Dieser Bericht dient der ersten Orientierung durch das Dickicht der Braunschweiger Kirchengeschichte, insbesondere für Schülerinnen und Schüler, Vikarinnen und Vikare, Studierende der Religionspädagogik und der Landesgeschichte, für alle historisch interessierten kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Von dieser schmalen Schneise aus mögen sich die Leser durch spezielle Lektüre auf die weitverzweigten Pfade der Regionalgeschichte wagen. Sie werden sehr rasch auf Prägungen im Bild der gegenwärtigen Kirche stoßen. Den Spuren des Mittelalters nachzugehen, ist in Mode gekommen (die Straße der Romanik, die Ausstellung über die Ottonen und über Bischof Bernward in Hildesheim, über Heinrich d. Löwe im Landesmuseum). Das Bild der Kirche in unseren Dörfern und Städten ist noch häufig von den Kirchbauten des Mittelalters geprägt. Zahlreiche Klöster des Landes Braunschweig werden zur Zeit wieder restauriert. Das legt die Frage nach den Anfängen des Christentums in unserer Gegend nahe, danach, wie und wann die Sachsen eigentlich christlich geworden sind. Die Reformation begann in der Stadt Braunschweig früh (1528) und im Land Braunschweig sehr spät (1568). Leiden wir an den Spätfolgen dieses unterschiedlichen Beginns in unserer Kirche? Die Reformation vollzog sich teilweise sehr grausam. Hatte sie den Charakter einer Kulturrevolution? Nach der Epoche der Reformation und der Orthodoxie wird üblicherweise die des Pietismus abgehandelt. Man sagt, der Pietismus habe in Braunschweig keine Rolle gespielt, an seine Stelle sei der Calixtinismus getreten. Aber warum hat es dann ein drastisches Antipietismusedikt gegeben? Man kann darüber streiten, ob Mittelalter und Reformation nicht gemeinsam in eine größere Epoche gehören, die durch die andere der Aufklärung, der französischen Revolution und Demokratisierung der Gesellschaft abgelöst wurde.
Die Einteilung in Epochen verführt dazu, schematisch in abgeschlossenen Perioden zu denken. Tatsächlich aber überlappen sich die verschiedenen theologiegeschichtlichen Strömungen bis in die Gegenwart. Wir finden heute in der Braunschweiger Landeskirche gleichzeitig orthodoxe, pietistische, aufklärerische, vordemokratische und demokratische Strömungen.
Dieser Überblick ist in fünf Teile gegliedert:
In der Braunschweiger Landeskirche wird ein reiches kirchliches Erbe sichtbar, das noch aus dem Mittelalter stammt. Mittelalterliche Kirchen finden wir in unserer Landeskirche heute noch an früheren, fränkischen Heerstraßen, den kaiserlichen Höfen, in Burgen, an Handelsstraßen und Märkten.
Der Anfang der christlichen Kirche im sächsischen Raum war nicht davon geprägt, die Sachsen friedlich vom Evangelium zu überzeugen. Bei ihrer schrittweisen, immer gewalttätigeren Unterwerfung, insbesondere durch Karl d. G. (772 - 804) diente die Christianisierung vor allem dem politischen Ziel der inneren Eingliederung des sächsischen Raumes in das christliche Frankenreich. Der Widerstand der Sachsen unter Widukind wurde durch die Massenhinrichtung in Verden an einem einzigen Tage im Jahre 782 noch verschärft. Nach der Unterwerfung und Taufe Widukinds erließ Karl d. Gr. eine Art Kirchenordnung, die sog. Capitulatio des partibus Saxonae, in der der germanische Glaube absolut verboten wurde, ebenso germanische Kulte, Opfer und rituelle Totenverbrennung. Wer sich der Taufe entzog, verfiel der Todesstrafe. Hans Walter Krumwiede nennt diese Kirchenordnung zutreffend ein "Besatzungsstatut". Denn die Voraussetzungen für eine solche Kirchenordnung waren nicht gegeben. Albert Hauck schreibt in seiner "Kirchengeschichte Deutschlands: "Das Heidentum galt als überwunden, aber hatte noch einen festen Halt im Glauben der Bewohner; das Land galt als christlich, aber es war es nicht; man war an der