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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Fünf Problemfelder in unserer Landeskirche
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Fünf Problemfelder in unserer Landeskirche für 1998 und ihre historischen Bezüge am Beispiel Lebenstedt

von Dietrich Kuessner

Dieses Referat wurde zuerst gehalten auf dem Neujahrsempfang der Propstei Salzgitter-Lebenstedt für die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter dem Thema „Kirche und Gesellschaft im Salzgittergebiet 1937 1974“ am 14.1.1998 in der Paulusgemeinde


Einleitung

1. Problemfeld: Die diakonische Arbeit in den Kirchengemeinden

2. Problemfeld: Abendmahlsgottesdienste durch Lektoren

3. Problemfeld: Zentralisierung oder Dezentralisierung

4. Problemfeld: Unterhaltung von Kirchbauten

5. Problemfeld: Kirche und Öffentlichkeit


Einleitung
Auf keinem Gelände unserer Landeskirche hat sich in diesen 37 Jahren zwischen 1937 1974 derartig viel verändert wie hier: die Verwandlung eines fruchtbaren Zuckerrübenbodens in ein Schwerindustriegebiet, die Verwandlung alter bäuerlicher Wohnkultur zu einer Lagerstadt mit mehr als 8o Lagern und primitiven Baracken. Sie verunstalten für Jahrzehnte das Gebiet. Der Krieg stoppt das Siedlungsbauprogramm, die Bauruinen werden nach dem Krieg langsam bezugsfertig gemacht, Lebenstedt wird unter neuen Bedingungen, aber nach den alten Plänen weitergebaut, und so entsteht hier ein modernes Stadtgebiet mit Bahnhof, Rathaus, Sportstätten und Erholungsgebiet, ausgewalzt in eine platte Landschaft, ohne Mitte und Identität. Der niedersächsische, etwas enge, bäuerliche Menschenschlag vermischt sich zu einer diffusen Menschenmasse von zusammengewürfelten Deutschen, Ausländern, Kriegsgefangenen, KZ Häftlingen, deren einzige Gemeinsamkeit die schwere Arbeit in den Hermann Göringwerken ist. Hinzu kamen die Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern und die Vertriebenen aus Schlesien, deren einzige Aussicht war, hier irgendwie in den Elendsquartieren noch unterzukommen. 1970 sind die Flüchtlinge integriert, und die dritte Generation hat keine Erinnerungen an den jahrhundertelang deutschen Osten. Zeitzeugen nennen Lebenstedt einen „braunen Sumpf“ und können anführen, daß hier auf dem Lande eine der nachhaltigsten Keimzellen des Nationalsozialismus im Braunschweiger Freistaat in den 20iger Jahren gewesen ist. Der Aufsatz von Reinhard Försterling „Die Entwicklung der NSDAP im Salzgitter Gebiet in den Jahren der Weimarer Republik“ im Salzgitter Jahrbuch 1991/92 bestätigt meine hier schon 1982 vorgetragene Beobachtung. Der bundesweit überdurchschnittliche Anteil von rechtsradikalen Stimmen bei der Bundestagswahl 1949 von 23,6% erhöht sich, wenn man einen Teil der 11,6 % Stimmen der Deutschen Partei hinzunimmt, die sich ja rechts von der CDU etabliert hatte. Die Demokratie wird akzeptiert, solange sie Arbeit und Wohlstand garantiert. Die Männer der ersten Stunde erinnern sich merkwürdig. „Identitätswahrung im Umbruch der Systeme“, lautet die Überschrift eines Aufsatzes von Georg Strickrodt, Vorstandsmitglied der Reichwerke, und CDU Finanzminister in der niedersächsischen Landesregierung ( Salzgitter Jahrbuch 1980 ). Aus seiner Wirtschaftssicht sind offenbar Diktatur und Demokratie vergleichbare Systeme, aus denen die wirtschaftliche Vernunft und Potenz von einem in das andere System gerettet und bewahrt werden mußten. Die Lebenstedter trauen sich nicht an ihre wirkliche Vergangenheit. Der Schulrektor Kurt Hasselbring schreibt 1975 eine Chronik von Hallendorf, in der es auf S. 160 heißt: „Die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 und die darauf folgende Zeit brachte für Hallendorf bis zum Jahre 1938 keine weltbewegenden Änderungen.“ Ebenso Heinz Feldmann in der Chronik über Reppner aus dem Jahre 1990 auf S. 417: „Am „Dorffrieden“ änderte sich auch kaum etwas in den letzten Friedensjahren von 1933 bis 1939.“ Hitlerzeit Friedenszeit! Die belastenden, personellen Kontinuitäten in der Braunschweiger Gesellschaft, Politik, Justiz und Kirche über 1945 hinaus werden erst in neuster Zeit bewußt.

