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[Kirche von unten]

Gemeinsam - zärtlich - radikal

4. Kapitel

Der Sonntagsgottesdienst.

Auf der Grenze zwischen Sonntag und Alltag

Der Sonntagvormittag im Dorf

Der Sonntagvormittag in Offleben und Reinsdorf ist wie überall auch: ausschlafen, danach länger frühstücken, kein Mittag, kein Kochzwang wie am Alltag. Andere lieben es festlicher, essen doch Gegabeltes. Nachmittags: sich fein machen, spazierengehen oder -fahren, besuchen; wenn man Glück hat, trifft man einen/eine und erzählt und erfährt etwas Neues. Musik hören und grillen im Schrebergarten, oder auch Auto waschen, das war wohl mehr früher. Wenn es die Arbeit erfordert, sind die Landwirte auf dem Acker. Die Geschäfte sind geschlossen.

Es kann aber auch sein, daß man auf den Straßen am Sonntag nachmittag keinen Menschen sieht. Jugendliche sagen: tote Hose, nichts los, "Totensonntag". Der Sonntag ist für sie das Schlimmste. Einbrüche in Schrebergärten, Lauben oder Keller sind meist am Wochenende. Manche freuen sich wieder auf den Montag, wenn sie unter den Arbeitskollegen sind. Dann und wann macht einer mal "blauen Montag", wie man sagt.

Sonntagmorgen läuteten die Glocken, in Reinsdorf schon früh ab 8.00 Uhr, in Offleben ab halb zehn. In Abständen, dreimal bis zum Gottesdienstbeginn um 8.30 Uhr und um 10.00 Uhr. Das letzte Mal in Offleben sogar mit beiden Glocken. Das ist für den Normalbürger, der um diese Zeit noch ausschlafen will, zu viel. Wer in der Nähe der Kirche wohnt, sagt das auch.

Die Lebensgewohnheiten der Bewohner einerseits und des Pfarrers, des Organisten und der Küsterin andererseits stoßen frontal aufeinander: aufstehen - liegenbleiben; singen - schlafen; feiern - langweilen. Das ist in anderen Orten genauso.

Wenn ich auf dem Fahrrad am Sonntagmorgen von Reinsdorf nach Offleben zurückfuhr, begegneten mir regelmäßig die ersten Frühaufsteher bei ihrer Morgenrunde. Anfangs habe ich mich geärgert: "Die könnten doch in den Gottesdienst kommen", dachte ich und grüßte maulig. Das hat sich gelegt. Wir begrüßten uns freundlich und wünschten uns einen "schönen Sonntag."

Dieser Zusammenprall der Lebensgewohnheiten wird heutzutage besonders bei den Organisten spürbar. Es wird immer schwieriger, für den Sonntag vormittag einen Organisten zu finden. "Jeden zweiten Sonntag, vielleicht", sagen sie. Aber Sonntag für Sonntag, das ist ein zu großes Opfer. Indes: auch manche Pfarrer genießen im Urlaub den bürgerlichen Sonntagmorgen mit Im-Bett-bleiben und Kaffeetrinken um 11 Uhr ohne Gottesdienstbesuch.

Wie sich der Sonntag in Deutschland durch das geeinte Europa verändern wird.

Einige Hauptstädte Europas öffnen am Sonntag die Geschäfte Als ich mal in Dänemark Urlaub machte, wunderte ich mich, daß die Läden nicht geschlossen waren und der Nachbar seinen Rasen mähte... Die Sonntagsruhe scheint eine deutsche Besonderheit zu sein.

Andrerseits gab es im Braunschweigischen bereits seit Anfang des Jahrhunderts die viel diskutierte "Sonntagsnot". Es wurde gerade auf dem Lande auch am Sonntag auf dem Felde gearbeitet. Mit der "Sonntagsheiligung" war es in der Region nicht weit her. Inzwischen sind in ganz Deutschland bereits die vier verkaufsoffenen Adventssonntage eingeführt. Die Öffnungszeit wird mit riesigen Umsatzzahlen gerechtfertigt.

Daß am Sonntag gearbeitet wird, ist für Offleben nichts Neues. Natürlich wurde auf dem Kraftwerk der Schichtbetrieb auch über die Feiertage aufrecht erhalten. Bei den BKB rauchten am Sonntag die Schornsteine und die Feiertagsschichten waren beliebt, weil es mehr Lohn gab. Wer sonntags gearbeitet hatte, bekommt daher auch eine höhere Rente.

Wie wird die Entwicklung weitergehen? Zur Zeit kämpft die Kirche um einen einkaufsfreien Sonntag. Aber es wird kommen wie beim "Kampf um den Bußtag". Die CDU-geführte Regierung Kohl hatte 1994 beschlossen, dem Bußtag den gesetzlichen Feiertagsschutz zu nehmen. Es sollte am Bußtag in Zukunft gearbeitet werden. Das war als Entlastung für die Rentenkassen gedacht. Nur das Land Sachsen unter Ministerpräsident Biedenkopf machte eine Ausnahme und beließ diesen Tag als staatlich geschützten Feiertag.

Besonders die Bischöfe jammerten über eine "Abschaffung des Bußtages". Das war unzutreffend, denn es wurde nicht der Bußtag abgeschafft, sondern der staatliche Schutz für diesen Tag. Natürlich waren Gottesdienste am Vormittag und auch am Abend möglich und wurden auch durchgeführt. Das Wolfenbüttler Landeskirchenamt startete mit Schreiben vom 23.8.1994 eine Unterschriftenaktion. In Nordelbien und anderswo wurden ebenfalls viele Unterschriften gesammelt, um in einem Volksbegehren den staatlichen Schutz für den Bußtag wieder einzuführen. Es kamen nicht die nötigen Unterschriften zusammen und es blieb bei der Entscheidung: am Bußtag wird gearbeitet. Die Jugend mußte wieder in die Schule. Wer jedoch zu einem Vormittagsgottesdienst wollte, konnte eine Beurlaubung von der Arbeit oder vom Unterricht einholen. Das führte dazu, daß am Bußtag in Schulen und Kirchen außerordentlich gut besuchte Schulgottesdienste abgehalten wurden. Aber auch Abendgottesdienste wurden erfreulich angenommen.

Wir machten in Offleben und Reinsdorf wie immer unsere Vormittagsgottesdienste, da die Gottesdienstbesucher zum größten Teil der älteren, nicht mehr arbeitenden Bevölkerung angehörten. Die Bischöfe hatten die Zeichen der Zeit weit übersehen: die Zeit der Kirchenkämpfe um christliche Schulen wie in den 50iger Jahren in Niedersachsen und wie um den Bußtag 1922 im Braunschweiger Land waren einfach vorbei. Es ließen sich auch nicht die "volkskirchlichen Massen" für christliche Ziele in der Öffentlichkeit mobilisieren.

Sechs Jahre später muß man feststellen, daß durch den Wegfall des staatlichen Schutzes der Bußtag in unserer Landeskirche an Bedeutung gewonnen hat.

So wird es möglicherweise beim gegenwärtigen Kampf der Kirchen um den verkaufsoffenen Sonntag auch kommen. Schon längst wird in lebenswichtigen Bereichen am Sonntag gearbeitet. Am 24. März 2001 meldete die Wirtschaftsseite der Braunschweiger Zeitung: "30 Verkaufssonntage in der Region - immer häufiger auch längere Öffnungszeiten an Samstagen". Einige Bundesländer wie Sachsen gehen bereits voran und haben den Sonntagsschutz gelockert. Die traditionell starke lutherische Kirche in Sachsen wird sich nicht durchsetzen können. Und es wird kommen wie beim Bußtag: der Sonntag bekommt eine neue Gottesdienstchance, denn nun lassen sich Einkaufsbummel und Gottesdienst miteinander verbinden. Es sind einfach mehr Leute auf der Straße. Vor allem werden die starren Vormittagsgottesdienstzeiten endlich fallen. Gottesdienstzeiten am späten Sonntagnachmittag oder am frühen Abend werden sich einbürgern. Für die Dörfer hingegen hat diese Frage keine Bedeutung. Die wenigen auf den Dörfern verbliebenen Geschäfte werden weiterhin geschlossen bleiben.

Dabei sei an eine andere geprägte Zeit erinnert, die höchstens noch in den Dörfern in Erinnerung ist: der Sonnabend abend. Das 17.00 Uhr-Läuten galt dem Sonntag. "Der Sonntag wird eingeläutet", sagte man. Nach dem 17.00 Uhr-Läuten ruhte in der Regel die Arbeit im Hause. Die grobe Vorarbeit für den Sonntag war erledigt. Man setzte sich auf den Tritten vor die Haustür und erzählte. Das war die Erinnerung an den Sabbat Gottes. Inzwischen wird in den Großstädten in vielen Geschäften bis 16.00 Uhr gearbeitet. Diese "geprägte" Zeit ist aus der häuslichen, familiären Sitte verschwunden.

Die Gestaltung des Wechsels von Ruhezeiten und Arbeitszeiten bleibt nunmehr jedem selbst überlassen.

Der geringe Gottesdienstbesuch

Weil die Lebensgewohnheiten zusammenstoßen, ist der Gottesdienstbesuch traditionell gering. Wer regelmäßig zum Gottesdienst geht, hat ihn sich zur Lebensgewohnheit gemacht. Das ist die absolute Ausnahme. Am Anfang habe ich mir persönliche Vorwürfe gemacht und die Gründe für den geringen Gottesdienstbesuch bei mir und meiner Gottesdienstgestaltung gesucht.

Ich hielt in Reinsdorf 1964 den Karfreitagsgottesdienst. Große Erwartungen. Mein Vater hatte erzählt, wie ihm in Ostpreußen am Karfreitag die Hände schwer wurden beim Abendmahl wegen der vielen Abendmahlsgäste. Der klassische Feiertag des Protestantismus. Karfreitag und Bußtag ging man zur Kirche und dann auch zum Abendmahl. In Reinsdorf kamen 5 Leute. Was ist los? Was hast du falsch gemacht? Ich verglich mit den Besucherzahlen in den Vorjahren im Sakristeibuch. Da waren auch nicht mehr gekommen. Wo bin ich? Am Ostersonntag waren es dann einige mehr. Also mehr eine Ostergemeinde?

Aber die geringe Zahl am Sonntag morgen war keine neue Entwicklung. Das war schon immer so. Wenn mein Vorgänger vor 70 Jahren, Pastor Reiche, mit der Kutsche am Sonntag morgen nach Reinsdorf gefahren wurde und ihm auf weite Entfernung zugewinkt wurde, dann wußte er, daß keiner zur Kirche gekommen war, und er ließ die Kutsche wenden. Für einige Zeit änderte sich das, als nach 1945 die Flüchtlinge das Dorfbild veränderten. Aber auch nicht überall: Frau Charlotte Kraatz, eine der treuesten Gottesdienstbesucherinnen, die aus Breslau mit ihrem Bruder und ihren Eltern nach Reinsdorf gekommen war, berichtete von einem ihrer ersten Gottesdienste, in dem sie allein in der Kirche in Reinsdorf gesessen hatte. Nun sind auch die Flüchtlinge "eingebürgert".

Es war keine Offleber und Reinsdorfer Besonderheit. "Liebster Jesu, wir sind vier", spotteten die älteren Amtsbrüder bitter in Abänderung eines bekannten Kirchenliedes und ich konnte nicht richtig mitlachen. Als bei einem Gottesdienst in Reinsdorf nur die Küsterin und ich anwesend waren und ausgerechnet an diesem Sonntag der Vikar von Esbeck kam, "um sich mal umzusehen", genierte ich mich zu Tode. Daß wir nur zwei waren, war nun wirklich ganz selten. Ich tröstete mich mit folgender Geschichte, die die Frauenhilfsvorsitzende Frau Edeling-Unger einmal in der Synode erzählte: einer ihrer Vorfahren sei mit seiner Tochter in der Kutsche ins Land Braunschweig gefahren, wo sie verheiratet werden sollte. Beim Überqueren der Landesgrenze sagte der Großvater: "Mädchen, verlier deinen Glauben nicht. Du kommst ins Braunschweigische." Eine sogenannte Landkarte niedersächsischer Frömmigkeit, die der Osnabrücker Superintendent Rolffs seiner Niedersächsischen Kirchengeschichte aus dem Jahre 1938 hinzugefügt hat, bezeichnet die Braunschweiger Landeskirche als "flächendeckend unkirchlich" und die Spendenfreudigkeit von Westen nach Osten erheblich abnehmend. Ich hielt es für ein gewagtes Unterfangen, gegen diese historisch gewachsene Unkirchlichkeit mit einem Missionsprogramm und der schäumenden Lebenskraft eines jungen Pastors, der tiefverwurzelte Sitte umkrempelt, anzugehen.

Die Lage hat sich zu meiner Zeit in den vielen Jahren danach nicht geändert. Nicht besser, nicht schlechter. Wenn es schon Karfreitag wenige sind, dann wird es das Jahr über auch nicht umwerfend anders sein, dachte ich.

Also stellte ich mich auf diese kleine Zahl ein. Mein Büddenstedter Nachbarpfarrer Ulrich Adrian deutete dies als Anzeichen einer zu frühen Resignation. Ich wollte mich nicht an Unmöglichkeiten aufreiben, mir war ja die Situation nicht ganz fremd. Als Vikar hatte ich in Melverode in der schönen, kleinen romanischen Kirche dasselbe erlebt: sehr wenig Besucher, auch an hohen Festtagen. "Gott ist wohl größer als die Kirche", lernte ich.

Verschiebung der Gottesdienstzeit

Kluge Leute sagen deshalb, man soll die Gottesdienstzeit verschieben, um diesen Zusammenstoß der Lebensgewohnheiten zu vermeiden. Kirche müsse flexibel auf die Lebensgewohnheiten ihrer Mitglieder reagieren. Das haben wir getan: in Reinsdorf fanden die Gottesdienste vom 1. Advent an bis Karsamstag um 17.00 Uhr statt und in Offleben in der Adventszeit bis zum 6. Januar am Sonntag um 17.00 Uhr. Alle konnten ausschlafen und brauchten ihre Sonntagvormittagsgewohnheiten nicht aufgeben und konnten tun, was sie ansonsten am Sonntag gerne taten. Aber auch diese Gottesdienste blieben, gemessen an der Kirchenmitgliederzahl, kümmerlich. Also an der Gottesdienstzeit liegt es nicht. Allerdings halte ich die gleichförmige Zeit um 10 Uhr als Gottesdienstzeit in den Städten für unakzeptabel.

