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[Kirche von unten]

Gemeinsam - zärtlich - radikal

3. Kapitel

Die Dorfkirchen und der Kirchenraum

Auf der Grenze zwischen Hauskirche und Sakralraum

Die Lage der Kirchen

Die Offleber Dorfkirche ist schwer zu finden. Fremde müssen sich durchfragen. Sie steht am Ende einer Sackgasse. Die Reinsdorfer Kirche dagegen ist unübersehbar: der massive Turm an der Durchgangsstraße beherrscht die Dorfmitte. Der Dorffriedhof mit seinen grünen Flächen und Büschen drum herum mildert den etwas zu kräftigen Eindruck, den diese Kirche macht und der noch dadurch verstärkt wird, daß die Kirche leicht erhöht liegt. Kirchen sind magische Orte. Fremd und anziehend. Stätten uralter, gelebter Spiritualität.

Beide Kirchen haben eine schöne und ganz unterschiedliche Lage.

Die Offleber Kirche mit einem kleinen, bescheidenen Turmaufsatz war hinter den hohen Scheunenmauern des Klostergutes lange versteckt und erst später nach deren Abriß von der Lindenstraße her zu sehen. Vier alte Kastanien säumen den Weg ein, der an dem ehemaligen Friedhof vorbeiführt, der aber schon sehr lange, vor 150 Jahren, geschlossen worden war; nur einige Grabsteine am Eingang und an der Südseite der Kirche erinnern daran. Sie enthalten fromme, in Stein gehauene Abbildungen: ein Engel wartet in einer Graböffnung, gewiß auf den Verstorbenen, für den dieser Stein hier steht. "Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du denn herfür..." haben wir bei der Trauerfeier oft gesungen. Ein Engel bringt Garben nach Hause, der Tod ist wie ein Erntefest im Herbst. So erzählen diese Steinbilder vom früheren Glauben in Offleben.

Es ist der älteste Platz in Offleben, habe ich den Schulkindern erklärt, wenn sie sich zum Schulanfängergottesdienst auf diesem Platz mit Eltern, Großeltern und Paten im großen Kreis versammelten. Früher stand dort noch ein scheußliches Kriegerdenkmal: ein kniender nackter Soldat mit Helm und Schwert sollte an die getöteten Männer aus dem Dorf erinnern, die im 1. Weltkrieg "gefallen" waren. Sie waren natürlich gar nicht "gefallen", sondern hatten sich "einziehen", richtiger "abholen" lassen und sinnlos für den letzten Kaiser und für irgendwelche Landgewinne in den Krieg gestürzt und waren von anderen Soldaten getötet worden. Das Denkmal war keine gute Aufforderung, keine Kriege mehr zu führen und sich lieber für den Frieden anzustrengen, sondern eine ganz ungute Verherrlichung dieses brutalen Soldatentodes. Nachdem eine Kastanie auf das Denkmal gefallen war und es schwer beschädigt hatte, wurde es weggeräumt und stört nun nicht mehr den Blick auf die ganze Südseite der Dorfkirche.

Streiflichter aus der Geschichte der Kirchengemeinden in beiden Dörfern

Die beiden Kirchen in Offleben und Reinsdorf sind die ältesten, historischen Gebäude in den Dörfern, jedoch nicht als präparierte Antiquität. Sonntag für Sonntag sind sie mit Leben und Singen und Lesen und Beten erfüllt. Sie befinden sich genau auf der Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart. Im Pfarrhaus wird der älteste Stein des Dorfes aufbewahrt: ein über 500 Jahre alter Ziegel aus dem Ziegelfußboden, der im 15. Jahrhundert in der Offleber Kirche verlegt wurde. Er kam bei Ausgrabungen in der Kirche zum Vorschein.

Der Abendmahlskelch in Offleben aus dem Jahre 1683 erinnert in einer Inschrift an den ersten Klostergutpächter Voigt, der Abendmahlskelch aus dem Jahre 1834 an einige Landwirte: an die Halbspänner A. T. Grabenhorst, J. Kempe und F. Wagenführ und an die Ackerleute T. Bockmann, H. Kirchof, F. Bockmann. Sie hatten ihn anläßlich der großen Flurbereinigung jener Zeit, der sogenannten Bauernbefreiung, der Kirche geschenkt. Sie hatten ihn mit dem Vers versehen: "Unser Recht hat obgesieget, unser Gut hat sich gemehret, das hat gnädig Gott gefüget, er sey stets von uns verehret. Heil euch, die ihr nach uns lebt, wenn auch ihr Gott Ehre gebt." Mein Vorgänger, Pfarrer Detlef Löhr, fand diesen Spruch so unmöglich, daß er den Kelch in seiner Amtszeit nicht benutzt hat. Man könne Gott nicht dafür danken, daß sich der Besitzstand vermehrt hat. Was sollen dann die Ärmeren denken? meinte er. Er übersah, daß das Gesetz vom 20. Dezember 1834 die Beseitigung von Unrecht in der Landwirtschaft bedeutete und die wirtschaftliche Grundlage für alle bedeutend gehoben wurde. So treffen wir auf der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart ständig Entscheidungen, die sich möglicherweise als anfechtbar erweisen.

Alte Grabplatten

Wer um die Offleber Kirche herumgeht, findet alte Grabplatten. Eine ist zerbrochen und befindet sich in einen Pfeiler an der Nordseite eingebaut, eine liegt als Türschwelle vor der Tür der Ostseite der Kirche, die Zahl 1594 findet sich in einen anderen Stein rechts daneben. Wieder eine andere Grabplatte liegt im Pfarrgarten als Brücke über dem früheren Bach. Als der Dipl.-Bibliothekar Friedrich John in den 50iger Jahren in Offleben war, wo seine Frau ihren Vetter Benno Brandes besuchte, entdeckte er den alten Grabstein vor der Osttür und schlug vor, diesen bereits halb ver-witterten Stein aufzurichten. In einem Brief aus dem Jahre 1957, der im Kirchenarchiv aufbewahrt ist, gibt er seine Entzifferung wieder. Es ist der Grabstein des Offleber Pfarrers Heinrich Georg, der am 15. Oktober 1657 mit 70 Jahren in Offleben verstorben war und vierzig Jahre in Offleben wirkte: von 1617 - 1657, also in der grausamen Zeit des 30jährigen Krieges und danach. Daß historische Forschung gelegentlich Glücksache ist, zeigt die Entzifferung dieses abgewetzten Steines. Herr Trautmann liest 1948, wiedergegeben in der Ortschronik von Herrn Rose, aus dem Stein in manchen Zeilen noch etwas anderes als Herr John 1957. Die letzte Zeile schließt bei Herrn Trautmann mit einem unentwirrbaren Buchstabengemuse, bei Herrn John mit der leserlichen Bibelstelle 2. Tim. IV: "Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich..." Frau John hingegen schließt lakonisch den Brief mit dem Zusatz, es gäbe wichtigere Dinge, als über den völlig abgewetzten Stein zu schreiben.

