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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Download des Textes als pdf hier)


Die 95 Thesen Martin Luthers

Gemeindevortrag in der Brüdernkirche
von Dietrich Kuessner



Das Kintop des 19. Jahrhunderts bestimmt immer noch unser Bild von den Ereignissen in der Reformationszeit. Damals gab es zwar kein Kino, aber es gab Historienmaler mit lange nachwirkenden Gemälden, die oft in die Schulbücher wanderten: der Familienvater Luther mit Laute im Kreis von Frau und Kindern, der tapfere Mönch vor dem Kaiser auf dem Reichstag in Worms, der
Universitätsprofessor in Wittenberg, der, umringt von einer begeisterten Studentenschar, am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche 95 Thesen anhämmert. Ich schlage das Geschichtsbuch für die Klasse Sieben der Realschule aus dem Jahre 2001 auf und finde auf Seite 147 ein farbiges Bild vom prominenten Historienmaler Kaiser Wilhelms, Anton v. Werner: „Luther spricht vor Kaiser Karl V. in Worms.“
Das ist Kino. Heute abend machen wir kein Kino, sondern gehen gemeinsam folgenden vier Fragen nach: was ist tatsächlich passiert, was steht in den Thesen drin, wie reagierte die römische Kirche, welche Bedeutung haben die Thesen heute für das katholisch- evangelische Miteinander, für eine ergiebige Nachbarschaft.


I


Was passiert ist, ist ungewiss und unter den Kirchengeschichtlern umstritten. Der Stand der Forschung ist folgender:
Im Jahre 1957 veröffentlichte Hans Volz im Deutschen Pfarrerblatt einen Aufsatz, in dem er behauptete, der Thesenanschlag habe nicht am 31. Oktober, sondern einen Tag später, am 1. November, dem Tag Allerheiligen, stattgefunden . (Hans Volz Martin Luthers Thesenanschlag Weimar 1959)
Drei Jahre später behauptete der katholische Kirchengeschichtsprofessor Erwin Iserlohn unter der Überschrift „Luthers Thesenanschlag, Tatsache oder Legende ( Wiesbaden 1962) eine Art Thesenanschlag habe überhaupt nicht stattgefunden. Es gebe keine Zeugen für den Vorgang, es gebe kein Plakatdruck oder ein anschlagfähiges Papier in Wittenberg, die erste Erwähnung eines Thesenanschlages sei erst nach dem Tode Luthers durch Melanchthon aufgetaucht, der aber erst 1518, nach Wittenberg gekommen sei, also einen Bericht aus zweiter Hand wiedergebe. Im vergangenen Jahr erschien eine Iserlohnbiografie, in der der Braunschweiger Pastorensohn Volker Leppin, - der Vater, Eberhard Leppin, war Pastor in Helmstedt, der Sohn ist heute Kirchengeschichtsprofessor in Tübingen – einen Aufsatz schrieb: Der Thesenanschlag – viel Lärm um nichts?“ und die Iserlohnsche Version bestätigte. „Der Thesenanschlag fand nicht statt“, lautet der Titel des Buches, Basel 2013. Der damalige Braunschweiger Landesbischof Friedrich Weber hat ein Geleitwort geschrieben.
Die These Iserlohns wirbelte 1962 viel Staub auf. Sie wurde bis heute lebhaft bestritten (Kurt Aland, Pfarrerblatt 1962 241-244), aber allmählich setzte sich doch die Erkenntnis durch, - so Martin Brecht, Prof. für Kirchengeschichte in Münster, in seiner dreibändigen Lutherbiografie, Stuttgart 1982 -. ein Wittenberger Urdruck sei nicht erhalten, „obwohl er in der Forschung immer wieder vorausgesetzt werde“. „Gedruckt wurden die Thesen erst später aufgrund verschiedener handschriftlich verbreiteter Exemplare... „Veröffentlicht, d.h. angeschlagen wurden sie wohl Mitte November.“ (197) Diese Position findet man auch in einigen Schulbüchern, so im eingangs zitierten:
„Nebenbei: einer alten Überlieferung nach soll Luther seine Thesen am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben. Dies ist von der Forschung widerlegt.“ (S. 143)