Und mitten in diesen Umwälzungen und Kontinuitäten die evangelische Kirche, präsent in zahlreichen alten Dorfkirchen und Pfarrhäusern, einigen, im 19.Jahrhundert gebauten neugotischen Zuckerrübenkirchen, mit Gemeinden von einer tiefsitzenden Religiösität, aber nur geringen Kirchlichkeit, die von einer redlichen Pfarrerschaft verwaltet wird.
Der Zeitraum des Referates umfaßt die Tätigkeit der Lebenstedter Pröpste Strothmann, Gennrich, Buchholz und Harborth. Mit dem im Jahre 1937 30jährigen Werner Strothmann, dem früheren persönlichen Vertrauten des damaligen Landesbischofs Johnsen, beginnt unser Thema. Er gibt nicht ganz freiwillig sein Amt 1949 ab und wird von dem 52 jährigen spröden, mehr nach innen gekehrten, grundehrlichen Hermann Gennrich abgelöst, der jedoch nach 3 einhalbjähriger Amtszeit an Krankheit und Überarbeitung 1953, im Amt hochrespektiert, stirbt. Sein Nachfolger Willy Buchholz war jahrzehnte Landpfarrer in Lesse gewesen, kannte die Verhältnisse und die Propstei seit ihrer Entstehung, ein kontaktfreudiger, nach außen gewendeter, belesener Organisator, Vorsitzender des Bauausschusses der Landessynode. Auch Buchholz stirbt überraschend nach achtjähriger, weit überlasteter Amtszeit 1961 mit nur 52 Jahren. Hans Harborth war eigentlich nur große Kirchen gewohnt: er war Vikar am Braunschweiger Dom, Pfarrer an der Gandersheimer Stiftskirche und dann an der Stadtkirche in Goslar gewesen. Er war später Vorsitzender des Verfassungsausschusses der Landessynode, der unter großer Beteiligung der Kirchengemeinden die neue Verfassung von 1970 ausgearbeitet hat. Dieses rechtliche und für Kirchenreformen aufgeschlossene, konservative, präzise Denken hat auch seine Amtszeit in Lebenstedt geprägt. 1974 ging er in den Ruhestand. Ich will im folgenden kein historisch gegliedertes Referat halten, sondern fünf gegenwärtig strittige Fragen in unserer Landeskirche aufgreifen, ihren historischen Bezug darstellen, und es Ihnen überlassen, welche Folgerungen Sie daraus für die künftige Geschichte unserer Landeskirche ziehen. Ich verweise zu diesem Thema auf die gründliche Arbeit von Michael Siano „Die ev. luth. Kirche im gesellschaftlichen Umbruch 19301950 am Beispiel Salzgitter“ 1997 und versuche mich in einigen Fortsetzungskapiteln.

1. Problemfeld: Die diakonische Arbeit in den Kirchengemeinden
Es ist in unserer Landeskirche strittig, ob und wie lange wir Sozialstationen werden unterhalten können. Die Konkurrenz der privaten Anbieter ist erheblich. Das hat den Landesbischof veranlaßt, in der Landessynode an die Tätigkeit der früheren Schwesternstationen zu erinnern. Die Propstei Lebenstedt ist ein schönes Beispiel für diakonische Pionierarbeit und für die in der Gemeinde gesammelte diakonische Kompetenz. Die nationalsozialistische Regierung und ihre Industrie hinterließen ein einziges soziales Elend. Lebenstedt hatte 1945 nach Angaben von P. Gennrich über 30.000 Bewohner darunter mehr als 18.000 Evangelische. Die sozialen Verwerfungen waren furchtbar, denn die Einheimischen nahmen die Flüchtlinge und Vertriebenen entgegen den späteren Legenden von der musterhaften Eingliederung nicht auf. Im Mai 1947 stellt der Sozialausschuß der Stadt fest, daß „in zunehmenden Maße Flüchtlinge von den Einheimischen boykottiert werden“. Andreas Ehrhardt hat in seinem 1991 erschienen, gründlichen Buch „Wie lästige Ausländer Flüchtlinge und Vertriebene 19451953 “ darauf eindrucksvoll hingewiesen. Man dachte gar nicht daran, die Not zu teilen. Dabei konnte die deutsche Bevölkerung noch froh sein, daß die 25.000 ausländischen Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ Häftlinge aus den über 80 Lagern die Dörfer im Umkreis nicht einfach abbrannten wie die deutsche Wehrmacht in Weißrußland oder die Bevölkerung familienweise gleich mit erschoß oder erschlug. In der Lebenstedter Erinnerung dagegen ist nicht diese erstaunliche Zurückhaltung, sondern vereinzelte Übergriffe.

Die diakonische Arbeit stand für die Kirche an einer der erster Stellen. Das merkte am eigenen Leibe der 46jährige Pfarrer Gennrich, der im Januar 1945 seinen Dienst in Lebenstedt antrat und dafür nur seine Militäruniform mitbrachte. Seine Katharinengemeinde in Braunschweig war von den Bombenangriffen derart verwüstet worden, daß an eine Weiterarbeit dort nicht zu denken war. Also hatte die Kirchenregierung ihn nach Lebenstedt versetzt. Er war zweimal in Braunschweig ausgebombt, hatte alles verloren, seine Frau war beim ersten Angriff ums Leben gekommen, die drei schulpflichtigen Kinder waren auf Heime verteilt. In der Gemeinde wurden nun Kleidung, Wäsche und Schuhe für den Pfarrer gesammelt, Kirchenrat Münster, der noch im Pfarrhaus wohnte, stellte Bett,Tisch und Schrank zur Verfügung.
Derlei gegenseitige elementare Hilfe wurde vom Herbst 1945 an durch das evangelische Hilfswerk landeskirchenweit und auch in Lebenstedt eingerichtet. Die Erwartungen an die praktische Hilfe aus den Kirchen war groß. Unter den am 21. Dezember 1945 einberufenen Stadtverordneten waren daher auch Vertreter der Kirchen, der Inneren Mission und der Caritas.

Geprägt wurde die diakonische Arbeit durch Paul Simm, der seit 1945 in Braunschweig den Suchdienst in der Inneren Mission und die Auswandererberatung geleitet hatte und der 1948 mit 27 Jahren die Hilfswerkszentrale der Propstei vom Lebenstedter Pfarrhaus aus leitete. Er war in Rußland schwer verwundet worden, hatte auch sonst die Nase vom Nationalsozialismus voll und koordinierte anfangs auf engstem Raum das Hilfswerk für die Großpropstei Bleckenstedt und nach 1949 für die beiden Propsteien Bad und Lebenstedt. In Lebenstedt hatten alle drei Pfarrbezirke je ein Hilfswerk mit Helfergruppen, pro Pfarrbezirk etwa 20 Frauen, die Kleiderballen aus der Schweiz sortierten, verarbeiteten und verteilten, Milchpulver und Carepakete aus Amerika an die Familien verteilten und nach Straßenlisten Geld für weitere Projekte sammelten. Aber nicht nur in Lebenstedt, sondern in den überfüllten Dorfgemeinden ebenso. Paul Simm zählte 1955 450 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.
Noch 1955, heißt es im Bericht von Paul Simm, seien 40 Ballen Bekleidung und 1.500 Einzelstücke, 21 Säcke Haferflocken, 7 Säcke Mehl, 180 Dosen und 104 Kartons Butter, 420 Karton und 67 Fässer Milchpulver u.a. ausgeteilt worden. In beiden Propsteien gab es 17 Kindergärten, meist Barackenkindergärten, an deren Stelle erst langsam neue Kindertagesstätten gebaut wurden.

