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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Download des Textes als pdf hier)


Roselies und die deutschen Kriegsgräuel in Belgien 1914

Vortrag am 18.11.2014 auf Einladung der TU Braunschweig durch Prof. Steinbach
im Institut für Regionalgeschichte

von Dietrich Kuessner



Belgien

die Unabhängigkeit ist erkämpft
Vor 80 Jahren. etwa
die politische,
von den Niederlanden. 1830
Belgien ist ein Königreich,
aber mit einer, was Kirche betrifft, großzügigen Verfassung.

Deutschland über alles, von der Maas bis an die Memel
Aber die Maas fließt durch Belgien.
Nördlich von ihr ist flaches fruchtbares Land,
man lebt von der Landwirtschaft,
auch in alten Städten mit berühmter Stadtkultur.
Brügge, Gent, Amsterdam. Brüssel.
Südlich der Maas ist es eher hügelig und waldig.
dort lebt man vom Bergbau.
Und in befestigten Städten
Wie Lüttich, Namur, Tamines, Charleroi.

v. Sobbe 32 :“die Schönheit des Landes trat der marschierenden Truppe vor Augen und ließ sie sich satttrinken an diesem Bilde tiefsten Friedens. Die Straßen wanden sich durch teilweise tief eingeschnittene Täler, in die sich die Gewässer ihr Bett gegraben hatten. Sie wurden durchzogen vom Lauf der Qurthe, Ambleve und zahlreicher kleiner Bäche. Saftige Wiesen und goldene Felder wechselten mit schattigen Wäldern. Überall leuchteten aus dem Grün freundliche Dörfer, Städtchen und Schlösser. Darüber ein wolkenloser blauer Himmel. Aber bald brannte die Sonne wieder unbarmherzig auf die Truppe herab.“

Das war vor 100 Jahren.- Heute lebt man vom Tourismus.


Belgien
ein kleines Land mit vielen Nachbarn.
Im Norden die Niederlande, im Süden Frankreich, im Osten das Deutsche Reich,
südöstlich Luxemburg.
Mit 7 Millionen Einwohnern.
Sie sprechen je nach Gegend französisch, niederländisch und einige wenige auch deutsch.

Belgien könnte sich eingekreist fühlen.
Tut es aber nicht.
Es ist auf gute Nachbarschaft angewiesen.
Darauf, dass die andern sie in Ruhe lassen.
Frankreich und England haben versprochen, Belgiens Sicherheit zu garantieren:
seine Neutralität.
Deutschland nicht, schade


Deutschland
baut eine Eisenbahnlinie bis an die belgische Grenze.
Letzte deutsche Station ist Sourbrodt.
Von da führt eine Kleinbahn zu einem riesigen Truppenübungsplatz, 1894, man kann ja nie wissen.

Elsenborn und Kalterherberg heißen die anderen Orte am Rande Truppenübungsplatzes.
Da treffen sie auch am 8. August 1914 ein. Das Armeekorps.
Auch das Infanterieregiment 92, die Husaren mit ihren vielen Eskadronen und viele andere

In der kurzen Zeit bis zum, wie sie hoffen, raschen Durchmarsch wird noch das Feindbild poliert.
Schon 70/71 gab es tückische Franktireure. Man hört, die Belgier hätten deutschen Soldaten die Ohren abgeschnitten. Vielleicht kennen sie das schon von ihren Großvätern. Solche Geschichten wurden viel herumerzählt. Gruselgeschichten, krankhaft; ernst zu nehmen? In einem Roman aus dem Jahre 1906, „Der Zusammenbruch der alten Welt“ schildert der Verfasser einen deutschen Angriff auf Belgien. Fanatische Pfaffen suchen die unruhige Arbeiterbevölkerung aufzuhetzen“ ((Lothar Wieland Belgien 1914 Frankfurt 1984 12)) . Verkaufte Auflage: 130.000 Exemplare.
Das Feindbild verursacht Unsicherheit bei der Truppe. Im Manöver gab es zwei Parteien, Rote und Blaue, und dazwischen eine Front. Klare Verhältnisse. Man weiß, wo der Feind steht. Aber bei Partisanen, Franktireuren, weiß man nicht, wo und woher und wann überhaupt. Das macht einen nervös.