Je näher das 500jährige Jubiläumsdatum, der 31.10.2017 heranrückt, desto klarer tauchen auch wieder die alten Gespenster auf. Der Göttinger Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann schreibt in seiner 2009 erschienenen „Geschichte der Reformation“ „Nach Lage der Dinge besitzt es die relativ größte Wahrscheinlichkeit, dass Luther zum 31.10.1517 einen Plakatdruck seiner 95 Thesen durch Anschlag an die Allerheiligenkirche, vielleicht auch an anderen Kirchentüren Wittenbergs veröffentlichen ließ.“ Ihm pflichtet Prof. Heinz Schilling, Leipzig in seiner Lutherbiografie 2010 zu.

Langsam wird man des Hin und Her überdrüssig, zumal sich an der Quellenlage nichts ändert, vielleicht sollte man lieber den Tag von Luthers Geburtstag feiern. Da kommen wir vom Regen in die Traufe. Ein anderer Braunschweiger Pastorensohn, Reinhart Staats, Sohn des früheren Johannispfarrers Walter Staats, macht Luther ein Jahr jünger als bisher angenommen. Er sei nicht 1483 sondern 1484 geboren. In einem Aufsatz im Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatt, dem damaligen Flaggschiff der protestantischen Presse, erschienen November 1984, bestritt er unter der Überschrift „Was Bruder Jakob fälschlich annahm“ das herkömmliche Geburtsjahr und nannte seine Gründe. Der Bruder Martin Luthers, Jakob Luther, habe sich geirrt. Luther hat ja keine Memoiren hinterlassen,; nach dem Tode Luthers 1546 so Staats, interessierte sich Philipp Melanchthon, der Freund Luthers, für dessen Lebenslauf, fand bei Luther nur etwas über den Tag, nichts über das Jahr, fragte bei der Mutter Luther nach, die wusste es auch nicht, die Familie habe sich schließlich auf 1483 geeinigt. Aber es gibt von Luther einige verstreute Äußerungen, z.B. er sei im Todesjahr von Papst sowieso geboren, und das war 1484.
Prof. Reinhart Staats hat diese These ausgebaut und sie mit acht Gründen in vier weiteren Fachzeitschriften, zuletzt in dem großen Aufsatzband „Protestanten in der deutschen Geschichte“, Leipzig 2004 unter dem Titel „Luthers Geburtsjahr 1484“ aufgenommen. Also keine Laune und kirchengeschichtliche Eintagsfliege, sondern eine respektable These.

Was ist das Ergebnis für unser heutiges Thema? Bitte keine Posaunentöne am 31. Oktober, von Hammerschlägen und einem Riesenecho in Wittenberg und dem reformatorischen Durchbruch Luthers an diesem Tag.

Bleibt aber doch die Frage, wie kam es, dass der Text der Thesen in Nürnberg und Basel bald bekannt wurde, wenn im Städtchen Wittenberg, am Rande der Zivilisation, wie ein Zeitgenosse bedauert, vom Text nichts bekannt war. Der Kollege von der juristischen Fakultät Christoph Scheurl beschwerte sich bei Luther, dass er schriftlich keinen Text erhalten habe, worauf ihm Luther am 5. März 1518, also vier Monate später, schreibt:
„Es war weder die Absicht noch mein Wunsch, sie zu verbreiten. Sondern sie sollten mit wenigen, die bei und um uns wohnen, zunächst disputiert werden, damit sie nach dem Urteil vieler entweder verworfen und abgetan oder gebilligt und herausgegeben würden.. Aber jetzt werden sie weit über meine Erwartung so oft gedruckt und herumgebracht, dass mich dieses Erzeugnis reut“.

Wie also wurden sie bekannt? Luther hatte an den Erzbischof Albrecht von Mainz geschrieben und ihn gebeten, den entsetzlichen Missbrauch der Ablassprediger abzustellen. In der Anlage fügte er den Text der 95 Thesen bei. Der Brief war vom 31. Oktober 1517 datiert. Auch ein anderer Bischof, der von Brandenburg, erhielt den Text. So fand er den Weg in die Öffentlichkeit, und in den Städten, in Nürnberg, Erfurt und Basel wurde er ins Deutsche übersetzt, gedruckt, und einmal im Druck, vielfach verbreitet. „Weit über meine Erwartung oft gedruckt und herumgebracht“, hatte Luther geschrieben. Das lag am Inhalt.


