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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Pogromnacht im Land Braunschweig

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


5. Nachkriegsprozesse

Wenn die Nationalsozialisten hofften, mit der Pogromnacht auch die Erinnerung an die Juden und jüdischen Gemeinden im Braunschweiger Land auszulöschen, dann ist ihre „Aktion der Entjudung” gescheitert. Denn Einige sind aus den Vernichtungslagern zurückgekehrt und erinnern, und Andere melden ihre Ansprüche aus dem Ausland an, und einige wenige der vielen Täter werden sogar vor Gericht gestellt: Erinnerung also in ganz unterschiedlicher Weise. Abraham Lauterstein z. B. kehrt aus Theresienstadt zurück und steht am 27. Juni 1945 in der Niedernstraße in Schöningen vor seinem Geschäft. Was muß ihm durch den Kopf gehen? Und er kommt in sein altes Geschäft nicht wieder hinein! Er schreibt am 16. Juli 1945 einen Brief an den Schöninger Bürgermeister und erinnert ihn an die Vorgänge in der Pogromnacht. Lauterstein wird an die neu eingerichtete Wiedergutmachungsstelle im Braunschweiger Staatsministerium verwiesen und auf die noch fehlenden gesetzlichen Grundlagen für eine Entschädigung. Nach zwei Jahren 1947 verläßt Lauterstein Schöningen zum zweitenmal und nun endgültig. Er wandert in die USA aus.

Als der pensionierte Mittelschulrektor Karl Rose in den 50er Jahren die Geschichte der Schöninger Juden schreibt, kommt er auch auf Lauterstein und die jüdischen Geschäftsinhaber zu sprechen. Er schreibt: „Nachdem 1935 durch die ns.-Regierung verfügt worden war, daß Juden keinen Grundbesitz mehr haben durften, gingen die Grundstücke von Hirsch, Probst, Lauterstein ... in den Besitz christlicher Firmen über”. „Christliche Firmen” — das ist die Sprache der Nazis. „... und gingen die Grundstücke ...”, das muß man sich einmal bildlich vorstellen. In der Sprache von Rose bekommen die Grundstücke Beine und wechseln ihren Besitzer. Sie „gehen” von ihrem bisherigen jüdischen Besitzern nun zu neuen „christlichen Firmen” über. Vielleicht gefällt es ihnen bei den alten Besitzern nicht mehr! Die brutale Wirklichkeit, die Karl Rose in Schöningen selber miterlebt hat, sah anders aus. Wird in diesem Stil die Geschichte der jüdischen Gemeinden auch andernorts „aufgearbeitet”?

Andere versuchen, sich ihr Recht auf gerichtlichem Wege zu erstreiten.

Vor den Schwurgerichten in Braunschweig und Hildesheim kommt es zu Verfahren, die den Vorgängen in der Pogromnacht doch noch näher nachgehen.

Der Kaufmann Hermann Lichtenstein, dessen Eltern ein Schuhgeschäft in Stadtoldendorf hatten und der das KZ überlebt hat, klagt von den USA aus, gegen sechs Einwohner von Stadtoldendorf als Beteiligte in der Progromnacht. Aber er kann als Zeugen nur die Täter und Zuschauer angeben, Nachbarn von derselben oder gegenüberliegenden Straßenseite, aber alle haben nichts gesehen oder erfahren. Der beklagte Forstmeister Friedrich Kirchhoff weiß nichts von der Zerstörung der Synagoge. Der Beschuldigte Arnim Haider, bis 1935 Obersturmführer der SA und Angestellter in der Registratur der Weberei, kann nicht sagen, wo er sich überhaupt an diesem Tage aufgehalten hat. Marie Schulze wohnt direkt neben dem Schuhgeschäft und erklärt: „Jedenfalls weiß ich soviel noch, daß ich damals nicht rausgeschaut habe. Ich habe also wirklich nichts gesehen”. Aus-gesprochen typisch ist die Zeugenaussage von Elfriede Busch: „An dem fraglichen Tage, also den 10./11. 1938 befand ich mich in meinem dem Lichtensteinschen annähernd gegenüber-liegenden Hause. Ich habe wohl bemerkt, daß vor dem Lichtensteinschen Hause etwas los war. Ich bin aber gar nicht vor meiner Haustür gewesen. Ich habe wohl mal durch mein Fenster geschaut, kann aber Angaben darüber, was sich dort im Einzelnen abgespielt hat, und wer daran beteiligt war ... nicht machen. Ich habe mich auch an diesem Vormittage, wie sonst auch immer, die meiste Zeit über in meiner, an der entgegen-gesetzten Seite des Hauses gelegenen Werkstatt aufgehalten, wo ich keine Sicht zu dem Lichtensteinschen Hause hatte.” Alle Zeugen werden vereidigt. Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Hildesheim weist am 16.5.1952 in vollem Umfange die Klage ab, weil nicht zu ermitteln ist, daß die Beklagten zu den Schuldigen gehören. Vielmehr geht eine saftige Kostenrechnung von 2.226,— DM dem Kläger zu, vier Jahre nach der Währungsreform eine stattliche Summe.

