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[Kirche von unten]

Gemeinsam - zärtlich - radikal

6. Kapitel

Das Lektorenamt

Auf der Grenze zwischen dem ordinierten und nicht-ordinierten Gemeindemitglied

Eine geistliche Grenze?

Die Grenze scheint eigentlich klar zu sein: "der Paster hat's gelernt, der Paster ist dazu ordiniert, der Paster macht's", nämlich: taufen, trauen, beerdigen, Abendmahl austeilen, "prädigen". So ist es die Gemeinde gewohnt. So sind auch ihre Erwartungen. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Die Frage ist nur: darf nur er es machen? Sind andere von diesem Dienst ausgeschlossen?

Die grundsätzliche theologische Frage hierbei ist: was bedeutet die Ordination?

Ich bin am 23.12.1963 zusammen mit Klaus Pieper und Bringfried Wilhelm in der Wolfenbüttler Marienkirche ordiniert worden. Mein Vater und OLKR Brinckmeier haben Landesbischof Erdmann dabei assistiert. Die biblischen Voten habe ich mir in meine Handagende geschrieben. Für mich bedeutete die Ordination einmal die lebenslange Beauftragung, in der evangelischen Kirche predigen und Abendmahl halten zu dürfen. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß dieser Auftrag auch nur zeitweise aufgehoben werden dürfte, wenn nicht schwerwiegende Gründe vorliegen würden und darüber mit mir ein ernsthaftes geistliches Gespräch stattgefunden hätte.

Was ist die Ordination?

Offenbar gibt es über die Ordination keine einheitliche und für die Pfarrerschaft verbindliche Anschauung.

Pfarrer Lieberg von der Brüdernkirche in Braunschweig zum Beispiel hatte über das Verständnis der Ordination mehrfach eine Promotionsschrift bei der Universität Erlangen eingereicht, die jedoch zweimal wegen katholisierender Tendenzen zurückgewiesen worden war und erst bei einem weiteren Anlauf anerkannt wurde. Die Arbeit ist unter dem Titel "Ordination und Amt" veröffentlicht worden. Für Lieberg grenzt die Ordination an die katholische Priesterweihe. Dem Ordinierten wird nicht nur ein Auftrag erteilt, sondern auch eine geistliche Befähigung, eine Vollmacht, "die in das Sein des Ordinierten eingelassen ist" und die ihn "von allen Nicht-Ordinierten unübersehbar abhebt". Sie verleiht ihm einen character indelebilis, etwas unzerstörbar geistlich Undefinierbares. Ich weiß nicht, ob die der Gruppe Bibel und Bekenntnis nahestehenden Pfarrer dieses Ordinationsverständnis teilen.

Daß die Ordination zugleich als Abgrenzung verstanden wird, ist ziemlich weit verbreitet. Das geht in manchen Gemeinden unserer Landeskirche so weit, daß nur der Pfarrer am Altar stehen darf und die Gemeinde im gehörigen Abstand davon zu verharren hat. Natürlich darf nur der Pfarrer die Einsetzungsworte sprechen, wie in der katholischen Kirche nur der Priester sie als Wandlungsworte spricht, weil er kraft dieser Worte und kraft seiner Priesterweihe nunmehr Wein in Blut Christi verwandelt. Als ich OLKR Wandersleb davon erzählte, daß bei uns die ganze Gemeinde die Abendmahlsworte spricht, erwiderte er: "Die Abendmahlsworte gehören dem Pastor." Genau so: "gehören". Als ob sie durch die Ordination ihm als Schatz anvertraut seien, den er jeweils bei der Abendmahlsfeier öffnet und davon der Gemeinde weitergibt. Wenn die Ordination zugleich einen Ausschluß bedeutet, ist sie m.E. im Kern verändert.

Wird die Ordination jedoch als eine Beauftragung verstanden, dann könnte ein Pfarrer auch von diesem Auftrag abgeben. Er könnte geeignete weitere Gemeindemitglieder im Einverständnis mit dem Kirchenvorstand beauftragen, nunmehr ihrerseits Wort und Sakrament in der Gemeinde auszulegen und auszuteilen. Alle also sind ordiniert. Der Unterschied besteht darin, daß die Ordination des Pfarrers durch den Bischof für die ganze Kirche gilt und die Ordination der Lektorinnen und Lektoren für den Bereich der Kirchengemeinde. Es ist also ein entfaltetes Ordinationsverständnis.

Es ist aber nicht nur eine theologische Frage nach dem Verständnis der Ordination. Es geht darum, was eigentlich Protestantismus bedeutet. Eberhard Stammler hatte in seinem Buch "Protestanten ohne Kirche" bereits 1967 die Entmündigung des Laien in der evangelischen Kirche beklagt. Allein der Begriff sei in einer protestantischen Kirche "ein geradezu provozierender Widerspruch in sich selbst". Er beklagt das Monopol der Geistlichen und die Laienarbeit als Notvorrichtung und sieht die Kirche vor folgender Alternative: "Wenn sich die Kirche ehrlich und glaubwürdig dem "Laien" wieder öffnen will, dann muß sie sich zunächst selbst der ehrlichen Alternative aussetzen: entweder erkennt und bekennt sie sich als Institution unter "klerikaler" Führung oder aber sie bekennt sich zur vollen geistlichen Mündigkeit auch des nichttheologischen Mitchristen und dann müßte sie den Primat und das Monopol des theologischen Amtsträgers preisgeben". Diese Alternative haben wir in unseren Kirchengemeinden klar beantwortet: geistliche Mitverantwortung der Laien im zentralen Punkt: der Wortverkündigung und der Austeilung des Abendmahls. Den anhaltenden Widerspruch hatte Stammler bereits angekündigt. "Die zweite Entscheidung hätte wahrscheinlich einen recht energischen Umschmelzungsprozeß der bisherigen Denkstrukturen zur

Predigtgottesdienst durch Lektoren

Folge. Darum ist es auch verständlich, daß sich dagegen tief verwurzelte Hemmungen auftürmen. Aber eine reformatorische Kirche kann nicht beides zugleich haben: den mündigen Laien und die hierarchische Sicherung."

Predigtgottesdienst durch Lektoren

Es gibt nach der Gesetzesordnung der Landeskirche Prädikanten und Lektoren: die einen dürfen selbstständige Predigten anfertigen und vortragen, die andern dürfen nur ablesen. Grundsätzlich aber dürfen sie - ob abgelesen oder selbst gemacht - selbstständige Gottesdienste halten.