Arbeit, christliche Kirchen zu bauen, aber das Volk, für das sie bestimmt waren, stand dem christlichen Glauben fremd, zum Teile feindselig gegenüber: man haßte die Priester und setzte etwas darein, den Frieden der Kirche zu brechen und gegen kirchliche Sitten zu verstoßen; heidnische Opfer wurden insgeheim noch dargebracht; heidnische Sitten, wie das Verbrennen der Toten, standen noch ungebrochen in Übung." Alle Spuren sächsischer Religiösität wurden im Laufe der Jahrhunderte radikal beseitigt. Entlang der Heerstraße von Westen nach Osten entstanden fränkische militärische Stützpunkte und dabei Kirchengemeinden mit eigenen Kirchengebäuden. Derartige Holzkirchen in der Nähe von fränkischen Stützpunkten werden für die Andreaskirche in Langelsheim, die Martinikirche in Greene, die Kirche in Haarhausen, die Vituskirche in Seesen und für die Martinikapelle in Kissenbrück vermutet. Jede Gemeinde sollte nach der Kirchenordnung (capitulatio) mit einem Hof und mit zwei Hufen Land (1 Hufe = ca. 7-10 ha) ausgestattet werden und 120 Personen umfassen und einen Knecht und eine Magd für die Bewirtschaftung zur Verfügung stellen können. Ganz schwierig gestaltete sich die Einführung der allgemeinen Kirchensteuer in Form des Zehnten. Schon während der ersten Reichsversammlung auf sächsischem Boden in Paderborn (777) wurde das Gebiet in Missionssprengel parzelliert und zur Bearbeitung fränkischen Klöstern überwiesen. Von der Bonifatiusabtei in Fulda aus wurde vermutlich schon vor den Sachsenkriegen eine Missionszelle in Brunshausen (cella sancti Bonifatii) bei Gandersheim gegründet, aus der unter Mitwirkung des sächsische Adelsgeschlechts der Liudolfinger ein Kloster entstand. Die Anlagen des Klosters Brunshausen entsprechen einer fränkischen Befestigung. Im Raum Helmstedt wurde vom Benediktinerkloster Werden/Ruhr um 800 eine andere Missionszelle gegründet. Der spätere Bischof von Münster, Ludger, hatte Karl d. Gr. als Militärseelsorger auf einem Feldzug an die Elbe begleitet. Dies war der Anstoß zum Bau der kleinen, heute neben der Ludgerikirche in Helmstedt gelegenen Petrikapelle, die ursprünglich mit fünfeinhalb Meter Länge und zweidreiviertel Meter Breite nur für einen Mönch vorgesehen war. Das Abendmahl wurde in beiderlei Gestalt durch zwei Fenster nach außen gereicht. Besucher standen draußen und verfolgten durch eine größere Öffnung den Gottesdienst. Das später zur Doppelkapelle ausgebaute kleine Bauwerk ist ein seltenes Zeugnis der karolingischen Zeit in unserem Gebiet.
Die Missionierung erfolgte verstärkt von den vorgeschobenen Bischofssitzen aus, die 815 in Hildesheim und 827 in Halberstadt errichtet wurden. Das Bistum Paderborn und das Erzbistum Mainz grenzten im Südwesten an das sächsische Gebiet. Der Bischof von Halberstadt errichtete ringsum 35 Stefanikirchen. Je eine davon stand in Schöningen, Bahrdorf, Räbke, Watenstedt, Kissenbrück, Lucklum und Schöppenstedt. In der Turmhalle der Schöppenstedter Stephanikirche steht heute noch die prächtige romanische Mittelsäule der späteren, ehemaligen romanischen Kirche. Sie alle lagen an Wirtschafts- oder Heerstraßen. Einige von ihnen waren sächsische Gerichtssitze und Kultstätten gewesen. Mit der Missionierung war eine verstärkte Besiedlung des Landes verbunden. Ein Jahrhundert später entstand der im Braunschweiger Land verbreitete Typ einer drei gegliederten Dorfkirche (Chorraum, Schiff und breit gestellter Turm im Westen). Diese Dorfkirchen waren in romanischer Zeit errichtet und in gotischer Zeit oftmals erweitert worden. Der typische massive Turm dokumentierte Herrschaftsansprüche des Bischofs und war Zufluchtsstätte für das Umland. Solche romanischen Kirchen finden sich heute noch in Evessen, Kneitlingen, Warle, Gr. Vahlberg, Sickte, Sauingen, Barum u. a.