Um die Nervosität zu beenden, gab der Oberkommandierende General-Oberst v. Bülow einen Befehl heraus:
„Soldaten der 2. Armee!...Jetzt gilt es, den deutschen Heeren den Weg nach Frankreich hinein zu bahnen und den Feind zu schlagen, wo wir ihn finden... In diesem gerechten Krieg wird der gerechte Gott mit uns sein. Bewahrt euch in Feindesland deutsche Gesittung. Behandelt die Bevölkerung, wo sie sich nicht feindselig erweist, milde und menschlich. Jeder Widerstand aber, woher er auch kommen mag, soll mit rücksichtsloser Strenge niedergeschlagen werden. Und nun vorwärts auf den Feind zum Sieg!“ ((v. Sobbe 30)

Also keine Nervosität. Wenn es hart auf hart kommt, dann rücksichtslos, was zu Hause zwar nie üblich war,
hier und in Uniform: rücksichtslos, streng, niederschlagen. Es wird keine Folgen haben, wenn man mal zuhaut.
Freiherr v. Sobbe erinnert sich an den Abmarsch. S. 27

„Schon in aller Frühe des 9.8. stand das Regiment in Sourbrodt versammelt. Hellgerötet war der Himmel von brennenden Dörfern, an denen andere deutsche Truppen ein Strafgericht hatten vollziehen müssen.“ Von Sourbrodt nach Soumagne, östlich von Lüttich, war es nicht weit. Da hatten deutsche Truppen am 5. August nicht nur Häuser angesteckt, sondern an der Bevölkerung ein Massaker von 118 Toten angezettelt. Nicht weit von Soumagne liegt Melen, da hatten die deutschen Truppen drei Tage später ein Massaker unter Bevölkerung zu verantworten: 108 tote Zivilisten.
Aber davon war der Himmel nicht so rot.
Lüttich lag nordwestlich von Sourbrodt. Was muß man tun, um die Bevölkerung in den Dörfern auf der Invasionsstrecker direkt nach Westen nachhaltig anzuschrecken?

Und zur Abschreckung wird gleich mal die Probe aufs Exempel gemacht. Major Sobbe:
„Auch hier – nämlich in Sourbrodt - war beim Abmarsch zum Abschied die Notwendigkeit eingetreten, einige Häuser in Brand zu setzen, da beim Abrücken der Mannschaften zum Sammelplatz Angriffe von Bewohnern erfolgt waren. Der Marsch führte zunächst in Richtung Monte Rigi.“

Sind wir schon mitten an der Front? Wir sind noch in Sourbrodt.
Seit 100 Jahren deutsch, seit 1815 preußisch, das preußische Sibirien.
Als Friedrich Wilhelm IV. 1856 in Trier war, machte er einen Abstecher nach Sourbrodt, und erklärte „auf französisch: Ich bin stolz darauf, in meiner Monarchie ein kleines Land zu besitzen, wo man französisch spricht.“ ((S. 127 Sebastian Scharte Preußisch – deutsch – belgisch. Münster 2010.))

Nicht so Wilhelm II. der für das deutsche Reich noch mehr Platz an der Sonne wünscht, als es schon hat. Das Signal brennender Häuser auf seinem deutschem Boden soll abschreckend über die belgische Grenze gehen.
Was war mit den jungen Leuten passiert, dass sich einige hergaben, ein Haus anzustecken? Zu Hause hätte man sie für verrückt erklärt. Du hast sie wohl nicht alle – Häuser anstecken!

Die Belgier sind alle hinterhältig und vorne an die katholischen Priester. „Die sind alle falsch.“
Belgien war zu über 90 % katholisch. „Die Pfaffen sind verkniffen und tragen einen Jesuitenhut“, hatte man ihnen erzählt. Das Bild stammte vermutlich aus Wilhelm Buschs Pater Filuzius.