II


Was steht drin?
Man sucht vergeblich nach einer Gliederung der Thesen, sondern es sind verschiedene Themenblöcke, über die Luther zur Diskussion bittet. Thesen 10-29 Fegefeuer, Thesen 56-67 der Schatz der Kirche, Thesen 80-91 was man so alles im Volk über den Ablass erzählt. Und vor allem: der Missbrauch des Ablasses.
Luther spießt das Auftreten der Ablassprediger auf, ihren Aufwand, die Verdrängung der Messe durch endlose Ablasspredigten, die Errichtung von aufwendigen, hohen Ablasskreuzen neben dem Kreuz Christi, die Übertreibungen der Sünden, auch wenn einer die Gottesmutter geschwängert hätte, könne ihm diese Vergewaltigung durch einen Ablass vergeben werden, Luther dazu kurz und bündig: Wahnsinn. Diese Übertreibungen sind von der römischen Kirche umgehend abgestellt worden, und der Ablassprediger Tetzel wurde aus dem Verkehr gezogen.
Luther spießt aber noch einen anderen Missbrauch auf: Er säge, so empfanden es die römischen Behörden in Mainz und Rom, an der Finanzbasis der Kirche. Es gab damals keine Kirchensteuern, aber Kollekten, Stiftungen und vor allem den Ablass als Haupteinnahmequelle. Mit den Ablassgelder wurde der sehr große Finanzbedarf der Bistümer und des römischen Apparates in Rom abgedeckt. Da der Bedarf sehr viel größer war als die eingegangenen Gelder, gehörte das Bankhaus Fugger in Augsburg zu den größten Kreditgebern, wohin denn auch ein Teil der Ablassgelder zur Begleichung der aufgenommenen Kredite strömte. Nun kommt ein Mönch aus der Provinz am Rande der Zivilisation und erklärt:
„Jeder Christ, der wahrhaft Reue empfindet, hat Anspruch auf vollkommenen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief.“ (These 36). Das ist ja nun noch schöner! „Ohne Ablassbrief“? Das Theologische interessierte den Erzbischof gar nicht, er war nämlich gar kein Theologe, aber das Finanzielle.
Luther kritisiert auch hierin nicht den Ablass selber, sondern den Missbrauch des Ablasses als Geschäft. „These 67: Der Ablaß, den die Ablassprediger als „größte Gnaden“ ausschreien, kann man insofern tatsächlich dafür ansehen, als er ein großes Geschäft bedeutet.“
28) Das ist gewiß, dass Geld und Habgier zunehmen können, wenn das Geld im Kasten klingt.“

Luther verband seine Kritik am Missbrauch des Ablasses mit einem populistischen Ton. Der Papst hat doch so viel Geld, soll er doch seinen Petersdom selber bezahlen. „These 86: Der Papst ist heute vermögender als der reichste Crassus¸ warum baut er da nicht wenigstens diese eine Peterskirche lieber mit seinem eigenen Geld als mit dem seiner armen Gläubigen?“ Luther unterstellt dem Papst Ahnungslosigkeit. Wenn das der Papst wüsste! „These 50: Wenn der Papst wüßte, wie die Ablassprediger das Geld erpressen, würde er die Peterskirche lieber zu Asche verbrennen, als sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe aufzubauen.“ Kirche und ihr Geld – das Thema kommt bis heute immer an.
Kein Wunder: Luther entlastet den Kleinen Mann. „These 46. Man soll die Christen lehren, dass, wer keinen Überfluss hat, verpflichtet ist, das Notwendige für sein Hauswesen zu behalten und keineswegs für den Ablass verschwenden.“ Ablass – Verschwendung- besser: behalten. Kirchensteuer – Verschwendung – besser behalten. Sowas kommt an.
Die Erlösung der Frommen geschieht nach der kirchlichen Gewohnheit durch Gebet und gute Werke. Nun aber auch durch den Ablass. Das muß nicht sein, so Luther. Das Geld gebt lieber den Bedürftigern und Armen,. „These 43: Man soll die Christen lehren, dass es besser sei, den Armen etwas zu schenken und den Bedürftigen zu leihen, als Ablässe zu kaufen. Und weiterhin sollte man die Christen lehren: „45) wer einen Bedürftigen sieht und ihm nicht hilft, und stattdessen sein Geld für Ablass gibt, der hat... Gottes Zorn erworben.“
Die Popularität der Thesen lag weniger an dem theologischen Gehalt, eher an den praktischen Folgerungen für den Haushaltsalltag.
Auch diesen Missbrauch des Ablasses hat die römischen Kirche noch im selben Jahrhundert abgeschafft und jeden Ablasshandel verboten und unter Strafe gestellt.