Soll man zusammenlegen?

Die nächstliegende Überlegung ist ja, die Gottesdienste in Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben und auch anderswo zusammenzulegen: lieber einen etwas gefüllteren Gottesdienst gemeinsam als zwei geringer besuchte Gottesdienste. Woanders werden dazu Kirchenbusse angeschafft, die die Gottesdienstbesucher zum Gottesdienst fahren. Die katholische Kirche am Ort organisierte für die Reinsdorfer Katholiken einen Bus für den Besuch der Messe in Offleben und Büddenstedt. Im Gespräch darüber stellte sich unter uns bald heraus, daß dann auch die Wenigen nicht kommen würden. Sie verlangten "ihre" Kirche.

Und war es nicht respektabel, daß gerade eine so geringe Zahl von Gottesdienstbesuchern doch den inneren Kern dafür bildete, daß ein Kirchengebäude am Ort erhalten blieb und der Friedhof gepflegt wurde? Wichtig wurde nun, daß die Kette der regelmäßigen Gottesdienste nicht abriß. Einmal in der Woche, ob sonntags oder samstags sollte in den Kirchen aus der Bibel gelesen und gebetet werden. So ist denn in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich kein Gottesdienst ausgefallen. Gewiß war die Versuchung für eine Zusammenlegung dann besonders groß, wenn die Vorbereitungen für eine Predigt besonders gründlich und lange dauerten. "Lohnt sich das? - Für so Wenige?" war dann die üble Frage.

Aber stellte sich diese Frage bei den Küsterinnen nicht noch viel dringlicher? Sie hatten die Kirche gereinigt, Blumen besorgt, Lieder angesteckt, geläutet - also wenigstens ebenso gründliche Vorbereitungen, sodaß ich mir sagte: solange dir deine Küsterin nicht den Vorschlag macht, den Gottesdienst ausfallen zu lassen, kannst du deine noch so gründlichen Vorbereitungen nicht als Gründe für eine Zusammenlegung anführen. Jetzt - aber wirklich auch erst jetzt - galt schließlich die Verheißung Jesu von der kleinen Zahl, von den zwei oder drei in seinem Namen Versammelten, wo er "mitten unter ihnen" sein würde.

Wir überlegten uns auch, ob man statt des wöchentlichen Sonntagvormittags lieber einen ganzen Sonntag von morgens bis abends monatlich anbieten sollten. Mit gemeinsamem Essen und Spazierengehen, aber auch einem Nachgespräch der Predigt und Bibelarbeit. Aber auch diese Überlegungen scheiterten schließlich an der Macht der Lebensgewohnheiten.

Die Treuen und ihre Gründe

Einige wenige dagegen werden eisern bleiben, wie sie bisher eisern geblieben sind. "Wir lassen uns den Gottesdienst nicht nehmen", sagen sie. Was mag sie bewegen, ihren Lebensrhythmus am Sonntagvormittag ganz auf den Gottesdienst einzustellen und dafür auch einen gewissen Verzicht aufzubringen? Ich vermute folgende Gründe:

Die wenigen Treuen versichern sich: "Der alte Gott lebt noch und schweigt nicht." Da sitzen solche, die in ihrem Leben viel durchgemacht und ihre steinige Lebensstrecke mit ihrem Glauben verbunden haben. Nun wollen sie ganz unabhängig von der Zahl sich Sonntag für Sonntag bestätigen: Gott lebt und hilft weiter, wie er bisher geholfen hat. "Gott lebet noch, Seele, was verzagst du noch", ist die Grundmelodie ihres Kirchganges.

Für andere hängen an diesem Kirchengebäude und Kirchenraum zu viele persönliche Erinnerungen: Trauung, die Konfirmation der Kinder, die Taufe der Enkelkinder. Das alles lebt auf in den Liedern und Lesungen und ist ziemlich unabhängig von der Predigt. Sie sind während des Gottesdienstes "ganz in Gedanken", vermutlich ganz woanders als bei dem gerade verhandelten Bibeltext. Vielleicht tauchen Assoziationen auf. "Sie erinnern mich so an unsern Opa", sagte kürzlich eine Gottesdienstbesucherin nach einem Taufgottesdienst in Petri, Braunschweig. Das hat sie beglückt und daher war dann der Gottesdienst auch eine schöne Erinnerung.

Da sind jene, die am Sonntag Vormittag im Gottesdienst Menschen treffen wollen und ein Gespräch anfangen können. Das ist besonders wichtig für jene, die sich einsam vorkommen. Sie benutzen den Kirchgang auch, um mal "raus und unter die Leute zu kommen". Sie finden sich schon früh ein und in der Kirche fängt ein Palaver an, was so alles im Dorfe los ist und für wen es in der Woche geläutet hat und wo eingebrochen worden ist und wer auf Urlaub und weg ist. Mir war diese Funktion des Vorgottesdienstes immer wichtig, solange, bis dann mit dem Läuten der Glocken und mit dem langsam einsetzenden Kanon "Komm Gott, Schöpfer, Geist" die Gedanken in eine andere Richtung gelenkt wurden.

Es sind wieder andere, die doch mehr auf die Predigt scharf sind. "Was wird er heute erzählen?" ist ihre Frage, wenn sie zur Kirche gehen. Diese Ausgangsfrage wurde dann besonders dringlich, wenn in Politik oder Kirche etwas Außergewöhnliches passiert war. Beleuchtung der Gegenwart aus der Sicht des Glaubens und der Bibel, und zwar treffend, unmißverständlich, "ohne großes Drumherumgerede" und so, daß eine andere Meinung ebenfalls aus Glaube und Bibelerkenntnis möglich war.

Und dann sind jene, die sich über die Gemeinschaft freuen. Sie kommen, weil sie mitmachen können und weil sie in dieser Gemeinschaft einen wichtigen Platz haben und wenn jemand fehlt, fehlt etwas am Gesang oder am Vorlesen oder am Mitbeten.

Es gibt diesen festen Stamm von Gottesdienstbesuchern, der aus ganz unterschiedlichen Gründen am Sonntagvormittag zum Gottesdienst kommt. Von dem will ich erzählen.

In dieser Gemeinde wollen wir wenig von uns selbst; aber viel von Jesus Christus reden.

In dieser Gemeinde wollen wir möglichst gar nichts auf eigene Faust unternehmen, aber möglichst viel auf den Wink Jesu.

In dieser Gemeinde soll keiner seinen Kopf durchsetzen wollen oder feige seinen Kopf einziehen, sondern Jesus Christus soll das Haupt dieser Gemeinde sein.

Jesus Christus soll für uns weder Superstar noch Hippievater, nicht Despot und nicht Übermensch sein, sondern ein Hausherr, der sein Haus bei uns zu einer stillen Quelle des Trostes und der Erfrischung macht. Ein Hausherr, der sein Haus für alle offenhält und sie einlädt zu seinem Gastmahl. Ein Hausherr, der seine Mitarbeiter und Kinder aus der Unfreiheit in die Verantwortung, aus der Trägheit in die Freiheit und aus der Undankbarkeit in den Lobgesang hineinführt, daß wir an seinem Tisch Gott danksagen allezeit für alles durch Jesus Christus unsern Herrn.

Wir wollen nicht uns selbst verkündigen, sondern Jesus Christus als unsern Herrn.

aus der Auslegung des Neujahrsgottesdienstes in Offleben über die Jahreslosung "Wir verkündigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn", 2. Kor. 4, 5; (Gemeindebrief 1/72 )

Ehepaare sind selten

Mich hat die Beobachtung berührt, daß in der Regel selbst gefestigte Ehepaare nur in Ausnahmefällen gemeinsam zum Gottesdienst kommen. In der Regel kommt sie und er geht in den Schrebergarten, oder er kommt und sie bereitet das Essen vor. Es konnten also keine Gespräche über gemeinsame Eindrücke vom Gottesdienst stattfinden. Nach dem Gottesdienst lief der Vormittag weiter, als ob kein Gottesdienst gewesen war. Es gab auch solche Ehepartner, die sich den Kirchgang erkämpft hatten und sich nach der Rückkehr Gemaule oder häßliche Fragen gefallen lassen mußten: "Na, hat er euch heute wieder angelogen?"

Die hübsche Gottesdienstidylle sieht hinter den Familienkulissen oft ganz anders aus. Der Gottesdienst und der Glaube stellt Ehen auch auf eine Zerreißprobe. Das ist am Sonntagvormittag besonders unangenehm.

Singende Gemeinde

Folgendes Erlebnis aus der ersten Zeit hat sich mir eingeprägt und ist zu einem Kern der weiteren Entwicklung geworden. Als ich in Offleben zum ersten Mal das "Ehre sei Gott in der Höhe" anstimmte, antwortete die Gemeinde in einer solchen Bestimmtheit, daß ich mich riesig freute. Und es folgte die nirgends übliche Fortsetzung: "Wir loben dich, wir beten dich an, wir preisen dich, wir sagen dir Dank...". Es ging wie am Schnürchen hin und her zwischen Pfarrer und Gemeinde. Das sogenannte Laudamus ("Wir loben dich...") kann man heutzutage kaum voraussetzen: "Wie geht es jetzt weiter?" meinte unbefangen kürzlich ein vertretender Pfarrer am Altar am Ende des "Gloria ("...und den Menschen ein Wohlgefallen"), und also wurde die Fortsetzung im Wechsel gesprochen und nicht gesungen.

Ich hatte von meinem Vorgänger, Pfarrer Detlef Löhr, eine liturgisch geduldig geschulte Gemeinde übernommen. Keine Passionsandacht ohne die schöne Litanei (EG 192) auch bei kleinstem Teilnehmerkreis.

Keine Werbeveranstaltung für den lieben Gott

Der Gottesdienst sollte überhaupt keine Werbeveranstaltung für den lieben Gott sein, in den die Leute mit allerlei Tricks hineinzulocken seien. Sondern: das Wort wird gelesen, gesungen, ausgelegt, gegen den Strich gebürstet, gefeiert, vielleicht sogar auf den Kopf gestellt, aber eben nichts anderes als das Wort Gottes zu diesen Menschen in Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben.

Mir wurde sehr rasch bewußt, wieviel Glaubenserfahrungen sich am Sonntag vormittag in einem Gottesdienst sammeln. Da saßen die Flüchtlinge mit ihren unter den Kriegsereignissen oder unter polnischer Besetzung gemachten schweren Erfahrungen, die einige mit ihrem Glauben nun zu verarbeiten hatten. Ihren Glauben brachten sie mit. Das holzgeschnitzte Kreuz an der Offleber Kanzel stammte von Flüchtlingen, die es im Lager Alversdorf angefertigt hatten.

Unter dem roten Kreuz im Glasfenster hinter dem Altar in der Reinsdorfer Kirche strömen kleine Figuren in die Mitte zusammen. "Das sollen die Flüchtlinge sein", sagte Frau Kraatz, die aus Breslau stammte und zum treuen Stamm der regelmäßigen Gottesdienstbesucher gehörte. "Die haben sich unter dem Kreuz zusammengefunden." Aber keineswegs nur die Flüchtlinge: um wieviel mehr waren mir die meist älteren Gottesdienstbesucher an Lebens- und Glaubenserfahrung voraus. Ich wollte sie nicht bekehren. Ich wollte am liebsten gar nicht alleine predigen, sondern möglichst viele sollten von ihrem Glauben erzählen können. Und dann war es auch nicht entscheidend, ob es nun viel oder wenige waren, die sich am Sonntag sammelten. Viel wichtiger war es, daß wir unseren Glauben, auch unseren Unglauben, unsere Fragen und unsere Zweifel nicht versteckten, sondern Gelegenheit hatten, sie am Wort Gottes zu erwärmen, anzuspitzen, zu korrigieren, neues Gelände zu entdecken, auch zu provozieren. Unter dem Wort im Gespräch miteinander - das wurde mein Traum von Gottesdienst.

Dem widersprach so ziemlich alles, was ich gelernt hatte und auch hier vorfand. Der Pastor ist das priesterliche Gegenüber zur Gemeinde, hatte ich gelesen und oft genug erlebt. Ich hatte es auch oft genug mitgemacht und auch genossen: das Pastor liest die biblischen Texte, der Pastor betet am Altar, der Pastor legt verbindlich das Wort Gottes aus, der Pastor singt die Abendmahlsworte, der Pastor teilt Leib und Blut Christi aus. Das vermittelt ein durchaus erhebendes persönliches Gefühl. Ich erlebe noch heute bei jüngeren Kollegen, daß diese zentrale Stellung des Liturgen im Gottesdienst ein ganz merkwürdiges Autoritätsempfinden erzeugt. Dogmatisch wird diese hervorgehobene Stellung des Pfarrers auch noch mit der Ordination begründet.

Alle sind ordiniert

Das wurde langsam aber sicher in der Offleber und Reinsdorfer Gottesdienstgemeinde anders, denn: alle sind ordiniert und in ein Amt angesetzt. Alle sind erwachsene Söhne und Töchter in der Nachfolge von Jesus. Alle haben ihre ernstzunehmenden Glaubenserfahrungen. Mit allen ist Gott schon eine lange Strecke Wegs gegangen. Der Pastor ist allein nicht derjenige, der sagt, wo es geistlich längs geht. Er geht mit. Er kommt dazu. Andere stellen sich ein. Wir sind gemeinsam auf dem Weg wie die Jünger nach Emmaus. Zweimal wird diese Geschichte an unserer Altarwand abgebildet.

Also: weg von der klein und kindlich haltenden Ansprache in Stellvertretung des großen Übervaters. Keine demütigende Predigt an die versammelten Sünder, keine weitere geistliche Entmündigung der versammelten "Kinder Gottes" durch den Hirten und Pfarrer. Sondern: wir als die "in Sachen Gott" fragende, erfahrene, hadernde, suchende, lobende Gemeinde sprechen uns gegenseitig an.