Das erste Dorf im Belgien ist Hokay.
15.8.
„Es wurde auch bekannt, dass die Belgier in Hockay, dem ersten belgischen Dorf, das das Regiment durchschritten hatte, deutsche Truppen hinterrücks beschossen hatten, worauf das ganze Dorf eingeäschert und der Ortsgeistliche als Rädelsführer erschossen wurde. Welch ein fanatischer Haß, der uns zwang, solche Exempel zu statuieren.“ ((v. Sobbe S. 33))

v. Sobbe S. 29
11.8. Auf dem Weg nach Loveigne
„Man sah, dass sich hier schwere Kämpfe abgespielt hatten. Die Dörfer waren fast gänzlich zerstört und verbrannt, weil die Bewohner auf die durchziehenden Truppen hinterrücks geschossen und einzelne Mannschaften und Patrouillen auf grausamste Weise ermordet hatten...Es war den Deutschen nicht zu verargen, dass sie für die Taten der belgischen Bevölkerung Vergeltung nahmen.. Keine Ausschreitungen deutscher Soldaten, die sie, in Wut versetzt, auch begangen haben mögen, lassen sich in entferntesten damit vergleichen.“

Am 19. August erreichten deutsche Truppen Aarschot und massakrierten 156 Dorfbewohner,, am 20. August kamen sie in Andenne an, dort wurden 262 Tote gezählt, am 22. August Tamines, wenig entfernt von Roselies. Dort verursachten deutsche Truppen einen Massenmord von 383 Toten.

Unter den einrückenden Soldaten gehörte auch das Infanterieregiment 92 aus Braunschweig.
Im bereits zitierten Vaterländischen Kriegsgedenkbuch befindet sich im ersten Heft auf S. 23 eine Abbildung eines Gemäldes von Prof. v. Eschwege mit dem Titel „Feuertaufe des Braunschweiger Infanterie-Regimentes Nr. 92 - Straßenkampf in Roselies.“ Dazu folgende Tatbeschreibung eines Beteiligten: „Alle Häuser mussten gewaltsam erbrochen werden, es entspann sich im Innern ein wütender Kampf mit Kolben und Bajonett und da man mancher Hausbesatzung nicht habhaft werden konnte, weil die Verteidiger sich auf dem Boden versammelt hatten, so griff man zu dem einzig wirksamen Mittel in solchem Fall, man zündete die Häuser an. Bald stand dann die Dorfstraße an vielen Stellen in Flammen“.

„Wir wurden in mehrere Dörfern von den Einwohnern beschossen. Diese Dörfer wurden gleich an allen Ecken angesteckt, die Bewohner, die geschossen hatten, abgemurkst,“ berichtete ein Gemeindemitglied an seinen Pfarrer Wilhelm Gagelmann in Lutter a.B.
Gustav Schmidt aus Bündheim dichtete nach einem ähnlichen Vorfall in der drittgrößten Stadt Belgiens Charleroi: „Das deutsche Blut, das hier hat fließen müssen/ schreit nach gerechter Rache, nicht nach Flintenschüssen/ Ein Flammenmeer die ganze Stadt hüllt ein/ Das ist des Deutschen Blutes Rache Widerschein“.
Damals erhielt der Pfarrer in Berklingen, Richard Diestelmann, einen Brief seines Sohnes, des damaligen Theologiestudenten , von der Front. „19. Oktober Regiment 235 soll Roulers angreifen....Bald haben wir die ersten Häuser der Stadt erreicht, aber kein Feind ist zu sehen. Wir liegen wiederum auf der Erde und warten. Da Peng fällt ein Schuss aus dem nächsten Hause und Peng Peng noch mehr. Wir stutzen, dann heißt es, in den Häusern müssen Franctireurs sein. Jedes Mal 5 Mann in ein Haus! Und die Bewohner herausgeholt. Und bald kommen die ersten. Die Taschen werden untersucht und bei wem Waffen oder Munition gefunden wird, der wird kurzerhand erschossen. Armes verblendetes Volk, das ruhig und unbehelligt hätte weiterleben können. Jetzt gehen auch Deine Häuser in Flammen auf. Nur das wird aus den Häusern herausgeholt, was an Nahrung zu finden ist und dann: Feuer hinein.“