Jedes Verfahren hat seine Besonderheiten. Im Laufe der zahlreichen Verfahren, die Kurt Bach aus Hehlen durchsteht, kommt am Ende heraus, daß in der Pogromnacht alles ganz harmlos war.

Kurt Bach aus Hehlen, dem nach KZ-Aufenthalt 1939 die Ausreise gelungen ist, stellt schon am 26. Juni 1946 eine Anklageschrift gegen die Täter in Hehlen zusammen. Erst im Januar 1948 beginnt der hartnäckige Polizeiwachtmeister Siegfried aus Bodenwerder auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft mit der Vernehmung der Beschuldigten und im Sommer 1948 reicht der Oberstaatsanwalt eine fünf Seiten lange Anklageschrift gegen zehn Einwohner von Hehlen ein, u. a. gegen den Haupträdelsführer und früheren Bürgermeister Kreibaum und den Lehrer Stapel. Das Urteil des Hildesheimer Schwurgerichtes vom 30.11. 1948, das eine geringe Gefängnisstrafe ausspricht, wird vom Obersten Gerichtshof für die britische Zone aufgehoben, weil es zu lasch ist. Der Angeklagte Kreibaum hätte nicht für Freiheitsberaubung in einem Fall bestraft werden müssen, sondern in sechs Fällen. Zu einem Verfahren kommt es aber nicht, denn am 9.2.1950 stellt das Landgericht Hildesheim das Verfahren ein. Fünf Jahre später wird der Fall erneut aufgerollt. Nun klagt nicht der Staat, sondern es klagen die Opfer selbst. Aber 1955 schieben alle beteiligten, früheren SA-Leute die Plünderungen auf die SS. Solange sie zuständig gewesen seien, sei alles ordnungsgemäß verlaufen. Die vor dem Laden aufgestellten Wachen hätten nichts bemerkt; Kreibaum hätte ja durch das Wacheaufstellen Plünderungen gerade verhindert. Nach einer Verhandlung am 14. Januar 1955 entscheidet die 6. Zivilkammer des Landgerichts Hildesheim am 1.2.1955: Die Klage wird abgewiesen. „Maßgeblich ist, daß der Kläger nicht den Nachweis zu führen vermocht hat, daß Plünderungen in seinem Geschäft vorgekommen sind” ... „Es erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob dem Kläger überhaupt Waren entwendet worden und diese nicht vielleicht ausschließlich verkauft worden seien”, — immerhin ergäben sich „wesentliche Anhaltspunkte in dieser Richtung”. Damit werden die Tatsachen der Pogromnacht geradezu auf den Kopf gestellt. Dieses Urteil mit seinen bösartigen Einlassungen wird jedoch noch einmal korrigiert, denn Bach streitet wegen der Kosten des Verfahrens. Am 19. Dezember 1959 rückt der 3. Zivilsenat des Celler Oberlandesgerichts das sehr schiefe Bild zurecht. Es stellt die Schuld Kreibaums ganz eindeutig fest und widerlegt den schauerlich verharmlosenden Eindruck, den die Einwohner von Hehlen 1955 hinterlassen haben. 13 Jahre dauert insgesamt dieser Streit.