Luther sägte aber nicht nur an der Finanzbasis, sondern an der Institution des Ablasses.
Die Konstruktion des Ablasses ist folgende:
Der katholische Gläubige wird für seine Sünden von der Kirche bestraft und mit einer bestimmten Buße belegt. Für die abgestuften Sünden gibt es ein abgestuftes kirchliches Strafregister. Für leichtere Sünden das wiederholte Gebet, auch Essensentzug, vermehrter Kirchenbesuch, eine Wallfahrt. Die römische Kirche von damals funktionierte aus der Sicht ihrer Mitglieder als Strafanstalt. Zugleich auch als Heilsanstalt. Denn: diese Strafen können dem Sünder von derselben Kirche erlassen werden durch den Griff in einen sog. spirituellen Kirchenschatz, eine Art Pluspunktekonto. Dieser Kirchenschatz ist unerschöpflich, weil Maria und die Heiligen ihre überfließenden Verdienste in den Kirchenschatz hineinleiten. Priester, Bischof oder Papst haben Zugriff auf den spirituellen Kirchenschatz und können bestimmte Kirchenstrafen erlassen. Zu Luthers Zeiten gegen eine je nach Stand und Einkommen abgestufte Spende, ohne Reue. Übrigens: Auch für Verstorbene können Ablässe von Hinterbliebenen erworben werden, deren Sünden nicht mitgestorben sind, sondern immer noch mitgezählt werden bis zum Jüngsten Gericht.
Die Kritik am spirituellen Kirchenschatz ist bereits eine Kritik am Ablass selber. Der Kirchenschatz sei, These 56 , unklar gekennzeichnet. „These 56: Der Schatz der Kirche aus dem der Papst den Ablass austeilt, ist weder genügend klar gekennzeichnet, noch kennt ihn das Volk Christi überhaupt.“
Und dann benennt Luther zwei verschiedene „Schatzversionen“. Der Heilige Laurentius z.B.
erklärte die Armen der Gemeinde zum Schatz der Kirche. So hat es auch Bodelschwingh formuliert.
Luthers Version: „62) Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. (((63) Dieser Schatz ist aber mit Recht allgemein verhasst, denn er macht aus den Ersten die Letzten. These 64 Dagegen ist der Schatz des Ablasses mit Recht allgemein beliebt; denn er macht aus den Letzten die Ersten“.)))

Mit dem spirituellen Kirchenschatz ist eine andere Vorstellung verbunden, die vom Fegefeuer.
Es ist der Aufenthaltsort der Seelen, die noch Sünden abzubüßen haben. Immer wieder (13 mal) kommt Luther in den Thesen auf das Fegefeuer zu sprechen. Das dreistöckige Weltbild mit Himmel, Erde, Hölle wird schon seit Jahrhunderten noch ergänzt durch die Behauptung eines Fegefeuers. Auch zu Luthers Weltbild von 1517 gehörte das Fegefeuer.
Luther wandte sich gegen eine Seelsorge, die dem Sterbenden noch auf dem Sterbebett mit kirchlichen Bußstrafen drohte: „These 10: Jene Priester, die noch Sterbenden kirchliche Bußstrafen für das Fegefeuer vorbehalten, handeln unwissend und schlecht.“ These 11: „Die Lehre, dass man kirchliche Bußstrafen in Strafen des Fegefeuers umwandeln könne, ist ein Unkraut, das augenblicklich gesät wurde, als die Bischöfe schliefen.“
Die römische Kirche von damals erscheint Luther auch als Drohkirche.
Luther nimmt diesen Drohcharakter gelegentlich auf die Schippe und behauptet, dass manche Seelen gar nicht aus dem Fegefeuer heraus wollen. These 29: „Wer weiß denn, ob alle Seelen, die im Fegefeuer sind, den Wunsch haben, daraus losgekauft zu werden? Man erzählt ja, dass dies beim heiligen Severin und Paschalis nicht der Fall gewesen sei,“ Das sind eher fröhliche Thesen zur Disputation unter Studenten, man sollte nicht jede der 95 Thesen todernst nehmen.