Der Pfarrer von Lutter a.B. zitierte aus dem Feldpostbrief eines Gemeindemitgliedes vom Vorgehen in einem anderen Ort: „Die Leute haben hier im Dorfe eine furchtbare Angst, denn wir wurden in mehrere Dörfern von den Einwohnern beschossen. Diese Dörfer wurden gleich an allen Ecken angesteckt, die Bewohner, die geschossen hatten, abgemurkst. Das geht im Kriege böse her. Einige Pastöre haben von unsern Verwundeten welche ermordet. Zur Strafe mussten sie auf dem Schlachtfelde Tote mit beerdigen. Als das eine Grab voll war, wurden sie erschossen und oben aufgepackt...Ich verbleibe unter vielen Grüßen Euer Karl.“
Diese Kriegsverbrechen wurden in der Heimat von Urlaubern und Verwundeten in den Lazaretten schon Mitte September 1914 verbreitet: „Grauenvolles“ erzählten die Urlauber vom Krieg, berichtete Pfarrer Emil Schomburg: „Schon beginnen sich unsere Lazarette zu füllen und was sie alle erzählen, unsere Verwundeten, von den Greueln des Krieges, wahrlich kein Grund zum Übermut, nur immer: Herr, verschone.“


Roselies philologisch

Es gibt mehrere Berichte über die Vorgänge in Roselies.
Diese Berichte unterscheiden sich erheblich voneinander,
nach der zeitlichen Anfertigung des Berichtes,
nach der Länge,
nach den Verfassern und ihren Absichten,
nach der ihnen zu Grunde liegenden Quellenlage,
nach der Sinndeutung der Geschehens durch die Wiedergabe des Berichtes.

Der erste Bericht
Der Verfasser ist anonym. Ein an den Kämpfen beteiligter Soldat hat in seinem Tagebuch einen Bericht niedergeschrieben, der unter der Überschrift „Aus dem Tagebuch eines 92ers“ im Heft 1 von „Die Braunschweiger im Weltkrieg“ ca 1914/15 veröffentlicht wurde.
Er ist außerordentlich zeitnah geschrieben und veröffentlicht.

Der zweite Bericht stammt von Walter Voigt. „Mit 1/92 auf dem Vormarsch durch Belgien und Frankreich . Kriegserlebnisse aus den August- und Septembertagen 1914“. Er ist 1924, also zehn Jahre später, veröffentlicht. Walter Voigt hat den Feldzug als Unteroffizier mitgemacht und verarbeitet gesammelte Erinnerungen und Anekdoten aus der Kriegszeit, die im Stammtisch ausgetauscht wurden. (Vorwort).. In Kap. IV behandelt Voigt „Gefechte bei Roselies (22. August), bei Devant-les- Bois und Oret (23. bis 24. August).(Schlacht bei Namur). Voigt fasst also die Kämpfe bei Roselis und Namur zusammen. (21. Seiten) S. 39 - 50).

Der dritte Bericht ist Teil der „Geschichte des Braunschweiger Infanterie-Regiments Nr. 92 im Weltkrieg 1914-1918“ von Major a.D. Fr. v. Sobbe. Er ist 1929 im Verlag Tradition Berlin erschienen. Im Unterschied zu den beiden vorhergehenden Berichten hat der Verfasser den Krieg nicht persönlich mitgemacht. Er bezieht seine Kenntnisse aus Akten des Regiments, der Bataillone, einzelner Kompanien und persönlichen Erinnerungen der Kriegsteilnehmer. Seinem Bericht ist eine Dorfkarte von Roselies beigefügt.

