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[Kirche von unten]

Gemeinsam - zärtlich - radikal

18. Kapitel

"So was wie Sie woll'n wir nicht"

Auf der Grenze zwischen Seelsorge und Kirchenrecht - die Prozesse

Der Landwirt Franz Brammer aus Gevensleben, seit 1958 Mitglied der Propsteisynode, später Mitglied der Landessynode und auch Mitglied der Kirchenregierung, ließ während der Propsteisynode am 12. Oktober 1984 diese Bemerkung fallen: "So was wie Sie woll'n wir nicht". Wir in der Kirchenregierung, wir in der Landwirtschaft, wir im Heeseberg, wir in den gut bürgerlichen Kreisen. Überhaupt wir in der Kirche.

Das war mir nicht so furchtbar überraschend, aber die Härte dieser hingeworfenen Bemerkung habe ich nicht vergessen. Und sie war wirklich echt. Brammer hat sie nie bereut oder sich entschuldigt. Ich sollte ein für allemal Bescheid wissen: für einen bestimmten Teil der Kirche, der für sich in Anspruch nahm, für einen regierenden und repräsentativen Teil der Landeskirche zu sprechen, war ich nicht integrierbar, unerwünscht, ungewollt. Am besten wäre es, ich würde aus der Landeskirche verduften. Da hinderte nicht, daß Brammer und ich vor einiger Zeit beim 40. Geburtstag seines Ortspfarrers Frank Barche in Watenstedt friedlich und frotzelnd und Erinnerungen an die Pfarrer von anno dazumal austauschend nebeneinander gesessen haben. Als ob nichts gewesen wäre. Das hier ist hierzulande ziemlich verbreitet.

Dieses in seinem Alleinvertretungsanspruch anmaßende Urteil kennzeichnet zutreffend die Wünsche und Ängste eines Teils der konservativen Mittelklasse in der Braunschweiger Landeskirche. Gespräche hält dieser Teil für überflüssig, weil er sich im unabänderlichen, übernatürlichen Recht dünkt. Dabei weiß ich bis heute nicht genau, was er an mir eigentlich so schrecklich fand: Predigten hat er meist gar nicht gehört, Gottesdienste auch nicht erlebt, an der Gemeindearbeit wurde ebenfalls nicht viel herumgekrittelt. Es muß wohl das von mir vermittelte Pastorenbild gewesen sein, das ihn an mir gestört hat. Es wurde sich darüber nie richtig ausgesprochen.

Aber das ist nur die eine Seite: ich habe persönlich auch viel Förderung, Verständnis, Gesprächsbereitschaft und immer wieder neue Anfänge erfahren, auch im Landeskirchenamt, auch in der Landwirtschaft, auch in der Propstei, auch im gediegenen Bürgertum im Bereich der Landeskirche, auch in der verbürgerlichten Kirche. Mehr allerdings von denen, die mit einem Bein doch schon außerhalb der organisierten Kirche standen.

Immerhin sollen in diesem Kapitel die Versuche dokumentiert werden, die das Landeskirchenamt mit Hilfe von Teilen der regionalen CDU unternahm, mich aus dem Pfarramt Offleben/Reinsdorf-Hohnsleben zu verdrängen. Erfolglos zwar, aber ich wünsche es eigentlich keinem Amtsbruder. Dazu kommt noch ein etwas witziges, versandetes Verfahren Mitte der 80iger Jahre.

Der erste Versuch kulminierte in einem Verfahren vor der Disziplinarkammer in den Jahren 1977/79 mit ganz erstaunlichen "Ermittlungen" und ebenso stürmischen "Anhörungen" im Landeskirchenamt. Dem letzten Versuch gingen längere Ermittlungen voraus und mündeten in eine angeblich vorläufige Suspendierung im Jahre 1998, über deren Ende es drei unterschiedliche Versionen gab. Es gab dazu ein Verfahren vor dem Rechtshof im März 1999, ein weiteres vor der Disziplinarkammer der Konföderation im November 1999 und eine Revisionsverhandlung vor dem Senat der VELKD im November 2000.

Das erste Disziplinarverfahren 1977/79

Der eigentliche Anlaß und die Mehrheit der späteren Anklagepunkte im ersten Verfahren hing nicht etwa mit meiner Gemeindearbeit zusammen, sondern mit meiner kommunalpolitischen Tätigkeit. Die Urheber des Verfahrens waren ein Teil der örtlichen CDU.

Am 28. September 1977 hatte es im Großen Büddenstedter Rathaussaal eine dramatische Gemeinderatssitzung gegeben, an der Frau Adrian und ich als Ratsmitglieder (der FDP) teilgenommen hatten. Etwa 400 Zuschauer waren gekommen. Der von der CDU/FDP-Gruppe zunächst auf Probe angestellte Gemeindedirektor Erwin Lück hatte sich unserer Meinung nach nicht bewährt. Wir wollten ihn mit Hilfe der SPD-Stimmen wieder loswerden, was nach der Niedersächsischen Gemeindeordnung zwar möglich war, aber in der Praxis doch äußerst selten vorkam. Mit den Stimmen der SPD wurde in öffentlicher und persönlicher Abstimmung der Gemeindedirektor auf Probe wieder nach Hause geschickt.

Die Rache der CDU folgte auf dem Fuße. Ein Leserbrief mit einigen Frechheiten gegen die Vertreter von SPD und FDP landete im Landeskirchenamt und stieß auf Interesse. Der pensionierte Verwaltungsdirektor der Helmstedter Kreisverwaltung, der auch Präsident der Landessynode war, und der Propst Jungmann wurden gebeten, offiziell das Landeskirchenamt zu unterrichten und diejenigen Gemeindeglieder, die sich in dieser Sache beschwert fühlten oder gar aus der Kirche austreten wollten, sollten ihr Anliegen dem Landeskirchenamt direkt mitteilen.

Diese sonderbare Anregung fiel auf fruchtbaren Boden und fünf Tage später trafen die ersten schriftlichen Beschwerden aus Kreisen der CDU ein. Sie trugen in parteipolitischer Manier kräftig auf: "So ein Seelsorger gehört hier nicht in unsere Gemeinde, deren Bewohner hier täglich den Stacheldraht vor Augen haben! Wir brauchen einen Menschen, der auf jeden Menschen Wärme ausstrahlt und dem wir uns vertrauensvoll auch in Not und mit Sorgen zuwenden können. Er ist ein "Mensch" ohne Gewissen, ein Unruhestifter und Aufwiegler im höchsten Grade, der die Gemeinde zerklüftet! Ich bitte dringend im Interesse aller Bürger, diesem Treiben ein Ende zu machen." Es waren dick aufgetragene Beleidigungen, die mir vorerst unbekannt blieben, gegen die ich auch später nichts unternehmen konnte, denn die Verfasser wünschten ausdrücklich, anonym zu bleiben.

Am Anfang dieses Verfahrens standen also nicht Beschwerdebriefe aus den Gemeinden über meine Gemeindearbeit, sondern eine scharfe kommunalpolitische Entscheidung und eine Absicht des Landeskirchenamtes, die amtsintern so formuliert wurde: es habe keinen Zweck, wenn in den Gemeinden von Herrn Pfarrer Kuessner und im weiteren Bereich des Landkreises über das Verhalten von Pfarrer Kuessner in seiner politischen Betätigung in der Weise gesprochen werde, daß damit die Kirche belastet werde bis hin zu Ankündigungen von Kirchenaustritten. Der Zweck war damit klar definiert: Kuessner belastet die Kirche. Die Kirche will diese Last los sein.

Die vier Beschwerdebriefe wurden vom Landeskirchenamt dankbar beantwortet und den Beschwerdeführern das Gefühl vermittelt, daß sie in ihren Anschuldigungen gegen mich nicht alleine dastünden. Der Helmstedter Propst Jungmann wurde aufgefordert, umgehend alles Material zuzuschicken, was an Beschwernissen über mich aus der letzten Zeit vorläge.

Ich bekam eines Tages die Aufforderung, im Landeskirchenamt zu erscheinen. Ich sollte mich zu einigen Beschuldigungen äußern. Ich war leicht aufgeschreckt durch ein Telefonat von OLKR Dr. B., der etwas von "Suspendierung" murmelte und nahm daher zwei befreundete Pfarrer als Zeugen mit, den Nachbarpfarrer Ulrich Adrian und Michael Künne aus Schöningen.

So saßen wir drei zwei Tage vor Weihnachten ahnungslos dem stellvertretenden Landesbischof sowie OLKR Dr. B. gegenüber, der eingangs erklärte, er träte hier als Staatsanwalt auf. Wir wußten nicht, daß er bereits Anfang Dezember dem Kollegium von angeblich haarsträubenden Dingen aus meinem kommunalpolitischen Leben berichtet hatte und zwar jeweils nicht in der Form einer Möglichkeit, sondern als Tatsachenbehauptung: "Kuessner hat... Kuessner bedient sich... Kuessner beleidigt." Wenige Tage später trug er den Sachverhalt auch der Kirchenregierung vor, die eigentlich die Suspendierung schon hätte aussprechen können, aber es dafür fehlten ihr nun doch die Belege.

Die Kirchenregierung bat das Landeskirchenamt um beschleunigte Durchführung der Ermittlungen. Es fehlte ein Geständnis oder eine Erklärung, die man so deuten konnte. Dazu sollte die sogenannte "Anhörung" dienen. Daß ich zwei Zeugen mitgebracht hatte, fiel unangenehm auf. Dr. B. erklärte, die Sache liefe auf die Eröffnung eines Verfahrens vor der Spruchkammer hinaus. Während dieser Zeit sollte ich suspendiert werden und damit ich aus dem ganzen Schlamassel herauskomme, mit einer Aufgabe in einer anderen, kleineren Gemeinde betraut werden. Den Vertretungsdienst würden die Pfarrer der Propstei übernehmen.

Offenbar wollten die beiden Oberlandeskirchenräte mit dieser überraschenden Offenherzigkeit mich zu einer raschen Stellungnahme veranlassen und hielten mir nun die einzelnen Beschuldigungen vor. Auf meine Frage, wer denn die Beschwerdeführer wären, wurden wir drei im Dunkeln gelassen. Das wäre alles geheim und anonym. Ich erbat mir eine schriftliche Ausfertigung der Beschwerden und versprach eine schriftliche Erwiderung. Dagegen drängten die Oberlandeskirchenräte wenigstens auf eine mündliche Teilerklärung. Diese hätten sie als eine halbwegs endgültige Stellungnahme mißverstehen können. Ich blieb daher unzugänglich. Darüber wurde OLKR Dr. B. derart wütend, daß er grußlos den Raum verließ. Ich bat um Ausfertigung wenigstens eines Gesprächsvermerkes. Aber auch dazu kam es nicht, denn nun erhob sich auch OLKR W., und erklärte die Anhörung für beendet und verließ den Raum. So saßen wir drei zwei Tage vor Weihnachten verlassen im Dienstzimmer des Landeskirchenamtes: "O du selige Weihnachtszeit".

Tatsächlich bekam ich am Silvestertag, an dem ich zwei Abendmahlsgottesdienste in beiden Gemeinden hielt, einen mehrseitigen Brief mit elf Anschuldigungen, zu denen ich mich binnen zehn Tagen zu äußern hätte. Die meisten bezogen sich auf meine Tätigkeit als Ratsherr, nur eine auf die mit dem Kirchenvorstand gemeinsam vorgenommene Renovierung der Reinsdorfer Kirche. Ich war über die rücksichtslose Terminierung fassungslos. Vor mir waren lagen die beiden Gottesdienste zu Neujahr und zu Epiphanias, den wir in Reinsdorf als festlichen ökumenischen Gottesdienst anläßlich der Wiedereröffnung nach der Renovierung der Kirche geplant hatten.

Ich gab die Anschuldigungsschrift den Kirchenvorständen zur Kenntnisnahme, die nun das Landeskirchenamt um ein Gespräch baten, weil sie nicht erst nach Abschluß der Ermittlungen gehört werden wollten. Am 13. Februar 1978 kam es zu zwei getrennten Kirchenvorstandsitzungen, am Runden Tisch in der Reinsdorfer Kirche und im Offleber Konfirmandensaal. Die Vorsitzenden der beiden Kirchenvorstände ließen sich die Leitung der Sitzung nicht aus der Hand nehmen und stellten mit Erstaunen fest, daß OLKR Dr. B. die Ermittlungen nicht mehr führte, weil, so vermutete der Kirchenvorstand, er mit einer Beschwerdeführerin gut bekannt war. Verschiedene Anschuldigungspunkte wurden in dieser Sitzung wieder fallengelassen und nach einer ausführlichen Diskussion stellte der Reinsdorfer Kirchenvorstand fest, daß entgegen den Behauptungen der Beschwerdeführer Pfarrer Kuessner ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Gemeindegliedern habe und von ihnen anerkannt und geachtet werde.

Ende des Jahres 1978 schied auch der andere Oberlandeskirchenrat aus dem Ermittlungsverfahren aus und überließ die Prozedur Herrn Landeskirchenrat K., der mit einem elfseitigen Schreiben in das Verfahren neu einstieg. Ich hatte mir mit Stellungnahmen zu den Anschuldigungen die Finger wund geschrieben, in vier Schreiben insgesamt 65 Seiten und 39 Anlagen.

Inzwischen hatte auch der Kirchenvorsteher Jochen Brandes einen Einblick in die Art einer Anhörung und das danach erstellte Protokoll gemacht. Es wäre genau das Gegenteil ins Protokoll geschrieben worden von dem, was er gesagt hatte. Er hätte daraufhin die Unterschrift verweigert.

Bei einer weiteren Anhörung wurde ich im Landeskirchenamt laut, sodaß der stellvertretende Landesbischof durch die Tür geschossen kam und mich kräftig aus dem Raum zu drängen suchte. Rangelei im Amt. Es uferte irgendwie aus. Räubergeschichten? Mitnichten. Alles aktenkundig.

Schließlich wurde eine Anklage erhoben. Mit Schreiben vom 6. März 1979 erhielt ich die Anschuldigungsschrift mit zehn Punkten und etlichen Unterpunkten, von denen sich einige auf meine Ratstätigkeit und andere auf meine Umgangsformen im Briefverkehr mit dem Landeskirchenamt bezogen, die zugegebenermaßen gelegentlich teils flapsig und teils auch mal drastisch waren, aber es handelte sich meist um Reaktionen auf ziemlich haarsträubende Behauptungen des ermittelnden Landeskirchenamtes. Tatsächlich berechtigt mag der Vorwurf gewesen sein, ohne die vorgeschriebene kirchenaufsichtliche Genehmigung die Reinsdorfer Kirche renoviert zu haben.

Ich mußte mir einen Verteidiger nehmen und fand Helmut Ebel aus dem Rechtsanwaltbüro von Jörg Goltermann und Barbara Kramer. Das hatte immerhin den Vorteil, daß dieser sämtliche Akten anfordern konnte und nun las ich zu meinem Entsetzen und Vergnügen, was sich die einzelnen Referate in dieser Sache gegenseitig geschrieben hatten und vor allem von den Ermittlungen, die OKLR W. im Dorf und Nachbardorf angestellt hatte. Ich las jetzt erst alle Namen der Beschwerdeführer und es war völlig klar, daß die ganze Sache von Teilen der Büddenstedter und Reinsdorfer CDU eingefädelt war.

Mir war neu, daß der Beschuldigte einseitig irgendwelchen, meines Erachtens leichtfertigen Beschuldigungen ausgesetzt war und die Last des Gegenbeweises zu tragen hatte. Der ermittelnde Oberlandeskirchenrat hatte z.B. in der Reinsdorfer Dorfkneipe zu Mittag gegessen und dann nach mir gefragt. Der Gastwirt wollte offenbar der CDU zur Hilfe kommen und phantasierte, ich hätte betrunken am Tresen gesessen und das Bier sei mir aus dem Mund geflossen. So ein Unsinn wurde mir vorgehalten und dagegen sollte ich Stellung beziehen. Ich lernte aber auch, daß Zeugen für die unmöglichsten Dinge benannt werden können. So wurde z.B. Bürgermeister Lickfett als Zeuge dafür benannt, daß ich während einer nichtöffentlichen Verwaltungsausschußsitzung einen schweren Aschenbecher gezielt nach dem Gemeindedirektor geworfen haben sollte. Auch dieser nicht unbeträchtliche Vorwurf wurde später einfach fallengelassen.

Als theologischen Verteidiger gewann ich den Goslarer Propst Hans Jürgen Kalberlah, was mir wichtig war, weil der kurzfristig neu eingeführte Kronzeuge des anklagenden Landeskirchenamtes mein Propst aus Helmstedt war, der mal in Goslar Pfarrer gewesen war.

Seither verbindet mich mit Ehepaar Kalberlah eine herzliche Freundschaft und ein anhaltender persönlicher Austausch. Nach dem Verfahren habe ich mich auch mit dem Helmstedter Propst ausgesprochen und wir haben die Sache brüderlich begraben.

Es kam schließlich am 7. September 1979 zu einer ganztägigen Verhandlung im Landeskirchenamt, die vom Vizepräsidenten des Oberlandesgerichtes, Friedrich Wilhelm Müller, wohlwollend geleitet wurde. Ich hatte vorher in meinem Leben nie etwas mit einem Gericht zu tun gehabt, sondern nur Verhandlungen der Wehrdienstverweigerer vor den Ausschüssen erlebt.

Ich war gründlich vorbereitet und mir kam zustatten, daß auch der Beschuldigte Fragen an die Zeugen der Anklage stellen durfte, die ihrerseits nicht ahnten, daß ich ihre Vermerke und Briefe in den Ermittlungsakten gelesen hatte. Die Verhandlung dauerte den ganzen Tag bis in den späten Abend. Zur Urteilsverkündung wurde ein zweiter Tag angesetzt. Zahlreiche Anschuldigungen wurden von der Kammer zurückgewiesen. Ich wurde zu 1000 DM Strafe verurteilt. Die Kosten des Verfahrens sollte ich nur zur Hälfte tragen, ein Hinweis für das Landeskirchenamt, daß es sich auch bekleckert hatte.

Ich war verärgert, weil ich auf einen glatten Freispruch aus war, aber der Protokollführer beruhigte mich auf dem Flur und gratulierte mir. Tatsächlich waren die Erwartungen im Landeskirchenamt auf eine saftige Strafe oder gar zeitweilige Suspendierung schwer enttäuscht worden.

In der schriftlichen, zwanzig Seiten langen Ausfertigung gab die Kammer zu Protokoll, daß sie den parteipolitische Charakter durchschaut und anerkannt hatte. "Nach der Vorgeschichte kann aber - wie nicht verkannt werden darf - nicht ausgeschlossen werden, daß die Beschwerdeführer weniger den Beschuldigten als Seelsorger denn vielmehr als Politiker treffen und hierzu seine kirchenamtliche Eingebundenheit benutzen wollten." "Zu bedenken war auch, daß über die eigentliche seelsorgerliche Tätigkeit des Beschuldigten keine negativen Feststellungen getroffen worden sind."

Es wurde im folgenden das Landeskirchenamt kritisiert: Der Fürsorgepflicht sei nicht voll genügt, die Ermittlungen "nicht glücklich", die Sache hätte möglicherweise nicht zu einem förmlichen Verfahren werden müssen und die Pflichtverletzungen waren bei abwägender Betrachtung nicht so schwer, daß sie nicht auf dem Wege der Dienstaufsicht hätten beigelegt werden können. Der Propst als Zeuge der Anklage fiel durch. Die Kammer könne seine Wertungen nicht nachvollziehen. Aber natürlich war ich kein Unschuldslamm, hatte mich im politischen Gefecht zu kräftig ausgedrückt und auch die Renovierung der Reinsdorfer Kirche ohne die Bauabteilung fiele selbst unter Berücksichtigung des zugunsten des Beschuldigten wirkenden Umstandes, daß sich die eigenmächtige Renovierung bisher finanziell nicht nachteilig ausgewirkt habe, erheblich ins Gewicht.

Die das Verfahren dominierenden Oberlandeskirchenräte beabsichtigten, gegen das Urteil Revision einzulegen. Das aber verhinderten offenbar Landesbischof Heintze, der im Grunde mit dem ganzen Verfahren nichts zu tun hatte, und OLKR Becker, der später das für mich lösende Wort sprach, es wären wohl auf beiden Seiten erhebliche Verwundungen entstanden.

Nach dem Verfahren kam es zu einem klärenden Treffen zwischen den Kirchenvorständen und dem Kollegium des Landeskirchenamtes.