Wer die Kirche betritt, findet rechts einen weiteren, großen Grabstein mit dem Bildnis von Pastor Johan Faber. Der Landesforstdirektor Dr. Gerd Dietrich Schmidt aus Hildesheim zeigte sich bei einem Besuch der Kirche 1984 interessiert und schrieb seine Nachforschungen auf.

"Die nun fast 400jährige Grabplatte aus Elmkalkstein verrät die Kunstfertigkeit des Steinbildhauers aus Königslutter, der mit Geschick bis in die kleinsten Einzelheiten die offenbar sehr vielseitigen Wünsche des Auftraggebers erfüllt hat. Dieser Auftraggeber war 1595 noch zu seinen Lebzeiten, was damals nicht ungewöhnlich war, der Offleber Pastor Johan Faber. Sein Familienwappen gibt Hinweise auf Geburtsort, Namen und Beruf: der Goslarer Stadtadler, der rechte Arm mit einem Schmiedehammer, der linke Arm mit einer Schmiedezange, die ein Herz zur Bearbeitung auf dem Amboß festhält."

Johan Smedt , 1552 geboren, war Sohn eines Goslarer Bürgers, Ludeke Smedt,. Mit 17 Jahren ging Johan an die Klosterschule von Riddagshausen und wurde dort nach dem Theologiestudium Lateinlehrer. Sein Familienname Smedt gleich: Schmied heißt auf lateinisch faber. Also nannte er sich in Zukunft Johan Faber. Faber klang etwas gebildeter. 1582 wurde er in Helmstedt ordiniert und erhielt die Offleber Pfarrstelle. Er war der dritte evangelische Pfarrer. Ein Jahr später heiratete er eine Pastorentochter aus Hondelage. Faber blieb 22 Jahre in Offleben Pastor und starb hier am 10. März 1604 mit 52 Jahren im Dienst.

Im Begräbnisbuch von Offleben ist vermerkt, daß er "zur rechten seiten des altars" begraben liegt. Dr. Schmidt meint, daß der Grabstein dort an der Stelle gelegen hat. Diese Bemerkung könnte aber auch die Vermutung nahelegen, daß nur die Leiche neben dem Altar beigesetzt wurde, daß aber der Grabstein als Gedenkstein nicht auf dem Grabe in der Kirche lag, sondern gleich an der südlichen Außenseite der Kirche aufgestellt worden ist. Von dort hat ihn dann die Offleber Feuerwehr in einer gewagten Aktion zusammen mit anderen Grabsteinen nach innen transportiert

Ebenso gewagt war der Transport der großen Grabplatte vom Amtmann Brandes von der südlichen Außenwand in den Altarraum der Kirche. Eigentlich gehört sie nach Sickte, wo der Amtmann begraben liegt. Sie wurde irgendwann von dort nach Offleben gebracht. Hermann Anthon Brandes ist der Vater von Anton Friedrich Brandes, der nach Offleben übersiedelte und mit dem die Familientradition Brandes in Offleben beginnt. Der lange Text ist ein rührendes Zeugnis früherer Frömmigkeit. Der Verstorbene zitiert Psalm 39, Vers 13: "Ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter." Die Grabinschrift erinnert an die Wirkungsstätten des Verstorbenen, an seine Ehefrau und die Kinder. Drei Kinder waren vor ihm gestorben. Und nun wurde durch den Tod "aus einem Pilgrim dieser Zeit ein Bürger für die frohe Ewigkeit durch seligsten Eintritt ins Himmlische Jerusalem. Er erwartet daselbst seine Hinterlassenen Angehörigen, die hier wohl laufen werden."

Noch ein anderer, kleinerer Grabstein ist nach drinnen geholt worden, der eine Frau und mehrere gewickelte kleine Kinder zeigt. Die Schrift ist verwittert. An welches Schicksal mag er erinnern?

Auch an der Reinsdorfer Kirche finden wir solche altertümlichen Grabsteine. Ein alter Grabstein rechts vom Eingang zeigt vier betende Männer und drei betende Frauen unter dem Kreuz. Die Erklärung könnte der Grabstein links vom Eingang geben, der an den Tod des 86jährigen Hohnslebers Heinrich Wunderling erinnert, der vier Söhne und drei Töchter überlebt hat. Die Namen finden sich in der Reinsdorfer Chronik von Rose.

Die Innenräume

Beide Kirchen haben eines gemeinsam: sie haben einen auffällig intimen, fast gemütlichen Innenraum.

Der Offleber Kirche ist als Windschutz ein kleiner Vorraum vorgelagert, der früher direkt an den Kuhstall angrenzte, der längsgestreckt zur Dorfkirche lag. Das Brüllen der Kühe wäre gelegentlich in der Kirche zu hören gewesen, berichteten die Alten. Der Vorraum wird beherrscht von dem bunten Glasfenster, das Pfarrer Löhr 1957 anfertigen ließ. Davor steht der alte, ausrangierte Altartisch. Neben der Eingangstür sind zwei Steinplatten mit Ammoniten in die Wand eingelassen, eine Spende aus der Steinsammlung von Herrn Klagges aus Königslutter. Sie sollen an eine Zeit erinnern, als diese Gegend noch überflutet war, es hier keine Menschen und Kirchen gab und Gott doch schon längst hier war. Über der Eingangstür ist das älteste Steinrelief angebracht: Maria und Johannes unter dem Kreuz.

Vorsicht: Stufe. Man betritt weichen Teppichboden und sieht über die als Mittelblock aufgestellten Bänke hinweg auf den Altar, darüber die Kanzel, die nicht mehr benutzt wird, weil sie zu hoch in die Altarwand eingebaut ist. Früher war das sinnvoll, als die Emporen bis nahe an die Altarwand reichten, doch dann sind diese zurückversetzt worden. Jetzt dient die Kanzel im Weihnachtsspiel der Konfirmanden als Platz für den Verkündigungsengel. Anfangs hatte ich sie noch zum Predigen benutzt, fühlte mich aber der Gemeinde zu weit entfernt und schaffte dann bald ein Lesepult für die Lesungen und das Predigen an.

Durch die hohen, doppelt verglasten Fenster fällt gedämpftes Licht ein. Die anderen vier Fenster sind von der Orgelempore und der Altarwand verdeckt. Erster Eindruck: die Kirche wirkt nicht kühl-sakral, eher gemütlich, aber feierlich.