Beim synoptischen Vergleich der drei Berichte tritt die Rolle der Artillerie im ersten Bericht (1915) eher zurück und wird im dritten Bericht (1929) stark hervorgehoben. Der zweite Bericht endet mit der standrechtlichen Erschießung eines katholischen Priesters und eines „hohen blonden, kräftigen Mannes“ am 24. August in Oret, der erste mit dem Vorrücken der Einheit in das Dorf Le Roux.
Der dritte Bericht enthält zwei schraffierte, austellungsreife Bilder vom Nordausgang und der Hauptstraße des Dorfes, der erste Bericht dagegen die Reproduktion des Gemäldes von Prof. .v Eschwege „die Feuertaufe“ und – wichtiger – ein Foto zerstörter Häuser mit der deutenden Unterschrift „Strafgericht.
Die Berichte würdigen die Kämpfe bei Roselies mal als „ersten Gefechtstag in der Geschichte des Regimentes“, mal als großes Heldentum, aufgezeichnet „den Gefallenen zum ewigen Ruhm und Gedächtnis, den Lebenden zur hehrer Erinnerung und zu berechtigtem Stolz, kommenden Geschlechtern zur Besinnung auf das höchste Ideal, Erhaltung ihres Volkstums und Staates ujnd zur Nacheiferung, wenn das Vaterland einst wieder ruft.“

Wir stellen die Berichte in andere Zusammenhänge und lesen sie unter neuen, gegensätzlichen Gesichtspunkten, z.B. dass diese Vergangenheit keine Zukunft haben sollte.


Die moralische Seite

wird von einer konservativen Gruppe und einer Versöhnungs wie- friedensbestimmten Gruppe unterschiedlich beantwortet.
So sagen die einen, die Konservativen:
5000 ermordete Zivilisten, unter ihnen bedauerlicherweise Greise und Kinder und Frauen, vorsätzlich in Brand gesteckte Dörfer, die damit verbundene Flüchtlingswelle, die Besetzung und vierjährige Teilung des Königreiches Belgien in zwei Teile, den nördlichen als Generalgouvernemént unter dem Oberbefehlshaber und den südlichen als ständiges Aufmarschgebiet unter dem Generaloberst... die Einführung einer Art belgische Notwährung, die Verlegung des deutschen Hauptquartiers in den belgischen Ort Spa sowie die sehr hohen monatlichen Reparationszahlungen von 40 – bis 60 Millionen Franc monatlich - das ist eben Krieg, und Krieg ist ein Naturereignis, hat es immer gegeben und Schuld haben die andern auch, das sollte man nicht vergessen: die andern auch.

Als die, so sagen sie, sog. deutschen Greuel schon 1914 in die Öffentlichkeit drangen, wurden sie umgehend bestritten, so z.B. von einer repräsentativen Gruppe deutscher Universitätgelehrten in einem Wort an die Intellektuellen in der Welt.