Der Psalm, im Wechsel gesprochen

In langsamen Schritten wurde aus der zum Hören verurteilten eine mitredende und mitbetende Gemeinde. Ich hatte im Sommer 1968 bei der Weltkirchenkonferenz in Uppsala, zu der ich, mit einem Presseausweis versehen, auf eigene Faust gefahren war, zum ersten Mal erlebt, wie ein Psalm laut im Wechsel von der Gemeinde gesprochen wurde. Es war bei einem Gedächtnisgottesdienst für den im April desselben Jahres ermordeten Martin Luther King, der als Prediger des Eröffnungsgottesdienstes der Weltkirchenkonferenz vorgesehen war. Das wurde ein enthusiastischer Gottesdienst, bei dem wir am Ende auf den Bänken standen, typisch für diese wunderbare Weltkirchenkonferenz. Ich kam von den Referaten und Versammlungen ziemlich elektrisiert in die Braunschweiger Niederungen zurück. Einen Psalm im Wechsel sprechen, das mußten wir gleich nachmachen.

Ein Heftchen mit kümmerlich vervielfältigten Psalmentexten bekam die Gemeinde in die Hand. Ganz wenige nur: einen für die Adventszeit und die Passionszeit, einen für die Osterzeit, einen Dankpsalm, einen für den November, der an den Tod erinnerte, den "Bethel-Psalm" "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird...", der in unserer Familie aus der Zeit der Dozentur meines Vaters an der theologischen Hochschule in Bethel/Bielefeld eine gewisse Tradition hatte, und den Psalm 23.

Die Gemeinde machte auf Anhieb mit und das Gloria patri hatte endlich seinen ordentlichen Platz in der Liturgie, nämlich am Ende eines Psalmes. So sah es die kirchliche Tradition vor. Wenn heutzutage immer noch ein Gottesdienst nach dem Eingangslied unvermittelt mit dem stimmlich für einen Sonntagmorgen viel zu hoch intonierten, oft genug mühsam gekrähten "Ehre sei dem Vater und dem Sohn..." beginnt, denke ich mir: "Und wo bleibt der Psalm, der doch dazugehört?"

Das neue Evangelische Gesangbuch bietet nun auch Gelegenheit, einen Psalm zu sprechen. Wir können da nicht ohne Stolz schon auf eine 30jährige Gottesdienstpraxis zurücksehen. Sehr bald wurde unser Heftchen um andere Psalmen erweitert, nämlich um moderne Texte vom früh verstorbenen EZ-Redakteur und Bonhoefferschüler Richard Grunow. Es ist ohne Frage ein Manko des neuen Evangelischen Gesangbuches, daß es neu formulierte Psalmtexte nicht aufgenommen hat.

Der Psalm wurde immer von einem Gemeindemitglied im Wechsel mit der Gemeinde gesprochen. Später wurde das oft ein Part der Konfirmanden.

Inzwischen ist die theologische Diskussion weitergegangen. Bei einem Pröpstekonvent im Herbst 2000 bat die anwesende Rabbinerin, die Christen möchten doch der jüdischen Gemeinde nicht ihre Psalmen wegnehmen. Der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Warum muß der Eingangspsalm mit einer dem Psalm ganz fremden trinitarischen Formel enden und damit auf diese Weise "verchristlicht" werden? Es wäre durchaus vertretbar, jeden Psalm mit einem Halleluja zu beschließen, wie das bisher nach der Epistel üblich war. So habe ich es inzwischen in den "Arbeitshilfen" immer wieder angeboten und auch in Gottesdiensten in Braunschweig praktiziert.

Die Fürbitten

Ganz ähnlich wie mit den Psalmen erging es mir bei dem Fürbittgebet am Ende des Gottesdienstes. Warum betete der Pfarrer allein vorne am Altar. Meist zeigte er dabei der mitbetenden Gemeinde den Rücken. Der zu Gott - wo? - gewendete Priester? Oder der mit der Gemeinde - warum nicht von der Bank aus? - betende Pfarrer?

Gebetsgemeinschaften galten bei uns zu Hause als zu schwülstig, zu gefühlsbetont, inhaltlich als zu ausschweifend, aber mir ist aus den Andachten mit der Diakonissenschwesternschaft, in der ich aufgewachsen war, die etwas inbrünstige Sehnsucht nach freiem, selbstformuliertem Gebet geläufig. Das große Fürbittgebet am Ende des Gottesdienstes ließ keinen Raum für persönliche Einfügungen, die im Stillen bestimmt vorhanden waren. Es gab im Braunschweigischen in diesem Sinne keine Gebetstradition. Mir fielen die Vorschläge für "Fürbitten und Kanongebete der holländischen Kirche", 1968 von Alfred Schilling herausgegeben, in die Hände. Das war der Anstoß, solche Fürbittgebete zu formulieren, die auf das Kirchenjahr und auf besondere Anlässe Rücksicht nahmen.

Und wieder griff die Gemeinde das Angebot unbekümmert auf. Ohne vorherige Absprache sprach die eine diesen Text und ein anderer jenen. Gewiß: die Texte waren alle vorformuliert. Aber das Große Fürbittgebet war nun Bestandteil der Gemeindeliturgie. Der Pfarrer brauchte dazu gar nicht an den Altar zu gehen. Vor allem: es bürgerten sich vier, fünf Fürbittgebete ein, die nun ein fester Bestandteil unseres Gottesdienstes wurden.

So erschien es notwendig, daß wir die Psalmen und Fürbittgebete in einem kleinen gedruckten Heftchen zusammenfaßten. Oberstudienrat Freist aus Schöningen versah es mit freundlichen Federzeichnungen aus der Geschichte unserer beiden Kirchengemeinden. Zu meiner Freude griff OLKR Becker die Anregung auf und verschickte auf Kosten des Landeskirchenamtes je ein Heft als Anregung an die Braunschweiger Gemeinden.

Im Laufe der Zeit kamen neue Psalmen hinzu, z.B. für die Weihnachtszeit das Magnifikat, das leider neben den Psalmen im neuen Evangelischen Gesangbuch fehlt. Den Fürbittgebeten wurde ein Dankgebet hinzugefügt, in dem weniger das Elend der Welt fürbittend beschrieben, sondern der Reichtum des Lebens dankend ausgesprochen wurde. Inzwischen gibt es eine vierte, veränderte, mit farbigen Fotos von den Kunstwerken in unseren Kirchen versehene Auflage, die sich auch als Geschenk in den Häusern der mehr gottesdienstfremden Gemeindemitglieder eignet.

Die Lesungen

Ungern habe ich die zwei, heute drei, klassischen Lesungen im Gottesdienst anderen Gemeindemitgliedern überlassen. Daß viel und regelmäßig der biblische Text gelesen werden muß, daß diese Konstante möglicherweise das tragende Gerüst des Gottesdienstes ist, diese Überzeugung habe ich heute noch. Darum hätte ich gerne selber gelesen, und ich freute mich schon Jahr für Jahr auf die Karwoche, die wir von Montag bis Karsamstag durchfeierten, in der ich einen Passionsbericht, meist nach Matthäus, in den täglichen Andachten durchlas. Oder auf den Ostersonntagmorgen, wo ich die Jonanovelle zu Beginn in der abgedunkelten Kirche - statt der vorgesehenen sechs anderen Lesungen der Osternachtliturgie - komplett las, unterbrochen von Kyrierufen der Gemeinde.

Früh habe ich alle Lesungen abgegeben und habe mich Sonntag für Sonntag an dem jeweils anderen Tonfall des Lektors oder der Lektorin oder an einer ausgefallenen Betonung gefreut, die dann urplötzlich auf einen anderen Sinn der Lesung hinwiesen. Ganz besonders auffällig war dies, als Salu, ein asylsuchender Afrikaner, der zeitweise im Pfarrhaus wohnte und dann eine ehemalige Konfirmandin geheiratet hat, das Weihnachtsevangelium las. Ein Urerlebnis.

Es ist nicht schlankweg vorauszusetzen, daß in unseren Dorfgemeinden die Gottesdienstbesucher lesewillig und von vorneherein lesefähig sind. Aber in Reinsdorf ergab es sich aus der ungezwungenen Tischsituation, in der wir den Gottesdienst feierten, wie von selbst, daß jede der fünf Leutchen einen Text las: einen Psalm und dann auch eine der Lesungen. Es ist ja für die meisten der einzige Ort, an dem sie überhaupt die Bibel aufschlagen und einen biblischen Text lesen.

Das eigene Lektionar

Das Lesen durch die Gemeindemitglieder machte mir dann sehr bald deutlich, wie fragwürdig die Textauswahl der sonntäglichen Lesungen war: viel zu schwere Episteltexte vom Apostel Paulus, gewiß gewichtige und inhaltsreiche, aber beim erstmaligen Lesen völlig unverständliche. Andere wichtige Texte fehlten, wie z. B. der verlorene Sohn. Anschauliche Geschichten aus dem Alten Testament und aus der Apostelgeschichte kamen nicht vor.

Wir bastelten also an einer eigenen Leseordnung, benutzten als Grundmuster den Revisionsentwurf der VELKD vom 1972 und fügten vor allem anschauliche Geschichten hinzu: die Geschichte von der Taufe des Kämmerers aus Äthiopien aus dem 8. Kapitel der Apostelgeschichte am klassischen Taufsonntag, dem 6. Sonntag nach Trinitatis; die Geschichte vom Verlorenen Sohn, Lukas 15, am 3. Sonntag nach Trinitatis; die Geschichte, wie David auf der Harfe den schwermütigen Saul beruhigt aus 1. Samuelis 16 am Sonntag Kantate und an demselben Sonntag als Epistel die Geschichte, wie Paulus und Silas im Gefängnis das Lob Gottes anstimmen und die Grundmauern des Gefängnisses damit zum Einsturz bringen, sowie die Auferstehungsgeschichten aus Johannes 21, also die Mahlgeschichten am See, am 2. Sonntag nach Ostern, dem klassischen "Hirtensonntag".

Dabei haben wir uns dann die Freiheit genommen, eine längere Geschichte auch in zwei Teilen der Gemeinde hörbar zu machen und die übliche Einteilung Altes Testament, Epistel, Evangelium aufzugeben. Erheblich war die Veränderung am letzten Sonntag im Kirchenjahr, an dem die Geschichte von den klugen und törichten Jungfrauen gelesen werden soll, eine sehr schwierige Lesung, besonders für diesen im Volkskirchenbewußtsein als Totensonntag gestalteten Gottesdienst. Wegen des Lichtmotivs, das auch in einigen Adventsliedern vorkommt ("Macht eure Lampen fertig und seid stets sein gewärtig, er ist schon auf der Bahn", EG 9, Strophe 6) wurde die Geschichte aus Matthäus 25 auf den 2. Adventssonntag verlegt. Zum ruhigen Silvesterabendgottesdienst, bei dem die Zeit angehalten wird, wurde die Schaffung der Zeit aus der Schöpfungsgeschichte, dem ersten Kapitel des 1. Mosesbuches verlesen.

Es waren also schon gravierende Eingriffe in die Leseordnung des Gottesdienstes. Das wurde alles gedruckt, und es entstand ein örtliches Lektionar, in dem die Hauptmasse der empfohlenen Texte natürlich beibehalten, aber doch deutliche Veränderungen eingebracht wurden.

Ich schickte ein Exemplar an das Landeskirchenamt in der Hoffnung, daß auch dieser Textentwurf an die Gemeinden zur Anregung weitergeleitet wurde, aber dieses Mal hielt sich das Amt zurück. Immerhin: es monierte auch nicht unsere Veränderungen an den gottesdienstlichen Lesungen, was ich keineswegs als selbstverständlich empfand. Wir waren bei den Reformen an einem ganz zentralen Punkt der Kirche angelangt, und die damalige Kirchenleitung ließ uns gewähren. Sie führte allerdings auch kein Gespräch mit dem Kirchenvorstand. Immerhin hatte nun die Gottesdienstgemeinde ein Lektionar auch in der Hand, rot eingebunden, großer Druck. Kurze Lesungen, wie z.B. am 19. Sonntag nach Trinitatis Jesus Sirach: "Nun danket alle Gott", konnten wir mit der Gemeinde sogar gemeinsam lesen.

Da beide Hefte, die Gottesdienstordnung in grün und das Lektionar in rot auch im Konfirmandenunterricht regelmäßig Verwendung fanden, wurden auch die jungen Leute langsam an die Lesung der biblischen Texte herangeführt.

Chorisches Lesen der Konfirmanden

Am meisten Spaß machte uns dabei das chorische Lesen, wobei wir den Text zerhackten und die Silben zerdehnten und dabei wieder Entdeckungen machten.

1. Beispiel: Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr: Römer 14:

Leben wir soooooooo
leben wir dem
Herrn.
Sterben wir soooooooo
sterben wir dem
Herrn.
Darum wir leben oder sterben soooooooo
sind wir des
Herrn. Denn:
dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß
er über Tote und Lebende
Herr sei.

Der Text entwickelt auf diese Weise eine monumentale Archaität. Er wird verlangsamt. Die Texte werden in der Regel viel zu schnell gelesen. Er bekommt eine neue Musikalität durch bewußte Hebungen und Senkungen verknappter Abschnitte.

2. Beispiel: 2. Sonntag nach Trinitatis: Jesaja 55

Wohlan alle die ihr durstig seid
kommt heeeer
zum Wasser und die ihr kein
Geld habt
kommt heeeer
kauft und eßt.
Kommt heeeer
und kauft ohne Geld
und
umsonst
Wein und Milch.
Warum zählt ihr
Geld daaaar für das, was kein
Brot ist und sauren Verdienst für das
was
nicht satt macht.
Hört doch auf
mich so werdet ihr Guuuutes essen und euch am Köstlichen laben.
Neigt eure Ohren
heeeer und kommt
heeeer zu mir.
Höret soooo
werdet ihr
leben.

Fünfmal kommt das Wort "her" in verschiedenen Verbindungen vor: her zu mir, her zum Wasser, kommt her, neigt her. Das macht das marktschreierische Motiv, das der Lesung zugrunde liegt, besonders hörbar: der Prophet bietet in der Rolle des Marktschreiers sein Produkt als köstliche Gaben Gottes zum Nulltarif an.

Im Rückblick erscheint es mir, als ob wir die Texte aus einer liturgischen Sterilität gelüftet und bewegt haben, wie man nach zu langem Gebrauch das Plumeau schüttelt und an die Sonne hängt und frische Luft ranläßt. Geschüttelte Texte - das hat was.

Die Idee dazu hatte ich aus den Theaterinszenierungen von Eilmar Schleef. Ich hatte seinen "Puntila" von Bert Brecht im Berliner Brecht-Ensemble am Schiffbauerdamm gesehen und war begeistert, daß er eine Einzelperson, den Puntila, teilweise chorisch besetzt hatte. Auch seine Salome-Aufführung in Düsseldorf hatte viele chorisch gesprochene Passagen.