Bauherren solcher Kirchen waren aber nicht nur Bischöfe oder der sächsische Adel, sondern auch die Dorfgemeinden, die dann das Patronat über die Kirchen ausübten (z. B. in Kl. Vahlberg, Sickte). Zur Gründung einer selbständigen Kirchengemeinde gehörte die Ausstattung mit wenigstens 8 Morgen Land und die Übernahme der Baukosten. Außerdem mußte eine Entschädigung an die Mutterkirche gezahlt werden.
Das kirchliche Leben wurde dadurch befördert, daß der erste deutsche König, Heinrich I. (919 - 936), aus dem sächsischen Adelsgeschlecht der Liudolfinger stammte. Heinrich hatte von Werla bei Schladen aus 924 einen Ungarneinfall erfolgreich zurückgeschlagen und sich am oberen Okerufer eine Pfalz, die sich auf ein Gebiet von hundert Morgen erstreckte, mit einer Pfalzkirche errichtet. Hier versammelte sich auch der sächsische Adel zu Beratungen. Sein Nachfolger Otto I. (936 - 973) hatte Magdeburg zum Erzbistum (mit Merseburg als zugehörigem Bistum) erhoben. Magdeburg entwickelte sich später zu einer Großstadt mit einer doppelt so großen Bevölkerung wie Braunschweig. Damit hatte später Braunschweig einen mächtigen Nachbarn im Osten, mit dem es zu manchen Auseinandersetzungen kommen sollte. Kaiser Otto I. liegt im Magdeburger Dom begraben. Braunschweig ist davon geprägt, daß es inmitten der Bischofsstädte Hildesheim, Halberstadt und Magdeburg liegt, selber aber nie Bischofsstadt geworden ist.
Heinrich II. (1002 - 1024) verlegte die Kaiserpfalz nach Goslar (weitere Pfalzen in der näheren Umgebung gab es in Pöhlde und Derenburg). Die Pfalzen waren auch ein geistlicher Mittelpunkt durch Gründung von Kanoniker- oder Kanonissenstiften. Die Kaiser gründeten in Goslar das Kanonissenstift St. Georg (1024), die Säkularkanonikerpfalzstifte St. Simon (1047) und St. Petrus (1050). Kanoniker lebten in Wohngemeinschaft nicht nach einer Mönchsregel, sondern nach den Canones für Priester; sie waren also unverheiratet, verfügten aber über einen gewissen Besitz und versahen den Chordienst, Unterricht und die Verwaltung. Goslar war im 11. Jahrhundert zu einem Mittelpunkt kaiserlicher Politik geworden. Hier diskutierte die Synode 1019 im Beisein des Kaiserpaares unter Vorsitz des Hildesheimer Bischofs Bernward die mit der damals unumstrittenen Priesterehe verbundenen Fragen wie die ständische Einordnung der Kinder von Priestern und ihrer Mutter. Die Palastkapelle wurde doppelgeschossig ausgebaut und 1056 von Papst Victor II. geweiht.
Aber nicht nur die Kaiser sorgten für kirchlichen Glanz in den Pfalzen, auch der sächsische Adel stiftete für sein Seelenheil und förderte Bildung und Wirtschaft durch die Kanonissenstiftungen in Lamspringe (847/873), Ringelheim (940), Kemnade (959), Heiningen (1013) und Steterburg (1002). Solche Stiftungen hatten enorme Ausdehnungen: in Steterburg gehörten zum Kanonissenstift ein großer Festsaal, Frauenschlafsaal, Wirtschaftsgebäude, Klostergarten, ein Seuchenhaus, eine Seuchenkapelle, ein Seuchengarten.