Unsere Kirchenverfassung meint also: auch andere als Pfarrer und Pastorinnen können zum Predigtdienst bestimmt werden. Das ist zwar nicht die Regel, aber die Grenze zwischen Ordinierten und Nicht-Ordinierten ist damit grundsätzlich überschritten

Als ich nach Offleben kam, fand ich als bewährten und viel gerufenen Lektor Rudi Chmilewski vor.

Lektor Rudi Chmilewski

Rudi Chmilewski stammte aus einer deutschsprachigen lebendigen Gemeinde in Polen, aus dem Dorf Jungensand, an der Weichsel bei der Kreisstadt Schwetz gelegen. Er war 1939 als polnischer Soldat eingezogen worden, danach Soldat bei der deutschen Wehrmacht und wurde verwundet. Seine Familie verschlug es 1945 nach Offleben. Es ist ein Familienschicksal, das die wechselhafte Geschichte des deutschen Reiches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anschaulich widerspiegelt, denn im Geburtsjahr 1914 war Jungensand noch deutsch.

Chmilewski hatte zu Hause eine lebendige Diasporagemeinde kennengelernt, die damals unter der kirchlichen Leitung von Generalsuperintendent Paul Blau in Posen stand. In Offleben focht er in den Reihen der UWG im Gemeinderat schon früh für die Rechte der Flüchtlinge und nahm lebhaft am kirchlichen Leben teil. Er wurde Kirchenvorsteher und wurde bereits von Pfarrer Schuseil um Lesegottesdienste gebeten. "Frau Krusekopf, die die Orgel spielte, und ich gingen zu Fuß nach Reinsdorf und konnten uns dabei schön unterhalten", erinnerte sich Jahrzehnte später Chmilewski. Von Pastor Schuseil erhielt er Lesepredigten aus der Berliner Kirche. Pastor Löhr fertigte dagegen die Predigten, die Chmilewski vorlesen sollte, selber an, "damit sein Standpunkt in der Predigt auch vorkam." In einem Vespergottesdienst am Ende einer Propsteisynodaltagung im Juni 1966 wurde Rudi Chmilewski mit vier anderen, nämlich Gerd Kunde, Berthold Krause, Karl Ernst Grade und Hermann Matthies von Propst Hobom als Propstei-Lektor eingeführt.

Lektor und Pfarrer unterschieden sich äußerlich dadurch, daß der eine einen Talar tragen durfte und der andere im schwarzen Anzug den Gottesdienst hielt. Das fand ich ungerecht und schlug Chmilewski vor, er möge doch auch einen Talar tragen. Da war sie: diese Grenze. Durfte Chmilewski sie überschreiten? Er trug als Mittelding etwas Schwarzes ohne Beffchen. Das Beffchen markierte, heute immer noch, die Grenze zum "vollgültigen" Pfarrer. Das war nicht mehr viel. Mir war nicht ganz klar, ob die Richtung überhaupt stimmte: meines Erachtens sollte der Lektor textilmäßig nicht klerikalisiert werden, sondern der amtierende Pfarrer kleidungsmäßig möglichst normalisiert werden: also Anzug und Stola. In die Richtung gingen meine Idealvorstellungen. Aber als Übergang zur Einebnung des Grabens zwischen Lektor und Pfarrer mochte es richtig sein, daß der Lektor einen schwarzen offenen Talar trüge. Diese Textilfrage ist leider bis heute nicht überzeugend geklärt. Ich fände am schönsten Anzug und Stola für Pfarrer und Lektor.

Daß das Lektorenamt in Offleben nicht als ein Aushilfsamt verstanden wurde, ist auch im für die Lektorenausbildung zuständigen Amt für Volksmission bemerkt worden, das damals von Pastor Erich Warmers geleitet wurde. Anläßlich einer Lektorenrüstzeit predigte Pfarrer Warmers am Volkstrauertag 1964 in der Offleber Kirche. "Die Notwendigkeit der Lektoren wird uns noch weiterhin beschäftigen", schrieb ich in die Chronik. Am 11. Januar 1970 führte Oberlandeskirchenrat Kammerer in einem Gottesdienst in Offleben Frau Lisa Radusch in das Amt einer Lektorin ein. Am 1. Advent 1970 hielten die Lektoren der Propstei Helmstedt einen gemeinsamen Gottesdienst in der Reinsdorfer Kirche. Anschließend besprachen sie im Offleber Pfarrhaus mit Propst Hobom praktische Fragen der Taufe und ihrer Ausübung.

Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Lektorinnen hinzu: Frau Gröger, Frau Pfeiffer, Frau Mock, Frau Blank, Frau v. Kowalski.

Die Mitarbeit der Lektoren wurde ein fester Bestandteil im Gottesdienstplan. Das wird an der steigenden Anzahl der Lektorengottesdienste anschaulich.

Die Lektorengottesdienste steigerten sich allein in Offleben von 6 im Jahre 1966 (Chmilewski: 5 und Kunde: 1) auf 10 im Jahre 1969 (Radusch: 6, Chmilewski: 4).

Die Tätigkeit der Lektoren wurde dringlich, wenn ich in anderen Kirchengemeinden die Vakanzvertretung hatte. Das war manchmal nicht wenig, z.B. hatte ich eineinhalb Jahre zusätzlich die St. Vincenzgemeinde in Schöningen zu versorgen. Sprunghaft nahmen die Lektorengottesdienste zu. 1973: 26 (Chmilewski); 1974: 21 (Chmilewski); 1975: 20 (Chmilewski: 19 Radusch: 1).

Ich wechselte mich beim Gottesdienst sonntäglich mit Herrn Chmilewski ab und erklärte das auch der Gemeinde.

Es braucht gar nicht verschwiegen zu werden, daß diese Regelung endlich den Mißstand beseitigt, daß der Lektor nur eine Hilfskraft zu Vertretungszwecken ist, sondern ihn in die normale Gemeindesituation hineinintegriert; daß sie auf der anderen Seite aus einer echten Notlage geboren ist: Ich weiß nämlich nicht, wie ich meinen derzeitigen 160 Vor- und Hauptkonfirmanden gerecht werden soll. Ich muß die Konfirmandenarbeit auch auf Freizeiten am Wochenende ausdehnen können. Dazu muß ich das Wochenende gelegentlich und regelmäßig frei haben. 10 Monate ging das so hin. Jetzt muß eine dauerhafte andere Lösung gefunden werden. Eine erste Freizeit der St. Vincenz-Konfirmanden fand kürzlich hier an zwei Wochenenden statt. Andere sollen folgen. Ich hoffe durch diese und andere Verflechtungen zu vermeiden, daß Offleben wenigstens in kirchlicher Hinsicht nicht zum Arsch der Welt wird, sondern neue Anregungen erhält.