In der Lutherischen Liturgischen Konferenz - die Perikopenrevision

Aus diesem neuen Umgang mit den sonntäglichen Texten ergab sich eine der schönsten gemeinsamen Arbeiten in meinem Pfarrerdasein. Ich war früh von Gertrud Böttger-Bolte, als diese zwar Pastorin war, aber noch nicht in einer Gemeinde Dienst tat, zu einer Tagung der Liturgischen Konferenz Niedersachsens nach Verden in das Jugendfreizeitzentrum "Sachsenhain" mitgeschleppt worden. Da traf ich auf einen Kreis liturgisch interessierter und vor allem versierter Kolleginnen und Kollegen, die wie ich - wie wir damals sagten: im "Spielraum der Agende I" - an den liturgischen Texten weiterarbeiten wollten. Wir veränderten das Eingangsgebet und die damals so genannten Kollektengebete, heute "Gebet des Tages". Es gab also Freiheit und Mitarbeit an den Texten des sonntäglichen Gottesdienstes, und eben auch an den Lesungen.

Dazu sammelte sich ab Juni 1991 ein interessierter Kreis der Lutherischen Konferenz Niedersachsens in der Arbeitsstelle Gottesdienst in Hannover, dem u.a. Prof. Stalmann, Pfarrer Reich, Superintendent Frerich, Kirchenmusikdirektor Wiese und ich angehörten, die sich Verbesserungen am Lektionar vornahmen. Das war verwegen, denn ein neues Perikopenbuch war 1985 erschienen und im Gebrauch der Gemeinden. Ich konnte alle Veränderungen in Offleben nun einem Fachkreis vorstellen und für Veränderungen auf höherer Ebene werben.

Alle Gesichtspunkte "Lesbarkeit, Verständlichkeit, altkirchliche Traditionen, frauenfreundliche und keinesfalls judenfeindliche Texte, klassische Texte" und was der Rücksichtnahmen mehr noch waren, wurden hin und her erwogen und am Ende doch einem schnöden Abstimmungsverfahren unterworfen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: die Liturgische Konferenz Niedersachsens brachte eine handfeste Vorlage zu Papier, die nun auf dem nächst höheren Tisch, nämlich bei der Lutherischen Liturgischen Konferenz landete.

Da brüteten wir von ganz unterschiedlicher theologischer und kirchenpolitischer Herkunft: Superintendent Lührs von rechts, ich vom anderen politischen Ufer, Pfarrer Kornemann aus dem uniert verdächtigten Berlin, der sanfte und vermittelnde Pfarrer Brinkel, der die Traditionen des DDR-Kirchenbundes einbrachte, Pfarrer Reich als progressiver Gemeindepfarrer und wegen seiner Kompetenz in Hannover hauptamtlich Angestellter, Kirchenmusikdirektor Wiese aus Celle als einer von den Anfängen an Beteiligter. Wir trafen uns gut eineinhalb Jahre lang in Hannover-Herrenhausen, um eine Auswahl der Texte und eine Neuordnung des Kirchenjahres vorzuschlagen, wobei die lange Trinitatiszeit in eine Johannis- und eine Michaeliszeit gegliedert sein sollte. Das Ergebnis wurde zu einer vorläufigen Vorlage gedruckt und an die Gemeinden verschickt.

Es fand bisher nicht die Billigung aller Kirchenleitungen. Immerhin erhielten wir im Braunschweigischen die beiden Hefte, anders als in Hannover, zugeschickt. Damit war das Eis gebrochen, jetzt aus den Texten auch auswählen zu können. Einige dieser Vorschläge waren seit längerem bereits im Offleben und Reinsdorf erprobt gewesen. Es wäre wünschenswert, daß die beiden DIN A4-Hefte mit den Vorschlägen für neue Perikopen und Wochensprüche in den Amtskonferenzen mehr beachtet und vor allem die Vorschläge für die Neugestaltung des Kirchenjahres diskutiert würden.

Seit dem Kirchenjahr 1987/88 erscheinen, von der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik in Hannover herausgegeben, als "Arbeitshilfe für den Gottesdienst" Entwürfe für jeden Sonn- und Feiertag für den Schreibtisch von Pfarrerinnen, Pfarrern, Lektorinnen und Lektoren. Als die Liturgische Konferenz Niedersachsens ihre Jahrestagung 1988 in Helmstedt abhielt und das Projekt vorstellte, meldete ich mich als Mitarbeiter und bin es nun seit dem zweiten Jahrgang bis heute geblieben. Es ist für mich einer der schönsten theologischen Arbeitskreise. Wir machen das, was wir früher in den Amtskonferenzen taten: wir schlagen uns um das Verständnis von Bibeltex-ten, wir basteln am Aufbau des Gottesdienstes, wir fragen nach dem Gesicht des Sonntags, wir experimentieren. Die Kritik ist heftig. Nicht nur einmal bin ich mit meinem mühsam erarbeiteten Gottesdienstentwurf wieder nach Hause getrottet. Aber in Hannover ließ man es sich gerne sagen. Prof. Dr. Joachim Stalmann und Pfarrer Werner Reich gehören zum Urgestein. Andere sind nach längerer Arbeit ausgeschert wie Superintendent Frerich. Neu zugestoßen in unseren Kreis ist aus dem Braunschweigischen Frau Pfarrerin Astrid Berger-Kapp aus Astfeld.

Die Predigt

Lange Predigten - ausgepredigt

Landläufig wird immer noch zwischen Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst unterschieden. Ich hätte gerne in jedem Gottesdienst Abendmahl gefeiert und war glücklich, wenn sich - wie Gründonnerstag, Karfreitag, Ostersonntag oder am Ende des Kirchenjahres (Bußtag, Totensonntag, 1. Advent) - die Abendmahlsgottesdienste häuften. Nach Luther ist die Predigt das unsichtbare Wort und das Abendmahl das sichtbare Wort Gottes. Beides gehört zusammen.

Aber ich war in einer Tradition aufgewachsen, in der die Predigt die Mitte des Gottesdienstes zu sein hatte. Das bedeutete, sie sollte zeitlich das Hauptstück sein, nicht unter 20 Minuten dauern und hatte auch den Hauptteil der Vorbereitung auf den Gottesdienst in Anspruch zu nehmen. Alles andere wie Gebete und Lesungen lagen ja bereits gedruckt vor und brauchten nur abgelesen zu werden. So sind also meine Predigten der ersten Jahre sehr lang ausgefallen.

Es gab dabei Zeiten, in denen ich mir "ausgepredigt" vorkam und mich genierte, die Predigt ganz ausfallen zu lassen. Da erklärte mir eines Tages der Esbecker Pfarrer Harry Köhler, die Predigt sei Bestandteil der Liturgie und die Liturgie Bestandteil der Predigt. Das bedeutete für mich: schon eine gut vorbereitete Liturgie hat predigenden Charakter und entlastet die Predigt, und umgekehrt konnte eine Predigt weniger belehrenden, auslegenden Charakter, sondern mehr hymnische, lobpreisende Art haben. Auch die Liturgie bedurfte also einer entsprechenden Vorbereitung wie die Predigt.

Immer kürzer und auswendig

Ich predigte mit der Zeit immer kürzer, an bestimmten Tagen, z.B. Karfreitag, habe ich gelegentlich nur die Leidensgeschichte nach Matthäus in fünf Abschnitten vorgelesen, unterbrochen von dem Lied "O Haupt voll Blut und Wunden". Ich verzichtete auf die Predigt. Das war ein Experiment. Meistens hielt ich dann doch eine kurze Auslegung.

Angefangen habe ich mit strenger Textauslegung, dem eine gründliche Erarbeitung des biblischen Textes (Exegese) zugrunde lag. Ich hatte von Manfred Seitz gelernt, daß man eine Predigt aufschreibt und auswendig lernt, sie jedenfalls so parat hat, daß man der Gemeinde beim Predigen in die Augen sehen kann. Er war Leiter des Studienhauses in Erlangen, in dem ich während meines Studiums wohnte, später wurde er Professor für Praktische Theologie auf dem Lehrstuhl von Prof. Steinwand. Das heutige weit verbreitete Ablesen finde ich lieblos und faul. Ich habe also in der Regel die Predigten aufgeschrieben und sogar aufbewahrt, allerdings nie eine alte benutzt.

Die Texte hören nicht auf zu reden

Ich habe mich im Laufe meines Predigens darüber gewundert, wie ein biblischer Text immer neue Seiten entfaltet, ein so viel bepredigter Text wie die Weihnachtsgeschichte nach Lukas hat sich mir z.B. immer wieder von einer neuen Seite gezeigt. Das hing natürlich auch mit den wechselnden Zeitläufen zusammen. Wenn man das Wort nicht als ewige Wahrheit rezitiert, sondern wirklich in die gegenwärtige Zeit mit ihren Besonderheit auslegt, ist es nicht verwunderlich, wenn immer wieder andere Stellen in ein und demselben Text wichtig werden. Ich habe mich allerdings nicht immer und später immer öfter nicht an den empfohlenen Predigttext gehalten, sondern jeweils über das, was mir gerade wichtig erschien und mich innerlich beschäftigte, gepredigt. Es waren also nicht Textpredigten, sondern die viel verschmähten Themenpredigten.

Ungeliebte Themenpredigten

Ende der 60iger und in den 70iger Jahren wuchsen sich diese Themenpredigten zu sogenannten Informationsgottesdiensten aus. Da gab es in Gesellschaft und Politik reichhaltig Themen, die vom Evangelium her beleuchtet werden mußten, so dachte ich. Diese Informationsgottesdienst hatten damals ohne Frage politischen Inhalt - nicht parteipolitischen, sondern gesellschaftspolitischen - wie z.B. der Hunger in der Welt, Krieg und Frieden, die Aktion Sühnezeichen. Diese Infogottesdienste stießen nicht immer auf Gegenliebe, im Gegenteil: in Kirchenvorstandsitzungen wurden sie scharf kritisiert. Ich sollte mich doch einschränken.

Die Zeiten änderten sich und ich kehrte zur strengen Textauslegung zurück: vom Text ausgehend in die Zeit predigen. Dabei war es mir am liebsten, wenn ich nicht den Finger in bestimmte, offene Wunden der Zeit legen mußte, sondern sich die Aktualisierung bereits durch die Auslegung des Textes selber andeutete. Es war dann allerdings wiederum die treue Predigthörergemeinde, die mir sagte, das sei dieses Mal "zu trocken" oder gar "zu biblisch" gewesen. Ich tröstete mich dann mit der Einsicht, daß nur einer an jedem Sonntag vollständig zufrieden sein konnte: entweder die Gemeinde mehr und ich weniger oder ich mehr und dann die Gemeinde weniger. So wechselten wir dann wohl immer mal wieder ab.

Ob Text- oder Themenpredigt, - das "Gesicht des Sonntags", das sich oft aus dem Sonntagsevangelium ergab, war mir wichtig. Das habe ich der Gemeinde vermitteln wollen. Längere Zeit versuchte ich dies durch verbindende Worte zwischen den Lesungen zu verdeutlichen, was von manchen wiederum als "zu pädagogisch" abgelehnt wurde.

Ich predigte immer kürzer. Ich vermute, daß sich auch die Hörbereitschaft im Laufe der immer visueller werdenden Zeit erheblich verkürzt hat. So ist mir heute die Predigt weniger eine auszubreitende und erläuternde, abgerundete Rede, sondern mehr ein Impuls. Eine Anregung aus der Bibel. Nicht viele, in drei Teile gegliederte Gedanken, sondern ein zugespitzter Gedanke. Predigt nicht als Rede, sondern als ein Impuls, wobei der Charakter der Auslegung nicht verlorenzugehen braucht.

Wovon ich nicht absehen kann

Ich kann in meiner Gemeindearbeit und auch bei der Predigt hinter drei Dinge nicht zurück: Nicht hinter die Erkenntnisse der Aufklärung, nicht hinter Jesus, nicht hinter mich selber. Die Predigt ist in diesem Sinne festgelegt.

Weil ich nicht hinter die Erkenntnisse der Aufklärung zurückfallen kann, bleiben mir Einsichten der Fundamentaltheologen wie Lieberg, Diestelmann, Büscher, Grefe verborgen. Neuerdings auch die der charismatischen Theologen, dazu zählen wohl: Capelle, Dose, Brettin, Golze - die sich allerdings im Gegensatz zu den Brüdernleuten theologisch nie festgelegt haben und deren Verhältnis zur historisch kritischen Forschung vorsichtig ausgedrückt, unausgesprochen, wenn nicht ungeklärt ist. Ich habe ungeniert versucht, der Gemeinde die Erkenntnisse der kritischen Forschung nahezubringen. Eine gewisse Banalität des Glaubens ist mir noch sehr viel abstoßender als manche Banalität eines ordinären Atheismus.

Es gab und gibt Zeiten, wo mir der Atheismus durchaus sympathisch ist und die von ihm reden ebenfalls. Wenn da nicht die Gestalt Jesu wäre. Der Jude Jesus verkörperte für mich die unentwegte Frage nach Gott. Mit Jesus war sonntäglich für mich die Gottesfrage die entscheidende Frage. Wenn ich bei dem Nachdenken über dem Text stockte und nicht weiter wußte, half ich mir mit der Frage: "Was sagt dieser Text über Gott?" Meist geriet ich dann in die Mitte des Textes.

Weil ich nicht von der Person Jesu absehen kann, bleibt mir z.B. eine derart geprägte Zeit wie zwischen Advent und Pfingsten ohne die Gestalt Jesu ungewohnt und fremd. Ich weiß, daß für die meisten Menschen in Deutschland Weihnachten, Karfreitag und Ostern ohne jeden Bezug zu Jesus ablaufen. Mir ist das im Grunde unvorstellbar. So macht mich die Bibel fremd auch in meiner Umgebung. Übrigens auch in der dörflichen Umgebung. Die Person Jesu in ganz verschiedenen, wechselnden Gestalten als die unterschiedlichen Fragestellungen nach Gott blieb mir ein Begleiter und auch ein Zielpunkt. Möglicherweise auch, wenn wir zunehmend in die Stille gehen, nur noch gestört von dem Getriebe der Umstände des Sterbens.