Die Kirchenvorstände beschlossen eine 25seitige Beschreibung des Verfahrens unter der Überschrift "Fragen an unsere Landeskirche", die ich über Nacht hektographierte und verschickte. Ich hatte einen Ablauf des bisherigen Verfahrens gegeben und die Kirchenvorstände hatten einige Änderungen des sogenannten Amtzuchtgesetzes vorgeschlagen, nämlich, daß die Kirchenvorstände vor Aufnahme von Ermittlungen gehört werden sollten, Beschwerdeführer und Beschwerdeinhalte nicht anonymisiert werden dürften, Ermittlungen und Befragungen auf kirchlichem Boden (und nicht etwa in der Gastwirtschaft) stattfinden sollten und Äußerungen der vorgesetzten Dienststelle dem Beschuldigten gleichzeitig zur Gegenäußerung vorzulegen seien.

Am nächsten Tag um 10.00 Uhr stand ein Bote des Landeskirchenamtes vor der Tür und überbrachte das Verbot dieser Veröffentlichung. Es kam zu spät. Die Post war schon weg. Die Vorschläge wurden indes von zahlreichen Pfarrern aus der ganzen Landeskirche unterstützt.

Noch heute bin ich der Ansicht, daß die Initiatoren des ganzen Verfahrens ein Teil der regionalen CDU gewesen waren und ohne sie überhaupt kein derart aufwendiges Verfahren zustande gekommen wäre. Begreiflicherweise wurde dies von Landeskirchenamt anders gesehen.

In dieser Zeit trug mich der normale Dienst in den Gemeinden, der weiterlief, und der sonntägliche Predigtdienst, bei dem ich mich energisch von diesen häßlichen Beschuldigungen trennen und den eigentlichen Dingen gedanklich zuwenden konnte.

Das zweite Verfahren 1984/85

Anfang Januar 1984 erhielt ich unvermutet ein von OLKR Dr. Fischer unterzeichnetes Schreiben, wonach ich gegen den Wandel und gegen Ordnungen und Anweisungen verstoßen haben sollte. Es waren sieben Punkte aufgeführt.

In Kirche von Unten, Heft 2, hatten wir den Fall des entlassenen Pfarrers Erich Helmer in Wenden dokumentiert. Ich hätte durch die Art der Dokumentation "der Kirche im allgemeinen unermeßlichen Schaden zugefügt."

In einem Brief an die kirchlichen Mitarbeiter hatte ich noch mal den Offenen Brief vom Mai 1983 "Rüstung ist Gotteslästerung" und einen Bestellzettel für meine bisher erschienenen Bücher verschickt. Die Adressen hatte ich über die Erwachsenenbildung erhalten, wofür Helga Hansi erneut Schwierigkeiten mit Dr. Fischer bekam.

Ich hatte mich in einem Leserbrief zur schrecklichen Lutherfeier in Worms anläßlich der Lutherjubiläen geäußert. - Durch einen weiteren Leserbrief fühlte sich der Landesbischof diffamiert. Es war nämlich vor Weihnachten eine kurdische Familie ausgewiesen worden, was ziemliches Aufsehen erregt hatte. Es kam zu einem Gespräch zwischen dem niedersächsischen Innenminister Möcklinghoff und Landesbischof Prof. Dr. Müller, aus dem man den Eindruck hatte gewinnen können, daß sich der Bischof auf die Seite des Ministers gestellt hatte. Ich hatte das in einem Leserbrief aufgespießt.

Es waren aus meiner Sicht alles Dinge, die man in einem mündlichen Gespräch hätte ausräumen können, aber auf so ein Gespräch habe man von vorneherein verzichtet, schrieb Dr. Fischer. Den eigentlichen Hintergrund sah ich in dem deutlichen Wandel der Gesamtrichtung unserer Landeskirche. OLKR Dr. Fischer war seit 1981 in der Landeskirche, Landesbischof Müller war Ende September 1982 in sein Amt eingeführt worden. Das war theologisch wie kirchenpolitisch ein Ruck nach rechts, den ich nun zu spüren bekam.

Einen Monat später erhielt ich den Bescheid, daß das Landeskirchenamt einen Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht als Ermittlungsführer bestellt hatte.

Es wollte also die Ermittlungen nicht mehr wie im ersten Verfahren selber führen, sondern schlug gleich die große Glocke an.

Das ganze Jahr 1984 hörte ich nichts mehr. Der Verwaltungsrichter wurde vom Landeskirchenamt wiederholt gebeten, endlich mit den Ermittlungen zu beginnen, aber nach mehr als einem Jahr gab er am 12.4.1985 dem Landeskirchenamt den Auftrag zurück, ohne in Ermittlungen eingestiegen zu sein. Die Kirchenregierung hob ihren Beschluß auf, das Landeskirchenamt mit Ermittlungen zu beauftragen und das Landeskirchenamt wollte von sich aus nun auch nicht mehr.

So ernst nahm das Landeskirchenamt seine Anschuldigungen, in denen von "unermeßlichem Schaden für die Kirche" die Rede gewesen war.

Das dritte Verfahren 1998/2001

Das dreifache Vorspiel

Beim dritten Verfahren kamen verschiedenen Absichten zusammen: "Kirche von Unten" sollte entscheidend getroffen werden, die PDS-Kandidatur sollte mies gemacht werden und schließlich sollte ich wegen eines Plakates ganz aus der den Kirchengemeinden entfernt werden.

Vorspiel eins: die Bundestagskandidatur für die PDS

Das dritte Verfahren hatte wieder seinen auslösenden Höhepunkt in der Politik. Die PDS fragte bei mir im April 1998 an, ob ich für den Bundestag kandidieren wollte. Ich fand die Anfrage etwas witzig. Wie waren sie auf mich gekommen?

Ich hatte beim Leipziger Kirchentag 1997 bei einer Podiumsdiskussion André Brie als nachdenkliches und selbstkritisches Vorstandsmitglied der PDS erlebt. Die PDS hatte zum Leipziger Kirchentag ein geistvolles Grußplakat gemacht. "Jesus zeigt Lenin seine Wundmale". Ich bat Studentenpfarrer Kurt Dockhorn, in der Braunschweiger Studentengemeinde eine Diskussion zwischen Brie und mir über das Thema "Sozialismus, Gott und die Welt" zu arrangieren. Brie kam im Herbst 1997 und es gab eine erfrischende Diskussion, die Brie mit dem Bonmot eröffnete: "Gott sei Dank, ich bin Atheist."

Diese Diskussion hatten einige PDSler aus Braunschweig miterlebt und fragten nun an. Ich bat um eine Denkpause und das Landeskirchenamt um Beratung. OLKR Kollmar kam am 30. April nach Offleben und wies auf das zu erwartende große Echo hin, das für die Kirche eine Belastung sein könnte. Dann fragte ich den Kirchenvorstand, der mir begreiflicherweise abriet, aber den außerordentlichen Beschluß faßte: "Wir lehnen die Bundestagskandidatur von Pfarrer Kuessner für die PDS ab, aber wir lassen uns nicht los." Das fand ich beispielhaft. Nach einer Rücksprache mit sympathischen PDS-Leuten, keineswegs vernagelten Betonkommunisten, und der Zusage, daß ich meinen "Wahlkampf" nach eigenem Geschmack führen könnte, sagte ich zu. Für Wahlkampfkosten sollte ich 1.500 DM erhalten. Ich habe später keinen Pfennig genommen.

Ein anderes Hindernis war: was würden die Leute aus der früheren DDR sagen? Ich wohnte an der Grenze. Die DDR war sehr nah gewesen. Die PDS galt als Nachfolgeorganisation der SED. Ich schrieb an den Beauftragten für kirchliche Stasi-Opfer, den Superintendenten Curt Stauss in Nordhausen, der keine Bedenken gegen eine PDS-Kandidatur äußerte.

Ich hatte folgenden Plan: der Wahltag war der 27. September. Die Sommerferien endeten am 4. September. Bis dahin war "Wahlkampf" zwecklos, weil alle im Urlaub waren. Also träumte ich von einem gut dreiwöchigen Projekt aus einer Position links von Schröder und Glogowski. Beide schienen mir reichlich nach rechts gerutscht. Schröder hatte sogar mit Lukaschenko, dem Diktator von Weißrußland, gespeist.

Klar erschien mir, daß am Abend des Wahltages Schluß war. Ich stand ja nicht auf der Landesliste und ich wollte auch um keinen Preis in den Bundestag. Es ging mir darum, ob es im "Westen" eine vernünftige linke Alternative zur SPD geben konnte.

Ob die PDS da die richtige Partei war, konnte man sich fragen. Aber was sonst? Außerdem hatte die PDS schon 1990 ein ordentliches Papier zur Haltung gegenüber den Kirchen verfaßt, das ich damals in "Kirche von Unten" veröffentlicht hatte. Es ging mir um eine Linke unter den politischen Bedingungen des Westens. Die PDS im Osten spielte für mich keine Rolle. Die hatte eine andere Herkunft und Tradition, die ich nicht zu verantworten hatte. Für mich lag das Gründungsdatum der PDS im Jahre 1990. Und schließlich: so natürlich es empfunden wurde, daß die CDU im Osten agierte, so natürlich sollte es eigentlich im Westen empfunden werden, daß hier eine PDS auftrat - also ein Beitrag zu gleichen Verhältnissen in beiden Teilen Deutschlands.

Bischof Krause macht durch seine Kritik die Kandidatur populär

Kaum aber ging die Meldung durch die Presse, daß ein Westpfarrer ausgerechnet an der "Zonengrenze" für die PDS kandidierte, fühlte sich Bischof Krause bemüßigt, die Kandidatur öffentlich als " politisch wie kirchlich abwegig" zu kritisieren. "Landesbischof kritisiert Offlebener Gemeindepfarrer" war in der Braunschweiger Zeitung zu lesen. Das war aus meiner Sicht ein Verstoß gegen die gebotene Zurückhaltung im Dienst eines Pfarrers, dem der Bischof in ganz besonderer Weise unterlag. Er hatte sich ja nicht als Wähler und Mitbürger zu Worte gemeldet, sondern ausdrücklich als Bischof. Außerdem verwischte der Bischof die Grenze zwischen meinem aktiven Dienst als Pfarrer und meiner Tätigkeit als Kandidat, wozu ich ja vom Amt ausdrücklich beurlaubt war. Er tat so, als ob er auch während meiner Beurlaubung noch für mich zuständig wäre. Ich hatte in dieser Zeit der Kandidatur nicht mehr einen Pfarrbezirk, sondern einen Wahlkreis, der sogar teilweise eine andere Landskirche betraf, nämlich mit Wolfsburg die Hannoversche Landeskirche. Ich betrachte auch noch heute diese Presseveröffentlichung des Bischofs als eine Dienstverletzung seinerseits. Hätte ich für die CDU kandidiert, hätte der Bischof natürlich geschwiegen.

Der Bischof begründete die Abwegigkeit der Kandidatur mit den "Repressionen der SED gegenüber der Kirche in der DDR." Dagegen konnte ich jenes Schreiben des Superintendenten Curt Stauss aus Nordhausen (also früher DDR!) vorlegen. Stauss hatte mir geschrieben und anders als der Bischof aus Wolfenbüttel die Kandidatur ausdrücklich begrüßt: "Dietrich Kuessner weiß genug über einen angemessenen und differenzierten Umgang mit Geschichte. Er weiß, daß alle Engagements mißverständlich sind, und er fürchtet sich nicht davor. Die PDS ist eine Nachfolgepartei - ja, aber nicht die einzige. Sie muß aufarbeiten - ja, aber das müssen alle. Meine Erfahrung im Osten ist: PDS-Abgeordnete sind kollegial, sehr engagiert, sehr sachkundig, und sie sind nah bei den tatsächlichen Nöten des Volkes. Es ist ein nicht völlig normaler Vorgang, daß ein Pfarrer kandidiert. Aber es ist völlig normal, daß eine Linkspartei ins demokratische Spektrum gehört. Daß dafür ein so wacher Pfarrer wie Dietrich Kuessner kandidiert, das unterstütze ich!"

Curt Stauss war Mitglied des Kirchentagspräsidiums der DDR-Kirchen gewesen und kannte aus jener Zeit auch gut Bischof Krause in seiner früheren Funktion als Generalsekretär des Kirchentages. Aber die Stellungnahme von Superintendent Stauss beeindruckte Bischof Krause nicht. Im Gegenteil: sie kam seiner öffentlichen Stellungnahme gegen meine Kandidatur in die Quere. Der Brief von Stauss wurde in der EZ vom 30. August 1998 abgedruckt, teilweise in epd zitiert und im Neuen Deutschland wiedergegeben und machte so die Runde.

Die unkluge Reaktion des Bischofs rief Gegenreaktionen auch innerhalb der Pfarrerschaft der Landeskirche hervor. Pfarrer Kurt Dockhorn schrieb: "Ich finde es gut, daß Pfarrer Kuessner für die PDS kandidiert, besonders nach der enttäuschend schwachen Reaktion des Landesbischofs auf die Kandidatur. Wenn nicht die PDS, welche Partei sonst sollte die biblisch wohl begründete Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft anmahnen?"

Pfarrer Wolf Dietrich Vollhardt aus Ackenhausen unterstützte schriftlich die Kandidatur, mit der ich mir wohl keine Freunde machen würde. "Ich habe lange genug neben ihm in der Landessynode gesessen. Aber wer anders, wenn nicht er, könnte die Anliegen der PDS im kirchlichen Raum verständlich machen?"

Pfarrer Hans Jürgen Brüser aus Veltheim/Ohe fand die Kandidatur "goldrichtig." "Wenn durch die Kandidatur des Kollegen Kuessner Farbe und etwas Nachdenklichkeit in unsere Gemeinden kommt, begrüße ich das sehr, außerdem erhoffe ich mir eine unverkrampfte, ja humorvolle Auseinandersetzung in der Zeit bis zur Wahl. Demokratie lebt davon."

Auch in Kirchenvorstandskreisen stieß die Bewertung des Landesbischofs auf Ablehnung. Der langjährige Kirchenvorstandsvorsitzende der Kirchengemeinde Hahndorf, Wolfgang Janz, fragt in einem Leserbrief in der EZ vom 30.8.1998, ob einem Landesbischof eine solche Bewertung zukomme. "Der Hinweis darauf, die Landeskirche habe keine Möglichkeit, diese Kandidatur zu stoppen, kann nur mit einem kräftigen "Gott sei Dank. Das wäre ja noch schöner!" erwidert werden; zur Erinnerung: die Einheit von Thron und Altar ist in Deutschland seit 80 Jahren passé." Janz vermißte die ehrliche Akzeptanz des Andersdenkenden. Annegret Thieme vom Kirchenvorstand der Wolfenbüttler Trinitatisgemeinde meinte zur "aufschreckenden" Kandidatur: "Gar nicht schlecht. Es könnte sogar sein, daß eine oder einer durch diesen Schritt Kuessners in die Kirche eintritt."

So hatte die Äußerung von Bischof Krause die Kandidatur zusätzlich bekannt gemacht und Zustimmung gebracht. Auch die PDS wies die Bewertung des Bischofs zurück, der Bischof erwiderte und die EZ veröffentlichte in zwei Ausgaben ausführliche Leserbriefe zur Kandidatur, in der Mehrzahl befürwortende und die Einmischung des Bischofs ablehnende. Ich äußerte mich ebenfalls ausgiebig zu den Gründen für die Kandidatur, was wiederum durch Presse und Rundfunk ging.

Die Wolfsburger Allgemeine Zeitung brachte ein Bild mit dem Untertitel PDS-Pastor. Ich schrieb umgehend an die Redaktion, solche Bezeichnungen zu unterlassen. Hier hätte auch die Pressestelle der Landeskirche eingreifen müssen und darauf hinweisen müssen, daß ich beurlaubter Pfarrer sei und die ganze Kandidatur mit meinem Pfarramt nichts zu tun hätte.

Vorspiel zwei: die Plakate zur PDS-Kandidatur und kirchliche Themen

Ich hatte mir vorbehalten, die von der Zentrale hergestellten und versandten PDS-Plakate zu sichten, aber sie waren gerade unter kirchlichem Gesichtspunkt ausgesprochen gut. Als reine Textplakate erschienen: "Reichtum ist teilbar", "Arbeit ist machbar", "Sozial ist sicherer", "Privat ist teurer". Das konnte ich alles mit bestem Gewissen vertreten.

Eines fand ich im Gegensatz zu den Plakaten anderer Parteien thematisch geradezu tapfer: "Asyl ist menschlich". Um das Asylthema machten die anderen Parteien einen großen Bogen oder benutzten es zum Fischen rechter Stimmen. Ein Plakat war auch bildlich gestaltet: "Gegen Gewalt und Haß. Menschenrechte gelten für alle". Das alles sollte nur deshalb falsch sein, weil es die PDS plakatierte? Das fand ich nachgerade albern.

An der Kandidatur reizte mich vor allem aber folgendes: ich konnte jene Themen, die auch in der Kirchenpolitik für mich ein Rolle spielten, die aber zugleich von allgemeiner politischer Bedeutung waren, in die "große Politik" tragen.

Thema Nummer. 1: die Umwandlung der Landeskirchensteuer in eine Kultur- und Sozialsteuer. Ich hatte das wiederholt im Finanzausschuß der Landessynode vorgetragen und machte dazu ein eigenes Plakat. Nach wie vor glaube ich, daß sich im zusammenwachsenden Europa die typisch deutsche Landeskirchensteuer nicht halten wird. Ich bevorzugte das italienische Modell, wonach jeder Bürger eine Steuer entrichtet und selber entscheidet, ob diese Summe für Kultur, Soziales oder die Kirchen bestimmt sein soll. Das zweite Thema war die Gewalt- und Friedensfrage. Ein PDS-Plakat an der früheren "Zonengrenze" mit dem Einsatz für: "Nie wieder Zonengrenzen und keine Soldaten auf den Balkan" mußte Widerspruch erwecken. Das dritte Thema war das Eintreten für Minderheiten. Ein viertes, die Arbeitslosigkeit mit einer Auflistung der horrenden Schulden betreffend, habe ich nicht mehr geschafft.

In Offleben und Reinsdorf verzichtete ich völlig auf jede Plakatierung. Das hat mir nicht geschadet. Außer Plakataktionen erhoffte ich mir Gespräche und Diskussionen, aber dazu waren die anderen Parteien nicht bereit. Statt dessen schleppte ich eine Schultafel auf die Niedernstraße in Schöningen oder in die Einkaufspassage in Wolfsburg und dozierte über Stalinismus, Kapitalismus und Sozialismus. Wahlkampf als Erwachsenenbildung war meine Leitvorstellung.

Zu den benachbarten Ständen von CDU, SPD und den Grünen ging ich regelmäßig hin, in den kleinen Verhältnissen kannte man sich und frotzelte sich an. Am Tag des Einmarsches der Sowjets in Prag machte ich unter einem Helmstedter Stadttor eine Lesung aus Texten von 1968. So etwas machte mir Spaß und es gab teilweise auch kräftige Gegenreaktionen. Bei den Tischen und Ständen der PDS genierte ich mich meistens, weil mir das Missionarische, auch in der Kirche, gar nicht liegt.

Es war das Landeskirchensteuerplakat, das das Landeskirchenamt, und insbesondere OLKR Dr. Fischer auf die Palme brachte. "Gegen Landeskirchensteuer - für eine Kultur- und Sozialsteuer in Europa" lautete die Schlagzeile. Darüber, wie bei allen anderen: "Zum Nachdenken". Dr. Fischer schrieb mir einen drastischen Brief, daß ich der Kirche Schaden zufügte und das Dienst- und Treueverhältnis verletzte und das Plakat auch als Landessynodaler nicht rechtfertigen könnte. Auch Dr. Fischer verwischte die Grenzen zwischen einem beurlaubten Pfarrer und einem im Dienst befindlichen Pfarrer. Er selber hatte in idea 48/1996 eine Kultur- und Sozialsteuer, allerdings für Nicht-Kirchenmitglieder, vorgeschlagen. "Bei weiterem Mitgliederschwund wird diese Frage ohnehin auf die Tagesordnung kommen müssen", hatte er dort erklärt. Soweit also waren wir inhaltlich gar nicht auseinander und ich empfand die Aufregung als ziemlich gekünstelt.