(aus dem Gemeindebrief Januar/Februar 1973, S. 2 )

Lektorin Irmgard Gröger

Jede Lektorin und jeder Lektor entfaltete in den Predigtgottesdiensten ihren/seinen geistlichen Stil. In den 80iger Jahren hatte Frau Gröger viele Gottesdienste übernommen. 1983: 10 (Chmilewski: 5, Gröger 5); 1984: 12 (Gröger); 1985: 11 (Gröger); 1986: 5 (Gröger: 4, Brandes: 1).

Irmgard Gröger, im Februar 1920 geboren, stammte aus Schöningen, wo ihr Vater Meister auf der Saline war. Mit 18 Jahren trat sie ins Mutterhaus Marienstift ein und machte 1941 das große Krankenpflegeexamen. Die 14 Jahre lange Zeit im Mutterhaus hat sie bleibend geprägt. Dort spielte sie oft auch das Harmonium. Die alte Schwesternlosung "Mein Lohn ist, daß ich dienen darf" hat sie nicht vergessen.

Sie blieb nicht im Mutterhaus, sondern wurde Gemeindeschwester in der Schöninger Lorenzkirche bei Pastor Menzel und dann 18 Jahre OP-Schwester im Schöninger Krankenhaus in "Adlers Werkstätten", so genannt nach dem in Schöningen legendären Dr. Adler, der in Berlin bei Sauerbruch gearbeitet hatte. Der Abend eines Kirchenvorsteherausfluges im Lindenhof in Braunschweig, bei dem uns Frau Gröger von ihrer langen Zeit bei Dr. Adler erzählte, wird allen Teilnehmern unvergeßlich bleiben. Wir haben Tränen gelacht. Das Flair einer bestimmenden Oberschwester konnte sie nicht ablegen.

1969 zog sie mit ihrem zweiten Mann Hans Gröger nach Offleben und brachte sich mit ihren Gaben in das Leben der Kirchengemeinde ein. Sie hat ihre Lektorentätigkeit auch in den Nachbargemeinden Esbeck und Emmerstedt, Wolsdorf und Hoiersdorf ausgeübt. Die Propsteisekretärinnen Frau Rieger und Frau Völkel setzten sie immer wieder in der Propstei ein.

In Reinsdorf

In Reinsdorf taucht der Name von Frau Pfeiffer selten in den Kirchenachrichten auf. Sie wollte unter "Kirchenvorstand" genannt sein und hat allein 1988 10 Predigtgottesdienste gehalten und dann immer wieder bis zum Ende meiner Dienstzeit.

Alle sind ordiniert

In der Regel habe ich die Lektorengottesdienste nicht besucht, weil ich auswärts sein mußte. Wenn ich aber im Pfarrhaus war, hörte ich gerne den Lektorinnen und Lektoren der Gemeinde zu. Sie fühlten sich keineswegs "abgehört", sondern nahmen mich als Gemeindemitglied unter anderen wahr. So wurde mir im Laufe der Zeit deutlich, daß der Unterschied zwischen Ordinierten und Nicht-Ordinierten wenig geistlich war. "Alle sind ordiniert", dachte ich, und zwar durch die Taufe. Und die Unterschiede sind nur durch Ausbildung und Spezialisierung begründet, aber ich empfand sie als zweitrangig. Vor dem Evangelium durften sie keinen Bestand haben. Wir waren, wie die Verfassung sagt, eine Dienstgemeinschaft.

Als 1989 eine neue Lektoren- und Prädikantenordnung erschien, schrieb OLKR Becker in den Begleitbrief vom 10.8.89 an die Pfarrämter: "Die Lektoren- und Prädikantenordnung geht davon aus, daß der Laie Anteil haben soll und muß an der Verkündigung des Evangeliums." Das empfand ich als grundsätzliche Übereinstimmung in der Sache. Diese Lektorenordnung ging davon aus, daß der Dienst möglichst in der eigenen Gemeinde oder in der eigenen Propstei stattfinden solle. An die Pröpste wurde die Aufsicht delegiert. Das war bereits eine Art Kompetenzverlagerung nach unten, die später in anderen Zusammenhängen bis heute noch heftig diskutiert wird.

Taufe und Abendmahl durch Lektoren

Das Recht zu taufen ist nicht auf den Pfarrer beschränkt. Jeder konfirmierte Christ darf in einer Notlage eine Taufe vornehmen, wenn gerade kein Pfarrer zur Stelle ist. Bisher war solche Notlage etwa auf plötzlich auftauchende Krankheit von Säuglingen in der Klinik beschränkt. Im Konfirmandenunterricht nahm ich diesen Teil besonders gründlich durch. Wer konfirmiert war, sollte taufen können und wissen, wie, nämlich: in Gegenwart von Zeugen, mit Wasser, mit der "Taufformel", dem Vaterunser als Taufgebet. Dann sollte er es dem Pfarrer melden, damit der die Taufe ins Taufregister eintragen könnte. Es war eine gültige Taufe. Es kam dennoch vor, daß nach einer solchen Taufe in der Klinik die Eltern in der Ortskirche einen Taufgedächtnisgottesdienst wünschten.

Warum aber sollte ein Lektor keine Taufe im Gottesdienst vornehmen, wenn er z.B. in Reinsdorf und Offleben den Predigtgottesdienst hielt und der Pfarrer in Urlaub war? Warum der Umstand, daß in diesem Falle ein Pfarrer aus einer anderen Gemeinde am Nachmittag extra herbeieilen und die Taufe halten sollte? Dazu faßten die Kirchenvorstände in Reinsdorf-Hohnsleben und Offleben drei wichtige Beschlüsse, die man im Gemeindebrief Januar/Februar 1973 nachlesen kann:

Kirchenvorstandsbeschlüsse

1. Die Gottesdienste werden in Zukunft abwechselnd zwischen Pfarrer Kuessner und Lektor Chmilewski gehalten.

2. Der Lektor soll grundsätzlich auch den Abendmahlsgottesdienst halten.

3. Eine Taufe wird von demjenigen gehalten, der auch den Gottesdienst hält.

(aus dem Gemeindebrief Jan./Febr. 1973)

So jedenfalls war der geistliche Erfahrungsstand in unserer Gemeinde. Wir machten nicht etwa einen Alleingang, sondern trugen diese Sache in der Propsteisynode vor.