Wenn man sich die Fenster an der Nordseite ansieht, an die heute nicht sehr geschickt der Ölofen angebaut ist, erkennt man in den Fensterlaibungen noch Vertiefungen für Türangeln. Von hier aus betrat in längst verflossener Zeit der Klostergutpächter mit Familie seinen Sitz in der Kirche. Man konnte sich früher in der Kirche nicht hinsetzen, wo man wollte, man mußte seinen Sitz an der dafür vorgesehenen Stelle kaufen. Einige Leute besinnen sich noch an den späteren Sondersitz der Familie Brandes oben auf der Kanzelempore, rechts von der Kanzel, mit einem Samtvorhang

Der Vorraum der Reinsdorfer Kirche ist Bestandteil des dicken Turmes. Es öffnet sich ein offener viereckiger Raum, ohne Nischen und Winkel und Säulen. Je vier große Fenster auf beiden Seiten schließen zwar die Seitenwände ab, öffnen sie zugleich weit nach außen. Der Raum wird noch größer. Um die Wände führt ein Holzpaneel, eine meterhohe Holzverstäfelung, die den Raum zusammenhält. Einer sagte mal abfällig: "Das sieht aus wie in einer Turnhalle." Durch den Teppichfußboden wird ein häuslicher Eindruck erweckt wie in der Offleber Kirche: eher gemütlich, zum Mitreden einladend wie zum andächtigen Schweigen.

Der grundsätzliche Streit

Um die Gestaltung der Innenräume der Reinsdorfer und der Offleber Kirche gab es derart erbitterte Auseinandersetzungen, daß schließlich der zuständige Baureferent im Landeskirchenamt, Klaus Renner, unsere beiden Kirchen überhaupt nicht mehr betrat. Das war sehr schade, denn ich hatte Renners Fachkompetenz geschätzt. Seinetwegen war ich nach Köln gefahren und hatte mir das Römisch-Germanische Museum beim Hauptbahnhof angeguckt: ein wunderschöner, durchsichtiger Bau mit einer eleganten Repräsentation der Ausstellungsstücke. Renner gehörte irgendwie zu dem Architektenbüro, das dieses Museum entworfen hatte. Ich war entzückt, daß die Landeskirche einen solchen Mann aus der freien Wirtschaft herangezogen hatte. Renner kam aus der Bewegung der evangelischen Studentengemeinden der 50iger Jahre, hatte Kontakt zu Kollegen mit ähnlicher Biographie in vergleichbarer Position.

Also, der Gemeindebezug war da. Renner war fest verwurzelt in seiner Destedter Ortsgemeinde, leitete lange Zeit den dortigen Posaunenchor und leistete damit viel für den Gemeindeaufbau mit jungen Leuten, besuchte mit ihnen die Kirchentage, wir waren mit dem Kirchenvorstand einmal bei ihm persönlich in sein schön entworfenes Haus in Destedt eingeladen und hatten einen ersprießlichen Gedankenaustausch gepflegt. Aber über unserer fundamentalen Frage der Gestaltung des Kirchenraumes brach alles auseinander und verlor sich schließlich in ziemlich provinzielles Gezänk, das sich auch noch öffentlich in Leserbriefen über die Stellung der Landeskirche zu ihren schwul/lesbischen MitarbeiterInnen äußerte.

Es ging eigentlich nur um eine einzige Frage: Hauskirche oder sakraler Raum. Kirche, in der man sich wie zu Hause fühlt, eher gemütlich, oder: der streng angeordnete Raum, bei dessen Betreten man automatisch die Hände faltet und einen ein leichtes Frösteln und Erschauern überkommt über das Heilige. Wir waren eine kleine Gemeinde und wollten für eine kleine Gemeinde eine eher intime, familiäre Hauskirche. Das widersprach dem damaligen Trend. Die Zeit der kalten, teuren, unterhaltungsaufwendigen Betonkirchen war gerade vorbei. Kirchengebäude mit multifunktionalen Räumen waren eher gefragt. Aber es entsprach auch dem äußeren, eher noblen Erscheinungsbild Renners, wenn der Kirchenraum einen distanzierten, zwar gediegenen, aber eben doch leicht noblen Eindruck machte. Das wollten wir nicht. Wir suchten die Nähe, die Kommunikationsmöglichkeiten, das Wohlbefinden. Ich vermute, daß Renners Einwendungen sogar theologischer Art waren. So geht man mit Gott nicht um, hätte er vielleicht dagegengehalten.

Manchmal spielen bei einem solchen Konflikt auch weiter zurückliegende Eindrücke eine Rolle. Ich hatte ein erstes, prägendes Raumerlebnis während meines ersten Predigtgottesdienstes in einer von Prof. Langmaack errichteten sogenannten Bartningschen Notkirche in Hamburg-Eppendorf. Nach 1945 waren von Prof. Otto Bartning fälschlicherweise so genannte "Notkirchen" entworfen worden, um in den völlig zertrümmerten Großstädten gottesdienstliche Räume für die Kirchengemeinden zu schaffen. Es waren schlichte, mit einer Holzkonstruktion versehene Bauten, die auch unter erheblicher verantwortlicher Beteiligung der damaligen Kirchenvorstände und Kirchenmitglieder errichtet worden waren.

Eine davon war St. Martini in Hamburg-Eppendorf, in der ich als Theologiestudent meine erste Predigt hielt. Ich fühlte mich auf Anhieb in dieser schlichten Kirche sehr wohl. In einer anderen, vergleichbaren, auch von Langmaack erbauten Kirche in Hamburg-Fuhlsbüttel war ich 1950 konfirmiert worden. Es mag sein, daß sich diese Kircheninnenräume bei mir als Ideal herausbildeten, das ich nun auch in Offleben und Reinsdorf zu verwirklichen suchte.

Es ging aber auch um das Verständnis der sogenannten Prinzipalien, also um die Anordnung von Altar, Lesepult, Taufe und Kanzel im Altarraum. Was den Altar betraf, so hatte sich bei mir bald eine ziemlich eindeutige Anschauung entwickelt.

Der Altar

Natürlich vermittelt der Altar jedem angehenden Pfarrer ein erhebendes Gefühl. Es ist sein Terrain. Nur noch die Küsterin darf herantreten. Und die Gemeinde erst nach Aufforderung: "Kommt, denn es ist alles bereit." An den meist leicht betripsten Gesichtern mit den zu Boden geschlagenen Augen der Abendmahlsgäste liest man es ab: dies ist nicht profaner Boden, hier ist besonderes Gelände.

Es ist der Raum, in dem sich die Wandlung vollzieht, wo die vasa sacra, die heiligen Geräte aufgedeckt stehen. Alltags wird eine Kordel vor den Altarraum gezogen, denn: "das Land, auf dem du stehst, ist heiliges Land". Nicht umsonst gliedert man die Kirche in zwei Regionen: das Kirchenschiff und eben den Altarraum. Auf ihn hin entfaltet sich die Liturgie als Höhepunkt. Er heißt "der Tisch des HERRN". Der Herr nimmt an ihm Platz. Er ist Gastgeber. Heiliger Raum.