"Heute denken, morgen handeln, damit die Kirche auch morgen stabil bleibt", hatte ich auf das Flugblatt für das Plakat geschrieben. Daß ich an Stelle der Landeskirchensteuer für die Einführung einer Kultur- und Sozialsteuer war, verschwieg Dr. Fischer in diesem Schreiben und schickte Plakat und Brief an den Präsidenten der Landessynode. Nun machte bereits die Drohung mit der Amtsenthebung die Runde, aber das funktionierte nicht, weil der Referent des Landesbischofs, Pfarrer Rammler, etwas ganz ähnliches in seiner lesenswerten Abhandlung "Der Standort der Kirche in der Welt von morgen" geäußert hatte, worauf ich in einem Beiblatt aufmerksam machte. Pfarrer Rammler hatte geschrieben: "Europa wird mit der Vereinheitlichung des Finanzsystems auch Veränderungen an den nationalen Steuergesetzen vornehmen. Man kann davon ausgehen, daß spätestens dann die Frage der Kirchensteuer grundsätzlich neu zur Debatte steht, und es ist ja nicht ohne weiteres zu erwarten, daß Europa das deutsche Staatskirchenrecht und Kirchensteuereinzugssystem übernimmt."

Ich hatte auch sonst mit diesem Flugblatt zum Plakat kräftig die Trommeln für die Kirche gerührt, und auf das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen hingewiesen, auf das Referat von Prof. Hengsbach vor der PDS-Fraktion des Bundestages, das Kairos Dokument, "Das neue Modell Deutschland" aus Publik Forum und das Votum der Bischofskonferenz der lutherischen Bischöfe im März 1998 zum entfesselten Markt, was möglicherweise als Unterstützung für die SPD ausgelegt werden konnte, ich jedoch ungeniert auch für eine Unterstützung der PDS zitierte. Ich hatte das Kandidatenprojekt als "Erwachsenenbildung" konzipiert, aber das stellte sich schon für kirchliche Kreise als Überforderung heraus.

Vor allem: das eine von den Liebesspielplakaten

Schließlich fabrizierte ich noch zwei andere Plakate, die denselben Text hatten: "Gemeinsam - zärtlich - radikal/Beim ersten Mal/PDS Küssner". Idee und Bild waren von einem früheren PDS-Plakat geklaut: da küßten sich zwei Leute und darunter stand: Beim ersten Mal: PDS.

Auf einem anderen Plakat, mit dem auch die Erstwählerinnen und Erstwähler angesprochen werden sollten, hatte ich eine Abbildung der Kölner Aidshilfe, die auch in der Presse erschienen war, abgekupfert, die auf unbedarfte Seelen provokativ wirken konnte: zwei nackte junge Leute stehen, knien hintereinander, berühren sich, spielen miteinander. Eine hübsche Illustration zum Text: gemeinsam, zärtlich, radikal. Ich finde an dem Bild bis heute nichts "Schlimmes", aber ich verstehe inzwischen, daß andere sich daran stoßen könnten. Man konnte sich mit viel Phantasie, wenn man wollte, beim Plakat die Analstellung beim Sexualverkehr denken. Die war in fundamentalistischen Kreisen verpönt, weil sie auf Empfängnisverhütung abzielte. Wo aber Sex und Liebesspiele nur in der Ehe und nur zum Zweck der Kindererzeugung "erlaubt" sind, wirkt ein solches Plakat begreiflicherweise anstößig. Das aber war eine weit überholte Sexualmoral, die öffentlich gar nicht mehr zu vermitteln war. Immerhin veranlaßte dieses Plakat die Hannoversche Allgemeine Zeitung zu einem haarsträubenden Kommentar.

Das Plakat war wie die anderen kümmerlich und laienhaft gemacht. Schwarz - weiß. Es fiel unter den bunten großen der anderen Parteien daher weniger auf. Oder gerade wegen seiner Unprofessionalität doch?

Vorspiel drei: Kirche von Unten

Es war aber nicht nur die PDS und die Plakatgeschichte, die das Landeskirchenamt auf die Palme brachte. Es war auch "Kirche von Unten".

Ich hatte dort 1996/97 ziemlich deutlich gegen zahlreiche Schwächen in der Landeskirche polemisiert, dabei auch den merkwürdigen Umgang von Bischof Krause mit kritischen Äußerungen und anderes beim Namen genannt. Es waren vor allem Äußerungen, die ich in der Landessynode getan hatte und in den Synodenberichten in KvU wiedergegeben hatte. Sachprobleme, die ich auch polemisch benannte, wurden nun persönlich genommen und die Synodalen Riebenstahl und Eckels forcierten zusammen mit OLKR Dr. Fischer die Einleitung eines Disziplinarverfahrens.

Kein einziger Punkt meiner Gemeindearbeit stand zur Debatte: weder die aus meiner Sicht zu Recht verschobene Konfirmation vom Dezember 1997, nicht die Reformvorschläge der Kirchenvorstände, nicht die selbständigen Abendmahlsgottesdienste durch Lektorinnen oder die Segensgottesdienste an zwei schwulen Paaren, nichts von der Gemeinde, sondern nur: einige frische, zugegeben freche Bemerkungen in Kirche von Unten, deretwegen es seit 1996 Beschwerden und nun seit Mai und September 1998 Ermittlungen gab.

Die PDS-Kandidatur plus Plakat plus Kirche von Unten sollten der Hebel sein, mich aus der Landessynode und aus dem Gemeindepfarramt zu entfernen. "So was wie Sie woll'n wir nicht" war die Leitlinie dieser Aktion. Dabei vertraute man noch auf andere Bundesgenossen.

Die Ablehnung eines Plakates durch Staatsanwaltschaft und Kirchenleitung

Während des "Wahlkampfes" fuhr die Polizei gelegentlich hinter mir und den Helfern her. Es war meist spät, weil die Helfer tagsüber zu arbeiten hatten Ich unterhielt mich auch einmal mit den Leuten im Streifenwagen und ahnte nicht, daß die mich reinlegen wollten. Kaum hatte ich das später beanstandete Plakat geklebt (sie hätten es sich ja auch zeigen lassen können), wurde es abgenommen und eine haarsträubende, in vielen Teilen völlig falsche, außerdem auf schwul getrimmte Anzeige von der Schöninger Polizei verfaßt.

"Rein zufällig" waren zwei weibliche CDU-Stadtverordnete dabei gewesen, als die Polizei das Plakat abnahm. Später bekam ich aus Helmstedt den Tip, daß die Anzeige parteipolitisch motiviert sein könnte. Tatsächlich stellte sich ein Kollege der anzeigenden Polizisten als CDU-Ratsherr von Büddenstedt heraus.

Das Amtsgericht Helmstedt gab mir 24 Stunden Zeit, mich zur Beschlagnahmung des Plakates zu äußern, was ich in einem leicht ironischen, aber doch gründlichen Brief über den Vorwurf der Pornographie auch tat. Alle Plakate waren an die normalen Stellwände geklebt worden und an Bäume und Masten in der Ortsmitte oder an Ortsausgängen.

Das Fernsehen interessierte sich und machte eine miese, interessengeleitete Sendung. Dabei wurde auch das später beanstandete Plakat gefilmt und durch die Veröffentlichung verbreitet. Dann konnte ich ja beim besten Willen nicht angeklagt werden, dachte ich.

Ich verzichtete nach dem vom Amtsgericht erlassenen Verbot auf die Plakatierung, obgleich das "Kußplakat" mit demselben Inhalt weitergeklebt werden konnte. Und das war eigentlich viel sinnlicher. Damit war die Sache für mich erledigt.

Nicht jedoch für das Landeskirchenamt. Der Leitende Oberstaatsanwalt in Hannover unterrichtete den Landesbischof bereits am 9. September, das Landeskirchenamt packte diesen Verdacht einer strafbaren Handlung zu den anderen Vorwürfen, setzte aber eigene Ermittlungen aus und überließ diese der Staatsanwaltschaft.

Daß die Staatsanwaltschaft ermittelte, rührte mich nicht weiter. Das hatte sie in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Moskaureise bei dem Verdacht der Verteilung staatsgefährdender Schriften und Abzeichen schon mal getan, ohne daß die Gemeindearbeit davon berührt worden war oder das Landeskirchenamt damals sich deswegen gemeldet hatte. Und auf die spezifischen Ermittlungen des Landeskirchenamtes, insbesondere auf den Pornographieverdacht, war ich geradezu gespannt.

Das Landeskirchenamt begleitete die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mit Trompetenstärke. "Landeskirchenamt äußert Abscheu über die Plakataktion von Pfarrer Dietrich Kuessner", tickerte der Pressesprecher der Landeskirche, Pfarrer Kuchmetzki, an die Regionalpresse. "Auch das Landeskirchenamt äußert sich mit Abscheu zu dieser beschämenden pornographischen Plakataktion eines Pfarrers der Landeskirche und teilt mit, daß es veranlassen werde, dem disziplinarrechtlich nachzugehen. Pfarrer Dietrich Kuessner mißbraucht den ihm selbstverständlich von der Kirche rechtlich gewährten Freiraum zur Kandidatur für den Deutschen Bundestag zum Schaden seiner Kirche." Wie schon bei der Stellungnahme des Landesbischofs zur bloßen Kandidatur vermischte auch der Pressesprecher geistliches Amt und Kandidatur in grober Weise. Es gab keine "Plakataktion von Pfarrer Dietrich Kuessner". Es gab Plakate des Kandidaten Küssner. Das Landeskirchenamt, das zu diesem Zeitpunkt für mich gar nicht zuständig war, brachte meinen Beruf - wie später immer wieder - mit der Kandidatur in Zusammenhang.

Ich hatte peinlich jede Spur einer Vermischung vermieden. Das war ein weiterer schwerer Eingriff in die gebotene Neutralität einer Kirchenleitung während eines Wahlkampfes. Auch der Pröpstekonvent äußerte sich auf seiner Sitzung am 14. September in Bad Harzburg, auf wessen Veranlassung auch immer, sprach allerdings im Gegensatz zum Landeskirchenamt vom beurlaubten Pfarrer Dietrich Kuessner. Das Plakat werde als "eindeutig pornographisch" eingeschätzt, es verletze das Empfinden vieler Menschen und sei mit dem Ordinationsgelübde nicht vereinbar. Mir blieb das schleierhaft, denn der Pröpstekonvent hatte noch gar kein Plakat gesehen. Es wurde lediglich eine verstümmelte Wiedergabe des Plakates aus einem Zeitungsbericht der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung herumgereicht. Darauf war nun wirklich wenig zu entnehmen und "eindeutig pornographisches" schon gar nicht.

Propst Fischer schrieb zwar an die Pfarrer/Innen der Propstei Helmstedt, auch er könne nun nicht mehr schweigen, und hoffte möglicherweise auf Unterstützung zu der unsachlichen Stellungnahme der Pröpste, aber er fand kein Echo. Das Echo war in der Pfarrerschaft so gering, daß die Pressestelle Mitte Oktober noch einmal an alle Pfarrämter beide Stellungnahmen des Amtes und des Pröpstekonventes schickte, obwohl nun jeder, der es wollte, die Meinung der oberen Leitungsebene in der Landeskirche verstanden hatte. Ich empfand die Pressestelle der Landeskirche, die völlig einseitig nur die Meinung der Leitungsebene und mit keinem Sterbenswörtchen die der Kirchengemeinden wiedergab, im "Stab des Bischofs" als ziemlich anfechtbar und tendentiös.

Aber die Rechtspresse kochte eine von ihr produzierte Mischung hoch von: schwul, links, pornographisch, Kirche. "Kirche gegen Pornopastor" meldete die Bildzeitung am 17.9. Irgendein Blatt aus der Hildesheimer Gegend und aus der Lüneburger Heide schrieben: "Der Pornopastor der PDS. PDS-Wahlplakate, die zwei Männer beim Geschlechtsverkehr zeigen, wurden von der Staatsanwaltschaft Hannover wegen pornographischer Darstellung beschlagnahmt." Das war eine grobe Entstellung der Tatsachen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen eines Verdachtes, der erst noch zu prüfen war. Vom Geschlechtsverkehr war nun wirklich nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Das hatte ich dem Amtsrichter in Helmstedt (einem langjährigen Leser von Kirche von Unten), deutlich mitgeteilt. Immerhin wäre die wiederholte öffentliche Bezeichnung als "Pornopastor" ein Fall für die Fürsorgepflicht der Kirchenleitung gewesen. Etwa in dem Sinne: Kuessner ist nicht einfach, er schlägt auch über die Stränge, so kennen wir ihn schon länger, aber Pornopastor, das ist er nicht und so kennen wir ihn auch. Aber die Kirchenleitung ließ es durchgehen und verletzte damit meiner Ansicht nach deutlich ihre Fürsorgepflicht. Die Braunschweiger Zeitung hielt sich erfreulicherweise mit derartigen Nachrichten zurück. Thomas Nagel von der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung schlug sich sogar mit drei deutlichen Kommentaren sichtlich auf meine Seite.

Meine Erwartungen hinsichtlich der Kirchenleitung waren unter der den Gefrierpunkt gesunken, aber ich holte mir keine Erkältung dabei, denn die praktische Arbeit auch in einem Teil der Kirche ging weiter, zum Beispiel als Landessynodaler.

Zehn Tage nach der überzogenen Kritik von Kirchenleitung und Pröpstekonvent tagte der Finanzausschuß und bereitete die Haushaltssynode im November vor. Wir tagten wie immer im Landeskirchenamt, gingen gründlich die Haushaltsposten durch und verteilten am Ende der Sitzung den Vortrag der einzelnen Haushaltskapitel vor der Landessynode. Ich übernahm wie im Vorjahr den fettesten Posten, den Einzelplan O, Allgemeine kirchliche Dienste. Der Vorsitzende des Ausschusses, Dietrich Fürst, hatte sich offenbar von der Kampagne des Amtes gegen mich nicht beeindrucken lassen oder sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Daß ich nun allerdings in der Haushaltssynode Kapitel O vertreten sollte, bereitete im Landeskirchenamt Verdruß und Landeskirchenrat Hampel sprach im Gemeindeausschuß die Erwartung der Behörde aus, daß sich nun doch auch die Landessynodalen von mir distanzieren sollten. Aber die dachten nicht daran.

Die CDU-Fraktion des Gemeinderates Büddenstedt unterliegt

Anders die Orts-CDU. Sie versuchte, politisches Kapital aus der Kandidatur zu schlagen. Das fand ich legitim, aber es war abwegig, meine Entfernung aus dem Gemeinderat zu beantragen. Da vermischten sich ja Ortsebene und Bundesebene. Die CDU-Ratsfraktion hatte ihren Antrag in der ungewöhnlichen Form eines Offenen Briefes eingebracht. Darin hieß es, die Demokraten in unserer Gemeinde müßten fest zusammenstehen, man müsse zeigen, wie man es mit den Radikalen von links und rechts halte, und dann der grandiose Beschlußvorschlag: "Der Rat der Gemeinde Büddenstedt distanziert sich von der Kandidatur eines ihrer Mitglieder auf der Liste der PDS für den Deutschen Bundestag. Für uns, die wir die Auswirkung des SED-Regimes aus eigener Anschauung täglich erleben konnten, kommt eine Zusammenarbeit mit den Mitgliedern oder Sympathisanten ihrer Nachfolgeorganisation nicht in Frage." Dazu ein knalliger Schlußsatz: "Es hieße, den Tausenden Opfern des innerdeutschen Grenzregimes ins Gesicht zu schlagen, wenn dieser Beschlußvorschlag im Büddenstedter Rat keine Mehrheit fände." Da klang wieder das alte Thema von der Grenze auf. "Wir an der Grenze", als ob ich nicht an der Grenze gelebt hätte. Ich hatte mich ausführlich zum Verhältnis SED-PDS geäußert. Das "SED Regime" war jahrzehntelang auch von der Ost-CDU mitgetragen worden. "Wenn die PDS eine Mitverantwortung für die SED tragen sollte, dann müßte die CDU-West eine Mitverantwortung für die CDU-Ost übernehmen", hieß es in einer Gegenerklärung der UWG-Fraktion.

Der Gemeinderat tagte am 15. September 1998 in der Reinsdorfer Schule. Es waren trotz des Wahlkampfes weniger Zuhörer gekommen, als sich die CDU offenbar erhofft hatte. Herr Huter von der CDU Büddenstedt übte sich in saftigen Zwischenrufen. Die Sitzung mußte zweimal unterbrochen werden. Mit der Abstimmung wurde es kritisch, denn in unserer SPD/UWG Gruppe fehlte sogar einer, ausgerechnet mein Fraktionskollege Jochen Wolter, es stand also stimmenmäßig 7:7. Damit wäre der Antrag bei Stimmengleichheit zwar abgelehnt worden, aber man konnte ja nicht wissen. Ich hatte für die PDS und damit gegen die SPD kandidiert.

In der Debatte meldeten sich natürlich überwiegend die Ratsherren von der CDU: der Antragsteller Prill, der Fraktionsvorsitzende Schneider, Herr Holste und natürlich auch Ratsherr Germer zu Worte, letzterer mit dem originellsten Beitrag, Kuessner bekenne sich zu einer kommunistischen Partei. Das war die alte Leier seit nunmehr 30 Jahren. Und auch die ehrliche Überzeugung Germers. Er denkt wirklich so undifferenziert. Von der SPD sprach nur deren Fraktionsvorsitzender Rittmeyer. Die PDS sei eine zugelassene Partei, daher müsse die Kandidatur akzeptiert werden, die Entscheidung liege beim Wähler, die Zusammenarbeit mit mir sei nicht immer leicht, aber die Gruppenarbeit werde nicht aufgegeben, von der Art und Weise der Wahlwerbung distanziere man sich jedoch.

Das Abstimmungs-Ergebnis war eine Überraschung. Herr Magosch von der CDU-Fraktion enthielt sich der Stimme, sodaß der Antrag mit 7:6:1 Stimmen abgelehnt worden war. Der hohe, heuchlerische, moralische Anspruch der CDU-Fraktion ("Kinder, die er unterrichtet, müssen zu einem Pfarrer aufschauen können") zerplatzte an der Zivilcourage und dem Anstand eines ihre eigenen Leute.

Wie manipulativ Überschriften in Zeitungen sein können, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit mal wieder. Es wurde nicht etwa die Niederlage des CDU-Antrages in die Überschrift aufgenommen, sondern es hieß, groß gedruckt, "CDU: PDS-Pastor soll Ratsmandat niederlegen". Klein gedruckt darunter: "Gemeinderat distanzierte sich aber nicht von Kuessner".

Zehn Tage später war die Wahl vorbei, in Offleben hatte ich ein sensationelles Ergebnis von über 10% Erststimmen, ansonsten lag die PDS im ganzen Wahlkreis unter 1%.

Noch am Wahlabend wurden in einer stundenlangen Aktion die meisten Plakate weggeräumt. Wir waren alle erleichtert und am Montag begann der normale Gemeindebetrieb. Die Beurlaubung vom Dienst für dieses Projekt hörte automatisch auf. Im Konfirmandenunterricht bereiteten wir uns auf eine Fahrt nach Berlin vor, das Erntedankfest stand vor der Tür, mir lag die Tatsache, daß es mein letztes Erntedankfest in dieser Gemeinde auf dem Dorfe sein würde, etwas auf der Seele, was dann auch im überdurchschnittlich besuchten Abendmahlsgottesdienst durchkam. Das normale Gemeindeleben nahm uns voll in Beschlag und wir waren alle froh, daß das Projekt "Wahlkampf", das uns alle doch ziemlich mitgenommen hatte, hinter uns lag.

Die überraschende sogenannte vorläufige, eigentlich aber endgültige, Dienstenthebung

Da schlug die Nachricht, daß die Kirchenregierung am 5. Oktober 1998 meine vorläufige Dienstenthebung entschieden habe und daß der Präsident der Landessynode, Eckels, in einer einsamen Entscheidung am selben Tage auch meine Entfernung aus der Landessynode beschlossen und mich von allen weiteren Informationen ausgeschlossen hatte, doch als eine sehr große Überraschung ein.

Warum jetzt, wo alles wieder angelaufen war? Warum, wenn überhaupt, nicht schon Mitte September? Oder: warum wartete das Landeskirchenamt das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft nicht ab, nämlich, ob sich der Verdacht auf Pornographie auch bestätigen würde?

Die Rechtmäßigkeit und den Zeitpunkt begriffen wir in Offleben nicht. Anderswo übrigens auch nicht. Wieso wurde die Gemeinde berührt, obwohl in der Gemeinde nichts vorgefallen war? Die KvU-Sachen hatte ich ja nicht als Gemeindepfarrer publiziert, und für den Wahlkampf war ich ausdrücklich vom Dienst beurlaubt worden. Wieso konnte das Disziplinarverfahren nicht wie auch sonst ohne Suspendierung ablaufen?