Die Frage der Sakramentsverwaltung

vor der Propsteisynode und Landessynode 1972/74

Die Propsteisynode tagte am 6. September 1972 und machte folgenden Antrag des Offleber Kirchenvorstandes vom 4.7.1972 zum Tagesordnungspunkt:

"Lektoren, die seit vielen Jahren in der Propstei Helmstedt den Lektorendienst versehen, dürfen Taufen, Trauungen und Bestattungen vornehmen. Die Amtshandlungen sollen vorher beim Pfarramt angemeldet werden. Über die Zulässigkeit der Amtshandlung entscheidet der zuständige Pfarrer. Sie werden, wenn keine Einwände erhoben werden, im Auftrag und in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Pfarramt durchgeführt."

Alle Lektoren waren von Propst Hobom eingeladen. OLKR Brinckmeier hielt dazu das Hauptreferat "Amt und Dienst des Lektors". Auch OLKR Kammerer vom Gemeindereferat nahm an der Propsteisynode teil. Beide standen in der Tradition der Bekennenden Kirche, die sich für eine Stärkung des sogenannten Laienelementes in der Kirche nachdrücklich ausgesprochen hatte. Die Propsteisynode beschloß nach einer abendfüllenden Debatte mit nur ganz wenigen Gegenstimmen, daß Lektoren, die sich in ihrem Amt bewährt haben, das Recht erhalten sollten, auch Taufen, Trauungen und Beerdigungen vornehmen zu dürfen. In Kursen sollten die Lektoren auf diese Aufgabe vorbereitet werden.

Ich war der Meinung, daß mit diesem Beschluß der Propsteisynode für den Bereich der Propstei Helmstedt bereits in diesem Sinne verfahren werden dürfte.

Am 10. Februar 1973 hielt also Lektor Chmilewski im Einverständnis mit dem Kirchenvorstand und mit den Taufeltern die Taufe von Tanja Miklis in Reinsdorf. Wir hatten gemeinsam die Ordnung des Taufgottesdienstes durchgesprochen.

Das Entscheidende waren das Wasser und das Wort. Und es war wohl jeder erfahrene Lektor in der Lage, unter Anrufung des dreieinigen Gottes Wasser über den Kopf eines Kindes auszuschütten und dazu das Wort auszulegen, was er ja im Predigtgottesdienst längst tat.

Im Räderwerk der Landessynode

Ich war in den verschlungenen Wegen des Gesetzemachens damals noch sehr unerfahren. Das war mir alles sehr weit weg, es hatte keinen Bezug zur unmittelbaren Arbeit in der Kirchengemeinde.

Die Anregung der Propsteisynode mußte ja erst noch in die Landessynode, die endgültig darüber zu beschließen hatte. Dazu mußte sie im Fachausschuß, dem Gemeindeausschuß, vorbereitet werden.. Vorsitzender der Gemeindeausschusses war zu der damaligen Zeit Pfarrer Erich Warmers, der dem konservativen Bugenhagen-Flügel der Landesynode angehörte.

Am 19.1.1973 stand der Antrag der Propsteisynode auf der Tagesordnung des Gemeindeausschusses, der nach eingehender Beratung die Ansicht vertrat, "daß Lektoren entspr. Art. II der Richtlinien für die Ordnung der Lektoren und Prädikanten die Möglichkeit gegeben werden sollte, nach geeigneter Ausbildung und Einweisung bezüglich des Taufgespräches, Taufen zu halten." Der zuständige Propst solle ermächtigt werden, den Einsatz von Lektoren von Fall zu Fall oder für einen bestimmten Zeitraum auf Antrag des zuständigen Pastors zu regeln. Die notwendige Ausbildung könnte dem Männerwerk übertragen werden. Dazu müßten die Richtlinien vom 3.12.1970 erweitert werden. Trauungen und Beerdigungen sollten Lektoren wegen des damit verbundenen seelsorgerlichen Gespräches nicht übernehmen.

Dieser halbherzige Beschluß war unzureichend begründet. Ein Gespräch mußte in jedem Fall ja auch einer Taufe vorangehen. Die Taufe war ein Sakrament. Wenn ein Lektor aber ein Sakrament durchführen durfte, warum dann nicht Amtshandlungen, die jedenfalls theologisch weit darunter rangierten? Außerdem war die Rolle sowohl des Kirchenvorstandes wie der von den Amtshandlungen betroffenen Gemeindemitgliedern völlig außer Acht gelassen worden. Nur wenn diese zustimmten, sollten auch Trauungen und Beerdigungen vorgenommen werden.

Die Kirchenregierung jedoch akzeptierte selbst den Minimalvorschlag des Gemeindeausschusses nicht, weil er nicht verfassungskonform wäre. Artikel 15 stünde ihm entgegen. Damit schien der Antrag der Propsteisynode Helmstedt vom Tisch.

Der Antrag blieb liegen und ich schrieb im Gemeindebrief August-Oktober 1973 meine Befürchtung nieder, "daß eine Verstärkung der Befugnisse der kirchlichen Bürokratie und eine weitere Reglementierung der kirchlichen Basis dahin führt, daß die Kirche in Zukunft nur noch funktioniert, aber nicht mehr lebt, und das Wehen des Heiligen Geistes durch das Ticken der Computer im Amt ersetzt wird."

Es war OLKR Kammerer, der den Fortgang der Behandlung bei den Synodalgremien anmahnte und anregte, "einen aus der Helmstedter Propstei dabei zu haben". Daraus wurde aber nichts. Nun bildeten Gemeindeausschuß und Rechtsausschuß eine gemeinsame Beratungsgruppe. Dieser gemischte, gewichtige Ausschuß kam am 25. Januar 1974 zu folgendem überraschenden Ergebnis:

1. Nach Auffassung des gemeinsamen Ausschusses aus Mitgliedern des Rechtsausschusses und Gemeindeausschusses ist die Beauftragung von Lektoren zur Abhaltung von Taufen, Trauungen und Beerdigungen im Sinne der Artikel 14 und 15 der Verfassung rechtlich möglich.