Ich bin selber mit solchen Anschauungen aufgewachsen und bin dankbar, daß sich diese verquollen mystischen Anschauungen bei mir mit der Zeit und durch die Praxis gelegt haben, und zwar besonders durch einige Anstöße von außen.

Der erste Anstoß kam aus der katholischen Kirche. Die katholische Kirche machte nach dem 2. Vatikanischen Konzil mit einer neuen Stellung des Altars den Anfang. Der Altar wurde näher an die Gemeinde herangerückt. Er war nun das Gegenstück zu dem der Gemeinde entrückten Hochaltar. Das entsprach durchaus auch unseren Wünschen nach mehr Nähe und weniger Sakralität. Wir hatten in Offleben noch den klassischen, in der Barockzeit eingebauten Kanzelaltar, wie er in vielen Braunschweiger Dorfkirchen üblich war und in einigen auch noch ist. Diesen Altar rückten wir von der Altarwand ein Stück nach vorne und der Pfarrer konnte nun hinter ihm stehen.

In der Reinsdorfer Kirche hatte Pfarrer Eberhard Schuseil, mein Vorvorgänger und Vater des jetzigen Baurat Schuseil, schon 1955 die Altarwand entfernen und in die Ostwand ein Farbfenster einfügen lassen. Dort stand der Altar bereits frei. Ich brauchte mich nur anders hinzustellen. Später hat die Bauabteilung des Landeskirchenamtes noch häufiger den barocken Kanzelaltar von der Altarwand gelöst, um es dem Pfarrer zu ermöglichen, zur Gemeinde hin die Liturgie zu halten, wie z. B. in Esbeck.

Ein weiterer Anstoß war praktischer Art. Als 1985 Landespolitiker in der Offleber Kirche über die Buschhausproblematik diskutierten, hagelte es Proteste gegen ein Bild in der Evangelischen Zeitung (EZ), das Gerhard Schröder, den damaligen niedersächsischen SPD-Oppositionspolitiker, mit anderen an einem länglichen Tisch sitzend zeigte, jedoch mit dem Rücken zum Altar. Wir hatten uns nichts dabei gedacht. Es sollte eine kirchliche Veranstaltung sein, deshalb waren wir nicht ins Dorfgemeinschaftshaus gegangen. Und wir hatten im Ort keinen eigenen größeren Raum.

Pfarrer Diestelmann von der Brüdernkirche erhob im Brüdern-Rundbrief vom April 1985 Klage über die Entheiligung des Heiligen. Als Dorothea Sölle in der Magnikirche einen Vortrag halten sollte, erhob der dortige Kirchenvorstand Einspruch gegen die Benutzung des Kirchenraumes. Weil die Zuhörer im Braunschweiger Dom Karfreitag 1985 die Matthäuspassion von Bach mit Blick auf die Orgel gehört hatten, und also den Altar ebenfalls im Rücken, schickte das Landeskirchenamt seine Gratiskarten aus Protest zurück. In diesem Jahr 1985 schrieb Joachim Stalmann in der Ausgabe "Für den Gottesdienst", Nr. 23, März 1985, über die Gestalt und Funktion des Altars in Geschichte und Gegenwart einen hervorragenden Aufsatz und zitierte darin aus Luthers Deutscher Messe 1526: "In der rechten Messe unter eitel Christen müßte der Altar nicht so bleiben und der Priester sich immer zum Volk kehren, wie ohne Zweifel Christus im Abendmahl getan hat. Nun, das erharre seiner Zeit." Stalmann fügt dem Lutherzitat hinzu: "Im Blick auf unsere Altarpraxis wird man sagen müssen: In den meisten lutherischen Kirchen "erharrt" es schon 450 Jahre "seiner Zeit".

Es ging um die grundsätzliche Frage, was der Altar wäre und wann und was ein Pfarrer, eine Pastorin dort zu tun habe. Einer der großen Liturgiker, der Alpirsbacher Präses R. Buchholz, hat dem Altar eine Aufgabe nur im Zusammenhang mit dem Abendmahlsgottesdienst zugesprochen. Es ist daher merkwürdig, wenn der Pfarrer zum Singen des Kyrie und des Gloria oder zum Gebet des Tages an den Altar eilt; wenn in Ermangelung eines Lesepultes Lesungen vom Altar aus gehalten werden statt vom Platz, wenn der Pfarrer an den Altar schreitet, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Der Pfarrer gehört in die betende Gemeinde hinein und nicht an eine exponierte Stelle, oft noch von der Gemeinde abgewendet, ihr den Rücken zudrehend. Er ist nicht Priester, losgelöst von der Gemeinde im Altarraum zelebrierend, sondern mitfeierndes Gemeindemitglied. Auch beim Predigtgottesdienst hat der Altar keine Funktion, auch nicht beim Segen, den sich die Gemeinde am besten gemeinsam zuspricht.

Geradezu anstößig ist es, wenn bei der Einführung eines Pfarrers die Bestallungsurkunde feierlich von einem der assistierenden Mitbrüder seitlich vom Altar vorgetragen wird. Da wird ein kirchenamtliches Schreiben in den Rang einer biblischen Lesung erhoben. Bei den Katholiken mag das wohl angehen, bei einem evangelischen Gottesdienst gehört so etwas entweder in die Abkündigungen des Einführungsgottesdienstes oder zur feierlichen Eröffnung des anschließenden Kaffeetrinkens, oder in den ersten dienstlichen Alltag des Pfarrers ins Amtszimmer, jedenfalls nicht an den Altar.

Derlei Anregungen, die ich in Heft 8 von Kirche von Unten im Mai 1985 geäußert hatte, sind inzwischen auf fruchtbaren Boden gefallen. Beim Anbau des Kirchenraumes in der Braunschweiger Südstadt haben Pfarrer Kopkow und der ausführenden Architekt Koch auf einen festgefügten Altar an der Stirnseite einer Wand verzichtet und im Kirchenraum eine variable Mitte gestaltet, die dann bei einem Abendmahlsgottesdienst ein Altar sein kann, bei einem anderen Gottesdienst etwas anderes.

Es war also keine spezifisch Offleber Fragestellung gewesen: was ist der Altar? Wir hatten sie für uns so beantwortet: "Der Altar soll nicht mehr im Mittelpunkt stehen." So hatte es der Reinsdorfer Kirchenvorstand am 6.7.1978 beschlossen.