Der Öffentlichkeit war nicht klar, daß die Sache von langer Hand vorbereitet war. Schon 14 Tage vorher, Mitte September, hatte das Landeskirchenamt dem Synodalpräsidenten mitgeteilt, daß die Kirchenregierung zusammen mit einer vorläufigen Dienstenthebung auch mein Verbleiben in der Landessynode für fraglich hielte. Es wäre nun die Pflicht eines Synodalpräsidenten gewesen, sich zunächst einmal auf die Seite seines Synodalen zu schlagen und ihn wenigstens über diesen Schritt zu informieren, aber er hatte sich ja längst zur Gruppe derer gesellt, die nicht nur meine vorläufige Dienstenthebung, sondern auch meine Entfernung aus der Landesynode betrieben.

Die Entscheidung der Kirchenregierung war von OLKR Dr. Fischer unterschrieben. Im Schreiben war die Reihenfolge der Maßnahmen verwechselt worden und am Ende stand eine falsche Rechtsmittelbelehrung. Es war nach meinem Eindruck ein hastiges Schreiben. Die Freude über

Der Widerstand in der Kirchengemeinde

meinen Rausschmiß muß zu groß gewesen sein. Erst viel später erfuhr ich, daß am selben 6. Oktober die prominente und teure Kanzlei Appelhagen mit der juristischen Vertretung der Sache gegen mich beauftragt wurde. Sie verschwand allerdings sehr bald aus mir nicht bekannten Gründen aus dem Verfahren.

000>Wenn einige im Landeskirchenamt gehofft haben sollten, ich würde nun impulsiv und enttäuscht über die böse Welt alles hinschmeißen, mich ins ferne Berlin zurückziehen und in den Teppich beißen, hatten sie sich gründlich getäuscht. Warum kannten sie mich so schlecht? Hatten sie darauf gehofft, ich würde den Mietling machen, der die "Herde" verläßt? Ich war fest entschlossen, in der Gemeinde zu bleiben, alle Gottesdienste zu besuchen und die Rechte eines schlichten Gemeindegliedes aus der Taufe wahrzunehmen, also z.B. im Gottesdienst die Lieder anzustimmen, da wir ja seit Jahren ohne Organisten singen. Da die Nachricht von der Dienstenthebung auch durch das Radio kam, standen die Konfirmanden mittags auf der Matte und fragten, ob denn der Konfirmandenunterricht ausfalle. Das käme gar nicht in Frage, ich würde weiter unterrichten, beschied ich sie. Sie kamen und wir machten weiter.

Der Widerstand in den Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben

Mit dem Wort "Widerstand" soll man ja vorsichtig umgehen. Dem Widerstand geht jeweils eine Maßnahme voraus, die den entschlossenen Widerspruch herausfordert. Die vorläufige Dienstenthebung, vor allem ihre Begründung und ihre Durchführung wurden in den beiden Kirchengemeinden nicht verstanden und weckten wachsenden Widerstand.

Von der Bundestagskandidatur und von den Plakaten waren die Kirchenvorstände nicht betroffen. Ich war beurlaubt, trennte meinen geistlichen Dienst vom persönlichen parteipolitischen Projekt und hütete mich peinlich, die Kirchenvorstände irgendwie vor den Wagen dieses politischen Projektes zu spannen. Das wäre auch völlig zwecklos gewesen. Sie lehnten ja dieses Projekt ab.

Von der angeblich vorläufigen Dienstenthebung jedoch war die Arbeit in der Kirchengemeinde im Kern betroffen. Denn so lautete der Beschluß des Kirchenvorstandes: "Wir lehnen die Kandidatur von Pfarrer Kuessner ab, aber wir lassen uns nicht los." Nun lösten die Kirchenvorstände den zweiten Teil des Beschlusses ein. Zwei Tage nach Erhalt der Entscheidung der Kirchenregierung äußerten sich die beiden Kirchenvorstände und forderten die baldige Rücknahme:

"8.10.1998. Die Kirchenvorstände der ev.-luth. Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben haben die vorläufige Dienstenthebung von Pfarrer Kuessner mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Sie halten diese Maßnahme für völlig überzogen und erwarten, daß sie baldmöglichst zurückgezogen wird. Die Kirchenvorstände wünschen das Ende der 34jährigen Dienstzeit von Pfarrer Kuessner wie lange geplant nach Ablauf der kirchlichen Feierlichkeiten zum 750jährigen Bestehen der Kirchen in Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben zum 31. Mai 1999."

Ein solches Votum war keineswegs selbstverständlich. Sie hätten auch sagen können: "Ätsch - das haste nun davon!" So entschlossen die Kirchenvorstände das parteipolitische Projekt ablehnten, ebenso entschlossen hielten sie an meiner Person im geistlichen Amt vor Ort in kritischer Treue fest. Nur einer scherte aus dem Kirchenvorstand aus, es war der Landwirt Henning Jacobs, der schon im ersten Verfahren 1977/79 Zeuge gegen mich gewesen war, den ich aber nach einer Pause wieder in die Kirchenvorstandsarbeit gebeten hatte und der nun ein zweites Mal sein Mandat niederlegte. Er war CDU-Parteimitglied. Andere, wie das Ehepaar Bauermeister und Frau Isensee, gehörten ebenfalls der CDU an, aber sie trennten Parteiarbeit und kirchlichen Dienst.

Die Kirchenvorstände blieben in ihrem Widerspruch nicht allein. Unmittelbar betroffen waren auch die Eltern der Konfirmanden. Sie und die Konfirmandinnen und Konfirmanden machten sich hoch und verfaßten eine Erklärung, daß ich die Konfirmation wie verabredet im April durchführen sollte. Unauffällig steckten sie mir das Papier in den Briefkasten. Das war für die Kirchenvorstände und mich ausgesprochen ermutigend. Die Konfirmandeneltern, die ich, soweit sie in Offleben wohnten, bereits konfirmiert hatte und die mich genau kannten, ließen sich in dieser Meinung in den folgenden Monaten nicht beirren. Die Konfirmation gestalteten wir dann zusammen. Aus dem Konflikt erwuchs eine neue geistliche Idee, die Eltern an der Einsegnung selber zu beteiligen.

Der aktivste Kreis neben den Konfirmanden war die Frauenhilfe. Die Frauenhilfsvorsitzende Frau Gerlinde Rademacher ließ in einem zweiseitigen, handgeschriebenen Brief vom 12.10.98 das Landeskirchenamt wissen, was sie von der vorläufigen Dienstenthebung und von Pfarrer Kuessner hielt. "Wir sind der Meinung, daß er sich in den ganzen 34 Jahren als Seelsorger hier in Offleben um die Belange der Frauenhilfe gut gekümmert hat. In seiner etwas eigenwilligen Art hat er uns (der Frauenhilfe!) nicht nur die Bibel, sondern auch "Gottes Wort an sich" sehr gut nahe gebracht. Er hatte und hat stets ein offenes Ohr für die Frauen der Frauenhilfe gehabt und uns bei den Nachmittagen gut begleitet (nicht nur musikalisch). Außerdem führe ich hier in Offleben seit 27 Jahren die Kirchenkasse und ich habe in den vielen Jahren stets gut mit Herrn Kuessner zusammengearbeitet. Ich persönlich finde es nicht gut, daß das LKA als kirchlicher Arbeitsgeber seinen wirklich guten Diener Gottes so behandelt. Denn als Pfarrer hat sich Dietrich Kuessner immer um die Belange seiner kirchlichen Gemeinde gekümmert. Außerdem macht es keinen guten Eindruck auf die Kirche, wenn ein Pfarrer ein halbes Jahr vor seinem offiziellen Ruhestand "geschaßt" wird... Ich bitte, auch im Namen meiner Frauenhilfsschwestern, diesen Schritt nochmals zu überdenken."

Auch die beiden Lektorinnen der Kirchengemeinde äußerten sich schriftlich und persönlich und je länger die Aufhebung der sogenannten vorläufigen Dienstenthebung auf sich warten ließ, um so drängender und vielfacher wurden die Stimmen aus der Gemeinde: der Schulrektor und Lehrerinnen der Grundschule, der Arzt, die Gemüsefrau, die Postangestellte, Pendler zum VW-Werk, Leute vom Gesangverein und vom Sportverein, die Volkskirche, wie sie leibt und lebt, scharte sich um die Kirchenvorstände. Es war ein wirklich rührender Beweis für ihren stabilen Standort in beiden Dörfern.

Eine weitere ärgerliche Behauptung des Landeskirchenamtes, in der Kirche herrsche wegen der Plakatierung "Unruhe", forderte den Widerspruch der kirchlichen Mitarbeiterinnen heraus. Die Küsterin Elvira Blanck rückte diese Behauptung jedenfalls für den Bereich unserer Kirchengemeinde in einem öffentlichen Leserbrief vom 15. 10. zurecht: "Keine Unruhe in Gemeinde". In der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung vom 12.10.98 gab Thomas Nagel die Stimmung in den Gemeinde zutreffend wieder: "Viele Christen hätten sich über das Verhalten des Pastors empört, rechtfertigte das Landeskirchenamt die Suspendierung. Aus den Gemeinden Kuessners kamen diese Proteste anscheinend nicht. Wir stehen hinter unserm Pastor, erklärte Jutta Seidlich. Die Enttäuschung über die Entscheidung der Landeskirche sei groß. Ähnlich hört sich der Kommentar aus der Gemeinde Reinsdorf-Hohnsleben an: "Als Pastor kann ihm niemand das Wasser reichen. Was er politisch macht, hat mit der Kirche nichts zu tun", erklärte Ruth Brandt."

Auch später konnte das Landeskirchenamt die behauptete Unruhe nicht nachweisen. Es lagen im Landeskirchenamt lediglich fünf schriftliche Beschwerden vor, davon die meisten von außerhalb der Landeskirche.

Da die Pressestelle des Landeskirchenamtes für eine weite Verbreitung der Disziplinierungsmaßnahme sorgte, meldeten sich auch von auswärts Bekannte und Unbekannte, die das Vorgehen des Landeskirchenamtes für unmöglich und schädlich hielten. Nun machte ungewollt das Corpus delicti, das Plakat, die Runde und jeder wollte nun feststellen, ob es auch wirklich "pornographisch" wäre. Bis auf eine verschwindende Minderheit war das Urteil einhellig: "nicht pornographisch". Zugleich warnte mich mein ehemaliger Konfirmand, nunmehr Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen, Michael Schetsche, vor der schwammigen Auslegung des Pornographiebegriffes in der Politik und völlig entgegengesetzten Äußerungen in der Soziologie. Er hatte schon 1990 ein dickes Buch über "Das Pornographierte Begehren" geschrieben.

Die prominenteste Unterstützung von außerhalb in jenen Tagen erfuhren die Kirchenvorstände durch die Vorsitzende des Rechtsausschusses der Landessynode, Frau Mattfeldt-Kloth, die in Helmstedt wohnt und in einem Leserbrief im Lokalteil der BZ vom 8.10.98 das Plakat als nicht pornographisch einstufte, sowie die Maßnahme der Kirchenregierung als überzogen kritisierte.

Die Ausnahmeregelung

Die Kirchenvorstände wollten in Erfahrung bringen, wann die abrupte vorläufige Dienstenthebung wieder aufgehoben werden sollte und baten das Landeskirchenamt um ein Gespräch. Es kamen die Oberlandeskirchenräte Becker und Dr. Fischer zu einer gemeinsamen Kirchenvorstandssitzung des Reinsdorfer und Offleber Kirchenvorstandes am 14.10.1998 nach Offleben. Es wurden wie sonst von der Vorsitzenden Frau Isensee die Losung und das Protokoll vorgelesen und dann begann sie die zahlreichen Erklärungen aus der Gemeinde mit der Bitte nach Aufhebung der Dienstenthebung zu verlesen, sodaß OLKR Dr. Fischer schon unruhig wurde und nachfragte, ob denn das nun alles verlesen werden sollte. Ziemlich ungerührt las Frau Isensee noch etwas weiter, gab dann aber den Oberlandeskirchenräten das Wort. Die hatten das Plakat mitgebracht, das die Kirchenvorstände bisher nicht gesehen hatten und hofften auf Verständnis. OLKR Becker hinterließ den Eindruck bei den Kirchenvorständen, daß Ende November die Sache ausgestanden sei. Ich dämpfte die Euphorie nach der Sitzung.

In der Sitzung war mehr am Rande aber etwas anderes, sehr Entscheidendes passiert. OLKR Dr. Fischer kritisierte einen Kirchenvorstandsbeschluß, wonach ich in Ausnahmefällen doch auch während der Kandidatenbeurlaubung Amtshandlungen vornehmen könnte. So hatte ich das Enkelkind meiner Pfarramtssekretärin während der Kandidaturzeit in Offleben getauft. Ich hatte davon in Kirche von Unten berichtet. Dr. Fischer hatte zu Unrecht Eigenmächtigkeit meinerseits vermutet und zeigte sich nun laut Protokoll über diese Vorgehensweise "erstaunt". Das Landeskirchenamt hatte sich nicht gegenteilig geäußert.

Auf dieses Stichwort "Ausnahmeregelung" hin erklärte Frau Isensee kategorisch, sie wünsche, daß im Falle eines hoffentlich nicht eintretenden Falles, Pastor Kuessner sie beerdigen solle. Die Erfahrung des plötzlichen Todes ihres Mannes lag noch nicht so weit zurück. OLKR Becker sagte zu, daß in wichtigen Fällen der Landesbischof eine Ausnahmeregelung treffen würde. Der Kirchenvorstand solle sich vertrauensvoll an ihn wenden.

OLKR Dr. Fischer schwieg hierzu und hätte doch die einhellige Meinung der Kirchenregierung zum Ausdruck bringen müssen, daß die vorläufige Dienstenthebung in eine endgültige münden sollte. Das hatte nämlich Dr. Bosse, Präsident des Landgerichts Magdeburg, in der Sitzung der Kirchenregierung die Mitglieder ausdrücklich gefragt: ob es dabei bliebe, daß die vorläufige Dienstenthebung nur die Vorstufe zur endgültigen Dienstenthebung wäre. Dies hätten alle bejaht. Nun schwieg Dr. Fischer und traute sich nicht, dies den Kirchenvorständen mitzuteilen.

Die Kirchenvorstände waren nach dieser Sitzung daher ganz zuversichtlich. "Die Kivo zeigen sich über die ganze Angelegenheit betroffen, sehen aber auf Grund der geführten Gespräche in Sachen Amtsenthebung keine negative Entwicklung", hieß es im Protokoll. Ich teilte diese Zuversicht nicht.

Rausschmiß aus dem Predigerseminar

Gerne hatte ich seit mehr als 10 Jahren im Predigerseminar regionale Kirchengeschichte unterrichtet. Aus dieser Arbeit war auch eine Publikation, ein Überblick über die Geschichte der Landeskirche, entstanden.

Der Unterricht gliederte sich in zwei zeitlich unterschiedene Teile: an einem Tag zu Beginn eines Kursus lernte ich die Vikarinnen und Vikare kennen und vereinbarte mit ihnen die Referate, Exkursion und den Ablauf des viertägigen Kursus. Dabei wollte ich im Überblick jeweils ein Sachthema und eine Biographie aus den fünf Epochen der landeskirchlichen Territorialgeschichte behandeln. Das gelang nicht immer. Außerdem scheint die Methode von "Überblick" passé zu sein.

Danach folgte in gewissem Abstand die Woche Kirchengeschichte, wobei ich gerne die Morgenandachten in den Unterricht einbezog. Das war ein anregender Austausch mit der übernächsten Pastorengeneration.

So hatte ich auch den üblichen Vorbereitungstag für den Kursus 97/2 abgehalten. Wir verabredeten als Schwerpunktthema für die Tage im November 1998 die Mönchsorden im Bereich unserer Landeskirche. Unerwartet erhielt ich Ende Oktober von OLKR Kollmar kurz vor Kursusbeginn einen Brief, wonach meine Tätigkeit im Predigerseminar ab sofort beendet wäre. Ich widersprach und OLKR Kollmar schrieb am 24. November zurück: "Unabhängig davon, wie lange sich das Verfahren hinziehen wird, werde ich in der Ordination, die auf Ihre Emeritierung im Mai 1999 folgt, gerne auch in dem Gottesdienst Ihr Wirken im Predigerseminar öffentlich würdigen. So habe ich es auch mit Pfarrer Althaus und seiner Tätigkeit gehalten. Es ist also nicht an eine Art unehrenhafter Entlassung gedacht."

Dr. Johnsen setzte im Dezember 1998 eine dienstliche Beschwerde auf, erinnerte an sie im Januar, beide Briefe wurden nicht erwidert. Ein unrühmliches Ende. In seiner Abruptheit eine Zumutung für beide Seiten.

Ich nahm am Ordinationsgottesdienst nach meiner Emeritierung in der Katharinenkirche teil, weil dort mein Nachfolger im Offleber Amt, Pfarrer Dr. Pustoslemšek ordiniert wurde, aber auch aus Neugier, ob sich OLKR Kollmar zu einem "würdigenden Worte" entschließen würde. Er hat dieses schriftlich gegebene Wort gebrochen. Wie mag es da mit der Würde eines kirchenleitenden Amtes stehen?

Ein erbetenes dienstliches Zeugnis aus der Feder von Predigerseminardirektor Liersch wurde mir nicht ausgehändigt. Ich entdeckte es später in den Verfahrensakten. Es hatte folgenden Wortlaut:

"Herr Pfarrer Dietrich Kuessner, Offleben, war/ist seit dem 29. Mai 1990 durch das Kollegium des Landeskirchenamtes damit beauftragt, im Predigerseminar Braunschweig in jedem Vikarskurs das Fach Regionale Kirchengeschichte zu unterrichten. Diesem Auftrag (insgesamt je zweimal vier Studientage pro Jahr) ist er regelmäßig und mit großem Engagement nachgekommen.

Das Ziel der Beschäftigung mit der Braunschweigischen Kirchengeschichte war für ihn, Freude an der Bearbeitung lokalgeschichtlicher Vorgänge zu wecken, das Verständnis für besondere Eigenheiten der Braunschweiger Landeskirche zu vertiefen und zur Diskussion über Perspektiven eige-nen Handelns bei der Gemeindearbeit anzuregen. Ihm lag daran, alle fünf Jahrhunderte zu berück-sichtigen, wozu ein von ihm verfaßter Abriß der Braunschweigischen Kirchengeschichte beitrug. Stark ausgewirkt hat sich auch Pfarrer Kuessners Forschungsarbeit im Bereich der jüngeren Geschichte, speziell des Themas "Kirche im Nationalsozialismus". Exkursionen trugen zur Veranschaulichung bei. Hervorzuheben ist, daß Herr Kuessner die jeweilige Thematik bis in die Morgenandachten hineingetragen und so zu einer spirituellen Vertiefung beigetragen hat. Die Anschaulichkeit seiner Darstellungen und der gute Kontakt zur gesamten Mitarbeiterschaft sind im Predigerseminar in bester Erinnerung."

Das war offenbar zu günstig, als daß mir das Landeskirchenamt so etwas aushändigte und in das Verfahren einführte. Na ja.

Wachsende Solidarität in der Pfarrerschaft und Öffentlichkeit

Die nächste Möglichkeit einer Korrektur bestand für die Kirchenregierung in der Sitzung am 11. November.

Dazu regten sich nun auch die Pfarrer der Landeskirche. Reinhard Brückner und Michael Pfau hatten am 3. November an die Kirchenregierung geschrieben. Sie nannten darin die Entscheidung der Kirchenregierung von 5. 10. voreilig und baten, sie rückgängig zu machen. "Bruder Küssner erfährt unsere volle Solidarität in dieser Angelegenheit. Wir brauchen ihn als Pfarrer in unserer Landeskirche und würden ihn gerne auch als solchen, wenn es soweit ist, verabschieden..." Auch andere Pfarrer hatten sich an den Landesbischof gewandt: Pfarrer Vollhardt aus Ackenhausen, der Mitstreiter in der Landessynode bis 1995 und aus der eigenen Propstei Pfarrer Brinckmeier, Helmstedt, Pfarrerin Koch-Barche und Pfarrer Barche, Watenstedt.