Im Straßenbild sichtbar wurde die diakonische Arbeit der evangelischen Kirche an den leuchtenden, weißen Hauben der Diakonissen. Es war Propst Strothmanns Vorstellung, daß in jeder Gemeinde eine Diakonisse und ein Kindergarten vorhanden sein sollten. „Wenn die alte Schwester da mit ihrer schneeweißen Schwesternhaube durch Lebenstedt geht, dann rufen schon die Kleinen: „Die Schwester Ida kommt“ ( Zeitung vom 12.1.1956). Propst Gennrich schreibt in der Kirchenchronik, daß für die Zeit bis zum Sommer 1948 „nur noch vereinzelte Gemeinden ohne Schwesternstation und Kindergarten“ gewesen seien. Aber durch die Währungsreform seien diese unbezahlbar geworden. Es blieben immerhin 1955 im Stadtgebiet Lebenstedt ( also mit den Dörfern ) elf Schwesternstationen übrig und in den 60iger Jahren waren, nachdem Schwester Ida (Sprengel) aus Andreas mit 72 Jahren knurrend in den Ruhestand verabschiedet worden war, in den Lebenstedter Kirchengemeinden zeitweise noch vier Diakonissen gleichzeitig tätig. Von ihnen war Schwester Hildegard (Jerschke) seit 1958 24 Jahre lang in der Paulusgemeinde zusammen mit Pfarrer Fehrmann. Sie waren im Kindergottesdienst, im Besuchsdienst, bei Mütter und Altenabenden, auch in der pflegerischen Arbeit vielseitige Mitarbeiterinnen, selbständige, manchem auch zu selbständige und knorrige und natürlich auch mal schwierige. Aber sie brauchten sich bei Hausbesuchen nicht vorzustellen, man sah ihnen an, daß sie von der Kirche kamen und daß sie ihr persönliches Leben mit der Kirche und einem geistlichen Auftrag verbunden hatten. Mit den Veränderungen in der Mutterhausdiakonie seit den 70iger Jahren verschwanden dann die Hauben aus dem öffentlichen Leben der Stadt und der Kirche, aber heute denkt man anläßlich der umständlichen Abrechnungen für die kleinsten Handgriffe mit Wehmut an diesen diakonischen Dienst, und es bleibt die Frage, ob nicht für Menschen in der zweiten Lebensphase ein Angebot zur diakonischen Tätigkeit in einer überschaubaren, zeitlich begrenzten Gemeinschaft eine Chance in unserer Kirche hätte. Ich sehe nicht, daß dies schon ernsthaft mit öffentlichkeitswirksamer Werbung probiert worden ist.

2. Problemfeld: Abendmahlsgottesdienste durch Lektoren
Eine andere im Gemeindeausschuß der Landessynode zur Zeit umstrittene Frage ist, ob Lektoren selbständige Abendmahlsgottesdienste halten dürfen. Es ist die Frage nach der geistlichen Kompetenz in den Gemeinden. Auch dafür gibt es in der Propstei Lebenstedt ein wichtiges Beispiel.

Im selben Zimmer wie Paul Simm saß ab 1950 Erhardt Keil, 28 Jahre alt, aus Schlesien, wie Simm Kriegsteilnehmer, und noch länger als Simm, nämlich 35 Jahre lang, kirchlicher Mitarbeiter in Andreas und der Propstei. Erhardt Keil wurde 1965 zusammen mit Heinz Woldag und Paul Dubberke als Lektor eingeführt. Sie durften damit selbständige Wortgottesdienste halten. Nach einem Referat von OLKR Brinckmeier auf der Propsteisynode im Januar 1967 über das Amt des Lektors entstand eine aufgeregte Diskussion, ob Lektoren denn auch beim Abendmahl dem Pfarrer helfen und Brot und Wein mit austeilen dürften. Pfarrer Klaus Pieper stellte während der Debatte einen solchen Antrag, der auf wütende Kritik stieß und vom Antragsteller erschrocken zurückgezogen wurde. Auch ein Antrag von Propst Harborth, von der Kirchenleitung in dieser Frage ein helfendes Wort einzuholen, wurde abgelehnt, jedoch ein weiterer von Pfarrer Oelker, eine Sondersynode in zwei Monaten einzuberufen mit 26:18 Stimmen angenommen. Am 18. März 1967 hielt der stellvertretende Bischof, OLKR Kammerer, ein ausgiebiges Referat über „die Mitwirkung des Lektors beim Abendmahl“. Kammerer empfahl „klare Schritte vorwärts“, eine Ausweitung des Lektorenamtes sei theologisch geradezu gefordert, denn „es könnten auch mal andere Zeiten kommen“. Die Synodalen gingen in Arbeitsgruppen und faßten mit großer Mehrheit den Beschluß, das Landeskirchenamt möge „für ihren Bereich die Möglichkeit eröffnen, daß befähigte Gemeindeglieder an der Austeilung des Hl. Abendmahls aktiv beteiligt werden könnten, wenn der Kirchenvorstand es wünscht.“ Seither teilen also Pfarrer und Lektoren gemeinsam das Abendmahl aus. Aber dabei blieb es keineswegs. OKR Schnell vom Lutherischen Kirchenamt plädiert auf der neu gebildeten Propsteisynode vom September 1967 für die Gleichstellung des Verkündigungsauftrages, ob er nun von einem ordinierten oder nichtordinierten Mitglied ausgeführt wird. Der Verkündigungsauftrag des Nichttheologen unterscheide sich prinzipiell nicht von dem Auftrag eines kirchlichen Amtsträgers, und die Heranbildung von Lekoren müsse gefördert werden. Im Januar 1972 berichtet Propst Harborth, daß Lektoren auch selbständige Abendmahlsgottesdienste gehalten hätten. Daran nimmt keiner in der Propsteisynode mehr Anstoß. Viemehr besorgt sich der Lektor Keil eine „würdige Abendmahlsordnung“, die er dann auch jahrelang benutzt. Es kann sogar an Andreas passieren, daß der Pfarrer Orgel spielt, und der Lektor Brot und Wein austeilt und sich das Wort der Schrift erfüllt, daß jeder nach seinen Gaben der Gemeinde dienen soll. In der Zeit von Landesbischof Müller ist dann diese in den Gemeinden vorhandene geistliche Kompetenz kirchenamtlich eingeschränkt worden. Es wird höchste Zeit, daß die Gemeinden an diese segensreiche Tradition der siebziger Jahre anknüpfen.