Die Vorstellung eines Fegefeuers kennt weder die orthodoxe, noch die anglikanische Kirche.
Sie ist eine Besonderheit der römischen Theologie und des katholischen Milieus. Es dehnt die Macht der Amtskirche über die Todesgrenze hinaus aus und sichert Kirchenmacht auch über Tote.
Sie befriedigt außerdem eine gewisse menschliche Neugier, was denn nun nach dem Tode komme, und droht und beruhigt zugleich.
Sie befriedigt das menschliche Bedürfnis nach Selbstbestrafung und bestätigt die Angst des Menschen vor den Umständen des Sterbens. Zugleich besänftigt die Vorstellung vom Fegefeuer Angst und Selbstbestrafung, weil nach dem Fegefeuer der Eintritt in den Himmel versprochen wird.
Das Fegefeuer befestigt das Bild einer Kirche, die beides vereinigt, das Bild einer Strafanstalt und einer Heilsanstalt.

Luther wandte sich 1517 nicht gegen Ablass und gegen das Fegfeuer, sondern gegen den Missbrauch vom Ablass und vom Fegefeuer. Und er unterwarf sich hinsichtlich der Gültigkeit seiner Thesen dem Schiedsspruch der römischen Kirche. An Bischof Schulz in Brandenburg schrieb Luther am 13.2.1518
„Es ist etliches darunter (unter den 95 Thesen), was mir zweifelhaft ist, etliches weiß ich nicht, manches stelle ich auch in Abrede, aber nichts behaupte ich hartnäckig. Alles jedoch unterwerfe ich der heiligen Kirche und ihrem Urteil.“ (Aland 74)

Es zieht durch die Thesen ein stickiger Geruch abgestandener, obrigkeitshöriger Kirchlichkeit. Das hatte der alte Luther auch gerochen, und als man ihn überredete, die Thesen in einer Gesamtausgabe zu veröffentlichen, da sträubte er sich mit Händen und Füßen gegen die Veröffentlichung dieser Frühschrift.

Ich hatte in meiner theologischen Einfalt gedacht, Fegefeuer und Ablass seien heutzutage in der römischen Kirche vorbei. Weit gefehlt. Der unter Benedikt XVI. formulierte römische Katechismus behauptet unter Nr.1478 noch im Jahre 2005:
„Der Ablass wird gewährt durch die Kirche, die... für den betreffenden Christen eintritt und ihm den Schatz der Verdienste Christi und der Heiligen zuwendet, damit er den Erlass der (für seine Sünden( geschuldeten zeitlichen Strafen erlangt.“
Da die verstorbenen Gläubigen, die sich auf dem Läuterungswege befinden, ebenfalls Glieder dieser Gemeinschaft der Heiligen sind, können wir ihnen unter anderem dadurch zur Hilfe kommen, dass wir für sie Ablässe erlangen. Dadurch werden den Verstorbenen im Purgatorium für ihre Sünden geschuldeten zeitlichen Strafen erlassen.“ (Aus: Katechismus der katholischen Kirche München 2005)
Ablaß – Fegefeuer- immer noch aktuell in der römischen Kirche
Die Auffassung, „das ist eben Theorie, aber keine kirchliche Praxis“, ist unrealistisch. Am 31. Oktober 1999 unterzeichneten in der Augsburger Annenkapelle Cardinal Cassidy vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Kirche und Bischof Krause für den Lutherischen Weltbund einen feierlichen Konsens, eine Übereinkunft in Fragen der Rechtfertigungslehre. Der Mensch werde gerecht allein aus Gnade, heißt es in dem Papier.
Kaum war die feierliche Unterzeichnung vollzogen, rief der amtierende Papst einen Ablass aus, verbunden mit einer Wallfahrt nach Rom zum Heiligen Jahr.