Einmal stellen sich die Zeugen in den Prozessen unwissend, dann entlasten sich die Täter untereinander, und die Braunschweiger und Hildesheimer Gerichte sind erstaunlich milde im Urteil. Das wird besonders deutlich im Verfahren, das die Pogromnacht in Bad Harzburg behandelt. Besonders delikat ist der Revisionsantrag der Verteidigung.

Nachdem am 17. Juni 1948 das Braunschweiger Schwurgericht den früheren Standortführer der SA in Bad Harzburg, Kurt Goedecke, zu sechs Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruch verurteilt hat, begründet der Verteitiger Ernst Grünkorn die Revision mit dem subjektiven Unrechtsbewußtsein des früheren Standortführers. Es seien zwar „die objektiven Merkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ... erfüllt.” Aber „dem Angeklagten Goedecke hätte nachgewiesen werden müssen, daß er sich bewußt war, durch sein Handeln an einem Verbrechen teilzunehmen, das von der Regierung organisiert oder geduldet war, die jüdische Bevölkerung im ganzen Reich betraf und unmenschliche Handlungen gegen sie umfaßte. Dieser Nachweis ist nicht in allen Punkten einwandfrei geführt worden.” Darin, daß die Juden im Hotel Ohrenstein und in der Pension Cohn aus den Betten geholt und in Schutzhaft genommen wurden, „hat das Schwurgericht noch keine unmenschlichen Handlungen im Sinne des Kontrollratsgesetzes erblickt, da insoweit noch nicht einmal erhebliche körperliche oder seelische Mißhandlungen vorlagen.” Daß die Juden ins KZ kamen, „bestreitet der Angeklagte gewußt oder auch nur geahnt zu haben. Das Gegenteil konnte ihm nicht nachgewiesen werden.” Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone hebt auch dieses Urteil auf, und vom Hildesheimer Schwurgericht wird Goedecke zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus verurteilt.

Nur scheinbar einfacher liegt die Strafverfolgung der Vorgänge in der Pogromnacht in Seesen, weil dort der Synagogenwächter Nußbaum angeschossen und wenig später seinen Verletzungen erlegen war. Es liegt also ein Mord vor. Drei Beteiligte stehen am 23. Juni 1948 deswegen vor dem Braunschweiger Schwurgericht, nämlich der spätere Bürgermeister Ibenthal, der ehemalige Stadtschreiber Schmidt, in dessen Begleitung Nußbaum vom Gandersheimer SS-Adjutanten Weber angeschossen worden ist, und der Maurermeister Lange. Es werden insgesamt 5 1/2 Jahre Gefängnis ausgesprochen, aber alle werden von der Anklage des Verbrechens gegen die Menschlichkeit freigesprochen. Der Vorsitzende, Amtsgerichtsrat Seidler, unterstellt nämlich den Angeklagten, sie seien der Meinung gewesen, was sich in Seesen ereignet habe, sei nur ein „örtlicher Ausbruch von Rassenhaß” gewesen. Dem Angeklagten Ibenthal sei auch nicht nachzuweisen, „daß er sich der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungen und Verhaftungen bewußt gewesen sei. ... Der Angeklagte Ibenthal konnte von dem damaligen Standpunkt annehmen, daß die Festnahme aufgrund eines für diesen Einzelfall gegebenen Befehls der übergeordneten Staatspolizeistelle erfolgt und daß deren Befehle rechtmäßig seien.”

Über dieses Urteil ist der Strafsenat des Obersten Gerichtshofes spürbar wütend. Die Vorgänge vom 9./10. November seien „von Anfang bis zum Ende ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. „Was beide Angeklagte dem Synagogenverwalter Nußbaum angetan haben, ist vom Schwurgericht sichtlich nur ganz unzulänglich gewürdigt worden”. Es wird eine neue Verhandlung anberaumt, die im Dezember 1949 zustande kommt und gegen Schmidt nun fünf Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust ausspricht. Der Fall Ibenthal wird abgetrennt, am 14. März 1950 verhandelt, und Ibenthal erhält nun wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Beihilfe zur Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung im Amt zehn Monate Gefängnis.