3. Problemfeld: Zentralisierung oder Dezentralisierung
Ich nenne ein drittes gegenwärtiges Problem: im Landeskirchenamt liegt in der Schublade des Finanzreferenten Dr. Robert Fischer der Plan, unsere Landeskirche in sechs Großpropsteien umzugliedern. Erst kürzlich wurde in der Kirchenregierung überlegt, die Propstei Schöppenstedt, dessen Propst gerade in Pension gegangen war, aufzulösen und anderen Propsteien anzugliedern. In zwei Jahren geht Propst Schliephak in den Ruhestand und wieder wird die Frage aufkommen: soll die Propstei Vechelde nicht aufgelöst und auf andere Propsteien aufgeteilt werden? In zwei Jahren geht Propst Fiedler in Ruhestand: wäre es nicht verlockend, die Nordostpropsteien Vorsfelde, Helmstedt, Königslutter zu einem schlagkräftigen, wirtschaftlich potenten Kirchenverband zusammenzufassen?

Das hatten wir schon alles mal: der Versuch der Bildung einer Großpropstei Bleckenstedt von 1938 an scheiterte nach etwa 10 Jahren. Die Wirtschaftspolitik sollte die kirchlichen Grenzen bestimmen, nämlich die Ausdehnung der Reichwerke Hermann Göring. 1938 war aus Gemeinden der Propsteien Wolfenbüttel und Lichtenberg die neue Propstei Bleckenstedt mit neun Pfarrämtern gebildet worden, an deren Spitze der für Wirtschaftsfragen aufgeschlossene Propst Dr. Werner Strothmann delegiert wurde. Mit seinem Namen ist die Bildung der Großpropstei verbunden. Aber das Projekt steht unter schweren Geburtsfehlern: der Propst wohnt nicht in seinem Gebiet, sondern bleibt in seiner Kirchengemeinde Ahlum wohnen und versorgt von dort sogar eine zweite Kirchengemeinde. Ein Unding: die Amtsbrüder erleben ihren Propst nicht bei seiner Arbeit in ihrer Umgebung. Die Kirchenvorstände und Pfarrer sind bei diesem Umbau überhaupt nicht beteiligt. Das wird sich als die schwerste Hypothek bei diesem Manöver erweisen. Im Gegenteil: Die Kirchenregierung hatte mit dem „BleckenstedtGesetz“ zugleich dem Landeskirchenamt eine Generalvollmacht ausgesprochen, auch künftig Veränderungen im Raum Bleckenstedt vorzunehmen, soweit sie „mit Rücksicht auf die Gestaltung des durch den Aufbau der Hermann Göring Werke entstehenden Industriegebietes SalzgitterBleckenstedt wünschenswert“ erscheinen. Generalvollmachten an das Landeskirchenamt sind in jedem Fall ein schwerer Fehler. In kurzer Zeit wird die kleine Propstei Bleckenstedt vergrößert, und die Propstei Lichtenberg wird aufgelöst. Ein historischer, gewachsener Raum wird zerstört, und der Pfarrer von Berel, der seinen Propst in Ahlum besuchen will, kann 25 km fahren. Dieser Zentralisierungswahn wird auf die Spitze getrieben, und nach dem Gebietsaustausch 1942 wird die Propstei Bleckenstedt um weitere zehn Pfarrämter aufgepumpt und ist mit nunmehr 30 Pfarrämtern samt 45 Kirchengemeinden die größte aller braunschweiger Propsteien. Als Strothmann nach dreijähriger Abwesenheit durch Kriegseinsatz im Herbst 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, gedachte er da weiterzumachen, wo er 1938 angefangen hatte. Dabei jedoch stieß er auf spürbare Widerstände: die Pfarrer des Nordbezirkes: Ulrich in Berel, Buchholz in Lesse, Heinemann in Barbecke wünschten eine Verkleinerung der Propstei. Sie lehnten auch Strothmann als Propst ab, da er nach wie vor nicht in die Propstei ziehen, sondern in Ahlum wohnen bleiben wollte; schließlich hielten sie Strothmann politisch für zu sehr belastet. Anders als in anderen Propsteien wurde tatsächlich 1938 für die Propstei Bleckenstedt ein überzeugter Nationalsozialist gesucht. „Es scheint mir eine nationalsozialistische Pflicht der Kirche zu sein, dem Staat bei seinem großen Aufbauwerk zu helfen und alles zu tun, daß keine Unzufriedenheit über mangelhafte seelsogerliche Betreuung ansteht“, schreibt Strothmann Anfang Januar 1939 an OKR Scheller nach Berlin. Ganz unverhohlen sollte hier die Kirche in das Naziaufbauwerk, sprich: in die Aufrüstungsschmiede in der Mitte Europas, eingegliedert werden. Ein Teil der Pfarrer versagten ihrem Propst 1949 die Mitarbeit. Die Kirchenregierung löste per Kirchenverordnung die Großpropstei zum 1. November 1949 auf und teilt sie in die Propsteien Bleckenstedt und Salzgitter. Strothmann, der als Mitglied der Kirchenregierung diese Kirchenverordnung mitunterzeichnet, legte Ende 1949 sein Amt als Propst nieder.