Ich kann schließlich nicht von meinen Prägungen und hinter mich gebrachten biographischen Linien absehen. Jede Predigt ist ja gewollt oder besser: ungewollt auch ein persönliches Glaubenszeugnis des Predigers, der Predigerin. Ich fühlte mich sehr privilegiert dadurch, daß ich alle meine Kümmernisse und Freuden beim Predigtmachen durch das Sieb des Predigttextes kippen konnte, wo dann vieles hängen blieb, was mich beschwerte. Andererseits empfand ich es teils wegen der Authentizität wichtig, andrerseits für die hörenden Gemeinden auch einseitig und einengend, wenn Sonntag für Sonntag in der Regel eben Kuessner predigte. Immer dieselbe Prägung, immer dieselbe Biographie. Gewiß im Fluß und im Wechsel und auch in den Widersprüchen eigener Entdeckungen und Anfechtungen bei der Begegnung mit den biblischen Texten. Insofern frisch und "all Morgen neu".

Ich habe keine Predigt im Laufe der 35 Jahre wiederholt. Aber: ich kann nicht von mir absehen. Und will es auch nicht. Da gibt es denn viel Anlaß zum Dank, wenn die Gemeinde einen mit diesen Einschränkungen so annimmt, wie das die Offleber und die Reinsdorfer Gemeinde mir bis zum Schluß zu erkennen gegeben hat. Daß ich dabei auch mit einer kräftigen Opposition rechnen mußte, mit solchen, denen ich persönlich und theologisch nicht recht war und die von mir wünschten, ich möge doch besser die Gemeinde verlassen, empfand ich eher als klärend und ehrlicher, als mich als ein allseits und von allen geliebter Pastor darzustellen.

Mit und ohne Orgel

Zu jeder Gemeinde gehören eine Küsterin/ein Küster und eine Organistin/ein Organist und zusammen mit dem Pastor/der Pastorin bilden sie die drei Stützen für den Gottesdienst. So hatte ich es in Offleben und Reinsdorf vorgefunden. In beiden Gemeinde "orgelte" Jutta Herrmann aus Schöningen. Wir trennten uns bald, weil musikalisch interessierte und begabte jüngere Schülerinnen und Schüler vom Schöninger Gymnasium in Offleben und Reinsdorf in die Kirchenmusik einsteigen wollten. Es wurde für unsere Gemeinden eine jeweils absehbar kurze Zeit. Es waren Jugendliche in den Klassen 9 oder 10, die noch drei oder vier Jahre bis zum Abitur brauchten und dann unsere Gegend zum Studium verließen.

In beiden Kirchen befand sich jeweils eine romantische, nicht sonderlich gepflegte Orgel. Früher mußten die Konfirmanden oder die Küsterin die Blasebälge treten. Die Jüngeren machten sich einen Jux und ließen den Kantoren zu unpassender Zeit die Luft ab. Auch blieben die Kantoren wohl nicht immer zur Predigt, sondern verabschiedeten sich zeitweise vom Instrument mit der Bemerkung, sie wüßten schon, was gepredigt würde, nämlich "Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle" und verbrachten die 20 Minuten mit einer Raucherpause draußen vor der Kirchentür.

Die Organisten

Zur Zeit von Pastor Reiche spielte Fräulein Krusekopf die Orgel. Herr Chmilewski, der Lektor, erzählte, daß er auch noch später mit ihr den Weg nach Reinsdorf zum Gottesdienst gemeinsam zu Fuß zurücklegte. Zur Zeit von Pastor Müller half Frau Müller an der Orgel aus.

Die jungen Organisten waren ohne Frage eine Belebung für die gottesdienstliche Musik. Mir lag viel daran, daß zwischen Orgelbank und Predigtstuhl nicht nur ein harmonischer sondern auch theologischer, verständiger Dialog zustande kam.

Michael Stude

Von 1967 bis 1969 spielte bei uns Michael Stude, ein Büddenstedter, der im Posaunenchor der dortigen Gemeinde unter der Leitung des verdienstvollen Küsters Schiernagel in die Kirchenmusik hineingekommen war. Büddenstedt hatte den Organisten Scholtyssek. Nun fing Michael bei uns an, spielte sich rasch ein und brachte auch gelegentlich den Büddenstedter Posaunenchor nach Offleben. Da ich mit Pfarrer Haferburg einen regelmäßigen, ausgesprochen guten Kontakt pflegte, festigte sich durch die Mitwirkung von Michael Stude auch die Nachbarschaft zu Büddenstedt. Er wurde später Lehrer in der Holzminder Gegend, wo wir uns bei der Erforschung der nationalsozialistischen Zeit wieder begegneten.

Hans Peter Mnich

Sein Nachfolger wurde von 1969 bis 1973 Hans Peter Mnich. Hans Peter brachte eine vorbildliche liturgische Haltung mit, blätterte während des Gebetes nicht in Choralvorspielen, sondern stellte sich vor die Orgelbank und machte geistlich mit. Was wunder: er war katholisch. Also: eine weitere Bereicherung. Hans Peter war nicht nur ein hochbegabter Schüler, sondern auch ein exquisites musikalisches Talent, der anspruchsvolle Literatur als "Vorspiel" und "Nachspiel" musizierte und außerordentlich geistvoll improvisieren konnte. Während seiner Zeit wurde die alte Orgel von 1849 in Offleben abgerissen und als neues Instrument die Hausorgel des Landeskirchenmusikdirektors Karl Heinrich Büchsel, die im Landeskirchenamt aufgestellt war, aufgebaut. Wir hatten sie "geliehen" und bis heute nicht bezahlt.

Es war mir schön, daß ich mit Hans Peter Mnich auch in theologische Fragenbereiche hineinkam und so entstand ein freundschaftliches Band, das bis heute anhält. Mit seinem Bruder Bernward, einem begabten Flötisten, der katholischer Priester wurde und dessen Priesterweihe in einer der barocken Marienkirchen und dessen erste Messe in einem strengen katakombenähnlichen Gottesdienstraum ich in Rom miterlebte, spielte er wiederholt am eigenen Cembalo in unserer Kirche barocke Kammermusik.

Nach fast fünfjähriger gemeinsamer Arbeit verabschiedete ihn der Kirchenvorstand mit einem Gemeindeabend. Hans Peter studierte Medizin, wurde Werksarzt bei Mercedes, blieb der Musik treu, zeugte ebenso musikalische Kinder und gab eine Probe seiner anhaltenden Musikalität und Verbundenheit zur großen Freude der Gemeinde im Oktober 1998 in der Offleber Kirche. Mit seiner Familie blieb ich weiterhin bekannt, denn seine Mutter spielte in der Regel bei den Beerdigungen das Harmonium und dann pflegten wir uns vor Beginn auszutauschen und auf dem Laufenden zu halten.

Gerlinde Voigt

Ebenso lange blieb seine Nachfolgerin Gerlinde Voigt, von 1973 bis 1977, Tochter eines Kirchenvorstehers in der Schöninger St. Vincenzkirche, die rasch in die Besonderheiten unseres Offleber und Reinsdorfer Gottesdienstes hineinwuchs. Gerlinde fand Kontakt zu den anderen kirchlichen Mitarbeitern in der Gemeinde, kam auch zu zwei Kirchentagen mit und gehörte so bald zum festen Stammteil der Mitarbeiterschaft.

Zu ihrer Zeit experimentierten wir mit einem Schlagzeug, das der vorzüglich begabte Gunnar Hille bediente. Gunnar Hille aus Büddenstedt gehörte zum engeren, politisch engagierten Bekanntenkreis der Gemeinde. Er machte auch mal eine Konfirmandenfreizeit nach Berlin mit. Er hat später Slawistik studiert und arbeitet heute als Vortragender Legationsrat im Berliner Außenministerium. Die alten Choräle, eisern rhythmisch gespielt, unterlegt mit Jazzbesen und Schlagzeug wirkten auf den Gesang außerordentlich stabilisierend. Auch aus dieser kirchlichen Arbeit ist eine bis heute anhaltende herzliche Bekanntschaft entstanden.

Am 9. Oktober 1977 verabschiedete der Kirchenvorstand Gerlinde Voigt mit einem Gemeindenachmittag und sie schrieb für den Gemeindebrief einen kleinen Abschiedsbrief:

Im Frühjahr vor 4 Jahren, 1973, übernahm ich das Organistenamt an den Kirchen in Offleben und Reinsdorf. In der ersten Zeit teilte mir Pastor Kuessner die Lieder für den Gottesdienst sogar vor Sonntag morgen mit. Das änderte sich natürlich bald. Die Gottesdienste haben mir eigentlich immer Spaß gemacht. Es war dank Pastor Kuessners Ideenreichtum selten langweilig. Neue Gottesdienstformen wurden ausprobiert. In Offleben fanden die Gottesdienste eine Zeitlang im Gemeindesaal statt. Ich mußte auch viele neue Lieder lernen, Neuerwerbungen vom Kirchentag, die mir, seit ich selber an einem teilgenommen habe, viel mehr Spaß machen. Mit den Küsterinnen habe ich mich immer gut verstanden. Ebenfalls mit den Kirchenvorständen. Das zeigte sich auch auf dem Berliner Kirchentag, der mir sehr gut gefallen hat. Ab Oktober werde ich nun studieren und muß deshalb die Orgelstelle aufgeben.

Gerlinde half weiterhin in den Semesterferien und auch zur Weihnachtszeit aus, sie studierte Medizin, wurde Frauenärztin in Braunschweig, verliebte sich in einen jungen Arzt und beide heirateten in der Offleber Kirche, damals dann schon im Kreis um Blumenstrauß und Kerzenständer sitzend, für das angereiste Braunschweiger Bürgertum etwas Neues.

Es folgte eine längere orgellose Zeit. Die Gemeinde gewöhnte sich daran, tiefer, etwas schneller und jeweils alle Verse zu singen. Immerhin wurde für die Reinsdorfer Kirche, besonders für Beerdigungen, 1982 vom Kirchenvorstand eine kleine Orgel ohne Fußpedale angeschafft.

Ines Lütge

Von 1990 bis 1994 begleitete Ines Lütge, Lehrertochter aus Schöningen, unseren Gesang,. Sie hatte es anfangs nicht leicht, weil sie sich an unsere tiefer gewordene Stimmlage gewöhnen und alle Choräle etwa eine Terz heruntersetzen mußte. In ihrer stillen, beharrlichen Art wurde sie eine zuverlässige, angenehme Mitarbeiterin, begleitete die Taizé-Gesänge zu Beginn und während des Gottesdienstes im Kanon und war für den Gemeindegesang darin eine große Stütze. 1993 machte sie Abitur, spielte noch ein Jahr länger und begann dann ein Musikstudium.

In den letzten Jahren gewöhnte sich die Gemeinde an den Gesang ohne Orgelbegleitung, sogar zu Weihnachten und bei Hochzeiten. Wir summten oder trällerten (dimdim, dadada) jeweils eine Strophe vorweg, um uns auf die Stimmlage und das Tempo zu einigen. Das gefiel den meisten so gut, daß wir schließlich die Unterstützung durch die Orgel kaum noch vermißten. So vermieden wir das alte Leiden der Orgelbegleitung, die meist viel zu laut ist. Eine Orgel atmet nicht wie die singende Gemeinde, sondern der Organist drückt die Tasten und zählt den Takt. Das ist wenig sangesgemäß. Ohne Orgel hört das Gemeindemitglied den Nachbarn/die Nachbarin in der Kirchenbank atmen, was für das gemeinsame Singen besonders wichtig ist. Wir sangen daher auch mehr und mehr zu anderen Anlässen: vor und nach Kirchenvorstandssitzungen, auch vor und nach einem gemeinsamen Frühstück oder wenn wir gemütlich zusammensaßen.

Musikalische Unterstützung

Wir freuten uns aber riesig, wenn wir musikalische Unterstützung bekamen. So quartierte sich der Chor der Evangelischen Studentengemeinde in Braunschweig auf dem Boden und in den Räumen des Pfarrhauses zu Musikfreizeiten am Wochenende ein, bot Abendmusiken und musizierte mehrstimmig und auf mitgebrachten Instrumenten im Gottesdienst. Die letzten Jahre leitete der Pfarrersohn aus Wolsdorf, Christian Werner, mit viel Schwung und Begeisterung den Chor und riß mir mit seinem Chor einige Konfirmationen aus dem Feuer. Denn Konfirmation ohne Orgel galt doch als kümmerlich.

Ein anderes Mal sang der Vivat-Chor aus Petersburg, der abends ein Konzert gegeben hatte, am Sonntagvormittag auf russisch einen Psalm, das Credo, zum Abendmahl das Vaterunser, also ein deutsch-russischer Gottesdienst, bei dem mir in Erinnerung an die Gottesdienste in Moskau in den 60iger Jahren die Tränen kamen.

Ein besonders empfindliches Gelände ist das Abendmahl.

Veränderte Sitten

Die Abendmahlssitten haben sich gewandelt. Ich sehe zum Bußtag 1964 noch den Amtsrat Benno Brandes zum Gottesdienst mit Zylinder und schwarzem Gehrock die Kirchgasse hochkommen. Abendmahl in schwarz war selbstverständlich. Die Sündenvergebung stand im Vordergrund. Daher wollte man es auch nicht zu oft haben. Als Pfarrer Milch in Schliestedt das Abendmahl häufiger anbieten wollte, fragten ihn die Landwirte um Schöppenstedt: "Herr Pastor, sind wir so schlecht, daß wir das Abendmahl öfters feiern müssen?" In Offleben knicksten die Frauen vor dem Empfang von Brot und Wein nach altbraunschweiger Kirchensitte und die Männer machten eine Verbeugung. Die Oblate empfingen die Kommunikanten mit geöffnetem Mund.

In den Handflächen hielten sie fest gedrückt ein Geldstück, denn nach dem Empfang ging es durch die linke Tür in der Altarwand, die heute geschlossen ist, vorbei an einem Geldkasten und von dort durch die rechte Tür wieder in den Kirchenraum. Das nannte man einen Altarumgang. Er war auch bei Hochzeiten üblich. Es kam auch vor, daß manche durch die Tür an der Ostseite den Weg ins Freie nahmen. Als an einem Erntedankfest der Gotteskasten hinflog und die Groschen über die Erde kullerten, wurde dieser Altarumgang abgeschafft. Ich fand den Gedanken entsetzlich, daß die Gemeindemitglieder mit Geld zum Abendmahl kamen. Als sich die Handkommunion einbürgerte und ich einer Frau die Oblate in die Hand geben wollte, öffnete sie die Handfläche, hatte aber die Hand nicht frei. Da lag das Geldstück.