Nach dem Krieg legte die Universität Würzburg durch Prof. Meurer ein „wissenschaftliches Gutachten“ vor, das belgische Greuel als vermeintlich eigentliche Ursache vor allem bei der Brandschatzung der Universitätsstadt Löwen im August 1914 und die Hinrichtung von ßßß Zivilisten in der Stadt Dinant benannte, was allerdings umgehend von Ferdinand Mayence, Prof. der Universität Löwen 1928 mit der Schrift „Die Legende der Franktireurs von Löwen“ beantwortet wurde. Ein Jahr später widerlegten aus seiner Sicht der Staatsanwalt von Dinant Maurice Tschoffen und der Benediktiner der Abtei Mardsous, Norbert Nieuwland, das Würzburger Gutachten unter dem Titel „Das Märchen von den Franctireurs von Dinant, in deutsch 1929 erschienen. Irene Strenge hat mit ihrer Arbeit „Spa im Ersten Weltkrieg“ Würzburg 2007 einen eindrucksvollen Bericht über die deutsche Besatzungszeit aus der Sicht einer kleinen belgischen Kommunalgemeinde vorgelegt.
Die Behauptung belgischer Kriegsgreuel wurde während der erneuten Invasion und Besetzung Belgiens 1940-1945 wiederholt und von der deutschen Öffentlichkeit vertieft aufgesogen und bis ca 1980 nicht diskutiert.
Erst die grundlegende Arbeit von John Horne und Alan Kramer „Deutsche Kriegsgreuel 1914“ in deutsch 2004 untersucht die Invasion und Besatzungszeit, die Zerstörung der Stadt Löwen und das Massaker von Dinant erneut unter Zusammenfassung aller vorhandenen internationalen Quellen. Dabei schlagen sie sich in der innerbritischen Auseinandersetzung zwischen dem englischen Wilhelm II Biografen John Röhl und der Preußendarstellung Christopher Clarks in der Schuldfrage auf die Seite von Röhl. Zur in Braunschweig weniger bekannten Position Röhls verweise ich auf seinen Aufsatz „Vorsätzlicher Krieg? Die Ziele der deutschen Politik im Juli 1914“ in dem vom Militärgeschichtlichen Forschungssamt herausgegeben Dokumentarband Der Erste Weltkrieg Wirkung, Wahrnehmung, Analyse 1997.
Im Band von Horn/Kramer wird der Ort Roselies nicht erwähnt, was diese konservative Gruppe als Hinweis versteht, dass in Roselies keine Kriegsverbrechen begangen worden sind, sondern lediglich reguläre Kampfhandlungen stattgefunden haben, die den Haager Kriegskonventionen entsprochen haben.

In der moralischen Frage kommt die andere, Versöhnungs- friedensbestimmte Gruppe zu einem gegensätzlichen Ergebnis. Für sie ist der Krieg kein sich ständig wiederholendes Naturereignis, sondern eine bösartige, infektiöse Erkrankung der Gesellschaft, deren Erreger festgestellt und bekämpft werden müssen. Krieg und Gewalt sind eine seuchenartige Beschädigung im menschlichen Umgang miteinander. Um Urkatastrophen im 21. Jahrhundert zu verhindern, muß völlig alternativlos der Krieg als Mittel der Politik geächtet und jede Teilnahme aus humanistischen wie christlichen Gründen vermieden werden. Diese Gruppe kann auf eine eindrucksvolle Tradition in der deutschen Gesellschaft verweisen, wie sie kürzlich in der Ausstellung des Friedenszentrums in der Waage gezeigt und in der Braunschweiger Zeitung gewürdigt wurde. Sie lehnen eine Würdigung der Soldaten als Helden oder als „Opfer, die in den Kriegen der letzten 300 Jahre ihre Gesundheit und ihr Leben ließen“, so kürzlich der Rat der Stadt Braunschweig, ab.
Einen Konsens zwischen der konservativen Gruppe, deren Einfluss bis weit in die vermögenden Schichten der Stadt Braunschweig reicht, und der friedensverpflichteten Gruppe, die eher Graswurzelarbeit auf vielen Ebenen treibt, einen Konsens zu finden, erscheint schwierig. Gewiß werden moralische Fragen nicht von Mehrheiten beantwortet. aber beide Gruppen können nicht mit dem Anspruch auftreten, jeweils für die Versöhnung in der Welt aufzutreten und auf eine Versöhnung in der eigenen Stadt nicht abzielen zu wollen.

Am heutigen Dienstag, zwei Tage nach dem Volkstrauertag und dem bevorstehenden Bußtag am morgigen Mittwoch sei es mir erlaubt, auf die Gruppe junger Menschen hinzuweisen, die sich unter dem Motto „Aktion Sühnezeichen“ seit 1958 bemüht, durch soziale Projekte in den von der deutschen Wehrmacht geschundenen Nachbarländern, auch in Belgien, ein Milieu zu schaffen, wonach die von Gewalt und Krieg verseuchte Vergangenheit keine Zukunft mehr hat.
1.10.1517!





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