Am 4. November stand die vorläufige Dienstenthebung auf der Tagesordnung des Pfarrkonventes, der in St. Christophorus, Helmstedt, bei Pfarrer Brinckmeier tagte. Der Landesbischof nahm daran teil, OLKR Becker erläuterte später den Pfarrstellenbesetzungsplan. Auf eine längere Andacht zu Beginn des Pfarrkonventes, wie es sonst üblich ist, sollte dieses Mal verzichtet werden, weil der Landesbischof bald wieder weg mußte. Pfarrer Brinckmeier beschränkte sich daher auf ein knappes Gebet in der Kirche mit der Bitte um den Heiligen Geist, den wir in unserer Kirche an allen Ecken und Kanten dringend brauchten und bat um dessen Gegenwart auch bei den abwesenden Brüdern Kuessner und Bruns (gegen den die Staatsanwaltschaft in ganz anderer Sache ermittelte). "Halte sie in deiner Hand. Sei du bei ihnen, wenn sie nicht bei uns sein dürfen." Das Gebet erregte den Landesbischof in einem derart außerordentliche Maße, daß er abreisen wollte und nur mit Mühe von OLKR Becker zum Bleiben veranlaßt werden konnte. Er eröffnete den Pfarrkonvent mit der barschen Aufforderung an Pfarrer Brinckmeier, erst einmal eine gründliche Bibelarbeit vorzulegen.

Die Auskünfte in Sachen Dienstenthebung schienen nicht allgemein überzeugend gewesen zu sein. Wenig später unterschrieb auch Pfarrer Thomas Meyer, Grasleben, die Aufforderung der Kirchenvorstände und am 6. November veröffentlichte die BZ einen Leserbrief von Pfarrer Barche unter der Überschrift "Mehr Schaden als Nutzen", der kollegial, auch meine Schattenseiten benennend, doch in warmherzigen Worten für die Gemeinden und mich Stellung bezog.

Kirchenleitung sperrt Räume für eine klärende Diskussion

Studentenpfarrer Dr. Kurt Dockhorn organisierte auf meine Bitte hin am 15. Oktober eine Diskussion zum Thema "Kirche, Sexualität, Pornographie und politische Zensur". Kurzer Hand verbot das Landeskirchenamt, für diese Diskussion die Räume der ESG zu benutzen. Die Veranstaltung fand also in der Brunsviga, Braunschweig, statt und Professor Hieber aus Hannover zog eine überzeugende Bilanz aus dem repressiven Geist dieses ganzen Unternehmens. Das Landeskirchenamt geriet allmählich in eine peinliche Isolierung. In einem Schreiben an das Landeskirchenamt faßte Prof. Hieber seine Beurteilung folgendermaßen zusammen: es sei nicht verwunderlich, daß weite Bereiche der Bevölkerung weniger den Plakaten Kuessners, sondern vielmehr der Ablehnung dieser Plakate kritisch gegenüberstünden. "Bei Angehörigen eines eher liberalen sozialen Milieus regt sich kritisches Unverständnis, wenn solche Plakate Anstoß erregen. Denn sie geben eine Bilderwelt wieder, wie sie viele von uns beispielsweise aus den Aufklärungskampagnen der Aids-Hilfen kennen. Da diese weit entfernt von dem sind, was einigermaßen aufgeklärte Menschen als "Pornographie" verstehen könnten, gerät die intransigente Haltung der Kirche im vorliegenden Fall in die Kritik. - Aus diesen Gründen bin ich zu der Auffassung gelangt, daß ein Disziplinarverfahren gegenüber Dietrich Kuessner, das mit einer vorläufigen Dienstenthebung eingeleitet wurde, eine völlig überzogene und unangemessene Maßnahme ist. Sie schießen damit, wie man umgangssprachlich sagt, mit Kanonen auf Spatzen. Gegenüber dem großen Bereich des liberal orientierten Milieus in unserer Gesellschaft, und das sollten sie bedenken, macht sich die Kirche mit dieser Haltung unglaubwürdig." Der Evangelische Pressedienst berichtete über die Veranstaltung unter der Überschrift "Kirche reagiert kleinbürgerlich-konservativ" und die EZ druckte in der Ausgabe vom 25.10.1998 einen Bericht unter der Überschrift "Studentenpfarrer mahnt eine "Versachlichung" an."

Wenn die Kirchenleitung gehofft hatte, mich auch öffentlich unmöglich zu machen und als persona non grata der Kirche darzustellen, war ihr dies gründlich mißlungen. Pfarrer Drews aus Opperhausen hatte mich zu einer Freizeit mit seinen Kirchenvorständen Ende Oktober in den Harz nach Wildemann eingeladen. Er hielt die Einladung aufrecht und wir hatten in großer Runde ein anregendes, mehrstündiges Gespräch über das Thema "Wieweit reicht das 3. Reich?"

Eines Tages stand ein Schüler aus dem Braunschweigischen vor der Tür und wollte ein Interview. Er wollte eine Hausarbeit über das Plakat und die Reaktion der Landeskirche anfertigen. Wir kamen in ein unterhaltsames Gespräch, ich fand sympathisches Verständnis, er ordnete in seiner schriftlichen Anfertigung Text und Bild sinnvoll zueinander, später tauchte ich sogar in der Klasse zu einem fröhlichen Streitgespräch auf. Da war die schulische Situation der kirchlichen doch weit voraus.

Ausgerechnet am Tag der Kirchenregierungssitzung am 11. November erschien auf der Wolfenbüttler Seite der BZ ein fünfspaltenlanger Bericht samt "seriösem" Foto über meinen Vortrag, den ich zwei Tage vorher, am Gedenktag der Pogromnacht, auf Einladung der Stadt in der Reihe "Wolfenbüttel unterm Hakenkreuz" im Rathaussaal gehalten hatte. Bürgermeister Axel Gummert sah über den ganzen Presseschmutz souverän hinweg, eröffnete die Veranstaltung und leitete auch die Diskussion. Ich sprach zum Thema "Juden, Kirche und Bischöfe in Wolfenbüttel". Der Vortrag war enorm gut besucht, die Besprechung in der Zeitung äußerst wohlwollend. Ich hatte die Kirche mal wieder nicht so schlecht vertreten und: die Kirchenleitung mußte doch weiterhin mit mir auch in der Öffentlichkeit rechnen.

Auf ihrer Sitzung am 11.11. ignorierte sie jedoch das Votum der Kirchenvorstände, der Konfirmandeneltern und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zahlreiche andere Schreiben aus dem Dorfe und aus der Pfarrerschaft, blieb bei der unverständlichen Dienstenthebung und veröffentlichte auch noch den Beschluß.

Sie hatte auch noch den Trumpf der Landessynode.

Rausschmiß aus der Landessynode

Vom 19.-21. November tagte die Landessynode. Die Landessynode mußte die einsame Entscheidung des Präsidenten erst mal endgültig beschließen. Präsident Eckels legte sich gewaltig ins Zeug, er trug den Antrag selber vor der Landessynode vor, was dessen Gewicht verstärkte. Es gab eine kurze Debatte und dabei einige verhaltene Einwände von Pfarrer Borrmann und Pfarrer Karius. In der Abstimmung enthielten sich 8 Synodale der Stimme, 6 andere stimmten sogar offen gegen ihn, die anderen, etwas über 30, stimmten für den Antrag. Dieses Abstimmungsergebnis hat mich insofern gefreut, weil sich doch 14 Synodale mehr auf die Seite der Gemeinden geschlagen hatten. Andrerseits empfand ich den Beschluß als unanständig. Ich hätte es verstanden, wenn angesichts der unsicheren Rechtslage die Landessynode und ich gemeinsam vor den Rechtshof der Konföderation gegangen wären und wir uns dann einem Schiedsspruch unterworfen hätten. Das aber hätte bedeutet, daß die vorläufige Entscheidung des Präsidenten, mir die Akten zu verweigern, falsch gewesen wäre. Offenbar waren Eckels und Fischer von der Richtigkeit der Rechtslage völlig überzeugt. Ich nicht.

Kirchenpräsident i.R. Dr. Johnsen hatte mich seit 1996 bei den Ermittlungen unterstützt, hatte erfolgreich die Ermittlungen von OLKR Niemann gegen mich in Sachen der Konfirmationsverschiebung zu Fall gebracht und setzte mir postwendend einen Antrag zunächst auf Aussetzung und dann auf Aufhebung des Beschlusses auf, den ich in die Synodalsitzung faxte, weil mir wichtig war, daß die Presse meinen Einspruch gegen den Beschluß zusammen mit der Beschlußfassung der Synode erfuhr. So geschah es denn auch. Beides, Rausschmißbeschluß und Einspruch wurden gemeinsam veröffentlicht.

Die Meldung von meinem Rausschmiß veröffentlichte "Synode direkt" allein sieben Mal, mal mit Überschrift, mal ohne. Das war Mobbing der gefügigen Pressestelle. Ganz anders Thomas Nagel in einem eigenständigen Kommentar zu einem vierspaltigen Bericht in der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung am 21.11.1998: "Die Repräsentanten der Landeskirche haben ihr Gesicht in doppelter Hinsicht verloren. Sie haben einen liebenswerten, wenn auch schwierigen Pastor zu einem Märtyrer aufgebaut. Pastor Kuessner ist außerdem als Homosexueller und Linker Außenseiter in der Kirche. Selbstverständlich bleibt er für sein Handeln verantwortlich. Er verdient aber Respekt, weil er für Minderheiten eintritt. Er tut das vielleicht weniger konventionell als andere Pastoren, aber dafür mit viel Überzeugung. Solche Leute haben schon immer mehr Spielraum verdient." Solch ein Kommentar erschien natürlich nicht in "Synode direkt".

Gottesdienste gehen weiter

Seit Bußtag 1998 hatte ich unregelmäßig wieder mit Gottesdiensten begonnen. Ich fand das einen guten Einstieg, denn ich wiegte mich keineswegs in dem Glauben, selber alles richtig gemacht zu haben. Wir hielten am Bußtag wie immer die sogenannte Allgemeine Beichte, für die ich die Ordnung von 1958 verwandte, in der sich der Pfarrer als erster vor der Gemeinde zu seinen Sünden bekennt. "Ich armer, elendiger sündiger Mensch..." Als Antwort der Gemeinde sangen wir nach der Beichte meist die vierte Strophe von "Lobe den Herren... der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet".

Es war für mich selbstverständlich, daß ich den Gottesdienst am Totensonntag hielt und die Namen der Verstorbenen verlas. Ich hatte die meisten Begräbnisse im vergangenen Jahr vorgenommen. An diesem Sonntag kamen die Angehörigen in den Gottesdienst. Bei der Alternative "Seelsorge oder Kirchenrecht" entschied ich mich im Konfliktfall für die Seelsorge.

Am 1. Advent übernahm ich wieder die Leitung, am 2. Advent sollte Frau Pfarrerin Koch-Barche den Gottesdienst halten, aber die Wege von Watenstedt nach Offleben waren tief verschneit, also sprang ich ein. Ich hatte ja nicht nur Rechte aus der Ordination, die mir streitig gemacht wurden, sondern auch Rechte aus der Taufe, die mir nicht streitig gemacht werden konnten.

Und dann wieder Weihnachten.

Die Dienstaufsicht hatte stille gehalten, Pfarrer Harry Köhler aus Esbeck, der die offizielle Vertretung hatte, guckte im Hinblick auf die große Unterstützung durch die Gemeinde mit guten Gründen weg und wir versuchten, ihn nicht allzusehr in Verlegenheit zu bringen. Also brachten wir nichts an die Öffentlichkeit. In den Kirchennachrichten erschien kein Name. Trotzdem war jeder Gottesdienst mit einer gewissen Aufregung verbunden, weil die Gemeinde und ich nicht sicher waren, ob nicht plötzlich irgend jemand erschien und mir den Gottesdienst ausdrücklich aus der Hand nahm.

Inzwischen hatte ich zwei Beerdigungen und zwei Goldene Hochzeit abgehalten und dazu die Bitte der Angehörigen, die wünschten, daß die Amtshandlung von mir vorgenommen würde, im Landeskirchenamt eingereicht. Das war zugleich ein stiller Wink an die Kirchenleitung, auf diese unauffällige Weise von ihrem hohen Ross herunterzukommen und zu normalen Verhältnissen zurückzukehren. Aber die Situation in der Gemeinde spielte im Landeskirchenamt in meinem Fall überhaupt keine Rolle. Ich sollte nur abgestraft werden.

Ein Teil der CDU treibt ihr altes Spiel

Daß ein Teil der CDU sich mit der Abstimmungsniederlage in der Gemeinderatssitzung vom September nicht abfinden würde, hatte ich erwartet. Das wäre aus ihrer Sicht doch zu schön gewesen: Entfernung aus der Landessynode, Entfernung aus dem Gemeinderat, Entfernung aus dem Dienst, keine Rolle mehr im Ort. Sie war beunruhigt, daß ich doch weiter Gottesdienste hielt und mich nicht verkrochen hatte.

Nun ließen CDU-Mitglieder Unterschriftslisten kursieren, die Namen von CDU-Mitgliedern und CDU-Sympathisanten, aber auch Namen aus charismatischen Kreisen und Namen von Leuten aus dem Gebiet der ehemaligen DDR enthielten, die meine Arbeit gar nicht kannten. CDU-Ratsmitglied Hans Germer hatte sich bereits wiederholt beschwerdeführend an das Landeskirchenamt gewandt. Die Unterschriftenlisten übergab er persönlich im Landeskirchenamt OLKR und Parteifreund Dr. Fischer. Bitte, bitte, auf jeden Fall Suspendierung bis zum Mai, war der Grundtenor. Das war ja auch die Anfangsvision von OLKR Dr. Fischer gewesen.

Die Staatsanwaltschaft lenkt ein und stellt ein

Vor Weihnachten kam dann die gute Nachricht, daß die Staatsanwaltschaft in Hannover kein Verfahren eröffnen, sondern die Sache gegen ein geringes Bußgeld einstellen würde. Mein Rechtsanwalt drückte die ursprünglich vorgesehene Summe von 1000 DM auf 500 DM und ich stimmte mit einigen Bedenken zu. Am liebsten wäre ich vor das Amtsgericht in Helmstedt gegangen, um den parteipolitischen Charakter von Anzeige und Verfahren aufzudecken. Andrerseits waren die 500 DM natürlich ein deutliches Signal, daß die Staatsanwaltschaft die Sache auf niedrigster Stufe abgeschlossen sehen wollte. Eine komplette Einstellung war deshalb schwierig, weil dann die Beschlagnahme der Plakate möglicherweise als unrecht hingestellt werden konnte.

Ich hatte den sicheren Eindruck, daß auch die Staatsanwaltschaft den parteipolitischen Charakter der Aktion inzwischen gerochen hatte und die Sache los sein wollte. Die Staatsanwaltschaft stufte die Sache also als Bagatelle und als ein "geringes Vergehen" ein. Normalerweise hätte ein Landeskirchenamt sich freuen und mir einen Brief schreiben können: "Wie schön Bruder Kuessner, daß die Sache so glimpflich abgegangen ist. Wir werden die Einschätzung der Staatsanwaltschaft bei Disziplinarverfahren berücksichtigen." Doch auch die Pressestelle der Landeskirche schwieg. Vermutlich war die Kirchenleitung wütend, weil ihre heimliche Hoffnung gescheitert war, mit einem hohen Strafmaß durch die Staatsanwaltschaft aufgrund des harten Pornographieparagraphen mich endgültig aus dem Dienst hieven zu können,. Also, kein Glückwunsch aus dem Amt.

Denkbar war, das Landeskirchenamt würde sich in gleicher Weise des Verfahrens erledigen, möglicherweise mit einer etwas höheren Geldbuße. Jedoch erklärte für das Landeskirchenamt OLKR Niemann plötzlich, beides habe überhaupt nichts miteinander zu tun. Das war überraschend, weil die Aufnahme der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nach Bekunden von OLKR Niemann der Auslöser für die vorläufige Dienstenthebung war und vor allem für die Tatsache, daß sämtliche Ermittlungen seitens des Landeskirchenamtes ruhten. Natürlich gab es einige Zusammenhänge und auch einige Telefonate zwischen Staatsanwaltschaft und Landeskirchenamt.

Staatlicherseits war der grobe Pornographieverdacht nun fallengelassen worden. Worauf wollte nun die Kirchenleitung ihre Anklage stützen? Gab es ein besonderes Pornographieverständnis in der Landeskirche oder bediente sie mit der Aufrechterhaltung der Dienstenthebung im Bezug auf das Plakat lediglich die dumpfen Sexualängste eines verklemmten Kleinbürgertums? Was bedeutete nun die Aussage der Pröpste "eindeutig pornographisch" anderes, als daß Pröpste und Bischof sehr subjektiv und leichtfertig mit diesem Straftatbestand hantierten?

Ausgerechnet in diesem November 1998 erschienen die Evangelischen Kommentare unter dem Aufmacher "Pornographie - Lust oder Last" und zu diesem Thema zwei weiterführende Aufsätze, die ich postwendend dem Landeskirchenamt als Ermittlungsbehörde zur Stellungnahme zusandte. Dort hatte Prof. Faulstich aus Lüneburg unter dem Titel "Verdrängte Sexualität" u.a. folgendes geschrieben: "Die immer wieder laut werdenden Verbotsappelle pauschal gegenüber Pornographie sind bloße Abwehrmechanismen ihrer Verfechter gegenüber ihren eigenen subjektiven Unzulänglichkeiten. Das Banner moralischer Entrüstung kaschiert das Fehlen selbstgewisser Geschlechtlichkeit... ... Zum andern, gesellschaftlich gesehen, indiziert die dominante Stimulationsfunktion heutiger Pornographie den traurigen Fall einer gigantische Kulturlüge. Wir verdrängen den gesamten sexuellen Bereich in Scham und Tabuisierung." Der Artikel wäre Anlaß gewesen, sich mit dem Pornographiebegriff in der Kirche auseinanderzusetzen. Daran dachte im Landeskirchenamt als Ermittlungsbehörde keiner. So blieb die Chance, angesichts des Einlenkens des Staatsanwaltes und einem gewandelten Verständnis des Pornographiebegriffes dem Verfahren eine neue, im Hinblick auf die Gemeinden versöhnende Wendung zu geben, ungenutzt.

Die schwere Niederlage des Präsidenten

der Landessynode durch den Rechtshof der Konföderation

Anfang Januar erhielt ich vom Rechtshof Bescheid, daß meinem Antrag auf vorläufige Aussetzung des Synodalbeschlusses stattgegeben worden sei. Der Rechtshof habe durch seinen Vorsitzenden beschlossen: "Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Beschluß der Landessynode, der Antragsgegnerin, vom 19. November 1998 und den Bescheid des Präsidenten der Landessynode vom 19. November 1998 wird hergestellt. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen." Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Prof. Dr. Schinkel begründete den Beschluß auf drei Seiten. Das Landessynodalgesetz sehe ein Ruhen der Rechte und Pflichten aus dem Amt eines Synodalen nicht vor. Sofern dies von der Landessynode als dem kirchlichen Gesetzesgeber als Lücke empfunden werde, obliege es in erster Linie ihr, diese Lücke durch Ergänzung des Gesetzes zu schließen. Es könne nicht als eine nach dem allgemeinen Gerechtigkeitswillen unabweisbare Konsequenz des im Landessynodalgesetz zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Regelungswillen angesehen werden, die Mitwirkung eines ordinierten Synodalen, dem die Ausübung dieses Rechtes im Rahmen eines Disziplinarverfahrens vorläufig untersagt worden ist, für die Dauer dieser Maßnahme zu unterbinden.

Das war der entscheidenden Durchbruch, denn auf meine Entfernung aus der Landessynode zielte das ganze Unternehmen der Dienstenthebung natürlich auch. Der Präsident des Rechtshofes, Prof. Schinkel, hatte also in seiner Begründung eben auf die fehlende Rechtsbasis des Synodalbeschlusses hingewiesen und der Synode empfohlen, diese Lücke zu schließen, statt mit Hilfe dieser Lücke den Ausschluß eines Synodenmitgliedes zu beschließen. Das war eine schwere Niederlage des Synodalpräsidenten, der allerdings keinerlei Konsequenzen daraus zog. In der Kirchenregierung saß auch ein so hochkarätiger Jurist wie Dr. Bosse, der Präsident Eckels nicht gebremst hatte. Es war für mich ein bißchen wie bei David und Goliath.

Ich nahm sofort meine Arbeit in der Landesynode wieder auf, forderte die mir rechtswidrig vorenthaltenen Akten an und besuchte die Bauausschußsitzung am 13. Januar. Ich wurde vom Vorsitzenden Dr. Schlimme freundlich begrüßt, alle taten so, als ob nichts passiert wäre. Nur der Synodalpräsident Eckels ließ vor der Presse verlauten, der Beschluß des Rechtshofes sei hinsichtlich seiner praktischen Konsequenz "unerträglich". Er ließ durchblicken, daß dieser Bescheid nur ein vorläufiger sei und ein Kollegialbeschluß anders ausfallen könnte. Wer den Text des Urteils vom 6. Januar las, mußte bei ruhiger Lektüre zu einem gegenteiligen Urteil kommen. Die Ablehnungsgründe wirkten gefestigt und ein Abrücken von diesen Gründen erschien nicht folgerichtig. Am 23. Januar tagte auch die Landessynode wieder im Landeskirchenamt in Wolfenbüttel, man begrüßte sich gegenseitig, als ob nichts gewesen wäre.