Die Sündenvergebung ist heute nicht mehr der tragende Gedanke des Abendmahlsgottesdienstes, sondern die Gemeinschaft und die Erinnerung an den Tod und das Leben von Jesus. Daher haben sich die äußerlichen Sitten gelockert. Die Konfirmanden tragen Turnschuhe, man trägt festlich Buntes durcheinander. Ganz wenige tragen zur Feier des Tages einen Hut und setzen ihn auch nicht ab. Schwarz ist die Ausnahme.

Von Berneuchen geprägt

In der Zeit bei den berneuchnerisch geprägten Pfadfindern im Schatten der freilutherischen Hamburger Ansgargemeinde von Pfarrer Erwin Schmidt, in dessen Diakonissenmutterhaus Bethlehem wir noch im Februar 1945 mitten im immer noch bombardierten Hamburg als Flüchtlinge untergekrochen waren, und bei dem Sohn des Hamburger Kirchenarchitekten Langmaack wurde in mir die Liebe zur Liturgie geweckt. Gerne sang ich also auch die Abendmahlsworte und das Vaterunser und war beglückt, daß ich in Offleben und Reinsdorf von meinem Vorgänger eine alte Braunschweiger Sitte vorfand, nämlich am Ende der Abendmahlsliturgie das "nunc dimittis", "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren..., denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen..." im Wechsel mit der Gemeinde zu singen. Es ist ein besonders schönes Bekenntnis zur im Abendmahl erlebten Gegenwärtigkeit Jesu. Ärgerlich wurde ich nur und korrigierte das gelegentlich auf der Stelle, wenn besonders sangesfreudige und gläubige Abendmahlsteilnehmer die Wörter verwechselten und sangen: "denn deine Augen haben meinen Heiland gesehen..." Dein Name, dein Reich, dein Wille, so waren sie es gewohnt, so mußten es nun wohl auch deine Augen sein. Nein: meine Augen haben Jesus gesehen, dürfen wir glauben.

Alle sind eingeladen: Kinder und Asylsuchende

Bald bürgerten sich durch die Gottesdienstpraxis einige Veränderungen ein. Wir saßen in Hohnsleben im oberen Stock, wo uns der Landwirt Wietfeld, dessen Frau eine Zeitlang im Reinsdorfer Kirchenvorstand mitmachte, einen Raum für Hausgottesdienste eingeräumt hatte, und feierten einen Abendmahlsgottesdienst am langen Tisch. Der Raum war nicht frontal wie ein Gottesdienstraum umgeräumt worden mit Altar an der Wand und Stühlen davor, sondern wir saßen alle gemütlich an einem Tisch, sangen, beteten und beim Abendmahl fingen die Gottesdienstbesucher an, die Abendmahlsworte mitzusprechen, einfach so. Ich hatte sie nicht gesungen. Als die Patene mit Brot herumging, reichte der alte Napieralla seinem Enkelkind Udo, der neben ihm saß, auch selbstverständlich das Brot zum Essen und den Wein zum Trinken. Und so kam es, daß wir es auch im "Hauptgottesdienst" in den Kirchen so anfingen: alle sprachen die Einsetzungsworte mit, und im Kindergottesdienst teilten die Küsterin Frau Heine und ich Sonntag für Sonntag das Abendmahl den Kindern aus. In der Landeskirche stritten sie sich noch, ob denn Konfirmanden, also die 13jährigen, bereits vor der Konfirmation am Abendmahl teilnehmen dürften. Wir beteiligten bereits die Achtjährigen, die Jüngeren und Älteren daran. Ich hatte es in den orthodoxen Kirchen im Rußland erlebt, wie bereits die Kleinstkinder auf dem Arm das Abendmahl erhielten. Warum also nicht in Offleben?

Alle waren eingeladen: nicht nur die Kinder, auch die Asylsuchenden, ihres Glaubens Hinduisten, auch der aus der Kirche ausgetretene Künstler mit seiner noch ungetauften Tochter, die sich beide einfanden. Der Tisch des Herrn war für alle gedeckt. Es gibt bestimmt einen Paragraphen in der Lebensordnung der VELKD, der es anders vorsieht. "Vor allem für die Glaubensgenossen" wäre es gedacht, allen anderen gereiche es "zum Gericht".

So ähnlich hatte ich es in Offleben vorgefunden. Pfarrer Löhr hatte die Beichte am Sonnabend abend wieder eingeführt, die eine Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl war. Er hatte auch das seit einiger Zeit geschlossene sogenannte Konfitentenbuch geöffnet, in dem die Beichtenden und die zu erwartenden Abendmahlsgäste namentlich eingetragen wurden. Die Küsterin mußte vor dem Abendmahl die Oblaten abzählen, die dann sorgfältig auf der Patene im Kreis angeordnet wurden. Und nur die Würdige, der Würdige durften sich dem Sakrament nahen.

Wer es so halten will, und bei den Anhängern der Brüdernkirche ist es heute noch so, der mag es tun. Schwierig wird es nur, wenn solche Abendmahlsauffassung zur allein gültigen wird und andere als häretisch erklärt werden.

"Ich danke, daß Sie nicht gekommen sind".

Ganz schwierig kann es in unserer Landeskirche werden, wenn die beiden gegensätzlichen Anschauungen sich unvermutet begegnen. Ich ging gerne, wenn ich im Predigerseminar Dienst tat, gelegentlich zur Morgenandacht in die Brüdernkapelle. Dort wurde am Mittwoch die Morgenandacht mit dem Abendmahl verbunden. Ich schwankte, ob ich auch am Abendmahl teilnehmen sollte oder nicht. Ich wäre gerne gegangen, aber ich vermutete, daß ich den amtierenden Pfarrer Jürgen Diestelmann in Verlegenheit bringen würde und blieb also sitzen. Zu Hause angekommen, schrieb ich ihm aber, daß ich es eigentlich komisch fände, daß man in einer Kirche sei, unter einem Dach arbeitete, gemeinsam die Morgenandacht feierte, aber beim Abendmahl gäbe es Beklemmungen. Ich erwartete im Stillen, daß er mir antworten würde, daß ich doch ruhig hätte kommen sollen. Im Gegenteil: er bedankte sich schriftlich, daß ich an diesem Morgen nicht zum Abendmahl gekommen war. Ich besann mich, daß schon Bischof Heintze bald nach seiner Einführung 1965 so etwas wie ein Abendmahlsverbot in Brüdern bekommen hatte. Ich befand mich also in keiner ganz schlechten Gesellschaft.

Eine besondere Rolle hat die Küsterin beim Abendmahl. Sie muß alles herrichten, Wein oder Traubensaft und Oblaten besorgen und wieder abräumen und abwaschen. Wie war sie geistlich einzubinden? Das Gebet zu Beginn des Abendmahls, das sogenannte Präfationsgebet, hatten wir in kürzere Sätze gefaßt. Ich mochte es besonders, weil darin gesagt wird, daß die gottwidrigen Mächte knurren und murren. "Die Mächte fürchten deine Majestät", heißt es etwas undeutlich. Im lateinischen Text ist es deutlicher: "potestates tremunt", also "zittern". Das Abendmahl als die Stelle, in der in einem österlichen Vorgriff die Mächte von Sünde, Tod und Teufel bezwungen sind, und sich deshalb in den Gesang der Gemeinde der Gesang der Engel einmischt. "Mit ihnen laß auch unsre Stimmen sich vereinen..." Ich bat irgendwann unsere Küsterin, Frau Else Heine, das Präfationsgebet zu sprechen und sie machte es auf Anhieb und seither mit schlichter Würde und immer mußten wir leicht schmunzeln, wenn sie beim Wort "Majestät" ein in ihrer Heimat Wenden wohl übliches "Madschestät" hervorbrachte.

"Christe du Lamm Gottes" - ein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit

Noch ein Licht ging mir auf: das "Christe du Lamm Gottes", das mein Vorgänger noch als Anbetungsgebet kniend vor den für ihn nunmehr gewandelten Elementen gesungen hatte, wie es heute noch die zur Brüderngemeinde zugehörigen Pfarrer pflegen, wurde mir zum Symbol des Sieges der Gewaltlosigkeit über die Gewalt in der Welt. Die Lamm-Theologie des Freiherrn von Zinzendorf war mir verschlossen geblieben und wegen ihres vermeintlich süßlichen Charakters verkitscht und verleidet. Seit mir aber das Lamm als Symbol für die Gewaltlosigkeit aufgegangen ist und die in Christus sichtbare Gewaltlosigkeit die "Sünde der Welt trägt" - und eine der schlimmsten ist ja wohl die Gewalt und Gewalttätigkeit in ihren vielen feinen und brutalen Ausformungen - und damit aushält und besiegt, seither stimme ich das "Agnus Dei" besonders frisch und zügig an. Ich kannte es nur in entsetzlich langgezogenen Tönen. Das stimmlich kurz genommene "Chri-ste" erfrischt mir mein Bild von der unbesiegbaren Stärke der Gewaltlosigkeit.

Veränderte Stellung des "Geheimnis des Glaubens"

Seit der Agendenreform der neunziger Jahre, die Anfang des Kirchenjahres 1999 mit der Einführung des Gottesdienstbuches abgeschlossen ist, kann das "Geheimnis des Glaubens, deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit" auch im evangelischen Gottesdienst unmittelbar vor der Austeilung gesungen werden. Diese Stelle legt die römisch-katholische Auffassung nahe, daß der Gläubige unmittelbar vor der Austeilung vor einem besonderen Geheimnis des Glaubens stünde. Das "Geheimnis des Glaubens" an die Stelle vor der Austeilung zu legen, hat den Sinn, im Gottesdienst einen gewissen Höhepunkt zu inszenieren, der nun mit Wandlung und Austeilung erreicht sei. Das halte ich für problematisch. Das ganze Abendmahl ist ein Geheimnis unseres Glaubens, aber auch Singen und Predigen sind ein Geheimnis, nur eben ein anderes. Also haben wir diese kleine, schöne Neuerung im Gottesdienst von seiner vorgesehenen Stelle vor den Einsetzungsworten verlagert an den Anfang des Abendmahlsteils. Auch dies ein Beitrag zur Entsakralisierung des Abendmahls, ohne das "Geheimnis der Glaubens", also sein Mysterium, anzutasten

Lektorinnen gestalten das Abendmahl selbständig

Die Abendmahlsfeier war nun nicht mehr die Alleinveranstaltung des Pfarrers gegenüber der Gemeinde, denn die Küsterin sprach das Präfationsgebet, alle sprachen das Vaterunser und die Einsetzungsworte, es wurde ohne falsche Feierlichkeit von wenigstens zweien, am liebsten von vier Kirchenmitgliedern Brot und Wein oder Traubensaft herumgereicht und so die Gegenwart des Auferstandenen, die ja schon in Lied, Lesung, Gebet und Predigt hörbar geworden war, sichtbar und fühlbar. Meist standen wir dazu um den Altar, der nun ausschließlich als Eßtisch benutzt wurde und nicht mehr als Opferstein. Wer aber, wie in Ostpreußen und Schlesien üblich, knien wollte, konnte dies auch, und wir bezogen die Knieenden in den Kreis der Stehenden mit ein.

Die Ordnung des Abendmahls war derart, daß auch die geübten Lektorinnen der Gemeinde einen solchen Abendmahlsgottesdienst halten konnten, ohne daß der Pfarrer dabei war. Der Offleber Kirchenvorstand faßte eine entsprechenden Beschluß und die feiernde Gemeinde war froh, daß der übliche Abendmahlsgottesdienst nicht ausfiel, wenn der Pfarrer z.B. in Urlaub war. Dieser erfreuliche geistliche Reichtum wurde außerhalb unserer Gemeinde bekrittelt. Man erhob allerlei Einwände. Bei einem Gespräch im Pfarrhaus mit Landesbischof Müller im großen Kreis der kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen jedoch erreichten wir, daß Bischof Müller uns zusagte, daß diese Ordnung, wenn sie nur in Offleben gültig sein sollte, auch so gehandhabt werden könnte.

Dieser Gottesdienst auf vielen Schultern forderte von der Gemeinde auch einen nicht unerheblichen Verzicht. Hantiert und bewegt sich ein Pfarrer vielleicht nicht nur in Schwarz, sondern in Weiß und Stola hin und her, und auf und ab, vor oder hinter dem Altar, dann hat die Gemeinde natürlich etwas zu sehen und die Augen kommen zu ihrem Recht. Ein solches "theatralisches" Element entfällt zu Gunsten einer größeren Kommunikation.

"Störung"

Die Gottesdienstbesucher, denen an einer steifen Ordnung gelegen war, wurden manchmal auch beschämt. Wir waren eine Zeitlang im Kirchenvorstand etwas genervt, weil die Spätgottesdienste zu Weihnachten von Betrunkenen gestört wurden. Wieder lallte bei einem Weihnachtsgottesdienst irgend jemand vom Eingang her während der Austeilung von Brot und Wein störend laut vor sich hin. Ich ging mit Brot und Wein zu ihm hin und sah den alten Benjamin aus Deutsch-Rumänien auf den Knien, in der Hand ein Neues Testament mit fremden Buchstaben. Er las etwas Biblisches laut vor sich her und freute sich über Brot und Wein. Bitte mehr solcher "Störungen"!

Es war der alte Benjamin, ansonsten kein Kirchgänger, der aber das Abendmahl verlangte, als er auf den Tod im Krankenhaus lag. Das war im Braunschweigischen nicht üblich. Ich freute mich, fuhr ins Krankenhaus, packte die Sachen sichtbar vor ihm aus und wollte nun nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sondern erst ein kleines Gespräch führen. Er fiel mir barsch ins Wort und brummte: "Wollen Sie nicht endlich anfangen?" Er wurde übrigens wieder gesund. Ich war des Glaubens gewesen, wer das Abendmahl zum letzten Mal empfinge, habe danach selig zu sterben. Der liebe Gott hatte es sich diesmal anders vorgenommen. Irrtum, Herr Pfarrer, das Abendmahl ist zum Leben gedacht.

So habe ich in der Schule Gottes nicht ausgelernt.