Die Lehren aus diesem Experiment heißen aus meiner Sicht: 1. Keine strukturellen Veränderungen ohne Mitwirkung und Mitbeteiligung der Kirchengemeinden und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 2. Keine Generalvollmacht irgendeinem, weder dem Landeskirchenamt, aber auch nicht den Kirchengemeinden. Ohne kollegiale Absprachen kein gedeihliches Miteinander in der Kirche.3. Die hochakuelle Frage der Balance von Zentralisierung und Dezentralisierung in unserer Landeskirche muß vor allem unter dem Gesichtspunkt der Selbstverantwortung der Kirchengemeinden in Bau, Finanz und Gottesdienstfragen in den Pfarrkonferenzen und Propsteisynoden endlich besprochen und entschieden werden.

4. Problemfeld: Unterhaltung von Kirchbauten
Ein viertes Problem, das uns in der Landeskirche zur Zeit beschäftigt, ist die Unterhaltung der Kirchen. Heute wird im Finanzausschuß der Landessynode ein Antrag von Propst Schlimme, als Vorsitzendem des Bauausschusses, besprochen, eine Liste der unbedingt erhaltungswürdigen Gebäude in der Landeskirche zu erstellen. Welche Kirchengebäude sind im Stadtgebiet von Lebenstedt entbehrlich, weil für die sonntäglichen Gottesdienstgemeinden von 30 80 Personen die Kirchen viel zu groß sind, Matthäus und Paulus zu dicht beieinander liegen, das Gestühl zu starr und nicht anderes angeordnet werden kann und die Betonsanierung unbezahlbar wird? Diese Fragestellung hat ihre Geschichte. Die wichtigste Aufgabe 1945 war neben der diakonischen Arbeit die Beschaffung von gottesdienstlichem Raum, denn die Lebenstedter Dorfkirche platzte aus allen Nähten. Lebenstedt hatte 18.000 Evangelische. Es lag nahe, ein oder zwei Baracken für die kirchliche Arbeit zu mieten oder zu errichten, aber die SPDMehrheit im Rat der Stadt lehnte eine Baugenehmigung wiederholt ab, weil „das Objekt“ nicht „ dringlich“ sei. Das ist tatsächlich „skandalös“, wie Gennrich in der Chronik schreibt, allerdings hatte die SPD die evangelische Kirche auch als Mitläuferin des Nationalsozialismus erlebt, ihrerseits allerdings die alten kämpferischen Grabenpositionen gegenüber den Kirchen noch nicht verlassen. Nachdem die SPD die Kommunalwahl 1948 verloren hatte, besserte sich das Verhältnis zum Rathaus, und es wurden zwei Bauplätze, einer im Abschnitt II und ein anderer im Abschnitt V zur Verfügung gestellt. 1950 wurde endlich ein Kirchsaal mit 440 Plätzen und mit einer kleinen Glocke auf dem Dach im Abschnitt V gebaut, und 1953 wurde ein weiterer Gemeindesaal mit Pfarrhaus im Abschnitt II, im Bereich der späteren Johannisgemeinde, errichtet. Damit hätte eine Vorentscheidung für eine Perspektive getroffen sein können, die Willy Buchholz, der Nachfolger des plötzlich 1953 verstorbenen Propstes Gennrich, favorisierte: den Bau mehrerer, kleiner Kirchen über das Stadtgebiet, vielleicht im Stil der von Architekt Bartning vorgelegten Entwürfe., etwa in der Größe des Kirchsaales von Martin Luther. Das traf sich gut mit der Absicht amerikanischer Christen, Geld für den Bau einer Holzkirche zu stiften. Im Landeskirchenamt jedoch hatte man andere Pläne. Bei einer Besprechung im Dezember 1953 wurde von Landeskirchenbaurat Berndt das Projekt einer großen, repräsentativen Martin Lutherkirche für die ganze Stadt im Abschnitt IV vorgetragen und auch ausgeführt. Im Mai 1956 wurde die Lutherkirche mit unübersehbar hohem Kirchenturm und zunächst drei Glocken, 800 1300 Sitzplätzen, einem Hochaltar und einer eindrucksvollen Glaswand im Osten eingeweiht. Die Johanniskirche wurde nicht als Holzkirche sondern aus steinernen Fertigteilen mit 400 Sitzplätzen und drei Glocken hochgezogen und vier Monate später im September 1956 eingeweiht. Von dem gottesdienstlichen Bedürfnis her wäre es durchaus möglich gewesen, den Martin Luther Kirchengemeindesaal, der heute als Winterkirche dient, um 200 Plätze noch zu erweitern und im Quadrat andere Gebäude für die Jugend und Erwachsenenarbeit und diakonische Tätigkeiten zu errichten. Da inzwischen zwei Pfarrer, Hempel und Schaper an der Gemeinde amtierten, hätten wie später am Fredenberg sonntäglich zwei Gottesdienste gehalten werden können, wenn der Raum nicht ausreichte. Aber im Landeskirchenamt wollte man meist ohne die nötigen Gespräche in den Kirchenvorständen auffällige, repräsentative Betonkirchen. Die Größe der Martin Lutherkirche hatte allerdings einen bedauerlichen Geburtsfehler: im Abschnitt I war in ns. Zeit ein interessanter, in sich geschlossener Bautyp von mehreren, miteinander durch Höfe verbundenen, eingeschossigen Reihenhäusern in Anlehnung an die Gartenbaubewegung der 20iger entstanden, die dann auch in den anderen Abschnitten variiert auftauchen. Dietrich Worbs hat unter der Überschrift „SalzgitterLebenstedt: Gartenstadt oder NSSiedlung?“ dazu eine aufschlußreiche, städtebauliche Analyse im Salzgitter Jahrbuch 1991/92 veröffentlicht. Ein Blick auf diesen Bautyp hätte einen bescheideneren, kommunikativeren Kirchbaustil nahegelegt, aber eben dies wollte Berndt bewußt nicht. Er griff auf das Muster der mittelalterlichen Kathedrale zurück, und triumphierend schrieb dazu die Presse „Neue Kirche aus Stahl, Glas und Beton..das erste größere Gotteshaus seit 1918.“ Und so beginnt der Artikel: „An Kirchen dachte niemand bei dem befohlenen Aufbau Salzgitters.“ Der Artikel enthält mehrere Irrtümer. Seit 1918 hatte es mehrere Kirchbauten in der Braunschweiger Landeskirche gegeben, z.B. im dritten Reich allein fünf, darunter die ausgesprochen große Kirche St. Georg im Braunschweiger Siegfriedviertel. Daß in Salzgitter keine Kirchen gebaut werden sollten, ist inzwischen an Hand von Plänen längst widerlegt. Außerdem hatte das Dorf Lebenstedt seine mehr als 200 Plätze umfassende Andreaskirche, und da waren noch die vielen erreichbaren schönen Dorfkirchen in Bruchmachtersen und Reppner und anderswo. Der fürchterlichste Irrtum, geradezu eine theologische Albernheit, jedoch ist der Satz, daß eine Stadt ohne Kirchen zugleich eine Stadt ohne Gott sei, so auch noch Pfr. Neumann in „Kirchbauten in Salzgitter“ 1986. Dieser Irrtum gehört jedoch zu den unüberwindbaren Gründungslegenden dieser Stadt. Entgegen dieser Legende haben die ersten Gottesdienste in dieser Stadt denn auch in Baracken, Hinterzimmern und Gasthäusern stattgefunden. Nun aber galt der Kirchbau als verspäteter Triumph gegenüber den angeblich atheistischen Nazis. Der Aufbau der Bundesrepublik im Westen unter der politischen Führung der CDU wurde als ReChristianisierung verstanden. Also wurden bei der Bundesregierung Millionenbeträge auch für die Errichtung von Kirchen locker gemacht. So wurde die Martin Luther Kirche in Lebenstedt zur zeitgemäßen Kathedrale der Rechristianisierung. 1956 war der Kirchbau in Lebenstedt zugleich ein Signal gegenüber dem Atheismus in der Ostzone. Lebenstedt lag aus der Bonner Perspektive am Zonenrand. Da galt es nun Flagge zu zeigen. Der christliche Westen gegen den atheistischen Osten.