Die Hauskirche

Beide Kirchen sind zügig im Sinne einer Hauskirche umgestaltet worden. Ein Riß in der Ostwand der Reinsdorfer Kirche war der Anlaß. Der Kirchenvorstand hatte das Geld zusammen, finanzielle Zusagen vom Landeskirchenamt lagen vor, ansonsten hatten wir keinen groß gefragt. Ich war auch der Ansicht, daß wir im Kirchenvorstand über diese Dinge vor Ort selber entscheiden durften. Wir wurden später eines anderen belehrt.

Der Reinsdorfer Kirchenvorstand ging an die Arbeit. Im Februar 1967 beschloß er die Renovierung, vergab die Arbeiten an die Firmen Chabowski, Golus sen., Mennecke, Pethke und Schwannecke, und nach vier Wochen, am 19. März, wurde die Kirche bereits wieder in Gebrauch genommen. Neben dem turnusmäßigen frischen Anstrich und der Beseitigung des Risses in der Ostwand erhielt die Kirche einen neuen textilen Fußboden, eine neue Beleuchtung, und der Altar wurde so vorgezogen, daß der Liturg zur Gemeinde hin die Liturgie halten konnte. Vor den Altar wurden drei Kniebänke gestellt, nicht als Trennung zwischen Altarraum und Gemeinderaum, sondern zur Bequemlichkeit derer, die beim Abendmahl knien wollten. Die Küsterin Frau Schulze fertigte für Lesepult, Kanzel und Altar je ein Antependium in den vier Kirchenjahrsfarben an. Außerdem wurde der Vorraum etwas einladender gestaltet

Auch für die Kunst wurde etwas getan. Herr Petrikat, ein Künstler aus Göttingen, veranstaltete im Schöninger Gymnasium, damals noch an der Schützenbahn gelegen, eine Ausstellung. Der Schöninger Studienrat Driehorst hatte Verbindungen zu ihm. Von Petrikat kauften wir eine Holzplastik aus afrikanischem, dunklem Holz. Sie stellt ein Ehepaar mit einem Kind auf dem Arm dar, für uns war es ein Elternpaar, das ein Kind zur Taufe bringt: die Plastik steht in der Nähe des Taufständers. Für die Katholiken, die in der Reinsdorfer Kirche freitags Meßgottesdienst hielten, veranschaulichte sie die heilige Familie, Maria und Joseph mit dem Jesuskind. So interpretierte jeder die Kunst in seiner unterschiedlichen religiösen Sinngebung.

Kirchenrenovierung in Offleben

Sehr viel grundlegender war die Kirchenrenovierung in Offleben, die nach demselben Muster ablief. Die Finanzierung war in mehreren Gesprächen mit dem Landeskirchenamt gesichert, nicht jedoch die Art der Durchführung. Am 7. Juli 1970 wurden die Arbeiten vergeben und am 20. September 1970 war feierlicher Festgottesdienst in der erneuerten Kirche.

Die Offleber Kirche befand sich vor der Renovierung in einem beklagenswerten Zustand. Sie war vor 16 Jahren zur Zeit von Pfarrer Schuseil zum letzten Mal gestrichen worden. Die klappernden Holzbretter an den Bänken sollten entfernt werden. Die Feuerwehr unter Erich Luhn, Hansi Salomon und Helmut Heine verkürzte die Orgelempore. Der Fußboden wurde von Kirchenvorstandsmitgliedern völlig ausgeräumt und von der Firma Röfe eine fünf Zentimeter dicke Betonschicht sowie eine Asphaltschicht aufgebracht. Die kleinen Holzfenster wurden entfernt und durch Fenster aus Danziger Glas von der Firma Bucher ersetzt. Bänke wurde von St. Lorenz ausgeliehen. Rudi Heine zeichnete für die Erneuerung der elektrischen Installation verantwortlich. Gerd Golus hatte den Innenanstrich übernommen und Seniorchef Otto Golus stiftete ein selbstgemaltes Ikonenbild von St. Georg. Der Fußboden wurde mit Textilbelag versehen und von der Decke leuchteten dänische Holzlampen. Das ergab den erwünschten "Wohnstubeneffekt". Von den Außenwänden löste die Feuerwehr drei Grabsteine und stellte sie im Inneren der Kirche auf.

Das Kirchenvorstandsmitglied Karl Heinz Isensee hob in seinem Baubericht beim Gemeindenachmittag die eindrucksvolle Gemeinschaftsarbeit von Kirchenvorstand, Frauenhilfe, Vereinen und Handwerkern des Ortes hervor, wobei die Prüfung der Angebote und die Bauaufsicht der Arbeiten vom Kirchenvorstand durchgeführt worden waren. Das imponierte Propst Hobom offensichtlich, der mit anderen den Gottesdienst besucht und beim Gemeindenachmittag im Dorfgemeinschaftshaus das "unbürokratische Vorgehen" gelobt hatte. Vom Landeskirchenamt war niemand erschienen. Sie fühlten sich dort offenbar übergangen.

Damit war die Entscheidung über den Charakter unserer beiden Kirchen als Hauskirchen gefallen. Für die Renovierung in Reinsdorf erhielt ich einen disziplinarischen Verweis, der mir noch 1999 in einem anderen Verfahren vorgehalten wurde: nachtragende Kirche.

Weitere Renovierungen

Wenige Jahre später verrußte der Innenraum der Offleber Kirche durch einen Dummenjungenstreich so gründlich, daß der Kirchenvorstand wieder vor der Frage stand: Fortsetzung des Modells "Hauskirche" oder Rückkehr zum Sakralraum. Um den Anstrich der Altarwand gab es den entscheidenden Streit: Oberbaurat Renner wünschte in Zusammenarbeit mit dem Restaurator Herzig einen grauen Anstrich der Altarwand und mit Gold abgesetzte Paneele, der Kirchenvorstand wünschte einen holzähnlichen Anstrich, was als kunstgewerblicher Geschmack verdächtigt werden konnte. Es kam zu keinem Kompromiß, die Kirche wurde als Baustelle geschlossen, die Gemeinde zog zu Gottesdiensten ins Pfarrhaus aus und wartete ein Ende des Streites geduldig ab.

Die Kirchenraum verlor den zu triumphalen Einzügen verlockenden Mittelgang und ermöglichte mit dem Mittelblock der Bänke mehr Zusammenrücken. Die Altarwand wurde grau gestrichen und bot einen neutralen Hintergrund für die Holzplastiken. E. J. Klonck erhielt den Auftrag für vier farbige Jonafenster.

Wieder wurde der Fußboden mit Textilbelag ausgelegt.