Gottesdienste im Kirchenjahr

Advent

Die Adventsgottesdienste waren durch die auffällige Nachmittagszeit um 17.00 Uhr geprägt. In Reinsdorf am Sonnabend, in Offleben am Sonntag. Es war schon dunkel. Die Alten murrten, daß ihnen der Kirchgang schwer fiele wegen der schlechten Sicht auf der Straße. Es sollte ein Angebot an die Jüngeren sein, die am Sonntag vormittag nicht aus den Betten fanden. Am ersten Advent hielten wir regelmäßig Abendmahl, obwohl am Bußtag und am Totensonntag, also an den beiden vorhergehenden Gottesdiensten, auch schon das Abendmahl angeboten worden war. Der Teil der früheren Abendmahlsliturgie "Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn" war ja Bestandteil des Sonntagsevangeliums. Außerdem begann das neue Kirchenjahr.

Mein Lieblingslied aus dem neuen Evangelischen Gesangbuch wurde "Das Volk, das noch im Finstern wandelt" (EG 20), musikalisches Vollkornbrot bei dem sonst üblichen Vorweihnachtsschmalz. Die nun fehlenden drei letzten Verse von "Gott sei Dank durch alle Welt" klebten wir uns wieder ins Gesangbuch. "Tritt der Schlange Kopf entzwei/daß ich aller Ängste frei/dir im Glauben um und an/selig bleibe zugetan" - das durfte nicht fehlen. Die neue schmissige Melodie mit der ansteigende Oktave paßte exzellent zum Text jeder ersten Zeile.

Weihnachten

Der erste Christvespergottesdienst für die Kinder im Dorf, von den Konfirmanden darstellerisch und textlich gestaltet, war mit dem nüchternen, auf den Wortlaut der Weihnachtsgeschichten von Lukas und Matthäus reduzierten Krippenspiel und den weihnachtlichen Volksliedern sehr kurz. Manche fanden ihn gelegentlich zu kurz.

Beim Nachtgottesdienst wollte ich bewußt machen, daß Weihnachten erst am nächsten Tag beginnt und wir am Vorabend von Weihnachten stehen. Ich begann also mit Adventsliedern. Immer wieder habe ich die historischen Kulissen der Weihnachtsgeschichte weggeräumt ("keiner braucht zu glauben, daß Jesus unter diesen Umständen in Bethlehem geboren ist"). Das Historische führt von der Schönheit des Textes und der Wahrheit dieser Geschichte ("Uns ist heute in Offleben/Reinsdorf der Heiland geboren") weg.

Wir wechselten die Gottesdienstzeiten. Es gab zu meinem Kummer auch eine Debatte, ob wir im Mitternachtsgottesdienst das Abendmahl feiern sollten, was mir ganz selbstverständlich war.

Aber in den 70iger Jahren lümmelten sich mehrfach Jugendliche auf der Empore, weil es ihnen zu Hause schon zu langweilig geworden war und verleideten uns den Gottesdienst zu dieser Stunde.

Weihnachten 1983

Seit vielen Jahren gibt es noch einen vierten Gottesdienst und zwar ohne die üblichen Weihnachtslieder. Er ist für diejenigen gedacht, die sich wieder dem Weihnachtsglauben nähern wollen, weil ihnen die traditionelle Form der Weihnachtsfeiern verdächtig geworden ist. Für diesen kleinen Kreis halten wir in diesem Jahr ab 22.30 Uhr ein Nachtgebet. Es gibt auch in unserer Gemeinde Christen, die von der weltpolitischen Lage bedrückt sind und für die das Weihnachtsfest 1983 anders ist als in den Vorjahren. Sie glauben sich einem energischen Widerstand aus der Mitte des Glaubens, aus der Mitte des Sakraments tief verpflichtet. Widerstandspflicht statt Wehrpflicht ist ihre Überzeugung. Diese nachdenklichen Christen und die am Rande der Kirche stehen laden wir ein zum Nachtgebet mit viel Schweigen, in Gruppen sitzen, offenes Ende. Es ist wirklich nicht für diejenigen gedacht, die sich in der Kirche lautstark einen Jux machen wollen. Aus diesem Grunde ist die Empore bei diesem Nachtgebet geschlossen.

(aus dem Gemeindebrief Weihnachten 1983)

Es gab Zeiten, wo der erste Weihnachtstag wegen der gut besuchten Christnachtgottesdienste kümmerlich besucht war. Ich war dann froh, wenn ein zusätzliches Ereignis wie Taufe oder Goldene Hochzeit zu diesem Gottesdienst hinzutrat.

Am 2. Weihnachtstag bot ich gelegentlich ein Weihnachtsingen unter dem Tannenbaum in der Kirche mit volkstümlichen Liedern an, mit Liedern, die nicht im Gesangbuch standen. Daraus wurde aber leider keine Tradition.

Reinsdorf hatte immer zwei Gottesdienste: einen am Heiligen Abend, der oftmals von Frau Pfeiffer mit Kindern und Flötenspiel vorbereitet und mit ausgestaltet worden war und einen am 2. Weihnachtstag.

Weihnachten fiel mir von allen Festen im Kirchenjahr der krasse Unterschied zwischen der harten Botschaft von Krippe, Hirten und Heiden und der Normalgesellschaft mit ihrem öffentlichen Rummel am schwersten. Es war ja in den 50iger Jahren der hannoversche volkstümliche Bischof Hanns Lilje gewesen, der bei seinen Pfarrern dafür warb, man solle Geschenke, Stimmung und Familientrallala lieber positiv aufnehmen, anstatt in Meckerei zu verfallen. An keinem Fest täuschen wir uns in der Kirche mehr über die Tatsache, daß sich die nachchristliche Gesellschaft längst von der biblischen Geschichte dauerhaft verabschiedet hat. Das gilt auch für die Dörfer, denn die gefüllten Gotteshäuser und selbst das vermehrte Gottesdienstangebot kann darüber nicht hinwegtäuschen, daß höchstens 15-20 Prozent der Gemeindemitglieder einen Weihnachtsgottesdienst aufsuchen.

Silvester

Silvester war ein ganz stiller Wortgottesdienst, den ich sehr liebte. Wer Silvester durch die bereits explodierenden Knaller den Weg zur Kirche fand, war hochmotiviert. Das Kleppergedicht "Der du die Zeit in Händen hast", paßt nur an diesem Abend, und "Nun laßt uns gehn und treten" kann man auch nur an diesem Abend singen. Wir haben alle Verse in zwei Teilen durchgesungen.

Epiphanias

Epiphanias wurde im Braunschweigischen nur in wenigen Gemeinden gottesdienstlich begangen. Es war für mich der Abschluß der zwölf sogenannten Heiligen Nächte, vor allem war es das Evangelium, in dem nun nach den Hirten auch die Heiden, die Fremden zur Krippe kommen, das gelesen werden mußte. Aber Epiphanias blieb ein gering besuchter Gottesdienst. Einmal waren Frau Heine und ich alleine. Frau Heine hatte liebevoll die vielen Kerzen am Tannenbaum entzündet, den Altartisch gedeckt und wir beide haben dann am Altar neben dem Tannenbaum stehend doch unser Epiphanias gefeiert.

Karwoche

In der Karwoche hielt ich in beiden Gemeinden Tag für Tag eine Passionsandacht und danach wurde die der Gemeinde geläufige Litanei gesungen. Nur an diesen sechs Tagen. Die liturgische Bildung dieser Gemeinde, die ja besonders von meinem Vorgänger gepflegt worden war, wurde in solchen Gottesdiensten fühlbar. Ein reiches Erbe. Gründonnerstag und Karfreitag hielt ich die Allgemeine Beichte, damit einmal im Kirchenjahr die zehn Gebote an ihrem liturgischen Ort verlesen werden. Sie ist leider in unserer Landeskirche weithin in Vergessenheit geraten.

Gerade am Karfreitag scheint die historische Frage vordergründig geklärt. Ich habe der Gemeinde immer wieder ausgelegt, daß das Alte Testament die literarischen Materialien für die Gestaltung der Passionsgeschichte hergibt und die Passionstexte nicht etwa einen Augenzeugenbericht darstellen, obwohl sie diesen Anschein erwecken.

Die Kirche muß sich fragen lassen, inwieweit sie durch die Hervorhebung von Gewalt und Qual in der Figur des Kruzifixes selber in ihrer Geschichte zu Gewalt und Quälerei beigetragen hat. Hier müßte ein ganz neues, radikales Nachdenken einsetzen. Ich würde mit der Offleber Gemeinde überlegen, ob das Kreuz an der Kanzel wirklich der Botschaft und dem Profil der Gemeinde entspricht.

Erst spät wurde ich darauf aufmerksam, daß auch der Karsamstag in die Passionsandachten einzubeziehen sei. Die katholische Kirche feierte nämlich gelegentlich bereits am Karsamstag abends ihren Osternachtgottesdienst. Das fand ich schwierig. Außerdem ärgerte mich die ständige Verwechslung von Ostersamstag und Karsamstag. Daß der Ostersamstag der Samstag nach Ostern und nicht vor Ostern ist, war schwer zu vermitteln. Das lag an der Kirche selber, die am Karsamstag keinen Gottesdienst anbot. Also hielten wir auch am Karsamstag wie alle Tage in der Woche um 17.00 Uhr und 18.00 Uhr eine Passionsandacht mit den Lesungen von der Grablegung Jesu und sangen dazu das Lied "O große Not, Gott´s Sohn ist tot", ein Lied, das man wirklich nur an diesem Tag singen kann. Ursprünglich hieß der Text "O große Not, Gott selbst ist tot", das fand ich noch treffender. Der Karsamstag bürgerte sich sehr rasch ein, denn die Offleber Frauen bereiteten vorher die Tische zum Osterfrühstück und gingen dann gemeinsam zur Karsamstagsandacht. Zu dieser Andacht wurde nicht geläutet. Eigentlich kann der Osterjubel erst richtig losbrechen, nachdem man Jesus auch ins Grab gelegt hat.

Ostern

Osternacht- oder Osterfrühgottesdienste haben sich erst langsam in unserer Landeskirche eingebürgert. Die Brüdernkirche machte damit schon sehr früh den Anfang. Andere Kirchengemeinden folgten und es gibt inzwischen eine sehr unterschiedliche Art der Gestaltung dieses Gottesdienstes, die ich einmal ausführlich in Kirche von Unten beschrieben habe (KvU, Heft Nr. 38, Mai 1989, S. 19ff).

Von meinem Vorgänger, Pfarrer Detlef Löhr, der ebenfalls zur Gruppe der in Brüdern vertretenen Pfarrer gehörte, fand ich die Gewohnheit des Osterfrühgottesdienstes schon vor. Wir wechselten mit der Anfangszeit, mal 5.00 Uhr, mal 6.00 Uhr, es sollte draußen jedenfalls dunkel sein. In der abgedunkelten Kirche sammelte sich die Gemeinde, eine erstaunlich zahlreiche Gottesdienstschar. Zur Zeit von Pfarrer Adrian in Büddenstedt kamen auch mal die Büddenstedter.

Ich zog den schwarzen Talar an, begann an der Seite sitzend nach dem Glockenschlag im Dunklen mit dem von der Gemeinde auswendig im Wechsel gesprochenen Rüstgebet und dann mit der kompletten Verlesung der Jonageschichte. Sie ist in der üblichen Osternachtliturgie leider nicht berücksichtigt. Der Evangelist Matthäus verglich Tod und Auferstehung Jesu mit dem vom Riesenfisch verschluckten und nach drei Tagen an Land ausgespieenen Jona. Wir hatten die vier herrlichen Jonafenster von E. J. Klonck., jeweils eins zu einem der vier Kapitel.

Die Jonanovelle ist ein Meisterwerk der Weltliteratur, an deren Ende Gott mit allen Gottlosen in Ninive fertiggeworden ist: alle haben sich zu ihm bekehrt, nur der Prophet Jona bleibt ein schwieriges Gegenüber. Ich liebte diese Geschichte ganz besonders und hatte einmal für den Kindergottesdienst auch ein Jonaspiel gemacht. Die vier Kapitel unterbrach die Gemeinde mit dem etwas abgewandelten Refrain aus dem Passionslied: "Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn. Ruf uns aus dem Tode, laß uns auferstehn."

Danach zündete die Küsterin die Kerzen im Altarraum an und ich sang den Osterintroitus: "Der Herr ist auferstanden, Halleluja, er ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja." Das geschah im hinteren Teil des Kirchenschiffes, wo ich den schwarzen Talar auszog und mit dem weißen dann den Gottesdienst fortsetzte.

Die Lektorinnen lasen in drei Abschnitten das Osterevangelium in der Fassung des Johannes, unterbrochen von "Gelobt sei Gott, im höchsten Thron". Die Stelle des Glaubensbekenntnisses wurde mit einem üppigen Taufgedächtnis bedacht, das anschauliche Gebet über das Taufwasser in der Stählinschen Fassung gesprochen, dann schwärmten wieder die Lektorinnen in die Gemeinde, hatten sich in Porzellangefäßen aus der Taufschale Taufwasser geschöpft und bezeichneten damit in die ausgestreckten Hände die Ostergemeinde mit dem Kreuzeszeichen.

Nach einer kurzen Osterpredigt war dann Abendmahl. Wir benutzten meist vier oder mehr Kelche. Danach, noch um den Altar stehend, bekamen alle eine Osterkerze und zu "Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit" wippten wir leicht hin und her. Die Osterfreude hatte uns ergriffen. Nach dem Gottesdienst ging's ins Pfarrhaus, wo die Frauenhilfe liebevoll das Osterfrühstück hergerichtet hatte.

Als Besonderheit empfand ich beim Ostergottesdienst, daß die Gemeinde bereit ist, sich zu bewegen, aufzustehen und der eigenen Freude Ausdruck zu geben. Dieser Eindruck hat sich während des ganzen Praktikums verstärkt: die Gemeinde ist bereit, ihren Gottesdienst selber mit zu füllen, so daß sie sich nicht ausschließlich davon abhängig macht, ob der Pfarrer sie durch eine gute Predigt und eigene Heiterkeit erfreuen kann, sondern sie läßt sich motivieren, ihrer Freude selber Gestalt zu geben. An die Stelle ängstlicher Unsicherheit, wie ich sie in anderen Gemeinden erlebt habe, wenn der gewöhnliche Rahmen des distanzierten Gegenübers von Pfarrer und Gemeinde durchbrochen wird, tritt hier - zumindest in der geübten Gottesdienstgemeinde - die Bereitschaft, an der Gottesdienstgestaltung mitzuwirken und sich selber als Teilnehmer, nicht als Gottesdienst -besucher zu verstehen.