Wir müssen also unterscheiden zwischen einer römischen Amtskirche, die auf Drohung, Strafe, Ablass und Fegefeuer nicht verzichten kann, und einer katholischen Kirche, die sich von einer Drohkirche längt abgewandt hat, und unter dem Leitwort einer einladenden Kirche eher ihrem Gewissen folgt.
Hier wäre in der römischen Kirche viel aufzuarbeiten, und das sollten die evangelischen Bischöfe ihren Amtsbrüdern in der anderen Kirche dringend ans Herz legen. Da hilft keine eia-popeia Ökumene weiter, sondern da muss dringend theologisch nachgearbeitet werden.

Es durchzieht das ganze Werk Luthers eine uns heute merkwürdig berührende Angst vor dem Jüngsten Gericht. Es werde bald kommen, war eine damals weit verbreitete Meinung. „Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“, diese Zeile des Glaubensbekenntnisses ist heute weithin in den Hintergrund getreten, damals bestimmte sie den Zeitgeist. Luther geriet in anhaltende Angstzustände und schwere Depressionen über die Ungewissheit, ob er dem Urteil eines richtenden Gottes verfallen würde. Luther erlebte seine Verzweiflungsphasen als „Höllenqualen.“ Das führte zu einer Art Selbsthass, von dem Luther in der vierten These redet: Es bleibe eine Strafe so lange „wie der Haß des Menschen gegen sich selbst, d.h. die wahre innerliche Buße, bestehen bleibt, also bis zum Eintritt in das Himmelreich“. Luther litt sein Leben lang unter einer mangelnden Selbstannahme, unter dem „Schrecken der Verzweiflung“ (These 15) mit der Folge einer zwanghaften Selbstbestrafung, die sich zum Selbsthass steigerte und den Luther in den 95 Thesen in sein Bußverständnis einbaute.
Daher rührte der tiefe Ärger Luthers über die Ablassprediger, die dem Käufer und der Käuferin Sicherheit des Heils versprachen. „Zwischen der Hölle, dem Fegefeuer und dem Himmel besteht offenbar derselbe Unterschied wie zwischen Verzweifeln , fast Verzweifeln und seines Heil sicher sein“. (These 16) These 32: „Wer glaubt, durch Ablassbriefe seines Heils sicher zu sein, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden.“ Es gibt für Luther keine Sicherheit für das Seelenheil. Das war eine quälende Erfahrung Luthers 1517; wurde er sie los? Davon soll am dritten Abend die Rede sein.

Möglicherweise hängt sie mit einer theologischen Einsicht zusammen, die Luther als die entscheidende These ganz vorne stellt: „1) Da unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: Tut Buße, wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein sollte.“

Ist das nicht bisschen lange? Das ganze Leben Buße? Löste dieser Auftakt zu den Thesen die Begeisterung der Wittenberger Bevölkerung aus, und dann weit darüber hinaus? Waren die denn so viel frömmer als wir? Wohl kaum. Diese erste These ist in Wahrheit eine Gegenthese. Die Ablasspraxis behauptete: irgendwann ist mit der Buße Schluss. Buße ist zwar ein wiederholbarer, aber zeitlich begrenzter Akt. Luther hält dagegen. Buße ist kein Akt, keine Handlung, sondern eine Haltung, eine Lebenseinstellung. Es gibt hochnäsige Menschen und selbstkritische, es gibt vor Selbstbewußtsein platzende Zeitgenossen und solche die sich in Frage stellen lassen. Es gibt solche, die alles besser wissen und andere, die Einwände an sich herankommen lassen und ernst nehmen. Es gibt bußfertige Christen. Luther beruft sich auf ein Wort des Evangelisten Matthäus, das er auch anführt Matthäus 4,17.
Daraus entsteht heute die Anfrage an beide Kirchen nach ihrer - klassisch gesprochen – Beichtpraxis. In welcher liturgischen Ordnung wird die Haltung eines Christen gefördert, die auf Selbstrechtfertigung und Selbsterlösung verzichtet. Welche Formen der Seelsorge nehmen vom Verfall der traditionellen Beichtpraxis in beiden Kirchen Kenntnis und bieten überzeugende Möglichkeiten zu Einkehr und Umkehr.