Aber ein weiterer Triumph der Landeskirche kam hinzu: nämlich gegenüber den Katholiken. Die hatten seit drei Jahren, seit 1953, also im Jahr der Planung für die Martin Lutherkirche, bereits ein stattliches Kirchengebäude errichtet, die Michaeliskirche an der Kattowitzerstraße. Und im Jahr der Einweihung 1956 planten sie bereits ein weiteres großes Kirchengebäude. Zwischen beiden Kirchen herrschte nämlich in den 50iger Jahren, also vor der Reformsynode Johannes XIII, ein erhebliches Konkurrenzverhältnis. Propst Buchholz notiert im Jahr 1954: „Die katholische Kirche beginnt mit dem Bau von Klöstern ( „Gottesburgen“ ) entlang der Zonengrenze eine Gegenreformation in Norddeutschland“; es wird beklagt, daß katholische Missionare gezielt Hausbesuche bei konfessionsverschiedenen Ehepaaren machen mit der Absicht, den evangelischen Teil zum Übertritt zu bewegen. Pater Leppich hält in Lebenstedt Bekehrungswochen. In dieser Atmosphäre wird der Bau einer evangelischen Kathedrale als das endlich notwendige konfessionelle Gegengewicht verstanden. Der ökumenische Frühling durch das II. Vatikanische Konzil hat dann auch in Lebenstedt ein nachbarschaftliches Verhältnis zur katholischen Kirche aufblühen lassen. Propst Harborth berichtet vor der Propsteisynode im Januar 1972 vom ökumenischen Arbeitskreis der gemeinsame Gottesdienste, Gesprächsabende und Bibelwochen vorbereitet, die in Paulus und Michael, im Haus der Familie und Matthäus durchgeführt werden. Vorausgegangen waren meist persönliche nachbarschaftliche Kontakte. Es wäre heutzutage zu prüfen, ob dieses geschwisterliche Verhältnis auch ein kontroverstheologisches Gespräch z.B. über die Rechtfertigungslehre verträgt. Hier haben sich nämlich beide Kirchen auf eine Kompromißformel geeinigt, die im März der Landessynode zur Abstimmung vorgelegt werden wird.