Ein anderer Mittelpunkt kaiserlicher Prachtentfaltung jener Zeit war das bereits 877 zum Reichsstift erhobene, ursprünglich liudolfische, 852 gegründete Kanonissen-Hausstift von Gandersheim. Es diente der kaiserlichen Hofhaltung, als Familienbegräbnisstätte und zur Versorgung unverheirateter Prinzessinnen. Im Kanonissenstift herrschten keine strengen Ordensregeln und kein Gelübde. In Gandersheim hielten die Kaiser Heinrich I. und die Ottonen Hof. Roswitha (935 - 973) schrieb hier christliche Dramen und Gedichte. 1007 wurde die Stiftskirche in Anwesenheit von Kaiser Heinrich II. vom Mainzer Erzbischof Williges und dem Hildesheimer Bischof Bernward geweiht.
Ein dritter kaiserlicher Mittelpunkt entstand durch Kaiser Lothar III. in Königslutter. Lothar (1125 - 1137) legte den Grundstein für die Stiftskirche, die er als Familiengrabstätte bestimmte. Sein Enkel Heinrich d. Löwe vollendete den imponierenden Bau. Die Grabstätte des Kaiserpaares ist heute noch der Mittelpunkt der Stiftskirche.
Nach Goslar, Gandersheim und Königslutter waren Burg und Dom von Braunschweig der vierte bedeutende Anziehungspunkt staatlicher und kirchlicher Prachtentfaltung. Hier waren um 1030 das Petrus- und Paulusstift (später Blasiusstift) und am Okerufer um 1065 das Cyriakusstift (auf dem Gelände der heutigen Nord/LB) von dem sehr reichen Geschlecht der Brunonen gegründet worden, deren Stammsitz die Burg Dankwarderode war (Brunos Wik = Brunswik = Braunschweig). Das Cyriakusstift war eine umfangreiche Klosteranlage mit Kirche, Schule, Spital, Kornspeicher, Wirtschaftsgebäuden und nach einem Güterverzeichnis von 1219 mit einem Landbesitz von 6600 Morgen Land in 85 Orten ausgestattet. Unter Heinrich dem Löwen (1142 - 1195), dem Enkel Kaiser Lothars III., wurde Braunschweig zum Mittelpunkt des ausgedehnten Welfenbesitzes. Heinrich d. Löwe hatte im Zuge einer rücksichtslosen Territorialpolitik auch die Bistümer Schwerin, Ratzeburg und Lübeck gegründet. Im übrigen hatte Heinrich d. Löwe keine neuen Klöster oder Stiftungen ins Leben gerufen. "Überhaupt hat Heinrich die Kirchen und Klöster nicht in so großzügiger Weise gefördert und bedacht, wie dies die allerdings stark formelhaften Einleitungssätze seiner Urkunden bemerken." Heinrich d. Löwe erbaute sich auf dem Gelände des Blasiusstiftes in der Stadtmitte in Anlehnung an die kaiserliche Pfalz 1173 den Dom, ebenfalls als Grabeskirche. Der Dom vereinigt mit dem siebenarmigen Leuchter, dem Marienaltar, dem Evangeliar in auffälliger Weise die kirchliche Kunst des Mittelalters. Aber auch das Cyriakusstift verfügt über einen von den Welfen gestifteten Marienaltar aus Marmor, Bronze und Silber, ein von drei Löwen getragenes Standkreuz und zahlreiche Reliquien.
Die sächsischen Kaiser und der sächsische Adel sicherten sich ihre Macht durch Burgen. Die zahlreichen Burgen im Land, manchmal außer wenigen Ruinen heute nur noch in ihren idn erhalten (Asseburg, Hornburg, Harzburg, Blankenburg, Burg Greene u. a.), hatten eine Burgkapelle zum festen Bestandteil ihrer Architektur. Süpplingenburg z. B. ging auf eine Burggründung gegen die Slaven zurück. Lothar III. errichtete in der Burg eine Komturei des Tempelordens mit einer Ordenskirche. Die Süpplingburger Kirche bewahrt heute noch Spuren von dieser Tradition. 1213 ließ sich der Deutschritterorden in der Elmsburg bei Schöningen nieder, erwarb nach 1260 außerdem Lucklum als Sitz und baute die Pfarrkirche zur Ordenskirche aus. Noch heute schmückt das Ordenskreuz vielfach das Gestühl der Kirche.