III


Wie ging es mit den 95 Thesen weiter? Das Echo auf die Thesen in Wittenberg war mager bis gar keines. Das war deprimierend für Luther, denn er hatte im September eine Disputation mit Thesen gegen die theologische Bedeutung von Aristoteles angesetzt, aber es meldete sich kein Disputant, und schon ein Jahr zuvor hatte Luther am 31.Oktober 1516 eine kräftige Predigt gegen den Missbrauch des Ablass gehalten, auch ohne Echo. Luther veröffentlichte daher im März 1518 eine Art zweite Auflage der Thesen aber in deutsch. Bisher gab es von ihm nur die Thesen in lateinischer Sprache. Deutsche Übersetzungen waren andernorts angefertigt. Titel dieser kleinen Schrift in deutsch: „Sermon von Ablass und Gnade“. Das war nicht eine 1 zu 1 Übersetzung , aber Luther bekräftigte inhaltlich seine 95 Thesen, einige Frechheiten ließ er weg. Es wurde sein „erster großer literarischer Erfolg“.(Brecht 203). Die Schrift erlebte bis 1520 20 Drucke aus Wittenberg, Leipzig, Nürnberg, Augsburg, Basel und Breslau. Der Sermon vom Ablass war 1518 auch, so Pfr. Henry Beck, in Braunschweig zu kaufen. Peter Hummel, ein angesehener Bürger, habe das Buch an den Mönch Gottschalk Kruse weitergegeben.

Katholischerseits leitete der Erzbischof Albrecht den Brief an Rom weiter.
Damit befand sich die Bearbeitung der Thesen auf der Rechtsschiene.
Luther hatte seinen Augustinerorden hinter sich der ihn unterstützte und ihn im Frühjahr 1518 nach Heidelberg zur Disputation ein.

Zum 7.August 1518 Luther wurde nach Rom zitiert, er ging aber nicht hin, stattdessen verhörte im Oktober 1518 Kardinal Cajetan in Augsburg Luther mit dem Ziel eines Widerrufes, der nicht erfolgte.

Beim Streitgespräch im Sommer 1519 in Leipzig zwischen Eck, Luther und Karlstadt: ging es schon um das Papstamt. Eck hatte das Ziel, die Grundlagen für einen Ketzerprozeß, also für ein Ausschlussverfahren, vorzubereiten.
Im Sommer 1520 macht der Papst den Bann-androhungsbescheid (Bannbulle) publik. Diese Drohung bot Luther eine letzte Möglichkeit zum Widerrufes, ansonsten erfolgte der Kirchenausschluss.

((1520 verfaßte der 37jährige Luther grundlegende Streitschriften.
Mitte August 1520 An den christlichen Adel deutscher Nation Lehre vom allgemeinen Priestertum
Monate später: Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche; Sakramente
Schließlich Von der Freiheit eines Christenmenschen))

Nach Ablauf der Widerrufungsfrist verbrannte Luther im Dezember 1520 in Wittenberg vor dem Elstertor das römische Rechtsbuch, und den Bannandrohungsbescheid unter Gejohle der Studenten. Unter ihnen, so Klaus Jürgens, auch Gottschalk Kruse, der von Braunschweig aus, sich ab 1519 in Wittenberg immatrikuliert hatte.
Postwendend verhängte im Januar 1521 der Papst über Luther den Kirchenbann. Davon sind bis heute auch alle Anhänger betroffen. Mit diesen beiden Schritten war eine rechtsfreie Situation geschaffen, die neue Gestaltungsräume schuf. Der Dezember/ Januar 1520/21 ist der Beginn zweier Kirchen.