Auch die Reinsdorfer Kirche

Die Reinsdorfer Kirche erhielt ab 1975 ihr heutiges Hauskirchenaussehen: neun neue Fenster von E. J. Klonck. Die Bänke wurden wie in Offleben zu einem Mittelblock zusammengestellt, die Wände durch eine Holzvertäfelung verkleidet, die Orgelempore entfernt, Wände und Decken gestrichen. Diese Renovierung, die wiederum unter praktischer Mitarbeit der Kirchenvorstandsmitglieder erfolgte, wurde u.a. Gegenstand eines Disziplinarverfahrens. Dem Landeskirchenamt war der Geduldsfaden gerissen. Bei der Einweihungsfeier am 6. Januar 1978 war kein Vertreter des Landeskirchenamtes dabei, auch kein Propst.

Frau Kraatz, einer der ganz treuen Gottesdienstbesucher, Flüchtling aus Breslau, schrieb folgenden kleinen Bericht über die Kirchenrenovierung im Gemeindebrief 1978.

Meine persönlichen Eindrücke zur Kirchenrenovierung in Reinsdorf

von Charlotte Kraatz

Als ich dieser Tage auf dem Weg zur Kirche war, bot sich mir ein schöner Anblick. Es war schon Abenddämmerung. Die neuen Kandelaber beleuchteten gut den Weg zur Kirche und drinnen strahlte das Licht durch die Fenster. Das sah so feierlich aus, und es war eine Aufforderung zur Einkehr. Zum ersten Mal nach der Renovierung war ich in der Kirche. Ich war entzückt von der Schlichtheit unseres Kirchleins. Die Innenwandvertäfelung (Paneel genannt) ist so gut mit den Farben der Wand und der Decke abgestimmt, daß eine gute Harmonie entstand und dadurch unsere schönen Fenster sehr gut zur Geltung kommen.

Auch die Lampen. Ehe der Kirchenvorstand das richtige getroffen hatte, was mit viel Zeitaufwand verbunden war, war aber doch der Mühe wert, denn die Leuchten sehen sehr hübsch aus, besonders wenn sie eingeschaltet sind, dann bilden sich Lichtreflexe und der Widerschein an Decke und Wand geben einen besonderen Reiz. Sie werden es heute im Gottesdienst selbst erlebt haben.

Die Bänke, sie sind die alten geblieben, haben aber einen neuen Anstrich bekommen, und der Fußboden ist schön ausgelegt, sodaß keiner kalte Füße bekommen wird.

Die Orgel, da uns zur Neuanschaffung das Geld fehlte, ist vorläufig eine geliehene, wird aber auch zur Verschönerung des Gottesdienstes beitragen. Die katholische Kirchengemeinde kann jetzt auch wieder regelmäßig ihre Gottesdienste halten, und sehr erfreulich wäre es, wenn die ökumenischen Gottesdienste ein großer Erfolg würden.

Aus dem Gemeindebrief März/April 1978

Sie hebt gerade jene Veränderungen hervor, die den häuslichen Charakter des Kirchenraumes ausmachen: der ausgelegte Fußboden, die halbhohe Wandverkleidung aus Holz und die schattenwerfenden Holzlampen.

Vor wem muß sich eine solche Kirchenrenovierung eigentlich rechtfertigen: vor dem Restaurator, oder vor den Fachleuten aus der Bauabteilung oder in erster Linie vor der Gemeinde, die ja nun Sonntag für Sonntag sich in diesem Raum wohlfühlen und dort singen, beten und Gottesdienst feiern soll? Diesen Zuspruch der den Gottesdienst besuchenden Gemeindemitglieder haben wir sehr oft erfahren. Dafür nahmen wir auch manchen Konflikt in Kauf.

Der runde Tisch - die kleine Zahl

Eine Besonderheit des Reinsdorfer Kirchenraumes ist die Einrichtung einer Eckbank mit einem runden Tisch im vorderen Eingangsbereich der Kirche. Es ist eine konsequente Fortführung des Gedankens der Hauskirche. Es kommt sehr häufig vor, daß sich 3-6 Personen zum Gottesdienst versammeln. Das ist übrigens keineswegs nur in Reinsdorf so. Wir hatten aber den Mut, uns vom traditionellen Kirchenraum zu trennen und in dem gegebenen Raum eine kleinere Raumeinheit zum Gottesdienst einzurichten.

Am runden Tisch hielten wir den geordneten Gottesdienst mit der üblichen Liturgie, die Predigt bekam vor allem Gesprächscharakter. Es konnte gefragt werden und die Gemeinde kam ins Gespräch, vor allem auch vor Beginn des Gottesdienstes. Da wurde dann alles aus der vergangenen Woche besprochen, sodaß Frau Bauermeister uns ermahnte: "Wollen wir nicht langsam anfangen?" oder Frau Nickel die Unterhaltung unterbrach und mit dem Eingangsgebet begann. Wir sind zusammengerückt. "Hoffentlich kommt keiner mehr, sonst müssen wir in die Bänke", hieß es manchen Sonntag.

Zum Abendmahl holte Frau Bauermeister entweder die Abendmahlsgeräte auf den Tisch oder wir gingen singend nach vorne an den Altar.

Das Singen im Kreis ist eine Wohltat. Jede hört jeden. Das wechselseitige Sprechen im Kreis wird viel organischer. Jeder hört jeden atmen. Uns sind diese Gottesdienste am runden Tisch ausgesprochen lieb geworden. Sie wirkten noch etwas intimer, wenn wir vom 1. Advent bis Palmarum die Gottesdienste am Sonnabend um 17.00 Uhr gefeiert haben. Sogar Offleber kamen gelegentlich dazu. Ein Gottesdienst, in dem sich eine Kleinstgemeinde auf einen großen Raum verstreut, kann schwerlich zur Sammlung beitragen.

Den runden Tisch hätte ich auch gerne in Offleben eingeführt, aber es fand sich dafür kein richtiger Platz wie in Reinsdorf. Außerdem blieb die Gottesdienstzahl im größeren Dorf auch größer.

Kunst in der Kirche - doch ein sakraler Raum

Zum kommunikativen Hauskirchencharakter sollte als zweiter Raumeindruck vorherrschen: dieser Raum dient dem Wort Gottes. Man mag das die sakrale Dimension nennen. Die Kirche ist keine Würstchenbude, sondern erzählt vom Wort Gottes. Wer unsere Kirchen betrat, sollte den Raum als unverwechselbare Kirche erleben. Der Raum sollte auch ohne das gesprochene Wort "predigen". Das schönste Mittel dazu war uns die kirchliche Kunst.

Die Jonafenster von Klonck in Offleben

Ich weiß keine Dorfkirche im Braunschweiger Land, deren Innenraum vollständig mit bunten Glasfenstern geschlossen ist.

1978 brachte E. J. Klonck in der Offleber Kirche die vier monumentalen Fenster zu den vier Kapiteln der Jona-Geschichte an. Die Kirche enthielt dadurch ein sonderbar gedämpftes Licht.