Erst im Mai erhielt ich die schriftliche Ausfertigung des Urteils des Rechtshofes vom März 1999. Eine mündliche Verhandlung hatte gar nicht stattgefunden, obwohl Präsident Eckels eine mehrseitige, meinem laienhaften Verständnis nach schroffe Erwiderung geschrieben hatte. Der Rechtshof bestätigte den Vorentscheid des Präsidenten vom Januar. Der Beschluß der Landessynode vom November 1998 war glatt rechtwidrig, Revision wurde nicht zugelassen, die Landeskirche hatte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das war eine deutliche Antwort. Fast eine Demütigung. Für das Verstehen des Urteils fehlen mir die Kenntnisse. Aber es war klar: der Synodenpräsident hatte die Landessynode in die Irre geführt. Und zwar zum erheblichen Nachteil eines ordentlich gewählten Mitgliedes der Landessynode. Beispiellos in der langjährigen Geschichte der Landessynode.

In der Maisitzung der Landessynode hatte Präsident Eckels die sehr unangenehme Aufgabe, diesen Beschluß den Synodalen mitzuteilen. Er tat das eher beiläufig, indem er durch die Verlesung komplizierter Textpassagen das Zuhören der Synodalen ermüdete. Kein Wort der Entschuldigung. Kein Wort darüber, daß er mit hohem persönlichen Einsatz die Landessynode in einen schweren Rechtsirrtum geführt hatte. Man machte weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Bei der Berichterstattung in "Synode direkt" erschien über die Tatsache, daß ich wieder in der Landessynode war, kein Sterbenswörtchen. Im Gegenteil: bei der Abfassung des Synodenprotokolls "vergaß" der Präsident sogar, seine eigene Mitteilung vom vernichtenden Urteil des Rechtshofes überhaupt zu protokollieren. Er korrigierte diesen schweren Fehler auch nicht von selber, sondern es bedurfte eines Anstoßes von außen, um in einem Nachtrag zum Protokoll das Urteil des Rechtshofes in die Synodenpapiere aufzunehmen. Mit diesem Vorgehen war Eckels als Synodenpräsident eigentlich nicht mehr tragbar.

Zurück in die Landessynode - zurück in die Propsteisynode

Die Propsteisynode Helmstedt wünschte wie die Amtskonferenz eine gründliche Unterrichtung über den Stand meines Verfahrens und über das Verfahren gegen den aus anderen Gründen suspendierten Leiters des Stadtkirchenverbandes Helmstedt, Dieter Bruns. Sie hatte in der Novembersynode 1998 gegen den Willen von Propst Fischer eine Sondersynode zu diesem Thema noch im Dezember durchgesetzt. Sie fand erst am 19. Januar statt. Das war für mich günstig, denn nun war das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft beendet. Ich beantragte auf Grund des Bescheides des Rechtshofes auch an der Propsteisynode wieder teilnehmen zu dürfen. Der Vorsitzende der Propsteisynode Hans Joachim Buttler erwiderte jedoch in Absprache mit Propst Fischer, da ich kraft Amtes Mitglied der Propsteisynode wäre, könne ich an der Synodalsitzung nicht teilnehmen. Aber Herr OLKR Niemann beschied den Propsteisynodalvorsitzenden, mich zur Sondersitzung am 19. Januar 1999 einzuladen. Ich war seiner Meinung nach doch Mitglied der Propsteisynode. Verwirrende Rechtsauskünfte.

Zur Sondersynode waren die Oberlandeskirchenräte Niemann und Kollmar eingeladen, aber ihre Antworten blieben so unbefriedigend, daß der frühere Oberkreisdirektors Dr. Henze während der Sitzung den Antrag stellte, unabhängig vom laufenden Disziplinarverfahren die vorläufige Dienstenthebung besonders im Hinblick auf die betroffenen Kirchengemeinden bis zum Ende meiner Pensionierung Ende Mai aufzuheben. Das war für OLKR Niemann ein heftiger Brocken. Er werde bei einer solchen Beschlußfassung die Sitzung der Propsteisynode verlassen. Der Antrag von Dr. Henze erhielt bei mehreren Enthaltungen doch eine klare Mehrheit. Die Oberlandeskirchenräte waren schon vorher gegangen.

Nun war die Rechtslage durch die Haltung der Kirchenleitung reichlich verworren geworden. Ich war zwar als Landessynodaler Mitglied eines kirchenleitenden Gremiums, ich war Propsteisynodaler kraft Amtes, aber sollte nicht Sitz und Stimme in meinem eigenen Kirchenvorstand haben. Diese Rechtslage war beim besten Willen den Kirchenvorständen nicht mehr zu vermitteln. Worum ging es eigentlich? Um die Gemeinden? Um die Abstrafung eines Pfarrers? Da hatte der Landesbischof einen Einfall.

Bischof: Die Würde des Pfarramtes

Das Landeskirchenamt hatte nach den Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, des Rechthofes und der Propsteisynode eine gute, neue Möglichkeit, im Verfahren einzulenken, ohne daß Gesicht zu verlieren. Aber die Kirchenregierung beschloß auch in der Sitzung am 21. Januar 1999, trotz der veränderten Situation an der vorläufigen Dienstenthebung festzuhalten. Wie zur Bekräftigung ging nun nicht der Pressesprecher allein vor die Öffentlichkeit, sondern sogar der Landesbischof äußerte sich deftig. Es ginge um die Würde und Bedeutung des Pfarramtes.

Das war merkwürdig zu hören aus dem Munde eines, der nie auch nur vier Jahre lang an einem Ort ein Pfarramt geleitet hatte. Der Bischof begründete dies auch mit keiner weiteren Silbe. Er verwischte die Grenzen zwischen dem Handeln eines vom Dienst beurlaubten Pfarrers und eines Pfarrers im Dienst vollständig. Keine Beschuldigung des Landeskirchenamtes als Anklagebehörde betraf mein Verhalten im Pfarramt. Der Bischof tat so, als ob etwas im pfarramtlichen Dienst vorgefallen wäre. Geheimnisvoll schob der Pressesprecher nach, es ginge gar nicht nur um das Plakat, sondern auch um eine "ganzes Paket von Vorwürfen." Welche, ließ er offen. Es waren die alten Vorwürfe aus Kirche von Unten. Kurt Dockhorn kommentierte in der Braunschweiger Zeitung lakonisch: "Olle Kamellen."

Und worin bestand nun die Würde des Pfarramtes? War die Würde des Amtes zugleich die Würde des Amtsträgers? Ging es überhaupt um Etikette und Schlips und Kragen oder nicht um ein Amt, das die Versöhnung predigt? Und wenn die Versöhnung im Kreuz anschaulich wird, wäre wohl nachzudenken über die Würde des Gekreuzigten, in dessen Nachfolge wir nur von der Würde des Amtes reden können. Also: viel Gesprächsbedarf. Aber daran lag dem Bischof in diesem Falle nichts. Er benutzte diesen Begriff als Waffe gegen einen Pfarrer und das tat einer gründlichen, fälligen Erörterung nicht gut.

Es war der Ärger über die anhaltende und stärker werdende Solidarität in den Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben, in der Propstei und darüber hinaus, die den Bischof veranlaßten, persönlich in meinem Fall vor die Presse zu gehen.

Immer mehr Pfarrer äußerten ihre Solidarität. Vor der Kirchenregierungssitzung hatte Pfarrer Klaus Pieper, wie Schliepack aus dem gleichen Predigerseminarjahrgang wie ich, an die Kirchenregierung geschrieben: "Der Schaden, den die Kirchenleitung durch ihre - im ersten Augenblick notfalls nachvollziehbare - Überreaktion und vor allem durch das Festhalten daran selbst nach Einstellung (!) des Vorwurfs des Verdachts der Pornographie seitens der Staatsanwaltschaft vor Weihnachten für unsere Kirche anrichtet, scheint unvergleichbar größer als die unglückliche und vielleicht sogar verwerfliche Plakataktion Mitte September. Das wirkt sich leider bis ins Krankenhaus aus." Siebzehn Pfarrer des Braunschweiger Stadtkonventes bekundeten in einem Schreiben an die Kirchenregierung ihre Unterstützung. Die im Oktober noch vorhandene einstimmige Mehrheit in der Kirchenregierung begann zu bröckeln.

Disziplinarkammer untermauert Haltung der Kirchenregierung

Ich hatte bei der Disziplinarkammer Einspruch gegen die vorläufige Dienstenthebung erhoben und wenigsten die Aussetzung des sofortigen Vollzuges beantragt. Es waren nach meiner Auffassung eine Reihe von schweren Verfahrensfehlern gemacht worden: es hatte keine Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse gegeben und keine rechtlich zwingend vorgeschriebene Stellungnahme meinerseits, es hatte keine Untersuchung gegeben und diese Tatsache war mir verspätet erst auf meinen Hinweis mitgeteilt worden. Aber im März 1999 lehnte die Disziplinarkammer mit sehr heftigen Gründen ab. Jede einzelne Äußerung in Kirche von Unten wäre bereits eine schwere Dienstpflichtverletzung, na, und nun erst das Plakat. Über die Verfahrensfehler sah die Kammer hinweg. Derlei könne später in der Verhandlung "geheilt" werden. Das finde ich bis heute sehr bedenklich. Es war bereits jetzt ein von Verfahrensfehlern belastetes Verfahren. Kurz: verfahren!

Die Gemeinde unter dem Wort trägt und hebt die vorläufige Dienstenthebung auf

Vom Januar bis Mai 1999 feierten wir das 750-jährige Bestehen der Offleber Kirche. Um dem Amt entgegenzukommen, verzichtete ich auf die Predigt beim überfüllten Eröffnungsgottesdienst am 6. Januar 1999 in der Reinsdorfer Kirche und bat Pfarrer i.R. Hinrichs, der auch sonst ausgeholfen hatte. Ich übernahm die Rolle des Anstimmens aus der Gemeinde heraus. Den anschließenden Gemeindeabend in der Reinsdorfer Schule, bei dem Jochen Schmid einen Vortrag über die Geschichte beider Kirchengemeinden hielt, beendete ich mit einem Schlußwort.

Bis Mai liefen eine Reihe anderer Veranstaltungen. Wie würde es mit der Konfirmation im April sein? Unglücklicherweise und ohne Verschulden des Kirchenbüros veröffentlichte die BZ in der Konfirmandenzeitung, wie auch sonst, den Termin und den Namen des Konfirmators. Wir hatten ihn bei der Meldung der Namen absichtlich fortgelassen. Nun stand er drin und es hätte Anlaß zu einem Eingreifen geben können. Im Propsteivorstand gab es eine Nachfrage, aber Kirchenvorstand, Eltern, Pfarrerin Koch-Barche und ich hielten zusammen den Konfirmationsgottesdienst und entdeckten dabei den Segen einer Beteiligung der Eltern bei der Einsegnung, die im Kapitel "Gottesdienst" beschrieben ist.

Nun wollten auch die Kirchenvorstände endlich rechtliche Klarheit haben und hoben von sich aus mit einer ganz einfachen Rechtskonstruktion die vorläufige Dienstenthebung für die Kirchengemeinden Offleben und Reinsdorf-Hohnsleben auf. Der § 53 der Kirchengemeindeordnung sah vor, daß Unregelmäßigkeiten bei "Wandel" und Amtsführung eines Pfarrers durch den Kirchenvorstand dem Propst gemeldet werden mußten. Nun stellten die Kirchenvorstände förmlich fest, daß gegen Wandel und Lehre von Pfarrer Kuessner nichts einzuwenden wäre und hoben mit Wirkung von 6. Januar, dem Datum des Bescheides des Rechtshofes, die vorläufige Dienstenthebung für den Bereich der Kirchengemeinden förmlich auf. Der Beschluß ging durch die Presse. und wurde vom Landeskirchenamt nicht förmlich angefochten. Im Gegenteil: sogar das Landeskirchenamt teilte über die Braunschweiger Zeitung mit, daß ich wohl ausnahmsweise amtieren dürfte, jedoch an der vorläufigen Dienstenthebung festgehalten würde.

Die tragende Gemeinde reichte über die Grenzen der Kirchengemeinden weit hinaus

Bereits am 4. Januar hatte sich Prof. Pollmann, Rektor der Otto von Guericke-Universität Magdeburg nach dem Stand des Verfahrens erkundigt "in Sorge, daß Herr Kuessner in den letzten Monaten seiner aktiven Dienstzeit nicht mehr seine pfarramtlichen Aufgaben wahrnehmen kann." Prof. E. A. Roloff schrieb am 23. März 1999 persönlich an den Landesbischof, daß er als Fachhistoriker meine historischen Arbeiten schätzte, daß er sich aber eindeutig und entschieden gegen das Engagement für die PDS und das Plakat ausgesprochen habe, "aber ich kann mir schwer vorstellen, daß dies Gegenstand des Disziplinarverfahrens ist... Da ich andererseits aus meiner persönlichen Kenntnis die Überzeugung gewonnen habe, daß Pfarrer Kuessner mit großem Ernst und tiefer Frömmigkeit stets seine seelsorgerlichen Aufgaben über die gebotenen Amtspflichten hinaus wahrgenommen hat, ist mir völlig unklar, was ihm als Dienstvergehen vorgeworfen wird. Es drängt sich daher - nicht nur mir - der Verdacht auf, sehr verehrter Herr Landesbischof, daß Sie persönlich und die Kirchenregierung einen Anlaß gesucht und gefunden haben, ihm seine zahlreichen, tatsächlich oft unsachlichen, polemischen und auch beleidigenden Angriffe in "Kirche von Unten" zu vergelten. Träfe mein Eindruck zu, wäre dies für eine Kirchenregierung eine wenig christliche Haltung, und deshalb bitte ich Sie um Klarstellung der wirklichen Motive für Ihre ansonsten unverständliche Härte gegenüber dem Pfarrer und Seelsorger Kuessner." Der Bischof delegierte die Antwort an OLKR Niemann, was von Roloff als ungehörig empfunden wurde. Niemann argumentierte begreiflicherweise völlig formal. Das ging an der Intention des Schreibens von Roloff völlig vorbei.

Prof. Henning Freiberg schrieb ans Landeskirchenamt: "Auch wenn ich mir vorstellen kann, daß sich besonders kirchliche Kreise durch die Plakate provoziert fühlen, so bin ich doch über das Ausmaß der Reaktion verwundert, zumal die Bilder nicht sexuelle Gewalt verherrlichen, keine Geschlechtsteile abbilden, nicht das Obszöne betonen, sondern gleichgeschlechtliche Liebe thematisieren im Kontext eines Textes, der "Zärtlichkeit" propagiert und somit nicht pornographisch ist...Hier bewegt sich die Kirche in eine Ecke, die wesentlich anstößiger ist als die, in die sich Pastor Küssner begeben hat."

Dr. Regine v. Geibler, Wolfenbüttel, langjährige Kirchenvorstandsvorsitzende in Reinsdorf-Hohnsleben, jetzt im Kreismedizinalamt Wolfenbüttel tätig, schrieb am 5.11.1998: "...Im Zusammenhang mit den Vorkommnissen anläßlich der Wahl haben Sie Pastor Kuessner die Amtsausübung untersagt. Von diesem Verbot sind in erster Linie die Mitglieder der Kirchengemeinden Reinsdorf-Hohnsleben und Offleben als Leidtragende betroffen. Ich möchte Sie bitten, das meiner Ansicht nach ungerechte Urteil zu revidieren."

Ernst Christian Lerche, lange Mitglied im Kirchenvorstand der Thomasgemeinde in Helmstedt schrieb an den Bischof: "Es ist jetzt über 6 Wochen her, daß Pastor Kuessner amtsenthoben wurde. Angeblich soll Schaden von der Kirche abgewendet werden. Durch diese lange Wartezeit ohne eine Entscheidung wird der Kirche weitaus größerer Schaden zugefügt als durch diese paar anstößigen Plakate, die doch nur ein wichtiges Probleme in Kirche und Gesellschaft anstoßen wollen. Ich kann mit einem Blick feststellen, daß diese Plakate nicht pornographisch sind. Wieso brauchen Sie über 6 Wochen für eine Prüfung?...Bitte stellen Sie Pastor Kuessner so schnell wie möglich wieder in den Dienst für seine Gemeinden..."

Dipl. Ing. Hartwig Ohmstede, Manager bei Siemens, äußerte sein "blankes Entsetzen" über das Berufsverbot. "Wie kann es heutzutage in unserem demokratischen Rechtsstaat noch geschehen, daß jemand zumal wegen eines bislang unbewiesenen Pornographieverdachtes mit Berufsausübungsverbot bestraft wird?"

Das Verfahren vor der Kammer

Zum 21. Juni 1999 wurde die Verhandlung vor der Kammer der Konföderation Evangelisch-Niedersächsischer Kirchen einberufen. Dabei kam es aber zu einigen, mich merkwürdig berührenden Rechtsunsicherheiten. Die Verhandlung war zunächst nach Hannover anberaumt worden, was rechtswidrig war. Ich intervenierte und bekam recht. Die Verhandlung fand dann in Wolfenbüttel statt.

Die mir genannte Zusammensetzung der Kammer entsprach nicht dem Gesetz. Ich intervenierte erneut und nun wurde der Verhandlungstermin aufgehoben. Ich sah das als einen Wink der Kammer an die Kirchenleitung an, sich die Einleitung eines solchen Verfahrens angesichts der zahlreichen zum Teil gravierenden Rechtsfehler bei der bisherigen Durchführung des Verfahrens durch das Landeskirchenamt und die Kirchenregierung doch noch einmal zu überlegen.

Die Zusammensetzung der Kammer wurde geändert und die Verhandlung nun doch ein halbes Jahr später auf den 11.11.1999 nach Wolfenbüttel einberufen.

Ich wurde von Rechtsanwalt Schink und Prof. Hans Martin Gutmann verteidigt. Der Verhandlungsstil war gelockert. Man blieb beim Reden sitzen, ich erhielt ausgiebig Gelegenheit, mich zur Person zu äußern. Die Verhandlung begann mit einigen Überraschungen. Ich hatte beantragt, die Verhandlung öffentlich zu führen. Die Nichtöffentlichkeit soll ja dem Schutze des Beschuldigten dienen, und es sollen gerade in Personalsachen unerfreuliche Dinge eben nicht an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Das ist berechtigt. Wenn aber der Spieß umgedreht wird und die Nichtöffentlichkeit dem Schutz der Anklagebehörde dient, werden die Rechtsgüter auf den Kopf gestellt. Es gab in meinem Falle nichts, was hätte verborgen werden brauchen. Mir lag sogar an einem Schutz durch die Öffentlichkeit, also beantragte ich öffentliche Verhandlung. Zu meiner Überraschung wurde über diesen Antrag gar nicht verhandelt und entschieden. Man tagte nichtöffentlich, und damit wurde zwar dem Recht formaliter Genüge getan, der Sinn des Gesetzes jedoch wurde gebrochen. Wir brauchen dringend eine Ergänzung des Disziplinargesetzes, daß auf Antrag des Beschuldigten die Verhandlung öffentlich geführt werden kann.

Eine zweite Überraschung: ich hatte, wie schon im ersten Verfahren von 1977, Zeugen benannt. Ich war z.B. beschuldigt worden, daß ich mich in einer Kirchenvorstandssitzung gegenüber Propst Fischer ungebührlich benommen hätte. Ich war angesichts eines krassen, unberechtigten Vorwurfes von Propst Fischer laut geworden, der daraufhin die Sitzung verlassen hatte. Daraus hatte das Landeskirchenamt, ohne weitere Ermittlungen anzustellen, eine große Sache gemacht. Es hieß in der Anschuldigungsschrift: "Dieses Verhalten gegenüber Herrn Propst Fischer ist unwürdig. Es verletzt insbesondere die Pflicht zur Achtungs- und Ehrerweisung in der Gemeinschaft der Ordinierten (§§ 49 Abs.1, 39 Abs. 4 Pfg, Art. 3 Abs. 1 der Kirchenverfassung)." Also: schweres Geschütz, jedenfalls beim ersten Lesen.

Die Kammer hatte in ihrer Märzentscheidung der Anschuldigungsbehörde Recht gegeben und in meinem Verhalten einen schweren Verstoß gegen das Ordinationsgesetz gesehen. Nun hatte ich zwei Mitglieder des Kirchenvorstandes als Zeugen benannt, um überhaupt den Sachverhalt erstmals ordentlich zu ermitteln. Diese Zeugen waren gar nicht geladen worden und zu Beginn der Verhandlung schlug der Vorsitzende vor, diesen Anklagepunkt schlicht fallenzulassen.