Neben missionarischen und repräsentativen Motiven waren Handel und Wirtschaft ein wesentlicher Grund zur Kirchengründung. An Handelsstraßen oder Verkehrsknotenpunkten oder auf dem Wiek, einem Rastort und Umschlagsplatz für Kaufleute und Händler wurden Kirchen erbaut, so 983 die St. Georgskirche vor den Toren von Gandersheim an der Kreuzung zweier alter Handelsstraßen, die Dorfkirche von Altendorf beim Übergang über die Weser, am Okerübergang in Braunschweig die Nikolaikirche.
Die Zunahme der Bevölkerung von sechs auf acht Millionen in der Zeit 1050 - 1200 war die wichtigste Voraussetzung für die Bildung von Städten, die jedoch noch einen ländlichen Charakter behielten. Die in Bauern, Adel und Geistlichkeit gegliederte Gesellschaft aber veränderte sich grundlegend durch das Entstehen neuer Berufsgruppen, der Kaufleute und Handwerker. "Bürger" war nicht mehr der im Schutz einer Burg lebende Landmann, sondern der hinter einer schützenden Stadtmauer lebende Bewohner. Die Braunschweiger Altstadt erhielt durch Kaiser Lothar III. (gest. 1137) das Stadtrecht, der Hagen durch Heinrich d. Löwen, vor 1200 wurde die Neustadt gegründet. 1228 erhielt Helmstedt durch den Abt vom Kloster St. Ludgeri die Stadtrechte. Helmstedt war nach Braunschweig lange die bedeutendste unter den Braunschweiger Städten. Um 1200 verlieh der Eversteiner Graf Holzminden das Marktrecht, Gilderecht, Mauerrecht und die Bürgerfreiheit. Stadtoldendorf erhielt die Stadtrechte durch die Herren von Horenburg um 1281, Schöningen um 1312, Königslutter von Herzog Heinrich um 1416, Seesen um 1428. Elend und Armut auf dem Lande, der bessere Schutz, der vermehrte Absatz, der aufblühende Handel, vor allem aber die Aussicht, nach einem Jahr ein freier Bürger zu sein, wenn man nicht in die alte Herrschaft zurückgerufen wurde ("Stadtluft macht frei") ließ die Landbevölkerung in die Städte abwandern. Der Handel konzentrierte sich auf die Märkte. An den Märkten wurden Pfarr- bzw. Marktkirchen (ecclesia forensis) gebaut. Die Magnikirche (1013) und die Ulricikirche am Kohlmarkt (um 1036) in Braunschweig, die Stefanikirche in Helmstedt (1160), die Martinikirche (ab 1190), die Katharinenkirche (ab 1200) und die Andreaskirche (ab 1225) in Braunschweig, die St. Sebastiankirche in Königslutter (1250), die Vincenzkirche in Schöningen (1280) sind solche typischen Bürgerkirchen, die ihr Entstehen der städtischen Kultur verdanken. Neben dem Blankenburger Markt als Stapelplatz für Harzer Holz wurde um 1200 die Bartholomäuskirche errichtet. Die Braunschweiger Michaeliskirche (1157 geweiht) ist in Eigenarbeit der dortigen Bürgerschaft durch die Einnahmen aus der Badstube, der Marktstände und von Grundbesitz errichtet. Patron der Walpurgiskirche in Helmstedt war die Schustergilde.
Seit dem 13. Jahrhundert wuchs die kirchliche Bürokratie. Es wurde am Bischofssitz das Amt des Offizials geschaffen (in Halberstadt ab 1235, in Hildesheim ab 1292), der vor allem Rechtsfragen bearbeitete. Am Sitz der Gemeinden entstand das Amt des Erzpriesters, der den Vorsitz bei den Synoden und das Amt der Visitation ausübte. Der Erzpriester wurde von den Pfarrern des Sprengels (Bannes) gewählt. Der Erzpriester hatte keinen ständigen Sitz. Dieser wechselte je nach Ausgang der Wahl. Die Erzpriester waren die Kommissare der Archediakone.