Über die Frage einer Aufhebung des Bannes heute gibt es zwei unterschiedliche Auffassungen: die römische Kirche kann sich dazu nicht entschließen und verheddert sich in historische Kuriositäten:
((Hitler wurde nicht exkommuniziert, Luther blieb es, „Mein Kampf“ stand nicht auf dem Index, er wurde erst 1966 abgeschafft wurde.)) Also die römische Kirche bleibt beim Bann, für die katholische Nachbargemeinden spielt diese Frage keine Rolle und ist bereits gestorben.
Von dem Miteinander von katholischen und evangelischen Kirchengemeinden soll im letzten Teil die Rede sein.


IV


Der katholische Martin Luther benennt in den Thesen möglicherweise die Stützen einer christlichen, interkonfessionellen ökumenischen (?`) Frömmigkeit.
Das Wort Gottes ist der gemeinsame, allem grundsätzlich übergeordnete Leitgedanke. Wer es „völlig verstummen lasse, sei ein „Feind Christi und des Papstes.“ (Th 53). Es regiere die Predigt.
( vgl.These 54 „Man beleidigt das Wort Gottes, wenn in einer Predigt dem Ablaß die gleiche oder noch mehr Zeit eingeräumt wird als ihm.“)
Seit langem gehören gemeinsame Bibelwochen und Bibelarbeiten zum festen Bestandteil gegenseitig anregender katholisch/evangelischer Nachbarschaft.

Das Wort Gottes erscheint nicht als Gesetz und Drohung, auch nicht als Werbung, sondern als Evangelium. Als gute Nachricht. Diese gute Nachricht lautete damals wie heute:
Jeder Christ hat Anteil an den Gütern Christi (auch ohne Ablassbrief). (These 37) Katholische und evangelische Kirchengemeinden folgen persönlichen Gewissensentscheidungen in Fragen der Wirtschafts- und Sexualethik aus Freude am Evangelium.

Die Diakonie ist die notwendige Folge des Evangeliums. Diese ökumenischen Basisgemeinden sind für andere da, nicht für das eigene Seelenheil. Also: Gutes tun um des bedürftigen Mitmenschen willen, nicht für sich und sein Heil. These 45: Man soll die Christen lehren: wer einen Bedürftigen sieht und ihm nicht hilft, habe Gottes Zorn erworben.

Sie sind keine Droh- und Strafkirche, sondern Christen, die sich in die Nachfolge rufen lassen, also eine sich gegenseitig einladende, sowie dem Quartier, der Umwelt gegenüber offene Kirche.
„Man soll die Christen ermahnen, dass sie ihrem Haupt Christus ....mit Freude nachfolgen, und zwar auch in schwierigen Situationen: „durch Strafe, Tod und Hölle nachfolgen“. (These 94)
Seit langem besuchen konfessionsverschiedene Ehepaare mal den Gottesdienst des einen, dann des anderen Partners. Dabei nehmen sie auch am Abendmahl teil. Noch besser ist es, wenn die Kirchengemeinden in Zukunft die Ordnung einer ökumenischen Mahlfeier entwickeln, die der schlichten Struktur der Mahlfeier zur Zeit Jesu entspricht.
Sie warten nicht auf Empfehlungen oder gar Entscheidungen von oben, sondern gehen in der Kraft des Evangeliums eigene gewisse Schritte in der Nachfolge.

Wort Gottes, Evangelium, Kirche für andere und gerufen in die Nachfolge könnten die vier Eckpunkte ökumenischer stabiler Frömmigkeit sein.

Für diese Basisgemeinden entspannter Nachbarschaft ist eine Einheit der Kirchen nicht der erstrebenswerte Zielpunkt ihrer Arbeit, sondern ihr Ausgangspunkt. Sie - wir – kommen von der in Christus ursprünglich geschaffenen Einheit her und entfalten diese in geschichtlich gewachsenen Formen. Dabei bedarf es in beiden Kirchen einer ständigen Entrümpelung von Glaube und Kirche. Kritik und Glaube gehörten nicht erst seit Luther zusammen, die 95 Thesen sind ein Beispiel aus alter Zeit, das zur Nachahmung heute ermuntert.




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