Das fand ich sehr befremdlich. Da lebte ich also monatelang mit dem Vorwurf, das Ordinationsgelübde gebrochen zu haben, nur weil ich den Propst leicht angepustet hatte, und nun: - April, April! Es war der Kammer zu umständlich gewesen, Zeugen zu laden. Für die Anklagebehörde stimmte OLKR Dr. Sichelschmidt zu und die Sache wurde gar nicht mehr verhandelt und zwar ohne daß ein einziges Argument ausgetauscht worden wäre. Nahm das Landeskirchenamt seine Beschuldigungen selber nicht mehr ernst? Was würde noch alles fallen? Mein Verteidiger und ich stimmten ebenfalls zu, was möglicherweise falsch gewesen war. Denn durch die Zeugenbefragung hätten noch andere Dinge zu meinen Gunsten ans Licht kommen können. Aber wir versprachen uns durch Zustimmung ein günstigeres Urteil.

Ausführlich wurden nunmehr die beanstandeten Stellen aus den drei "Kirche von Unten"-Nummern in dem dazugehörenden Zusammenhang vorgelesen. Die Nummern lagen zwei, drei Jahre zurück und ich fand die Texte immer noch frisch und lesbar. Hier war nichts zu ermitteln, sondern nur zu erklären, wie ich es gemeint oder nicht gemeint hatte.

In der Mittagspause wurden wir von der Kammer zu einem gemeinsamen Mittagessen eingeladen.

In der zweiten Verhandlungsphase wurde dann das beschlagnahmte Plakat herumgereicht. Dabei ging es um die Frage: stellt das Plakat einen Analverkehr dar oder nicht. Die Anklagebehörde meinte: ja. Ich hatte das von Anfang an bestritten. Die Sache hätte, weil strittig und ein tragender Grund der Anklagebehörde, vor dem Verfahren nun untersucht werden müssen. Dazu war es nicht gekommen und ich las dazu nun ausgiebig die vorliegenden entlastenden Gutachten und Stellungnahmen vor, die alle schon in den Ermittlungsakten vorlagen und eigentlich von der Ermittlungsbehörde unter den entlastenden Gründen hätten genannt werden müssen.

Ich war irritiert, daß die beiden Theologinnen, die eine aus der Hannoverschen, die andere aus unserer Landeskirche, zu den vielfach vorgebrachten theologisch/ethischen Begründungen keinerlei Nachfragen stellten. Der Pornographiekomplex war aus theologischer Sicht ausgiebig im Novemberheft 98 der Evangelischen Kommentare behandelt worden, ich hatte mich sehr klar im Schreiben an den Amtsrichter Dr. Rother in Helmstedt geäußert. Theologie spielte gar keine Rolle. Schließlich erklärte die Kammer, daß die Abbildung des Plakates, die von der Kölner Aidshilfe stammte, keinen Analverkehr wiedergäbe. Sie ließ dies protokollieren und ich gab die Gutachten zu Protokoll. Damit war ein wesentlicher Punkt der Anklagebehörde gefallen und ich wußte nicht, was mir nunmehr vorgeworfen werden sollte.

Ziemlich peinlich fand ich dann, daß nach der Klärung des Sachverhaltes nun noch aufgelistet werden mußte, was zu meinem Gunsten spräche. Es war eigentlich die Aufgabe der Ermittlungsbehörde, ein abwägendes Persönlichkeitsbild abzugeben. Es lag schriftlich eigentlich alles in den Ermittlungsakten vor. Ich ließ wenigstens das freundliche Schreiben von Pfarrer Reich von der Arbeitsstelle Gottesdienst vorlesen, der sich durchaus von dem politischen Projekt distanzierte, aber im Hinblick auf unsere langjährige gemeinsame Arbeit geschrieben hatte: "In diesen zwölf Jahren habe ich Dietrich Kuessner als engagierten Theologen kennengelernt. Viel habe ich von ihm gelernt. Ich habe von ihm gelernt, Texte der Bibel kritisch auf die Wirkung auf die Gemeinden zu lesen und verstehen zu lernen, ich habe von ihm gelernt, was es bedeutet, in einer kleinen Gemeinde Gottesdienst zu feiern und welche Möglichkeiten es gibt. Diese Arbeit gehört für mich persönlich zu den wichtigsten Erfahrungen in meiner theologischen Existenz. Ich möchte und kann das nicht missen. Ein weiteres Vorhaben war: ein Entwurf zur Revision der Lesungen und Predigttexte in einer Arbeitsgruppe der Lutherischen Liturgischen Konferenz Deutschlands. Diese Arbeit war eine überaus intensive theologische Auseinandersetzung. Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren neben Herrn Kuessner und mir: Pastor Helmut Kornemann, Superintendent Walther Lührs i.R., Göttingen und Landeskirchenmusikdirektor i. R. Götz Wiese, Celle. Die Intensität und Ernsthaftigkeit dieser ca. dreijährigen Arbeit möchte ich nicht missen. Die "radikalen" Überzeugungen Dietrich Kuessners im Verbund mit "konservativen" Anschauungen anderer haben ein Ergebnis gebracht, das trotz der Ablehnung durch die Bischofskonferenz der VELKD nach wie vor beachtlich ist."

Eigentlich ist es ein trauriges Bild, daß es der Verlesung solcher Schreiben bedurfte, um meine mit offenkundiger Lust betriebene Arbeit am Gottesdienst zu beschreiben, wozu das Landeskirchenamt sich nicht in der Lage sah. Es war längst Partei geworden und blind gegenüber einer abwägenden Darstellung .

Ich war gespannt, welche Strafe Landeskirchenamt und Landesbischof als die Anklagebehörde vortragen würden und war doch fassungslos, als Frau Dr. Sichelschmidt sich getraute, ein zeitweiliges Predigtverbot und eine empfindliche Geldstrafe zu beantragen. Die beiden Verteidiger plädierten ausgiebig dagegen und auf Freispruch.

Ich explodierte bei der Erwiderung auf das beantragte Predigtverbot, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß dieser Antrag in der Kirchenregierung behandelt worden war. War das nun eine Idee von OLKR Dr. Sichelschmidt oder des Bischofs oder von OLKR Dr. Fischer oder von wem? Ich fand diesen Antrag deswegen pervers, weil ja lehrmäßig oder gemeindemäßig nichts beanstandet worden war und ich mich außerdem bereits im Ruhestand befand. Hatte sich das Landeskirchenamt geärgert, daß ich in der Petrikirche in Braunschweig fünfmal Predigtvertretung gemacht hatte? Aber nun war ans Licht gekommen, was Bischof und Kollegium des Landeskirchenamts im Grunde mit dem ganzen Verfahren von Anfang an gewollt hatten: sie wollten mich aus dem geistlichen, kirchlichen Leben der Landeskirche verbannen.

Ich legte der Kammer in meinem Schlußwort kurz die Losung des Tages aus und bürstete sie gegen den Strich. Psalm 12, 6: "Weil die Elenden Gewalt leiden und die Armen seufzen, will ich jetzt aufstehen, spricht der Herr, ich will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt". Dann zog sich die Kammer zur Beratung zurück. Das Urteil sollte noch am selben Tage gesprochen werden. Offenbar waren Vorentscheidungen bereits gefallen.

Nach knapp einstündiger Beratung fällte die Kammer folgendes Urteil: sie lehnte ein Predigtverbot rundheraus ab, die Behauptung in KvU im Hinblick auf den Bischof, "nun hat Genf seinen Herrenreiter" wäre keine Beleidigung, auch die Benennung der Pressesprecherin als "Klein Erna von der Alster" wäre minderschwer; aber alles andere doch schwerwiegend, daher zweijährige Kürzung der Pension um 1/10 der Bezüge.

Das Urteil war aus der Sicht der Kammer ein Kompromiß und lag, was die Geldstrafe betraf an der unteren Grenze. Die Anklagebehörde konnte mit diesem Urteil nicht zufrieden sein, weil die Geldstrafe nicht empfindlich genannt werden und sie das Predigtverbot nicht durchdrücken konnte.

Ich fand die Geldstrafe von über den Daumen geschätzt 14.000 DM im Verhältnis zum vom Staat verhängten Bußgeld von 500 DM viel zu hoch, zumal der Pornographieverdacht auch kirchlicherseits gefallen war und es fehlte auch eine Zweckbindung der Summe. Ich verriet OLKR Dr. Sichelschmidt noch auf dem Nachhauseweg, daß ich in Berufung gehen würde.

Nach der Lektüre der schriftlichen Begründung hatte mein Braunschweiger Verteidiger mir geschrieben, das Urteil schreie nach Revision. Ein Jahr später wurde die Sache am 10. November 2000 vor dem Senat der VELKD in Hannover verhandelt.

Der Verhandlungstag vor dem Senat der Vereinigten Ev. - Luth. Landeskirche

So etwas kommt ja wohl nur einmal im Leben vor.

Die Beteiligten

Vor dem Senat hatte Dr. Johnsen die Verteidigung übernommen. Er ist ein unter Kirchenjuristen wegen seiner Tätigkeit weit bekannter Mann, als Konsistorialpräsident in Magdeburg hatte er nach der Wende die Verhandlungen über die Staatskirchenverträge der neuen Bundesländer mit den Kirchen geführt und zum erfolgreichen Abschluß gebracht. Also prima für mich. Er hatte seiner Anmeldung als Verteidiger ein Schreiben von Altbischof Heintze beigelegt, in dem dieser diese Verteidigung ausdrücklich begrüßt hatte.

Außerdem hatte ich Pfarrer Naumann gebeten, mich als Theologe zu verteidigen. Jürgen Naumann kenne ich seit vielen Jahren, er war zum Schluß Studienleiter am Predigerseminar, er hatte das ganze Theater um das Plakat mit verfolgt und sich mit vielen anderen Pfarrern für eine Aufhebung der vorläufigen Dienstenthebung ausgesprochen. Er kannte unsere Offleber Gottesdienste, kurz: wir schätzen uns und ich war froh, daß er mitkam

Vor uns saßen drei Juristen, einer aus Bayern, einer aus Sachsen, der Vorsitzende aus Braunschweig und zwei Theologen: der eine ein Propst i.R. aus Schleswig Holstein, der andere amtierender Pfarrer aus Braunschweig. Der aus Bayern war federführend und hatte einen Bericht angefertigt

Zwei faustdicke Überraschungen zu Anfang

Der Prozeß begann mit zwei für mich faustdicken Überraschungen. Der Vorsitzende eröffnete die Verhandlung mit einer "Offenlegung", wie er es nannte. Er erzählte, daß ich ihn aus dem Studium in Erlangen kannte. Wir hatten zusammen ein Zimmer belegt, er hatte mir sogar den Bultmannkommentar zum Johannesevangelium verkauft (was er nicht "offenlegte"), den ich heute noch mit seinem Namenszug besitze und benutze. Er hatte anfangs auch etwas Theologie studiert, war dann ganz zum Jurastudium übergeschwenkt, daher brauchte er diesen Kommentar nun nicht mehr. Er war zuletzt in Braunschweig Vizepräsident des Oberlandesgerichtes. Wir waren gleichaltrig, er ist kürzlich in Pension gegangen.

Für mich war das alles kein Anlaß, ihn etwa abzulehnen. Warum diese Offenlegung? Hatten die anderen Senatsmitglieder ihn dazu gedrängt? Hatten sie Angst, ich könnte plötzlich irgendwelche anderen, bisher unbekannten Einzelheiten vorbringen und ihn womöglich im Laufe des Verfahrens duzen? Ihm sei nicht erinnerlich, ob wir uns überhaupt geduzt hätten, sagte er bei der "Offenlegung". Das fand ich ziemlich abwegig. Für mich war der Vorsitzender ein in Braunschweig geachteter Jurist. Warum eine so gespreizte Eröffnung des Verfahrens? Ich vermute, die anderen Senatsmitglieder hatten ihm zu dieser Offenlegung geraten. Fühlte sich der Vorsitzende selber nicht ganz frei und von den beiden anderen Juristen aus Bayern und Sachsen kontrolliert? Hatten sie befürchtet, er würde wegen dieser alten Geschichte ein mildes Urteil sprechen? Sozusagen aus alter Gefälligkeit?

Die zweite große Überraschung war, daß der bayerische Jurist im Senat erklärte, die vorläufige Dienstenthebung dauere noch an. Da mußte ich doch laut lachen. Sprach er für den ganzen Senat? Wußte die Kirche nicht, wann das Ende dieser mit Berufung auf einen falschen Paragraphen eingeführten Maßnahme war?

Es gab also inzwischen drei Termine für die Beendigung der vorläufigen Dienstenthebung: den ersten und für mich persönlich entscheidenden Termin, als die Kirchenvorstände förmlich festgestellt hatten: "Pfarrer Kuessner hat während des Wahlkampfes weder durch Amtsführung noch durch Lebenswandel Anstoß im Sinne des § 53, 2 KGO gegeben." Das Ende der vorläufigen Dienstenthebung war von den Kirchenvorständen am Datum meines Wiedereintritts in die Landessynode festgemacht worden.

Ein Mitglied der Kirchenregierung nannte mir ein anderes Datum. Es erklärte mir beiläufig in einer Synodenpause, es halte mit Beginn meiner Pensionierung am 1. Juni 1999 die vorläufige Dienstenthebung für beendet. Logisch: wenn der Dienst vorbei ist, ist auch eine Dienstenthebung unsinnig. Man war sich in der Kirchenregierung darüber aber offenbar nicht einig und hatte mir keine Nachricht zukommen lassen. Ich hatte im Ruhestand in Braunschweig mit gutem Gewissen gepredigt und getauft. Das hatte auch in den Kirchennachrichten gestanden. Ich hatte in Königslutter getraut und in Berlin getauft. An der Einführung von Pfarrer Rammler als neuem Predigerseminardirektor in der Brüdernkirche hatte ich im Talar teilgenommen.

Nun kam der bayerische Jurist aus dem Senat und meinte, ich sei immer noch des Dienstes enthoben, und eröffnete erneut die Fronten. Drei unterschiedliche Schlüsse nach ein und demselben Paragraphen. Für Außenstehende: Kirchenrechtswirrwarr. Für mich insgesamt ein überraschender Beginn des Prozesses, der mich nachdenklich machte: was läuft hier eigentlich?

Fragen zur Person

Die Überraschungen gingen weiter. Die Fragen zur Person werden bei einer Gerichtsverhandlung auf ein Minimum beschränkt: Alter, Beruf, Adresse. Bei der Kammerverhandlung im November hatte ich das anders erlebt und dazu ein neunseitiges einzeilig beschriebenes Papier vorgelesen und zu den Akten gegeben. Ich wollte nun die früheren Aussagen zur Person ergänzen. Ich kam aber nicht weit, denn das paßte dem Vorsitzenden gar nicht. Der wollte die Personalangaben kurz und bündig. Er verwies darauf, daß man im Senat Bescheid wüßte. Weitere Angaben seien also überflüssig. Anderes könnte ich ja im Plädoyer vorbringen.

Das ließ ich mir nicht bieten, bat erneut um das Wort, um wenigstens die falschen und unvollständigen Angaben aus dem Kammerurteil zu revidieren. Da hatte es geheißen. "Er ist Mitglied der Landessynode." Ich: "Es muß heißen: "er ist wieder Mitglied der Landessynode." Meinen ehrkränkenden, unrechtmäßigen Rausschmiß aus der Landessynode, von dem in "Synode direkt" und anfänglich sogar im offiziellen Synodenprotokoll nicht die Rede war, hatte die Kammer vor einem Jahr auffälligerweise übergangen, dabei war meine Beseitigung aus der Landessynode ja wohl eines der Hauptziele der Aktion des Landeskirchenamtes gewesen. Und jetzt wieder. Sie taten so, als ob nichts passiert sei.

Ebenso waren die Angaben über das Predigerseminar unvollständig. Meinen Rausschmiß hatten sie "vergessen", zu erwähnen.

Unmöglich fand ich auch die Bemerkung im schriftlichen Urteil der Disziplinarkammer: "Er bekennt sich zu seiner Homosexualität". Das hatte deutlich diskriminierenden Charakter. Dieses Thema hatte bei der Verhandlung vor einem Jahr keine Rolle gespielt.

Nun meldete sich auch noch Dr. Johnsen zu Wort und berichtete von meiner Rolle in der Landessynode. Er hatte mich da selber bei der Reformsynode kennengelernt, wir hatten in der Arbeitsgruppe 6 "Staat/Kirche" gut zusammengearbeitet. Er kannte auch die Spannungen zwischen Dr. Fischer und mir und berichtete.

Zu allem Überfluß (aus der Sicht des Senates) meldete sich auch Jürgen Naumann und hob die grüne Gottesdienstordnung und das rote Lektionar aus Offleben hoch - er hatte mir das vorher gar nicht gesagt -, der federführende Bayer begriff das nicht gleich und mußte nachfragen. Daraus wurde dann im Urteil: "Er hat mehrere Bücher, u.a. über die Ordnung des Gottesdienstes... geschrieben". Keine sehr sorgfältige Recherche. Naumann erzählte auch etwas aus unserer Familiengeschichte und daß mein Vater bei der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf gewesen wäre.

Es entstand durch uns drei also doch noch ein etwas anderes Bild als das vom Vorsitzenden für ausreichend gehaltene, dürftige Datenskelett.

Fragen zur Sache

Wieder wurde, wie schon vor der Kammer, ellenlang KvU vorgelesen. Das Braunschweiger Senatsmitglied, selber Landessynodaler, kannte die geschilderten Szenen aus der Synode aus eigner Anschauung und konnte sich ein breites, zustimmendes, stilles Lachen nicht verkneifen. Er hat dann auch später bei den Beratungen des Senates hinter verschlossenen Türen entlastend auf meine Synodaltätigkeit hingewiesen.

Im folgenden ging es zum Beispiel darum, ob die Bezeichnung "Klein Erna von der Alster" eine Beleidigung der früheren Pressesprecherin Frau Christiansen gewesen sei. Oder: ob die Bezeichnung "beleidigte Leberwurst" für den Bischof ehrkränkend sei. Nun wurde jede flapsige Bemerkung auf die Goldwaage der Kirchenjustiz gelegt. Ich lernte dabei, daß es gar nicht darauf ankäme, wie ich das gemeint hatte. "Wie Sie das verstehen, interessiert uns nicht", belehrte mich der Bayer etwas unfreundlich. Es gibt irgendeine Rechtsauffassung von 1995, wonach eine Äußerung danach zu beurteilen sei, wie sie "allgemein und verständlich" beurteilt werde.

Das war ein Kriterium, das die Kirchenjustiz selber kräftig mißachtet hatte. Was bedeutete denn nach allgemeiner und verständlicher Auffassung "vorläufige Dienstenthebung", fragten wir in den Gemeinden immer wieder, wenn sie bis zum Ende der Pensionierung und nach Auffassung des Senats sogar jahrelang dauerte? Die Kirchenjustiz bediente sich selber einer Sprache, die nun allerdings alles andere als "allgemein und verständlich" war.

Allgemeinverständliche entlastende Äußerungen wie die über 300 Briefe und Unterschriften, nach denen die vorläufige Dienstenthebung Unrecht war und aufgehoben werden sollte und die der Vorsitzende mitgebracht hatte, galten dagegen wenig.

Auf die Unterscheidung zwischen Person und Sache kam es bei dieser Rechtsauffassung ebenfalls gar nicht an. Mir war das ziemlich schleierhaft. Wir kämpften unter unterschiedlichen Kriterien.

Um das Plakat

Die Nachmittagsverhandlung begann mit der eigentlichen Hauptsache: dem Plakat. Ob Analverkehr, wie noch die Anklageschrift behauptet hatte oder nicht - das wäre für die Beurteilung gleichgültig, erklärte einleitend der Vorsitzende und vom erklärenden Text war überhaupt nicht die Rede. Es ging um die Frage: hatte ich das Plakat als Pastor angefertigt? Mußte nicht jeder bei dem Plakat, wenn er meinen Namen darauf las, darauf kommen: Ahaaha, das ist der bekannte Pastor Kuessner? Ich hatte das Plakat ausdrücklich nicht mit meinem Titel versehen und auch sonst peinlich Kirche und Kandidatur auseinandergehalten.

Allerdings hatte ich mich kaum wehren können, wenn andere, zum Beispiel die Pressestelle des Landeskirchenamtes, aber auch Zeitungen, diese Verbindung herstellten. Das war für sie das gefundene Fressen: "Pastor, Porno, PDS". Aber hatte ich das zu verantworten?