Der damalige Kirchenvorstand zeigte sich sehr aufgeschlossen, nahm sich viel Zeit und besichtigte die Glasfenster von Gottfried von Stockhausen in der Braunschweiger Magnikirche und Katharinenkirche, von Claus Wallner in der Petrikirche, von Charles Crodel in der Andreaskirche und von Klonck im Chor der Helmstedter Marienkirche. Wir entschieden uns für Klonck, der seine Entwürfe an einem hellen Sommertag im Offleber Pfarrgarten vorstellte, die Mitglieder des Kirchenvorstandes fuhren in Kloncks bei Marburg gelegenes Atelier und bekamen einen Einblick in die Mühsal dieser Kleinarbeit und sie äußerten auch noch einige Änderungswünsche.

Es sind keine Fenster geworden, auf denen man schnell eine biblische Geschichte erkennen kann, wie etwa in der Gandersheimer Stiftskirche oder auch in St. Katharinen, sondern es ist auf den ersten Blick ein Liniengewirr. Erst nach längerer Zeit erschließt sich dem Betrachter, daß doch die Flucht und Seefahrt des Jona (1. Fenster), der große Fisch und das Gebet des Jona im Bauch des Fisches (2. Fenster), die Bußpredigt des Jona in Ninive und die sich zur Buße in Sack hüllenden Tiere (3. Fenster) und schließlich das fröhliche Ninive und der unter der Staude murrende Prophet (4. Fenster) erkennbar dargestellt sind.

Klonck hat in der Heintze-Festschrift unter der Überschrift "Bilder zum Glauben" über seine Arbeiten in der Braunschweigischen Landeskirche bis 1986 geschrieben. Von der Arbeit an den Offleber Fenstern schreibt er: "Innerlich war ich damals schon auf dem Wege weg von der biblischen Erzählung hin zur meditativen, abstrakten Bildgestalt, die vom Betrachter mehr fordert, ihn aber auch freier läßt in seinem Nachvollziehen. Im zweiten (Offleber) Entwurf sind davon einige Elemente enthalten. Solche intensiven Gespräche und Diskussionen wie hier in Offleben sind nicht in jedem Fall vorausgegangen. Dort, wo sie aber stattfanden, waren es meist sehr produktive Stunden, die Anstoß gaben für neue Gedanken bei mir und vielleicht auch bei meinen Gesprächspartnern."

Die Altarwand als Ikonostase

Typisch für viele Braunschweiger Landkirchen sind die in der Barockzeit eingebauten Altarwände. Die hohe Kanzel diente dem "Abkanzeln" und dem "Abkündigen" herzoglicher Erlasse. Diese Zeit war vorbei. Nach 1945 wurden in vielen Braunschweiger Landkirchen diese Altarwände ganz abgerissen.

Die Altarwand hatte die unauffällige Funktion, die Akustik im Kirchenraum zu verbessern. Konnte man ihr eine geistliche Funktion zuweisen?

Auch die Offleber Altarwand durfte nach Vorschlägen des Landeskirchenamtes eingerissen werden. Ich hatte in Moskau die wunderschönen Ikonostasen bewundert und schlug dem Kirchenvorstand vor, aus der Altarwand eine Art Ikonostase zu machen, eine predigende Bilderwand. Rüdiger Schwarz war von Holzplastiken in einer Kirche im Schwarzwald angetan, wir fuhren hin, besuchten den Künstler Hans Lopatta und baten ihn um Entwürfe für Holzplastiken in der Größe der Füllungen mit Motiven aus den Ostergeschichten. In einem Film ist zu sehen, wie Lopatta dann die Plastiken anbringt. Später fertigte Lopatta Rötelzeichnungen zur Passionsgeschichte an, sodaß unsere "Ikonostase" komplett wurde. Diese Altarwand beherrscht nunmehr den ersten Eindruck, wenn man die Offleber Kirche betritt.

Später wurde auch die Empore durch Hans Lopatta mit sechs Motiven aus der Weihnachtsgeschichte versehen.

Die abstrakten Fenster in Reinsdorf

Auch der Reinsdorfer Kirchenraum ist völlig umschlossen von Fenstern aus der Werkstatt von E. J. Klonck. Von den neun Fenstern ist nur das Mittelfenster farbig. Es verbindet das Motiv des Kreuzes mit dem des früchtetragenden Lebensbaumes. Auf Wunsch der Gemeinde fügte Klonck dem grünen Baum noch einige rote Früchte mehr zu und unterhalb des Kreuzes sind auf Wunsch von Frau Kraatz Figuren angedeutet, die sich beim Kreuz einfinden. "So war das bei uns auf der Flucht", sagte Frau Kraatz dazu.

Die acht Seitenfenster geben im abgestuften Grau formal denselben Aufbau wieder: aus einfachen linearen Formen aufsteigend verschlingen, verwirren und verfärben sich die Linien bis sie im oberen Teil wieder zu einfachen klaren Formen finden. Während die Gemeinde im Gottesdienst immer das verständlichere Mittelfenster vor sich hat, sah ich von der Seitenbank aus in jedem Gottesdienst eines dieser "Linienfenster" vor mir und habe darin die Stufen des menschlichen Lebens wiedererkannt: aus einfachen Formen in der Frühentwicklung verschlingt und verfärbt sich das Leben und findet im Alter wieder zu einfacheren Formen zurück. Ich bin gerne auf diesen Linien entlanggewandert und habe mich gefragt, auf welchem der verschlungenen Pfade ich mich wohl gerade befand.

Die Plastik von Gerd Christmann

In Offleben erinnert die markante Säule des Braunschweiger Bildhauers Gerd Christmann an die Opfer der südamerikanischen Diktaturen. Wir hatten uns auf einer seiner zahlreichen Ausstellungen im Helmstedter Kreis kennen und schätzen gelernt. Die Plastik ist aus einem sehr alten Wolfenbüttler Hausbalken gehauen. Christmann hatte sie eigentlich für den Bremer Senat angefertigt. Der Raum prägt das Verständnis der Plastik. Daher ist sie für uns in diesem Kirchenraum eine Passionssäule. Christmann zitiert im unteren Teil der Plastik die traditionelle Fußstellung der Füße des Gekreuzigten. Ein aufragend langgestreckter Arm wirkt wie ein Schrei eines Gefolterten. Die Passionssäule wurde im September 1989 aufgestellt.

Wandteppich, Altar, Kanzeln und Paramente

In der Reinsdorfer Sitzecke befindet sich ein Wandteppich nach einem Entwurf von E. J. Klonck. Er stellt den Brennenden Dornbusch dar. Der Teppich ist von Frau Gertrud Künne gewebt worden, die einmal in Schöningen eine Schneiderei unterhielt. Sie ist die Mutter von Pfarrer Michael Künne, der an der Michaeliskirche in Helmstedt und als Schulpfarrer am Anna Sophianeum tätig war und dann als Dozent an das Religionspädagogische Seminar nach Loccum ging.