(Tilman Kingreen in seinem Praktikumsbericht)

Die Verabschiedung an der Kirchentür war besonders herzlich. Frau Schul, die vor dem 1. Weltkrieg gute Tage im kaiserlich-österreichischen Lodz gesehen hatte, begrüßte ich mit "Christos voskresje" und sie erwiderte klassisch auf russisch mit "ER ist wahrhaftig auferstanden." Das jedoch war ihr zu wenig. Sie lächelte mich an und sagte mir: "Missen Se mir auch kissen!" Der altrussische Brauch des Osterkusses war ihr geläufig und so beküßten wir unsern Osterglauben an der Kirchentür.

Pfingsten

Zum Pfingstfest schwärmten wir in die Natur und besorgten uns aus dem Tagebau einen Armvoll von hohen Birken. "Schmückt das Fest mit Maien". Die Offleber Kirche duftete bis Trinitatis. Am Pfingstsonntag 1988 wählte ich meinen kürzesten Predigttext aus: Apostelgeschichte 2, 16 "Das ist's". Die folgenden Verse beschreiben die Deutung der Pfingstgeschichte. Berliner Gottesdienstgäste schrieben daraufhin ins Gästebuch: "Das war's".

Was soll das noch werden? Was ist das - mögen sich nicht nur die zuhörenden Juden gedacht haben, auch die vom Geist überfallenen Jünger: Was ist das? "Das ist's", sagt ihnen Petrus und bietet ihnen einen Schlüssel zur Wahrheit der Pfingstgeschichte. "Das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt ist: Söhne und Töchter sollen weissagen, Alte sollen Träume und Jünglinge Gesichte haben. Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch."

Auf alles Fleisch - auf alle hier im Tempel versammelten Juden - nicht nur auf die Jesusjünger, auch auf die gottesfürchtigen Männer aus Libyen, Ägypten, Kyrene und Pamphylien und, und und..., in Reinsdorf und Offleben und Berlin und Helmstedt - und überall werden sich kleine Gemeindegruppen bilden wie damals in Jerusalem, in denen der prophetische Geist lebendig ist.

In solchen Gemeinden sind die Geschichten von den großen Taten Gottes lebendig, sie hören sie, sie lesen gemeinsam von ihnen. Aber nicht nur von damals, sondern von heute auch. Die größte Tat Gottes heute - finde ich - ist, daß er diesem Ort und dieser Gemeinde nicht den Rücken zugedreht hat, sondern immer noch unsere Nähe sucht. "Deine Vatergüte hast du lassen sprießen, ob wir schon dich oft verließen - wunderbarer König, Herrscher von uns allen".

Daß wir hier immer noch eine Gemeinde bilden, und wer zu den Olen Offlesche kommt, trifft immer noch fröhliche, alte Menschen, und wir haben immer noch keinen Organisten, aber immer noch einen kräftigen Gesang: denkt nicht gering von den großen Taten Gottes unter uns. In 14 Tagen wird der neue Kirchenvorstand in sein Amt eingeführt. Vor einem halben Jahr haben wir noch gezagt: wer wird sich aufstellen lassen, werden wir genug sein?

Große Taten Gottes - das können auch schwere Lasten sein, die Gott einer Gemeinde auferlegt: ich denke an unser Gemeindeglied Bruno Borowski, der mit ganz schweren Verbrennungen im Bochumer Spezialkrankenhaus liegt. Wenn ein Gemeindemitglied leidet, leidet der ganze Leib Christi. Ich denke an unsern katholischen Pfarrer Westphal, der an diesem Pfingstfest nun nicht predigen kann, weil er schwer krank ist. Aber der Geist kommt auf Gesunde und Kranke und beide sprechen: Herr, wir warten auf deinen Tag. Laß uns sein Licht aufgehen und erwecke uns zu neuem Leben.

Der prophetische Geist ist aber auch da lebendig, wo sich Gemeindegruppen einmischen, wenn Unrecht beim Namen genannt und nicht hingenommen wird. Über unsern Konfirmandensitten liegt das Unrecht der Geldverschwendung, Gleichgültigkeit und Ablehnung der Elternhäuser, fehlender oder irriger, manchmal wahnartiger Zielvorstellungen auch bei den ganz jungen Leuten. Daß diese verquere, schiefe Situation bei uns endlich aufgebrochen wird, ist ein ausgesprochen gutes Zeichen; gewiß eine mittelgroße Tat Gottes, aber gewiß auch kein Zeichen für einen erstorbenen Geist.

Über unserm Ort liegt das Unrecht der Umweltverschmutzung und einer darüber schweigenden, zur stummen Gefolgschaft verurteilten und deformierten BKB-Belegschaft. Das muß zu unser aller Besserung immer wieder beim Namen genannt werden.

Wenn wir uns nachher beim Abendmahl am Altar treffen, dann werden wir wieder um Gottes Geist bitten: Sende deinen heiligen Geist auf uns und diese Gaben zur Nüchternheit der Seele, zur Gemeinschaft unter uns allen und zur Fülle des Himmelreiches. So ist das, wenn Gott von seinem Geist auf diese Gemeinde ausgießt, amen.

(aus der Pfingstpredigt)

Trinitatis

Dieses Fest handelt von dem Geheimnis Gottes in unserem Leben. Und weil es keine Aussage über Gott gibt, die nicht zugleich eine Aussage über den Menschen wäre, beschreibt dieser Sonntag zugleich das Geheimnis des Menschen. Ein geradezu erhabenes, vielschichtiges Thema. Ich war sehr froh, daß ich mich am Trinitatissonntag 1999 von der Gemeinde verabschieden konnte. Die jeweilige Fürbitte beschlossen wir mit den Anfangsversen des alten Trinitatisliedes "Gott der Vater... Jesus Christus... Heilig Geist der... - steh uns bei und laß uns nicht verderben" (EG 138).

Der Erntedank

Die Gottesdienste am Erntedankfest waren überdurchschnittlich besucht. Trotz der enormen industriellen Einflüsse machte sich der dörfliche Charakter an diesem Tag durchaus bemerkbar.

Den Erntedankgottesdienst mit der Feier des Abendmahls zu verbinden, hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebildet. Mir will es erscheinen, als ob in der Vergangenheit die größeren Landwirte der Dörfer mit Ausnahme der Familie Brandes nicht Träger dieses Festes gewesen sind. Das fiel im Braunschweigischen vielleicht nicht aus dem Rahmen, aber es wurde in einer kleinen Gemeinde wohl registriert.

Wenn am Vortag Gaben zum Schmuck des Altarraumes gesammelt und im Vorraum der Kirchen abgegeben wurden, so waren es vor allem die kleinen Leute und Gartenbesitzer, die kamen. Wenn Familie Jacobs den Gottesdienst besuchte, las Henning Jacobs das Evangelium.

Frau Bauermeister machte sich mit dem Schmuck der Reinsdorfer Dorfkirche besondere Mühe. Sie schmückte Bänke und Wände mit Blumen, die nicht selten im eigenen Garten mühsam herangezogen worden waren. Zum Erntedankfest bot die Kirche einen ganz besonderen Anblick. Daß ausgerechnet auch zu diesem Fest die Landwirte sich nicht in unsere Reinsdorfer Kirche zum Danken aufgemacht haben, war auffällig.

Die Erntedankgaben aus beiden Kirchen holte Frau Pfeiffer am nächsten Tag als Spende für den Kindergarten St. Lorenz in Schöningen ab.

Die Garbe brennt

Von Else Heine

An meinen ersten Erntedankgottesdienst muß ich jedes Jahr denken. Es hat sich vieles verändert. Früher hat man den Altarraum ganz anders geschmückt. Rechts und links vom Altar wurden je drei Garben aufgestellt. Leider gibt es ja heute keine Garben mehr. Auch auf dem Altar standen Erntesträuße aus Korn. Kartoffeln in Säcken standen vor dem Altar. Auch Kohlen wurden gespendet. Das Schmücken machte Herr Götz. Auch eine Erntekrone hing im Altarraum. Beim Abendmahl ging man hinterm Altar herum. Dabei gab es einen Luftzug und Funken sprangen von den Kerzen Wir hatten damals vier große Kerzen auf dem Altar stehen. Bei meinem ersten Erntedankgottesdienst brannte auf einmal eine Garbe. Aber es hatte keiner den Mut, die Garbe zu nehmen und rauszuschmeißen. Ich natürlich von oben, von der Orgelempore runter, wo ich die Bälge treten mußte, damit die Orgel Luft hat, und mit Füßen habe ich die Funken ausgemacht mit meinen Sonntagsschuhen, die einzigen, die ich hatte. Aber rechts und links im Altarraum saßen nur Männer, und keiner hatte den Mut, die Garben rauszuschmeißen.

(Gemeindebrief November-Dezember 1986)

Zu Anfang meiner Zeit gab es einen Erntebittgottesdienst, den sogenannten Hagelfeiertag im Juni, eine Braunschweiger Besonderheit. Er wurde vor allem mit den Schulen ausgestaltet. Mit der Zeit löste sich diese Zusammenarbeit in Wohlgefallen auf und wie überall in der Landeskirche wurde dieser Gottesdienste am Hagelfeiertag nicht mehr angeboten.

Reformationstag

Der Reformationstag wurde anfangs am Vormittag als Schulgottesdienst gefeiert. Das war nicht immer einfach. Als dann der Tag häufiger in die Ferien fiel, unterblieb der Schulgottesdienst. Aber ein Abendmahlsgottesdienst am Abend bürgerte sich in beiden Gemeinden ein. Dabei las ich in Auszügen einige der 95 Thesen von Martin Luther. Die Seligpreisungen als Evangeliumslesung erschienen mir an diesem Tag weniger passend.

Totensonntag

Auch der Totensonntag hat sich als ein besonders gut besuchter Gottesdienst erst nach dem Kriege herausgebildet. Eigentlich sollte man ihn "Ewigkeitssonntag" nennen und danach waren auch die Lesungen ausgerichtet. Mir erschien die "Ewigkeit" nach der Klage und der Trauer um die Verstorbenen etwas zu rasch und in den Bildern der Offenbarung Johannes Kap. 21 zu dick aufgetragen. Ich habe statt dessen als alttestamentarische Lesung den tröstlichen Text "Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand" aus der Weisheit Salomo, Kap. 3 verwendet und über einen der Beerdigungstexte des vergangenen Kirchenjahres gepredigt.

Das vorgeschriebene Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen legte ich auf den 2. Advent, weil das Adventslied "Nun jauchzet all ihr Frommen" darauf so treffend Bezug nimmt: "Macht eure Lampen fertig und seid stets sein gewärtig. Er ist schon auf der Bahn". Es ist außerdem die einzige Lesung, die das adventliche Lichtmotiv aufnimmt. Leider ist der Vorschlag bei der Perikopenrevision durchgefallen.

Zustimmung und Ablehnung

Wir wollten uns gerne dem Urteil anderer stellen und luden immer wieder Gäste zum Mitfeiern ein. Uns besuchten mehrfach die Bischöfe Dr. Heintze und Prof. Müller, Frau Pfarrerin Biersack, Frau Helga Hansi und Frau Edeling-Unger, Propst i.R. Kalberlah, die Pfarrer Brinckmeier, Pieper, Erchinger, Hinrichs, das Ehepaar Kiel, von außerhalb der Landeskirche Pfarrer Brinkel und Udo Kelch. Wir fanden viel Verständnis. Uns lag auch an einer gewissen gesamtkirchlichen Zustimmung. So hat OLKR Becker wiederholt unsere Gottesdienste in beiden Gemeinden besucht und uns nachdrücklich ermuntert, fortzufahren. Auch OLKR Kollmar und Pfarrer Rammler als persönlicher Referent des Landesbischofs waren zu Gast.

Es gab aber auch deutliche Kritik. Wenn Frau Pastorin Böttger-Bolte von der St. Lorenzkirche etwas vom Gottesdienst in Offleben hörte, pflegte sie regelmäßig abwertend abzuwinken. Ihr waren die Abweichungen von der verordneten Agende I zu stark. Ohne einen Gottesdienst besucht zu haben, vermerkte die Kirchenleitung noch 1996 in der Antwort auf die Visitation, ob nicht die liturgische Schwelle des Offleber Gottesdienstes zu hoch angesetzt wäre. Das haben wir gar nicht verstanden und konnten es daher auch nicht bearbeiten und beantworten.

Unser "Gottesdienst auf vielen Schultern" hat mir besonders in den letzten beschwerlichen Monaten meiner Dienstzeit über manche seelischen Löcher hinweggeholfen. Ich konnte mich auch, ohne predigen zu müssen, in die Gemeinde hineinstellen und andere Aufgaben innerhalb des Gottesdienstes annehmen. Dieses Gottesdienstmodell spricht sich nun auch außerhalb von Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben herum.

Daß die Kirchenleitung ein halbes Jahr nach meiner Pensionierung- ich wohnte längst in Braunschweig - am 11. November 1999, ohne Angabe von irgendwelchen Gründen vor der Disziplinarkammer der Konföderation Niedersächsischer Kirchen ein einstweiliges Predigtverbot gegen mich beantragte, fand ich unbegreiflich. Ich konnte das nur verstehen als eine tief sitzende Abneigung und Angst gegenüber einem Gottesdienst, wie wir ihm in den Gemeinden entwickelt hatten und der von sogenannten Laien verantwortlich mitgestaltet wird. Außerdem wurde nun das Predigtamt zum Spielball kirchenpolitischer Erwägungen. Die Disziplinarkammer lehnte diesen Antrag kurz und bündig ab.

Die Gottesdienstordnung auf vielen Schultern bewährte sich auch in der Vakanzzeit. Als wiederholt unvermutet ein Pfarrer oder eine Lektorin nicht zum Gottesdienst erschienen, ließ die Gemeinde nicht etwa den Gottesdienst ausfallen, sondern hielt aus dem Stand einen kompletten Gottesdienst mit Rüstgebet, Psalm, drei Lesungen, Liedern, Lesepredigt, Fürbittgebet und gemeinsam gegenseitig zugesprochenem Segen.

Inzwischen setzt zu meiner großen Freude das Nachfolger-Ehepaar Frau Pfarrerin Pustoslemšek und Pfarrer Dr. Pustoslemšek behutsam und mit eigenen Akzenten dieses Gottesdienstmodell fort.


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