Auf Antrag der Anklagebehörde sahen wir uns jenen tendenziösen, sechs Minuten langen Streifen des NDR III an, den das Fernsehen von der Plakataktion im Wahlkampf in Offleben und Schöningen gedreht und gesendet hatte. Die Senatsmitglieder lauerten darauf, ob ich selber irgendwann das Wort "Pastor" benutzt hätte. Da war aber nichts.

In dieser Phase der Verhandlung verließ der Senat m.E. die Rolle der Abwägung vorgebrachter Argumente und versuchte, seine eigene vorgefaßte Position durch Aussagen meinerseits zu untermauern. Das gelang ihm nicht. Vielmehr erzwang ich die Verlesung des Schreibens von Prof. Henning Freiberg aus Braunschweig, der sich überaus verständnisvoll zum Plakat geäußert hatte und sehr deutlich gemacht hatte, daß eben kein Zusammenhang zwischen Kirche und Plakat zu erkennen wäre. Prof. Henning Freiberg hatte geschrieben:

"Nach meinem Informationen sollen die von Herrn Küssner laienhaft produzierten Wahlplakate mit den fotografischen Abbildungen homoerotischer Liebe ein wesentlicher Faktor für das Verfahren sein. Auch wenn ich mir vorstellen kann, daß sich besonders kirchliche Kreise durch die Plakate provoziert fühlen können, so bin ich doch sehr über das Ausmaß der Reaktion verwundert, zumal die Bilder nicht sexuelle Gewalt verherrlichen, keine Geschlechtsteile abbilden, nicht das Obszöne betonen, sondern gleichgeschlechtliche Liebe thematisieren im Kontext eines Textes, der "Zärtlichkeit" propagiert und somit nicht pornographisch ist. Aus der Sicht der Kunst sind die Abbildungen in keiner Weise anstößig. Unter dem Gesichtspunkt des Kommunikations-Designs sind die Plakate offensichtlich erfolgreich gewesen. Sie haben Aufmerksamkeit erregt und einen lebhaften Kommunikationsprozeß ausgelöst. Die "laienhafte" Gestaltung kann in der Werbung oft zu überraschenden Wirkungen führen, wenn sie sich von glatter, äußerlich perfekter Werbung absetzen kann. Auch die Irritation eines Rezipienten, der eine sehr fest gelegte Vorstellung von einer Partei wie der PDS hat, die im Widerspruch zu den Inhalten des Plakates steht, unterstützt die Wahrnehmung der an sich sehr unscheinbaren Blätter. Eine Verbindung zur Kirche oder zum kirchlichen Amt von Herrn Küssner geht aus den Plakaten nicht hervor... Die Verfolgung des Pastors bis hin zu einem möglichen Berufsverbot für seine Plakate mit homoerotischen Abbildern, die mit seinem Amt direkt nichts zu tun haben, sondern im politischen Kontext produziert und verwendet wurden, muß zwangsläufig Erinnerungen an - so hoffte ich - überwundene Phasen deutscher Geschichte hervorrufen. Hier bewegt sich die Kirche in eine Ecke, die wesentlich anstößiger ist als der Schaden einer großherzigen Toleranz gegenüber einer radikalen Position, die nicht in das tradierte Bild paßt. Will die Kirche nicht zur Randerscheinung werden, wird sie sich auch mit unbequemen Zeitströmungen kritisch und offen auseinandersetzen müssen."

Mit dieser Stellungnahme widersprach Prof. Freiberg allen wesentlichen Argumenten des Senats: keine Verbindung zwischen Plakat und kirchlichem Amt, keine anstößiger und schon gar kein pornographischer Inhalt des Plakates, vor allem ein klarer Zusammenhang zwischen Bild und Text auf dem Plakat. Natürlich hatte der Senat diese Stellungnahme längst zur Kenntnis genommen, aber eben bei seiner Betrachtung unter den Tisch fallen lassen. Und gab Prof. Freiberg nicht das "Verständnis einer unvoreingenommenen und verständigen Publikums" wider, wie es der Senat als neustes Kriterium in das Verfahren eingeführt hatte? Oder wer entschied nun darüber?

Der Heintze - Brief

Mein innerlicher Bruch mit dem Senat kam am Nachmittag. Nach Klärung des Sachverhaltes begann der Senat, wie schon die Disziplinarkammer, mit einer Verlesung meiner "Vorstrafen" ab 1969. Der Senat wollte natürlich den Eindruck meiner Unbelehrbarkeit hervorrufen. Zu diesem Zwecke holte der Vorsitzende einen aus seelsorgerlicher Verantwortung geschriebenen Brief von Bischof Heintze aus dem Jahre 1979 an mich hervor. Ich kannte ihn genau und hatte ihn anläßlich der Vorbereitung bei der Durchsicht meiner "Vorstrafen" wieder gelesen. Es ist ein ernster, mich bischöflich ermahnender Brief. Ein Paradebeispiel für bischöfliche Leitung der Kirche, gerade unter theologisch und kirchenpolitisch Gleichgesinnten. Es war ein deutlich seelsorgerlicher Brief, der nie und nimmer gerichtsverwertbar war. Ich verwahrte mich mit scharfen Worten gegen die Verwendung eines solchen Briefes. Die Verlesung war auch m.E. rechtswidrig, denn belastende Tatsachen dürfen in der Personalakte nur abgeheftet werden, wenn der Beschuldigte Gelegenheit zur Gegendarstellung hat. Dagegen hätten sich vor allem der Propst i.R. aus Nordelbien und das Braunschweiger Senatsmitglied mit allem Nachdruck noch während der Verhandlung wehren müssen. Sie schwiegen. Ich teilte dem Vorsitzenden mit, daß ich diesen Vorgang Heintze mitteilen würde.

Predigten und Amtshandlungen während der vorläufigen Dienstenthebung?

Das Landeskirchenamt hatte in seinem Schreiben, die Berufung zurückzuweisen, Hinweise darauf gegeben, daß ich ja während der vorläufigen Dienstenthebung entgegen den Anweisungen doch Gottesdienste und Kasualien gehalten hätte. Schon die Kammer hatte geschrieben "Daran (an die vorläufige Dienstenthebung) gehalten hat er sich nicht immer." Nun wollte Frau Dr. Sichelschmidt nicht die Sache selber verhandelt wissen, aber das Strafmaß sollte es doch bestimmen.

Der Vorsitzende versuchte, bevor er uns dazu hörte, einen Kuhhandel mit dem Landeskirchenamt. Es sollte zu Protokoll erklären, das hierüber bereits laufende Ermittlungsverfahren einzustellen. Das fand ich unmöglich. Entweder wurde die Sache hier im Verfahren verhandelt, dann hätten wir uns vertagen müssen oder diese Andeutungen im Schreiben von Dr. Sichelschmidt durften bei der Urteilsbildung keine Rolle spielen und hätten als zum Verfahren nicht zugehörig vom Vorsitzenden zurückgewiesen werden müssen. Alle Zwischendinge fand ich formal unsauber. Das Vorgehen des Vorsitzenden zielte darauf hinaus, die Sache aus dem Verfahren herauszuhalten. Es brachte nämlich die total widersprüchliche Haltung der Kirchenbehörde bei der Durchführung der vorläufigen Dienstenthebung zutage.

Die von OLKR Becker vorgeschlagene Regelung einer Ausnahmegenehmigung bei der Kirchenvorstandssitzung in Offleben, die von OLKR Niemann schriftlich bestätigt und ausgeweitet worden war und das Schreiben von OLKR Dr. Sichelschmidt im Mai an den Propst, das die Braunschweiger Zeitung so umschrieben hatte: "Landeskirche bleibt bei Dienstenthebung, aber dienstliche Handlungen möglich", schließlich die Übergabe der Dienstsiegel und der Dienstgeschäfte durch mich bei der Pfarramtsübergabe im August 1999 - das waren ja deutliche Hinweise, daß die Kirchenbehörde selber die vorläufige Dienstenthebung zu keinem Zeitpunkt ernsthaft durchgeführt hatte. Sie hatte dafür gute Gründe: die große Unterstützung in den Gemeinden und der Propstei und bei manchem spielte vielleicht sogar die uneingestandene Freude eine Rolle über die geistliche und kirchenhoheitliche Verantwortung der Kirchenvorstände, die "charismatische Illegalität", wie wir es genannt hatten.

Die Senatsmitgliedern fragten nach: haben Sie wirklich Gottesdienste gehalten und Beerdigungen und Taufen auch? Vielleicht hatten sie gedacht, ich würde hier herumeiern und Ausflüchte suchen. Ich erklärte ihnen unumwunden, was ja auch längst in Zeitungsartikeln geschrieben vorlag, daß ich seit Bußtag 1998, also gut fünf Wochen nach der sogenannten vorläufigen Dienstenthebung meinen Dienst langsam und unauffällig wieder aufgenommen hatte und ich den Grundsatz entwickelt hätte: Kirchenrecht und Seelsorge sollten im Normalfall in einem ausgeglichenen, harmonischen Verhältnis zueinander stehen. Im Konfliktfalle jedoch bräche Seelsorge das Kirchenrecht. Ich wies auf die äußerst widersprüchliche Haltung des Landeskirchenamtes hin und benannte diesen Zustand als charismatische Illegalität, wie es in der Evangelischen Zeitung gestanden hatte.

Leider bekam damit die Gemeinsamkeit unserer inneren Verteidigungslinie einen Knacks. In der anschließenden Kaffeepause beschworen mich Dr. Johnsen und Naumann: ich redete mich um Kopf und Kragen. Für mich hörte die Taktik hier auf. Es wurde grundsätzlich.

Für den Senat war in der Kaffeepause jetzt klar: ein vielleicht denkbarer Spielraum war völlig ausgeschlossen.

Die Plädoyers

Nach der Kaffeepause indes begannen erst die Plädoyers, obwohl die Urteilsbildung beim Senat nach meinem Eindruck bereits komplett abgeschlossen war. Dr. Johnsen plädierte auf Aufhebung des Kammerurteils. Das war zu diesem Zeitpunkt verwegen. Und ich war froh, daß sich Dr. Johnsen, was ja durchaus denkbar gewesen wäre, nicht für mein ungebremstes Auftreten entschuldigt hatte. Ein "taktischer Rechtsanwalt" hätte das womöglich ohne Absprache mit mir getan. Gott sei Dank tat er das nicht. Ich hatte das Gefühl, daß alle Argumente abprallten.

Ich wollte auch unbedingt plädieren und verwies den Senat auf verschiedene Urteile in dieser Sache. Da war nämlich in zwei Urteilen zu lesen, daß ein mündliches Gespräch allen juristischen Schritten vorauszugehen habe, und wenn es nicht, wie in meinem Fall, stattgefunden hätte, das Strafmaß verringert werden müßte. Das kam ihnen sehr ungelegen. Ich fragte, warum bei dem engen partnerschaftlichen Verhältnis von Staat und Kirche die Landeskirche die staatsanwaltschaftliche Entscheidung als eine verantwortliche Entscheidung vor Gott nicht als gültige akzeptieren könne und wie der riesige Finanzunterschied zwischen der als Bagatelle eingestuften staatlichen Geldbuße von 500 DM und der Summe der Kammer begründet würde. Wo waren die kirchlichen Kriterien und wie entging die Landeskirche dem Vorwurf, daß sie mit ihren Beschuldigungen nur dumpfe Sexualängste der kleinbürgerlichen Provinz bediente? Gab es ein besonderes Pornographieverständnis in der Kirche und wie stellte sich die Anschuldigungsbehörde zu dem hervorragenden Artikel in den Evangelischen Kommentaren? Was war nun das Ziel dieses kirchlichen Verfahrens? Aber ich plädierte vor tauben Ohren.

Dann kam das Plädoyer von Jürgen Naumann, der frei sprach, seine Bemerkungen zu Person und Sache als zu bedenkende Bitte vortrug und sich dem Antrag von Johnsen anschloß. Diese äußerste Position, das Urteil der Disziplinarkammer von 1999 aufzuheben, war die einzige Möglichkeit, den Senat überhaupt zu einem Schritt zu bewegen. Außerdem war es ein klares Signal, daß die Verhandlungsführung und die Argumente des Senates uns durch nichts überzeugt hatten.

Das Urteil mit knirschenden Zähnen

Nach dem Plädoyer der Anklagebehörde und meinem Schlußwort zog sich der Disziplinarsenat zurück, war aber nach einer dreiviertel Stunde schon fertig: die Berufung wurde kompromißlos abgelehnt.

Im ersten Moment erschrak ich über die Schroffheit des Urteils. Ich empfand sehr stark seinen ausgrenzenden Charakter. Aber ich ahnte, daß der Senat das erste Urteil nur mit knirschenden Zähnen bestätigte. Er fand das Urteil in der 1. Instanz sichtlich zu milde.

Im zweiten, sich bald einstellenden, Moment breitete sich bei mir ein Gefühl von Genugtuung aus, daß wir dieser versteinerten Kirchenjustiz kein Jota nachgegeben hatten.

Die mündlich vorgetragene Begründung empfand ich als kümmerlich. Kein einziger theologischer Gesichtspunkt schimmerte durch, keine originär kirchliche Begründung, warum der Staat das Plakat mit 500 DM Bußgeld belegt hatte und die Kirche, die sich doch zuerst so sehr auf diesen Staatsanwalt gestützt hatte, nun einen 25fach höheren Betrag forderte. Es blieb unbegründet. Aber wir haben ihnen die Zurückweisung der Berufung doch sauer gemacht.

Das Urteil hat ernste Folgen für die nächsten Generationen. Die bedeutsamste ist die, daß das mündliche seelsorgerliche Gespräch vor Einleitung von juristischen Schritten getrost wegfallen kann und daß offenkundige schwere Verfahrensfehler keine Folgen für das Landeskirchenamt haben. Sie würden im nächste Verfahrensschritt "geheilt". Das bedeutet: freie Bahn für neues Kirchenunrecht. Arme Braunschweiger Pfarrerschaft.

Das verfehlte Ziel

Das Ziel einer solchen Verhandlung muß ohne Frage sein, beide Parteien zusammenzuführen und einen Weg aufzuzeigen, den beide nunmehr gemeinsam gehen könnten.

Wenn dies den Senatsmitgliedern nicht bewußt war, dann hätten sie - daran erinnerte Dr. Johnsen - in den Lehrtext des Tages hineinsehen sollen. Dort war aus dem Kolosserbrief zu lesen, es habe Gott gefallen, "daß in Jesus Christus alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel". Der Propst i.R., der vor der Verhandlung das biblische Wort las, umging diese Losung und wählte den Wochenspruch ("Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist..."), ein Hinweis, daß die Verhandlung nicht, wie der Lehrtext empfahl, auf Versöhnung gestimmt war, sondern auf die Durchsetzung eines Urteils, das dem Senat sowieso zu milde vorkam. Er wurde daher im Laufe des Verfahrens selber zunehmend Partei, anstatt sich entschlossen in den Riß zwischen beide Parteien zu stellen.

Der lutherische Senat hat sein eigentliches Ziel, mit dieser Verhandlung beide Parteien zu versöhnen, verfehlt. Er hat keine Brücke gebaut, sondern die Unüberbrückbarkeit beider Ansichten über das Verhältnis von Kirchenrecht und Seelsorge, von Kirchenleitung und Pfarramt dokumentiert. Die Erfahrung der Unversöhnlichkeit und Versteinerung war der eigentliche stumme Schmerz nach der Verhandlung.

Keine gnadenbringende Weihnachtszeit

Wohin mit dem eingesparten Gelde? fragte ich den Senat am Ende, der mich auf den "Gnadenweg" verwies.

Für den Gnadenweg ist in unserer Landeskirche die Kirchenregierung zuständig. Ich schlug ihr als Adressaten im Advent die Aidshilfe oder ein ökumenisches Projekt vor. Die Kirchenregierung lehnte ab und gab nicht etwa durch den Vorsitzenden, Bischof Krause, oder dessen Stellvertreter OLKR Dr. Fischer, sondern durch die Anklagevertreterin Frau OLKR Dr. Sichelschmidt den ablehnenden Bescheid ein paar Tage vor Weihnachten bekannt. Es war die letzte, aber auch die allerletzte Möglichkeit für Bischof Krause, dem ganzen Verfahren doch einen "gnädigen" Abschluß zu geben. So gab sollte es im Sinne der Kirchenregierung keine gnadenbringende Weihnachtszeit geben.

Sie kam natürlich trotzdem.

Überraschungen im schriftlichen Urteil

Im Februar 2001 erhielt ich die schriftliche Ausfertigung des Urteils, die für mich einige Überraschungen enthielt: die Homosexualität betreffenden Passagen des Kammerurteils kehrten nicht wieder. Das war mir wichtig im Bezug auf das Gesamtthema Kirche und Homosexualität. Dieser Bereich ist durch keine Entscheidung belastet. Insofern ist die Senatsentscheidung eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem Kammerurteil.

Zum Ermittlungsverfahren stellte das Urteil fest: "Etwaige Verletzungen des rechtlichen Gehörs wurden spätestens in der I. Instanz geheilt." Der Senat ließ also die Vermutung offen, daß es im Ermittlungsverfahren des Landeskirchenamtes durchaus nicht immer mit rechten Dingen zugegangen war. Trotzdem bleibt ein unguter, billiger Nachgeschmack. Da hatte die Disziplinarkammer in ihrem Urteil 1979 noch andere, obrigkeitskritische Töne angeschlagen.

Der Senat zitiert auch im Gegensatz zum Kammerurteil die Rechtswidrigkeit des Landessynodalbeschlusses.

Dann streute mir der Senat noch einige Blümchen, etwa so: "Zu Gunsten des Pfarrers war in ganz erheblichem Maße sein über eine schlichte Berufsausübung weit hinausgehender jahrelanger Einsatz für seine Kirche zu werten. Er ist ihm zugute zu halten, daß auch die beanstandeten Äußerungen des Pfarrers dazu dienen sollten, teilweise berechtigte Kritik an Mißständen in der Kirche zu vermitteln." Oho, "ganz erheblich", "weit hinausgehend", "jahrelang" - so etwas war meiner gegenwärtigen Kirchenleitung etwa bei der Verabschiedung, aber auch sonst, nicht über die Lippen gekommen.

Darüber hinaus dezimierte der Senat, wie schon die Kammer, die Anschuldigungspunkte des Landeskirchenamtes und zitierte "die bereits von der Disziplinarkammer fallen gelassenen Vorwürfe (Landesbischof Krause als "Herrenreiter" sowie Äußerungen über Propst Fischer)" und sah weiterhin "...nicht als disziplinarrechtlich zu ahndenden Verstöße (Kritik an der Rede des Synodalen Riebenstahl; einige Äußerungen über OLKR Dr. Fischer; Verwendung des Wortes "maliziös" gegenüber Landesbischof Krause)". Das hätte jedoch nicht mildernd berücksichtigt werden können, da es sich insoweit nur um "geringfügige Weglassungen" gehandelt habe. Diese Formulierungen schaffen immerhin Freiraum für eine Fortsetzung kräftiger kritischer Äußerungen in Kirche von Unten. Das Senatsurteil ist kein Maulkorb für Kirche von Unten. Auch nicht schlecht.

Sogar der Grundsatz der "charismatischen Illegalität" wird förmlich erwähnt und lediglich als nicht zugute gehaltene Verhaltensweise charakterisiert. Der Abschnitt lautet:

"Der Einlassung des Pfarrers ist jedoch zu entnehmen, daß er sich an die vorläufige Dienstenthebung überhaupt nicht gehalten hat. Zur Begründung berief sich der Pfarrer auf eine Ermächtigung durch seinen Kirchenvorstand, der ihn in seiner Haltung bestärkte, in "charismatischer Illegalität" den Grundsatz aufzustellen, "Seelsorge bricht das Kirchenrecht". In dieser Haltung ließ es sich der Pfarrer nicht nehmen, Gottesdienste, Trauungen, Bestattungen und Konfirmandenunterricht zu halten, sodaß sich die vorläufige Dienstenthebung praktisch kaum ausgewirkt hat."

So war es ja nun wirklich nicht, sondern eher ein Ritt über den Bodensee. Immerhin kann man zwischen den Zeilen das Erstaunen des Senats über eine Kirchenleitung herauslesen, die diesen Zustand in der Landeskirche geduldet hat.

Es hat, anders als nach dem Verfahren 1977/79, diesmal kein persönliches, das Verfahren abschließendes Gespräch mit der gegenwärtigen Kirchenleitung gegeben. Auch da hatte ich zu hohe Erwartungen gehabt.


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