2. Der Ausschuß sieht aber zur Zeit keine zwingende Notwendigkeit, eine Empfehlung auszusprechen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

Der gemeinsame Ausschuß widersprach also nun seinerseits der Auffassung der Kirchenregierung und behauptete die Verfassungskonformität. Mit einem Schlenker, es bestünde für eine praktische Regelung kein Handlungsbedarf, kam er jedoch der Kirchenregierung entgegen, der offenbar daran gelegen war, eine entsprechende Praxis der Lektoren zu verhindern. Dafür war es jedoch schon zu spät. Eine Taufe hatte in Reinsdorf bereits stattgefunden. Und sie wurde mit der Meinung des gemischten Ausschusses als verfassungskonform erklärt.

Am 15. und 16. März tagte die Landessynode im Gemeindesaal St. Katharinen in Braunschweig, behandelte unter Top 10 diese Auffassung des gemeinsamen Ausschusses und entzog sich mit einem unschönen Trick einer Synodalentscheidung. Das Schreiben von Propst Hobom und der Wortlaut des Textes der Propsteisynode Helmstedt enthalte nicht einen Antrag, sondern eine Bitte. Tatsächlich hatte Propst Hobom am 16.10.1972 an das Landeskirchenamt folgendes Schreiben aufgesetzt:

Die Propsteisynode habe am 6.9.1972 in Anwesenheit von OKR Brinckmeier, der ein Grundsatzreferat über "Amt und Dienst eines Lektors" gehalten habe, folgenden Beschluß verabschiedet. "Die Landessynode wird gebeten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß geeigneten Lektoren die Möglichkeit gegeben wird, in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Pfarramt Taufen, Trauungen und Beerdigungen zu halten." Das Landeskirchenamt möge diesen Beschluß auf dem üblichen Wege an die Landessynode herantragen.

Jedermann konnte aus dem Schreiben entnehmen, was die Propsteisynode Helmstedt wollte. Aber weil das Wörtchen "Antrag" im Schreiben fehlte, verzichtete die Landessynode auf einen förmlichen Beschluß in dieser Sache und beauftragte den Präsidenten der Landessynode, den Stadtdirektor Dr. Gremmels aus Königslutter, den Helmstedter Propsteisynodalen einen Brief zu schreiben.

Bei der Propsteisynode am 15.5.1974 berichtete Pfarrer Nebel als Landessynodaler "Zur Frage der Erweiterung der Befugnisse der Lektoren" über die Behandlung des Offleber Antrages in den landessynodalen Gremien. Es waren die Lektoren Borchardt, Kunde, Chmilewski, Holtheuer und Strasdath da. Als entscheidendes Hindernis wurde das von der Landessynode enggefaßte Ordinationsverständnis genannt. Außerdem würden die Lektoren selber nicht eine Erweiterung ihrer Befugnisse wünschen, und womöglich erkannten die Katholiken eine solche Taufe nicht an.

Die BZ berichtete von der Propsteisynode am 17.5. "Keine Taufe durch Lektor" und das entsprach nicht einmal der Auffassung des Gemeindeausschusses, geschweige denn der Auffassung des gemeinsamen Ausschusses. Es gab in der Landeskirche auf den verschiedenen Ebenen offensichtlich eine ganz unterschiedliche Interessenlage. Nicht theologische Einsichten bestimmten das kirchenpolitische Handeln, sondern kirchenpolitisch opportune Überlegungen bestimmten die Richtlinien der Kirchenregierung. Das war nicht unsere Sache.

Dieser Vorgang hatte zwei prägende Folgen: Herr Chmilewski hat in der Folgezeit keine Taufen mehr vorgenommen. Ich wurde in das Landeskirchenamt zitiert und mußte den Oberlandeskirchenräten Brinckmeier und Kammerer hoch und heilig versprechen, Taufen durch Lektoren nicht wieder zu dulden. Vermutlich wollten sie mit dieser Maßnahme mich nur vor einem Disziplinarverfahren schützen. Das Landeskirchenamt traute sich allerdings auch nicht, die von Herrn Chmilewski vorgenommene Taufe für ungültig zu erklären. Lektor Kunde hat dann später in Reinsdorf doch noch eine Taufe vorgenommen.

Die Mitte des Gottesdienstes ist für Luther nicht der Pfarrer oder der Priester, sondern die Gemeinde.

"In dem sacrament der pusz und vorgebung der schult thut der Pabst oder bischoff nit mehr denn der geringste priester: ya, wo ein priester nit vorhanden were, thut eben szo viel eyn yeglicher Christenmensch, ob er gleich eyn weib odder kind were... Szo alle tauffe und messen gleich gelten, wo und durch welchen sie geben werden, szo ist auch die absolution gleich, wo und durch welchen sie geben wirt; denn es liegt alles am glawben des, der sie empfehet, nicht an der heiligkeit, kunst, hohe, gewalt des, der sie gibt."

Da muß man erst bißchen studieren und sich hineinfinden. In diesen komisch geschriebenen Text. Luther sagt: jeder kann die Sündenvergebung spenden, auch taufen und Gottesdienst halten, denn es kommt vor allem auf den Glauben in der Gemeinde an. Wie können wir diesen lutherischen Gedanken bei uns in die Tat umsetzen? (aus dem Gemeindebrief November 1983)

Abendmahlsgottesdienste durch Lektor und Lektorinnen in Offleben

Die zweite Konsequenz war weitreichender: beim zweiten Anlauf in einer kirchenreformerischen Frage verzichteten wir auf eine Zustimmung der Landessynode und gingen diesen Schritt mit Zustimmung des Kirchenvorstandes. Der Kirchenvorstand hatte nämlich die Abhaltung von selbständigen Abendmahlsgottesdiensten durch Lektoren beschlossen. Diese haben sich seit über 20 Jahren in der Offleber und Reinsdorfer Kirchengemeinde eingebürgert. Sie wurden von Lektor Gerd Kunde in großer evangelischer Freiheit nach der Ordnung der Landeskirche vorgenommen und gerne gemeinsam mit der Gemeinde gefeiert.

Lektor Gerd Kunde

Gerd Kunde, Jahrgang 1925, stammte aus Pommern und war als 20jähriger Soldat nach Helmstedt verschlagen worden, wo er Zollbeamter wurde. Er wurde aktives Gemeindemitglied in der Thomasgemeinde von Pfarrer Nebel noch zu einer Zeit, als diese ihre Gottesdienste in der Berufsschule hielt, und dann 18 Jahre lang bis 1982 Küster der Gemeinde. 25 Jahre lang war er Vorsitzender der Küstervereinigung in unserer Landeskirche und lange Zeit auch auf EKD-Ebene in dieser Funktion tätig. 1966 war er zusammen mit Rudi Chmilewski und anderen als Lektor eingeführt worden.