Zurück zum Kirchbau: anders als in den umliegenden Dörfern wuchs die Zahl der Gemeindeglieder in Lebenstedt enorm: von 15.000 im Jahre 1951 auf 25.000 1961 und 32.000 1974. Es mußte weitergebaut werden., aber wie? Im Stil der MartinLutherkirche wurde weitergebaut: 1964 die Pauluskirche als Zeltkirche mit 500 Sitzplätzen, die für den Westen völlig genügt hätte; 1968 ganz unverständlicherweise in räumlicher Nähe zur Pauluskirche die Matthäuskirche mit 350 Sitzplätzen, raummäßig jedoch für 700 Sitzplätze. In Gebhardshagen war im ähnlichen Betonstil die Heilig Kreuz Kirche 1960 gebaut worden und 1971 die Martin Lutherkirche in Sz. Bad. Daß Kirchbau auch bescheidener möglich war, zeigte die 1954 wiederaufgebaute Kirche in Heerte und die 1958 eingeweihte Gnadenkirche in Sz. Bad, bezeichnenderweise nicht nach Entwürfen des Landeskirchenamtes sondern nach den Vorstellungen aus der Gemeinde heraus. In der Lukas, Markus und Friedenskirchengemeinde hat man die Fehler von 1956 nicht mehr wiederholt.
Es wurden aber nicht nur neue Kirchen gebaut, sondern die Dorfkirchen bei der fälligen Renovierung etwa in Üfingen, Thiede und Sauingen, aber auch in Andreas, Lebenstedt, umgestaltet, indem die hölzernen Kanzelaltäre und Altarwände entfernt und an ihre Stelle Steinaltäre und weite Altarräume geschaffen wurden, die die heute so begehrte Wärme und Intimität des Kirchenraumes vermissen ließen.
Die Phase des Kirchbaus ist abgeschlossen. Die Phase der Betonsanierung hat bereits begonnen, da diese aber auf die Dauer unbezahlbar wird, stellt sich auch für die Propstei Lebenstedt zu Beginn des Jahres 1998 die Frage, welche Kirchen erhalten bleiben müssen.

5. Problemfeld: Kirche und Öffentlichkeit
Ein letztes Problemfeld will ich ansprechen: das Verhältnis „Kirche und Öffentlichkeit“. Es hätte ja einen prophetischen Aufschrei der Kirchen gegen die unerhörte Ausgabe von 40 Milliarden DM für den Bau des Eurofighters geben müssen bei so viel Arbeitslosigkeit und so wenig Geld für Bildung und Forschung. Diese öffentliche Verschwendung hat was mit unserem Glauben zu tun, aber die Kirchenleitungen schweigen sich aus. Und in diesem Jahr fällt die Entscheidung mit Schacht Konrad und der Atommüllendlagerung und der Klage der Landeskirche. Das kann die Landeskirche nicht allein. Dazu braucht sie eine lebendige, aktive Basis im Rücken. Gibt es für öffentlichen Protest eine Tradition in Lebenstedt?

Ich will drei Beispiele erzählen: Die englische Regierung wünschte verständlicherweise den vollständigen Abbau der Rüstungsindustrie in Deutschland und also die Demontage der früheren Hermann Göring Werke. Es war für sie ein Programm der praktischen Niederwerfung des Nazismus. Das wurde in Lebenstedt ganz anders gesehen, nämlich als eine sinnlose Vernichtung von Arbeitsplätzen. In Lebenstedt war damals und ist m.E. auch bis heute nicht überall verstanden worden, daß die Arbeitsplätze in den Reichswerken für die Stabilisierung und Verlängerung des 2. Weltkrieges gesorgt haben, also: daß es schädliche, menschenverachtende Arbeitsplätze waren, die durch nichts zu rechtfertigen waren und die keinesfalls wiedererrichtet werden durften. Am 18. August 1949 kommt es zu der legendären außerordentlichen Ratssitzung in der Feierabendhalle des Lagers 9 in Watenstedt, bei der zahlreiche Vertreter aus Politik und Gesellschaft Protesterklärungen gegen die Demontage verlesen und auch beide Kirchen zu Wort kommen. Für die Landeskirche spricht der schwer belastete OLKR Dr. Breust, der sich bei seiner Rede nicht auf die Situation der hohen Arbeitslosigkeit vor Ort einstellen kann, sondern die Opfer und Widerstandsrolle der ev. Kirche im Dritten Reich betont. Der Hildesheimer Bischof Machens vergleicht die Vertreibung aus den Ostgebieten mit Maßnahmen Hitlers: „Wenn Adolf Hitler gegen die Menschlichkeit gesündigt hat, dann hat noch lange kein anderer das Recht, ihm auf diesem Wege zu folgen und damit das Verbrechen geradezu ins Unermeßliche zu steigern.“ Das ist die Ökumene der Verharmlosung und Relativierung der ns. Verbrechen, die natürlich in Lebenstedt von der Presse mit Jubel aufgenommen wurde. An den Wänden tauchen Parolen auf wie „Demontage ist Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Tatsächlich war das Gegenteil richtig: die Montage der Reichswerke war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Breust hätte gegen den Strom der öffentlichen Meinung die Produktivität einer Friedensindustrie beschreiben sollen, wie es Landesbischof Erdmann in einem offenen Brief in der BZ vom 7. September andeutete: „Wenn die Demontage nicht abgewendet werden kann, sollte mindestens die Freiheit gegeben werden, in den Hallen der Reichwerke jetzt schon die Möglichkeit zu schaffen, eine Friedensindustrie zu beginnen.“ Das wirklich zum Umdenken und zur Umkehr rufende Wort des Evangeliums ist die Landeskirche 1949 der Öffentlichkeit in Lebenstedt schuldig geblieben.
Das Gespräch mit der Arbeitnehmerschaft und mit den gesellschaftlichen Gruppen suchten insbesondere das ev. Arbeiterwerk, dessen erster Kreisvorsitzender in Lebenstedt 1962 der Sozialsekretär Heinz Brendemühl war, und das Männerwerk, das Helmut Wielgoß, seit 1958 Pfarrer an der Martin Luthergemeinde, aktivierte. Das Arbeiterwerk hatte in Lebenstedt 1962 etwa 2030 eingeschriebene Mitglieder. 1965 wurde dann unter Beteiligung von Brendemühl, Fritz Seifert und Friedhelm Abratis im Heimberghaus Wolfshagen der Landesverband der Ev. Arbeitnehmerschaft gegründet und zwar als „Dienstgemeinschaft in Gesellschaft und Kirche“ wie es in den Leitsätzen hieß.
Diese Dienstgemeinschaft bewährte sich in Lebenstedt, als im Oktober 1965 die berühmte Denkschrift der EKD über das Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarn erschien, kurz die Vertriebenen oder Ostdenkschrift genannt, in der den Flüchtlingen nahegelegt wurde, sich mit den seit 1945 geschaffenen politischen Verhältnissen abzufinden. Die Vertreibung sei ein Gericht Gottes, unter das sich alle zu beugen hätten. Es dürfe keine neue Vertreibung der inzwischen herangewachsenen jungen polnischen Generation aus den früheren ostdeutschen Provinzen geben. Besonders in den von Flüchtlingen bestimmten Propsteien der Landeskirche in Helmstedt, Vorsfelde und Königslutter, aber eben auch in Salzgitter Bad und Lebenstedt erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Im Salzgitter Kurier erklären die Königsberger enttäuscht, sie wollten sich durch die Anerkennung der Denkschrift vor Gott und der Geschichte nicht erneut schuldig machen, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Schlesier und Landtagsmitglied Helmut Kostorz beobachtet, daß „ein Teil der Fürsprecher und Jasager dieser Denkschrift die geistige Heimat in Parteien haben, die der KPD bedenklich nahe“ kämen, die Danziger „ließen sich das Heimtrecht nicht nehmen“. In einer Protesterklärung im Namen von 4000 Vertriebenen wird darauf hingewiesen, daß gerade die Flüchtlinge zu den fleißigsten Kirchgängern gehörten, und es weltfremd sei, gerade ihnen durch die „Verzichterklärung“ seelischen und moralischen Schaden zuzufügen. In einem Brief an den Verfasser der Denkschrift, Prof. Konrad Raier, schreibt der BdV Kreisvorsitzende von Lebenstedt, Pfarrer Glow, man bitte „in der Hoffnung der Gnade hellwach zu bleiben bis die Gunst der politischen Stunde allem Volk Gerechtigkeit widerfahren“ lasse, eine nur schlecht verdeckte Hintertür zur Rückkehr der nächsten Generation nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Im ev. Männerwerk von Martin Luther kommt es im November 1965 unter Leitung von Pfr. Wielgoß, der selber aus Könmigsberg stammt, zu einer harten Diskussion über das Für und Wider der Denkschrift. Die Kirche stellt sich als Gesprächforum zur Verfügung. Propst Harborth veranstaltet eine Aussprache mit jeweils sechs Vertretern von Befürwortern und Gegnern. Man einigt sich: die Kirche dürfe zu politischen Fragen Stellung nehmen, die Denkschrift sei ein Wort der Versöhnung und über die anderen Dinge wolle man nach Weihnachten im Januar weitersprechen. Bei einer Tagung des Männerwerkes und des Amtes für Volksmission im Harz im Waldkater trägt Ratsherr Hein aus Salzgitter erneut seine kritischen Einwände vor, Oberregierungsrat Beske vom Vertriebenenministerium in Bonn hingegen begrüßt die Denkschrift. Anstelle einer Politik der Ansprüche müsse eine Politik des Brückenbauens treten. Tatsächlich hatte die Denkschrift den Weg zu einer neuen Ostpolitik geöffnet, die zu den Verhältnisse von 1989/90 geführt hat.