Als 1978 ein Teil dieser Vorgänge von der Studentin Flores Felgenträger in einer Seminararbeit verarbeitet wird, stellt sie ernüchtert fest, daß die Seesener sich an nichts erinnern können, und als der Schulleiter des Seesener Gymnasium in einer Gedenkstunde zur Pogromnacht im selben Jahr 1978 vor seinen Schülern und Kollegen aus dieser Arbeit zitiert, gibt es in der Lokalpresse wütende Reaktionen, bei denen sich nun die nächste Generation, etwa die Söhne Ibenthals, hervortut. Die Urteile hinterlassen für heutige Betrachter den zwiespältigen, verwirrenden Eindruck einer „Zuschauerjustiz”.

Und die Haupttäter? Jeckeln, Klagges, der Ministerpräsident, die anderen Leute des Staatsministeriums, die Kreisleiter und Kreisdirektoren? Jeckeln gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wird — auch wegen Grausamkeit an den Juden in den baltischen Ländern — zum Tode verurteilt. Dietrich Klagges wird bereits während seiner Internierungszeit ausführlich befragt. Er erklärt dabei ungerührt, er habe von der Planung keine Kenntnis gehabt und von der Aktion „erst nachts nachrichtlich eine Meldung vom Offizier vom Dienst der Schutzpolizei erhalten”. Er habe nicht geglaubt, daß die Aktion allgemein im Reich durchgeführt und von oben organisiert sei. Klagges behauptet schließlich unverfroren: „Von einem Abtransport der Juden während des Krieges, ihrer Zusammenfassung im Ghetto und ihrer Liquidierung habe er nicht gehört und gewußt.” Jeder Satz in dieser Aussage ist nachweislich gelogen. Schon sein mitinhaftierter persönlicher Adjutant Peter Behrens gesteht seine Kenntnis von Judentransporten ein. Klagges hatte seinen sehr frühzeitig ausgeprägten, religiös begründeten Antisemitismus schon in seinem Buch „Das Urevangelium” 1926 selber aufgezeichnet. „Der Gegensatz Arier—Jude ist in Wahrheit der Gegensatz: Gott — Satan.” Der Tod Jesu ruft nach Klagges die Welt auf gegen das Judentum. Jesu Tod ist die „letzte und schärfste Waffe im Ringen mit dem satanischen Geist.” Für, Klagges ist die Vernichtung der Juden im Braunschweigischen ein Ausdruck von Glaubenskampf und Glaubenssieg.

Klagges wird unterstützt vom ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig Hesse, der die Staatsanwaltschaft mit der Behauptung verhöhnt, er wisse nicht einmal, was unter dem Pogrom 1938 zu verstehen sei. Am gesprächigsten ist Otto Diederichs, der stellvertretende Leiter der politischen Polizei, der von Dr. Volkerding verteidigt wird, aber auch er streitet jede Mitwirkung und Mitschuld ab. Es kommt zu vier selbständigen Spruchverfahren gegen Klagges, Behrens, Diederichs und Hesse, die alle der SS angehören. Es gibt unterschiedlich hohe Gefängnisstrafen, auf die die Internierungshaft angerechnet wird. Schon 1955 wird bei Diederichs das Urteil aus dem Strafregister getilgt. Demnach ist also nichts passiert.

In der Thora lesen wir die uralte Geschichte von zwei Brüdern, die sich eigentlich gut ergänzen könnten, der eine ein Schäfer, der andere ein Ackermann. Aber Kain schlägt Abel tot, obwohl sie einen Vater und denselben Gott Jahve haben. Die Vorgänge der Pogromnacht legen uns die ebenfalls uralte Frage aus dieser Geschichte vor, die Jahve nach dem Brudermord Kain stellt:


„Warum hast du das getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir aus der Erde.”




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