Lektor Kunde hatte bei Pfarrer Nebel die festliche, unverkrampfte liturgische Art der Abendmahlsfeier kennengelernt und sie ganz selbstverständlich dann in unseren Gemeinden angewendet. Viele Abendmahlsgottesdienste hat Lektor Kunde auf diese Weise zum Segen der Gemeinde gehalten.

Die Arbeit geht mit eigenen Kräften weiter

Andere Lektoren trauten sich das nicht so zu. Lektor Kunde wurde das Reisen zu beschwerlich. Diese wichtige, zukunftsweisende Arbeit wäre nicht weitergegangen, wenn aus der Offleber Gemeinde nicht die bereits predigterprobten Lektorinnen sich überwunden hätten, auch selbständige Abendmahlsgottesdienste zu halten.

So feierten die Lektorinnen der Offleber Gemeinde Bärbel Mock, Elvira Blank und Anke v. Kowalski, die durch den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und durch den engen Kontakt mit Kirchenvorstand und Pfarramt ausreichend zugerüstet waren, unter selbstverständlicher Akzeptanz der Gottesdienstgemeinde zum ersten Mal am 7. Februar 1993 und seither wiederholt Abendmahlsgottesdienste.

Der lange Weg einer rechtlichen Grundlage

Ich erstrebte eine ordentliche rechtliche Grundlage und brachte dazu zusammen mit dem Synodalen Voß im März 1993 einen Antrag in die Landessynode ein. Unser Antrag zielte auf eine Änderung der Richtlinien, in die in Zukunft der Satz eingefügt werden sollte: "In besonderen Fällen kann er (der Lektor) für eine befristete Zeit in einer bestimmten Gemeinde mit der Darreichung der Sakramente beauftragt werden". Den Antrag hatten Dekan Denecke, die Pfarrer Adam, Vollhardt, Römer, Herr Dr. Voß und andere unterschrieben. Die Anträge wurden auf die Oktobersynode verschoben.

Im Gemeindeausschuß am 9. Februar 1993 berichtete ich fröhlich vom ersten Lektorenabendmahlsgottesdienst und von der dankbaren Aufnahme durch die Gottesdienstgemeinde. OLKR Becker sah jedoch die kirchliche Gemeinschaft beschädigt und bedauerte das Geschehen in Offleben. Ich fragte mich, welche Gemeinschaft wir denn bei diesem Gottesdienst gestört haben können. Die Landessynode überwies die Anträge in die Ausschüsse.

Landesbischof Müller kam aus diesem Grunde noch im selben Jahr in das Offleber Pfarrhaus, wo wir ihm unseren Wunsch vortrugen, das Landeskirchenamt möge die Offleber Übung absegnen. Tatsächlich erklärte sich Landesbischof Müller bereit, daß nur für die Offleber Kirchengemeinde und nur für die Zeit der Besetzung durch das Pfarramt mit Pfarrer Kuessner die Lektorinnen Abendmahlsgottesdienste halten dürften. Wir haben diesen Bescheid nie schriftlich erhalten. Er wurde später sogar in Zweifel gezogen, was im Offleber Kirchenvorstand die Tendenz verstärkte, in eigener geistlicher Vollmacht die Abendmahlsgottesdienste zu gestalten.

Zu einem gewissen Durchbruch kam es bei der Landessynodalsitzung am 26. Februar 1994 in Salzgitter-Lebenstedt. Der Gemeindeausschuß hatte den Antrag von Voss und mir gründlich in mehrfachen Sitzungen durchberaten und nun eine eigene Vorlage erarbeitet. Danach konnte ein Pfarrer durch den Propst eine Lektorin oder einen Lektor beauftragen, vertretungsweise einen Abendmahlsgottesdienst zu halten, eben wenn der Pfarrer z.B. im Urlaub war. Mit Recht gab der Gemeindeausschußvorsitzende Pfarrer Liersch zu bedenken, daß die Bedeutung der Predigt immer geringer werde, je höher man die Schwelle für die Darreichung des Abendmahls mache. Das sei deshalb unlogisch, weil ja bei einer Predigt sehr viel mehr falsch gemacht werden könne als bei der Austeilung des Abendmahls. Landesbischof Müller und Propst Fiedler äußerten deutliche Bedenken, OLKR Becker jedoch befürwortete den Antrag und auch OLKR Niemann unterstützte den Antrag unter dem Vorbehalt einer rechtlichen Prüfung durch das Landeskirchenamt. Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung stimmte die Landessynode zu. Damit war im Kern das Anliegen unserer Gemeinde aufgenommen.

Die Hoffnung, daß unter einem neuen, für Kirchenreformen aufgeschlossenen Landesbischof die Gestaltung der Abendmahlsgottesdienste durch die Lektorinnen und Lektoren dauerhaft begrüßt und genehmigt würde, zerschlug sich gründlich. Als wir diese nunmehr schon lange eingeübte Sitte im Visitationsbericht von 1996 erwähnten, wurde uns die Freude über diesen geistliche Reichtum getrübt. Auch Bischof Krause und Propst Fischer erhoben einmütig aus kirchenrechtlichen Gründen die bekannten, nach rückwärts gewandten Einwendungen. Das konnte uns nun allerdings nicht mehr irritieren. Wir hielten uns an die Zusage von Landesbischof Müller, daß pro loco et tempore, also: nur für Offleben und Reinsdorf (pro loco) und solange ich dort Pfarrer sein würde (pro tempore) Lektorinnen Abendmahlgottesdienste halten dürften. Damit war der Nachfolger oder eine Nachfolgerin nicht gebunden und konnten, wenn sie den Kirchenvorstand überzeugten, von der inzwischen gewachsenen Tradition wieder abweichen. Es ist richtig, daß nach meinem Weggang über diese Frage neu nachgedacht wird. Jede Pfarrerin/jeder Pfarrer/wird ja ihr/sein eignes Kirchenverständnis unter den vorgegebenen örtlichen Bedingungen verwirklichen wollen. Ich hatte dies für mich in Anspruch genommen. Die Nachfolger sollten dieselbe Möglichkeit erhalten und konnten völlig neu ansetzen.

In den Kirchen in der DDR schon weiter?