Die größte öffentliche Wirkung über den Kreis der Kirchengemeindearbeit, auch über die Lebenstedter Propstei hinaus, in die Öffentlichkeit aber haben die von Propst Harborth ab 1963 durchgeführten Ev. Hochschulwochen, ab 1971 dann „Ev. Forum“ genannt. Vor einer großen Schar bis zu 400 Zuhörern werden in der Aula des Gymnasiums, später der Realschule, in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen, der Universität Mainz oder Marburg auf anspruchsvollem Niveau die aktuellen Themen der Theologie vorgetragen. Es kommen bedeutende, evangelische Hochschullehrer nach Lebenstedt und reden über „Weltbild und Schöpfung“ und „Gemeinde in der industriellen Gesellschaft“. „Fremde Bibel als verständliches Wort“ ist das Motto der dritten Hochschulwoche, und es wird den Zuhörern nichts geschenkt. Prof. Braun aus Mainz beschließt seinen Vortrag mit den immer wieder aktuellen Sätzen: „Einen Gott im Jenseits, einen Gott für sich, einen Gott als Person gibt es nicht mehr. Von Gott kann man nur reden, indem man vom Menschen redet.“ Bei der Lebenstedter Presse finden die Hochschulwochen ein glänzendes Echo: „Bestechende Form didaktisch glänzend“ urteilen sie, und Pfarrer Oelker, der an der Vorbereitung der Hochschulwochen mit beteiligt ist, stellt schon bald zufrieden fest: „Der Glaube ist ins Gespräch gekommen“. Es gibt auch Ablehnung. Pfarrer August Fricke aus Gebhardhagen nimmt Anstoß daran, daß Prof. Weber nicht lutherisch, sondern reformiert ist. „Da mach ich nicht mit“, teilt er seinem Propst bündig mit. Das enorme Echo auf die Hochschulwochen zeigt die geistig interessierte, nach Austausch und niveauvoller Kost hungrige Lage der 60iger Jahre. Die ev. Hochschulwochen haben die Amtszeit von Willy Harborth, die 1974 zu Ende ging, nachhaltig geprägt.

Fünf brenzlige Punkte könnten uns in der Landeskirche in diesem Jahr 1998 beschäftigen: die der Sozialstationen und die diakonische Kompetenz der Gemeinde, etwa in Form von Schwesternstationen, die geistliche Kompetenz der Gemeinde und die Förderung der verantwortlichen Gottesdienstleitung durch Lektoren, 3.: welche Verantwortlichkeiten in BauFinanz und Gottesdienstfragen sollten in die Gemeinden delegiert werden? 4. wie ordnen wir den Kirchbau wieder dem Gemeindeaufbau unter und: wie wird die Kirche in der Öffentlichkeit wieder profiliert und kritisch vernehmbar? Ob ein Blick in die Geschichte Antworten für die Zukunft sichtbar macht, das könnten wir doch mal prüfen.




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