Die Kirchenräume waren nicht auf einmal und aus einem Guß entstanden, sondern jeweils in größeren zeitlichen Abständen je nach Möglichkeit und Notwendigkeit gestaltet. Um die entstandenen optischen Unebenheiten zu beseitigen, wurde für beiden Kirchen in den neunziger Jahren je ein neuer Altar und eine neue Kanzel von der Firma Daether in Schöningen hergestellt. Die Kanzeln beider Kirchen erhielten aus der Paramentenwerkstatt in Helmstedt ein Kanzelparament in allen vier Kirchenfarben, der Reinsdorfer Altar die passenden Altardecken, der Offleber Altar noch ein Altarparament.

Bernsteinkunst

In keiner Braunschweiger Kirche befindet sich m.W. so viel Bernsteinkunst wie in unseren beiden Kirchen. Das ist die Erfüllung eines Jugendtraumes von mir. An der ostpreußischen Samlandküste haben wir während des Krieges den Strand von Neukuhren, wo die Schwester meiner Mutter Dorfschullehrerin war, nach Bernstein abgesucht. Der wurde auf Schächtelchen geklebt und das war dann ein selbstgemachtes Geburtstagsgeschenk. Das galt als "viel wertvoller" als etwas Gekauftes. Zu dieser persönlichen Liebhaberei kam ein Goldschmied, der sich für die Verarbeitung von Bernstein erwärmte: die Firma Friedrich Stuhlmüller aus Hamburg.

Stuhlmüller hatte ich 1965 beim Kauf des Osterleuchters für die Offleber Kirche kennengelernt. Er war ein in liturgischen Fragen bewanderter Künstler und schuf besonders in der Nachkriegszeit viele Geräte in und um Hamburg herum. Wir hatten uns "gefunden", und ich bat ihn, ein komplettes Abendmahlsgerät - also: Kelch, Oblatendose und Weinkanne - unter Verwendung von Bernsteinen zu schaffen. Ich hatte das im Königsberger Schloß 1943 ausgestellte, von den deutschen Truppen gestohlene legendäre Bernsteinzimmer gesehen und träumte von einem kompletten Bernsteinkelch.

Stuhlmüller fertigte das Bernsteinabendmahlsgerät an. Die Oblatendose, auf deren Boden vier bräunliche Bernsteinklunker glitzerten, war zugleich fürs Austeilen gedacht: eine praktische Kombination. Wie sehr man selbst bei solchen Fachleuten aufpassen muß, wurde mir erst nach der Ausfertigung deutlich: die Umschrift am Fuß des Kelches ist fehlerhaft.

Den Offlebern fehlte eine Taufkanne, die zu der Taufschale von 1627 paßte. Außerdem wurde der hölzerne Taufständer immer klappriger. Stuhlmüller verfertigte einen Taufständer mit einem großen Bergkristall am Fuße und zur Taufschale passend eine Taufkanne. Sie wirkt beim ersten Anblick etwas klobig. Stuhlmüller war an den großen Kühltürmen am Dorfeingang vorbeigefahren und hatte von ihnen die Vorstellung für die Form der Taufkanne abgeguckt. Wenn man das weiß, fällt einem tatsächlich ein Zusammenhang auf. Den Rand der Taufkanne versah Stuhlmüller mit zahlreichen kleinen Bernsteinen, am Griff leuchtete ein großes Stück als Weltkugel und darauf ein Bernsteinkreuz. Das Kreuz auf der Weltkugel als die ins Bild gesetzten Verse aus dem Matthäusevangelium: "Gehet hin in alle Welt und tauft!"

Die Frauenhilfe hatte sich einen Kerzenständer in der Kirche gewünscht. Der Kirchenvorstand fand eine solche Anschaffung eigentlich zu "katholisch", aber wenn die Frauen ihn benutzen würden, dann sollten sie auch einen Kerzenständer haben. Also wurde ein Exemplar aus einem Katalog angeschafft. Bald jedoch war der viel benutzte Kerzenständer den Frauen nicht mehr "schön" genug. Vor allem Frau Irmgard Gröger drängelte, man möge sich doch einen ansehnlicheren anschaffen. Herr Stuhlmüller wurde beauftragt und schuf wiederum unter Verwendung von viel Bernstein ein schönes Exemplar.

Als ich von einer Polenreise mit ziemlich vielen Bernsteinketten zurückkam, bat ich Stuhlmüller, für den Offleber Altar ein liegendes Meditationskreuz anzufertigen. Wenn der Pfarrer hinter dem Altar der Gemeinde zugewandt steht, kann und will er nicht der Gemeinde immer in die Augen sehen. Er muß etwas beim Geradeaussehen haben, das ihn zum Gebet hinlenkt. Dem Meditationskreuz, das Stuhlmüller anfertigte, sieht man noch an den kleinen Löchern an, daß die Steine von einer Kette stammen. Leider hatte Stuhlmüller die Steine auf die Fassung nur aufgeklebt. Ich hatte mir ein in Bernstein gefaßtes Kreuz gewünscht.

Lange, lange vor meinem Abschied aus der Arbeit in den Kirchengemeinden hatte ich mir überlegt, was ich ihnen wohl schenken könnte in dankbarer Erinnerung an die gemeinsame Arbeit. Sie war ja zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr sozusagen das Mittelstück meiner Biographie gewesen. Also: etwas aus Bernstein, und so entstanden für beide Gemeinden je ein Kelch, nach Größe und Form passend zu dem alten Kelch von 1685, mit einem kräftigen Bernsteinnodus, eine Patene, durch deren Rand Bernsteine leuchteten und für die Reinsdorfer Gemeinde noch eine Oblatendose mit üppigem Bernsteinbesatz und ein hohes Bernsteinkreuz für den Altar, durch das bei den Morgengottesdiensten - wir fingen ja schon um halb neun in der Frühe an - das Morgenlicht hindurchscheinen konnte. Das ist schon lange her, und ich habe mich an den Dingen selber herzlich erfreut. So könnten diese vasa sacra auch die Erinnerung festhalten an einen Ortspfarrer, der sich seiner ostpreußischen Heimat gerne erinnerte und nicht vergessen hat, was ihn landschaftlich prägte: Wasser und Wald.

1993 ist Friedrich Stuhlmüller bald nach seiner Frau gestorben. Die traditionelle hamburgische Goldschmiedewerkstätte wurde aufgelöst.

Die Kirchenräume aber verbinden beide Elemente: die der Häuslichkeit und der Sakralität.


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