Jutta Seidlich, Lisa Pfeiffer, Annemarie Dopichay, Lisa Wollenhaupt, Familie Chmilewski, Lisa Gödecke. Ich danke für zahlreiche einzelne Informationen und Einbesserungen Frau Cläre Cranz, Ursula Schweineberg, Ilse Pieper, Manfred Krause, Hertha Hasse, Lisa Wollenhaupt, Bärbel Mock und Frau Bauermeister.

Hans-Jürgen Kalberlah hat sich die Zeit genommen, das ganze Manuskript stilistisch und inhaltlich durchzusehen. Er hat es oft von "küchendeutsch" auf "schreibtischdeutsch" verbessert. Anke v. Kowalski hat die mühsame technische Durchsicht und Formatierung der Arbeit übernommen.

Und bestimmt habe ich manche/manchen vergessen. Sie mögen mir nicht böse sein.


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