Wie auch in anderen Fragen war mir hinsichtlich des Amtes des Laien in der Gemeinde ein Blick über die Grenze tröstlich. Meinem Eindruck nach waren die Kirchengemeinden in der DDR in mancher Hinsicht selbständiger als wir im Westen. Die Bundessynode in Görlitz hatte im Mai 1977 über das Thema "Der Laie in Gemeinde und Kirche" diskutiert und dabei zur Lektorenarbeit folgenden Beschluß gefaßt:

"In Landgemeinden und Gemeinden am Stadtrand werden in zunehmenden Maße Gemeindeglieder für die Sammlung der Gemeinde verantwortlich sein. Sie laden zu Gemeindeveranstaltungen ein, führen sie durch und sind für sie verantwortlich.

Sie gestalten Andachten, Bibelarbeiten, Gesprächsrunden und Gottesdienste. Man wird ihnen gelegentlich auch andere Dienste übertragen. Sie leiten faktisch die Gemeinde, die Christengruppe im Wohngebiet und sind so Leiter von Dorf- und Hauskreisen. Sie sind "Bezugspersonen" in dem Sinn, daß Menschen ihres Wohngebietes sie für zuständig halten, in allen Fragen, die den Glauben und die Gemeinde betreffen. Deshalb wird oft auch eine seelsorgerliche Hilfe von ihnen erwartet werden.

In diesen Funktionen wird man ihnen auch die Gestaltung von gemeinsamen Feiern zumuten. Es muß in diesem Zusammenhang überlegt werden, ob ihnen unter gewissen Voraussetzungen auch die Austeilung des Heiligen Abendmahls übertragen werden soll."

Das Modell einer priesterlichen Kirche als Beendigung dieses Reformschrittes

Vom 27.-29. Mai 1999 hielt die Landessynode eine Tagung zum dem Thema "Zukunft der Kirche - Kirche der Zukunft" ab. Dabei hielt OLKR Kollmar das Hauptreferat. Er ging davon aus, daß im Zuge der 68iger Protestbewegung in der Bundesrepublik die prophetische Dimension in der Kirche durchgebrochen wäre. Diese müsse nun abgelöst werden durch eine priesterliche Dimension. Kollmar versteht unter prophetischer Dimension ein vor allem gesellschaftskritisches, in die Tagespolitik eindringendes Verhalten der Kirche, wie sie es in der Frage des deutschen Osten, der Abrüstungsdebatte und der Umweltfragen getan habe. Diese Phase sei nun abgelaufen. "Meine These lautet also: jetzt schon und in Zukunft noch stärker wird die priesterliche Funktion von Kirche in den Vordergrund treten bzw. auch von anderen erwartet. Weniger ihre prophetische Funktion als gewerkschaftlicher und parteilicher Anwalt. Sondern ihre religiöse Kompetenz und Kraft, ihre geistlich-moralische Orientierung, ihre kultische Präsenz, ihr Vorbildcharakter ist gefragt. Kirche soll wieder Repräsentantin von göttlicher Transzendenz, von dem Unverfügbaren sein."

Ich halte die Trennung von prophetischem und priesterlichem Amt historisch und systematisch für falsch. Man kann hierbei nicht von zwei getrennten abgeschlossenen Epochen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte sprechen. Während der von Kollmar so genannten prophetischen Epoche sind solche geistlichen Produkte wie eine neue Lutherübersetzung, eine überarbeitete Agende und ein neues Gesangbuch entstanden. Die gesellschaftskritische Form hat auch immer geistlich-liturgische Entwürfe hervorgebracht. Außerdem übersieht Kollmar, daß die Gesellschaft seit 1982 von einer ermüdenden, geistlosen, streckenweise in dubiose Geschäfte verstrickten Regierung Kohl geprägt ist, in der das prophetische Amt der Kirche gerade nicht aktiv geworden ist. Vor allem aber hat sich das prophetische Amt auch im Alten Testament nie so verstanden, daß es von einer geistlichen Dimension getrennt war. Beides gehörte eng zusammen. Ein prophetisches Amt ohne geistliche Dimension wird Propaganda, und ein geistliches Amt ohne prophetische Dimension artet in starre Sakralität aus.

Bei Kollmar erhält als Folge nun auch das Priesteramt eine besondere Position. Er tritt ein für eine "Stärkung des Amtes, auch das Bischofs- und Propstamt". Das ist genau die gegenläufige Entwicklung von dem, was die Reformbewegung Mitte der neunziger Jahre in unserer Landeskirche erstrebte: die Dezentralisierung des hervorgehobenen Amtes in verschiedene Dienste, die Entdeckung der geistlichen Kompetenz der nichtordinierten Mitglieder.

Brinckmeier gegen Kollmar

Es ist vor allem eine gegenläufige Entwicklung zu dem, was einmal im Gemeindereferat und auch im Personalreferat unter Oberlandeskirchenrat Brinckmeier in den 70iger Jahren entwickelt worden war.

Brinckmeier, der zu meinen theologischen Lehrern in der Braunschweiger Landeskirche gehört, verabschiedete sich am 9.5.1974 von der Landessynode, die in erster Lesung über die neue Kirchengemeindeordnung debattierte, mit einem Referat über "Pfarrer und Gemeinde, Gedanken am Ende eines Amtsweges". Er beschäftigte sich eingangs mit der Definition der Kirchengemeinde in der Fassung der Kirchenordnungen von 1909 und 1922. Weil es eine so schöne romantische Formulierung ist, zitiere ich sie wörtlich: "Jede Kirchengemeinde hat die Aufgabe, unter Anregung und Leitung des in ihr bestehenden geistlichen Amtes sich zu einer Pflanzstätte evangelischen Glaubens und Lebens zu gestalten." Die Gemeinde - ein Garten. Mehr - eine Pflanzstätte. Das erinnert mich daran, daß man früher zur staatlichen Ordnung nicht "Verfassung" sagte, sondern "Landschaftsordnung". In der kirchlichen Landschaftsordnung also die Kirchengemeinde als Pflanzstätte des evangelischen Glaubens. Das ist ganz nach meinem Geschmack.

Brinckmeier zitierte dann weiter den § 2 des Pfarrergesetzes von 1972, wonach ein Pfarrer in einem Dienst stünde, der bestimmt und begrenzt würde durch den Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn erhalten habe. Und dazu führte Brinckmeier wörtlich aus: "Also nicht er, der Pfarrer, hat diesen Auftrag vom Herrn direkt erhalten, auch nicht seine Gemeinde, vertreten durch den Kirchenvorstand, auch nicht die Kirchenleitung, vertreten durch die Kirchenregierung, sondern die Kirche als Ganzes. Das geistliche Amt ist mehr als der Beruf des einzelnen Pfarrers. Es ist der ganzen Kirche aufgetragen. Alle Kirchenmitglieder tragen ihre Verantwortung für die Ausrichtung des Amtes, obwohl sie nicht alle den Pfarrerberuf ausüben." Es gibt also, ganz anders als Kollmar es sieht, ein Amt; dieses eine Amt beruht auf dem Auftrag des Herrn der Kirche. Dieses eine Amt entfaltet sich in verschiedenen Diensten und Aufgaben. An dem einen geistlichen Amt in der Pflanzstätte des evangelischen Glaubens haben alle anregenden und belebenden Anteil. Brinckmeier fügt ausdrücklich später hinzu: Anregung sei nicht "das Monopol des Pfarramtes."

Am Ende des Referates beschäftigt sich Brinckmeier mit der Frage, was denn eine Kirchenordnung im Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde tun könne. "Das ist, daß Möglichkeiten der Entwicklungen offen gehalten werden, daß Entwicklungen geschützt werden, die angefangen haben." Das ist eine weitsichtige Definition der Aufgabe einer kirchenrechtlichen Ordnung: Nicht: Festklopfen und Einrahmen, sondern Öffnen und beginnende Entwicklungen schützen.

Das konnten wir wohl für unseren Kirchengemeinden in Anspruch nehmen: es war in dieser Pflanzstätte des evangelischen Glaubens etwas gewachsen, was des Schutzes durch die Kirchenleitung bedurfte. Es wurde uns verhagelt. Aber wir konnten uns auch selber schützen.

Der Durchbruch: Abendmahlsgottesdienst durch Lektoren in der Landeskirche

Zur Synodalsitzung am 18. November 2000 hatte Rektor und Lektor Norbert Bengsch einen erneuten Antrag eingereicht, die Entscheidung über einen Abendmahlsgottesdienstes in die Hände des Kirchenvorstandes zu legen. Er legte dem Antrag die entsprechend zu ändernden Richtlinien bei. Bengsch unterschied zwischen Verwaltung und Darreichung des Sakramentes. Das ist im Grunde eine theologische Spitzfindigkeit, die die Gemeinde nicht versteht und mit der Feier des Abendmahls eigentlich gar nichts zu tun hat. Sie nimmt indes Rücksicht auf die Empfindlichkeit jener Pfarrer, die auf mögliche, erworbene, geistliche Rechte pochten. Danach ist dem Pfarrer die Verwaltung des Sakraments übertragen. Daran rüttelt der Antrag von Bengsch nicht. Aber die "Darreichung" sollte nun den Lektorinnen und Lektoren gewährt werden und zwar auf Beschluß des Kirchenvorstandes. Der Gemeindeausschuß stimmte dieses Mal mit sehr großer Mehrheit zu. Nur die Schöppenstedter Pröpstin stimmte dagegen und wollte dieses Recht nicht an die Kirchenvorstände abgeben. In der Landessynode votierte nur OLKR Kollmar heftig zweimal gegen diesen Antrag, dem trotzdem die Landessynode mit großer Mehrheit zustimmte. Der Beschluß hat folgenden umständlichen Wortlaut:

"Nach besonderer Ausbildung und Zulassung kann der Lektor Abendmahlsgottesdienste halten Die Darreichung bedarf der Beauftragung durch das Pfarramt im Benehmen mit dem Kirchenvorstand. Die Verwaltung der Sakramente bleibt dem ordinierten Pfarrer vorbehalten."

Damit war im Kern unsere Offleber Regelung für die ganze Landeskirche eingeführt. Nach der Abstimmung stand OLKR Kollmar prompt auf und erklärte sich aus Gewissengründen daran gehindert, solche Richtlinien zu erlassen. In der Folgezeit stellte sich heraus, daß auch Frau OLKR Müller und Bischof Krause sich nicht in der Lage sahen, solche Richtlinien zu erlassen. Das Landeskirchenamt weigerte sich, den Synodalbeschluß umzusetzen und teilte dies der Landesynode in der Maisitzung 2001 mit. Das veranlaßte mich, mit anderen Synodalen eine Besprechung dringender Angelegenheiten zu beantragen und festzustellen, daß damit ein Konflikt zwischen zwei Verfassungsorganen vorläge und der theologische Hintergrund von OLKR Kollmar verdächtig katholisch wäre. Es gab eine Debatte, der Bischof versprach, die Pröpste zu bewegen, doch eine Genehmigung zu erteilen. Es war das alte Durcheinander wie vor der Beschlußfassung.

Lektorenvergütung

Auch ein Anlauf, die Lektorenvergütung der Organistenvergütung wenigstens leicht anzugleichen, scheiterte in der Landessynode. Dazu lag zunächst ein Antrag von mir vor, dann kam ein Antrag der Propsteisynode Vorsfelde, der jedoch abgeschmettert wurde.

Wenig später jammerte der Konvent der Lektoren bei seiner Jahrestagung 1999 öffentlich über mangelnde Anerkennung und über mangelhafte Vergütung. Er hatte sich selber leider mit einer kräftigen Stellungnahme zum Vorsfelder Antrag zurückgehalten, sodaß wir uns in der Landessynode sogar von Lektoren dem Argument ausgesetzt sahen, sie seien selber mit ihrer Vergütung ganz zufrieden.

Bischof Hoffmann: Beteiligungsoffene Gemeindekirche gegen Konsumentenkirche

Auf die Dauer wird die Entwicklung jedoch nicht aufzuhalten sein: die Lektoren werden in absehbarer Zeit alle Kasualien grundsätzlich halten können. Darauf müßte eine künftige Lebensordnung hinwirken. In der Märznummer des Deutschen Pfarrerblattes 2001 wird ein Beitrag des thüringischen Landesbischofs Hoffmann unter der Überschrift "Abschied von der Konsumenten- beziehungsweise Pfarrerkirche" zitiert. Darin heißt es: "Beteiligungsoffene Gemeindekirche ist die Kirche, die aus der Gabenvielfalt des Leibes Christi lebt." Alle Gaben, die eine Kirchengemeinde nötig habe, seien der Gesamtgemeinde verheißen, nie dem Pfarrer allein. "Alle Gemeindeglieder sind - weil von Gott begabt - aufgerufen, sich an der pastoralen Arbeit zu beteiligen, ihre eigenen Gaben und Fähigkeiten zu entfalten und sie in das Gemeindeleben einzubringen." Das haben wir bereits viele Jahre in Offleben und Reinsdorf in spürbarem Segen und gemeinsamer Freude verwirklicht.


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