In den Städten dagegen emanzipierte sich das Bürgertum von der Kirche. Das städtische Bürgertum und die Gilden erkämpften sich in teilweise blutigen Revolutionen, "Schichten" genannt, 1292-94/1374-80/1445/1488-91 immer mehr politische Mitwirkung beim Rat der Stadt. Es behauptete sich auch gegen kirchliche Bevormundung. Eine Auseinandersetzung zwischen dem Rat und dem Blasiusstift über das Besetzungsrecht der Ulricipfarre ist als Pfaffenkrieg bekannt geworden (1413 - 1420). Der Konflikt bezog sehr bald die Schulfrage ein. Dabei setzte der Rat der Stadt gegen den erbitterten Widerstand der Geistlichkeit die Errichtung eigener städtischer Schulen durch, weil die geistlichen Schulen den Anforderungen der Gilden und des Handwerkes nicht mehr genügten. Außerdem sollte das Bildungsangebot der Schreibschulen erweitert werden. Der Rat konnte in zahlreichen Verhandlungen mit dem Papst seine pädagogischen Ziele durchsetzen und zwei Lateinschulen an der Martinikirche und der Katharinenkirche errichten. Schon früh hatte sich die Stadt Braunschweig kirchliche Unabhängigkeit von den Bistümern Halberstadt und Hildesheim erworben, deren Diözesangrenze die Oker in der Stadtmitte bildete. Seit 1394 verfügte die Stadt über einen eigenen Offizial für die geistliche Gerichtsbarkeit.
Zum Spiegel von Aufstieg und Niedergang der Kirche, von kirchlicher Reformbedürftigkeit und Reformfähigkeit wurden die Klöster. Aus der Helmstedter Missionszelle war bald das Benediktinerkloster St. Ludgeri erwachsen, das für Jahrhunderte Grundherr über die Stadt Helmstedt und viele umliegende Dörfer wurde und sich mit 637 Hufen (= 27 000 Morgen) Land zu einem enormen Wirtschaftsfaktor entfaltet hatte. Undeutlich ist die Quellenlage bei den meist im 10. Jahrhundert errichteten Augustinerinnenklöstern in Schöningen, Königslutter und Derneburg. Sie seien wegen "sittlichen Verfalls" aufgelöst und in andere Klöster verwandelt worden: in Schöningen entstand das Augustinerchorherrenstift St. Lorenz, in Königslutter ein Benediktinerkloster. Ein Beispiel für die Stiftungsfreude des sächsischen Adels war das Benediktinerkloster St. Ägidien in Braunschweig, das die Stifterin Markgräfin Gertrud II., die letzte Brunonin und Urgroßmutter Heinrich des Löwen 1115 mit 48 Hufen Land in Gr. Vahlberg und Beierstedt ausgestattet hatte. Die Tochter von Gertrud II., Richenza, wurde die Frau von Kaiser Lothar III. von Süpplingenburg.
Die auf Askese und Gehorsam zielende cluniazensische Reformbewegung - Cluny wurde 910 gegründet und war die Antwort auf die Verwilderung der kirchlichen Kultur in der nachkarolingischen Zeit - faßte in Sachsen nur wenig Fuß. Aber die Reformbewegung der Zisterzienser (Bernhard von Clairveaux 1091 - 1153), den Idealen von Armut und Gehorsam verpflichtet, breitete sich im 12. Jahrhundert im ganzen Reich und auch im Sächsischen rasch aus. Bedeutsame Zisterzienserklöster entstanden als erste Tochtergründung des ältesten deutschen Zisterzienserklosters Kampen am Niederrhein in Walkenried (1127) zusammen mit der Edlin Adelheid, in Amelungsborn (1112), gestiftet von Graf Siegfried IV. von Boyneburg, und in Michaelstein (1146). Von Amelungsborn ausgehend wurde ein Zisterzienserkloster in Marienthal (1138) von Pfalzgraf Friedrich von Sommerschenburg und in Riddagshausen (1145) von Ludolf von Wenden gestiftet. Die Grafen von Wöltingerode stifteten vor 1188 an ihrem Stammsitz ein Zisterzienserinnenkloster, ein weiteres entstand um 1199 in Blankenburg. Da sich die Zisterzienser besonders der Kultivierung der Landschaft widmeten, wurden sie zu Mittelpunkten eines sich ausdehnenden wirtschaftlichen Reichtums. Das Kloster Marienthal verfügte um 1250 über 700 Hufen (= 28 000 Morgen) Land, das auf elf Wirtschaftshöfen verwaltet wurde. Es war Grundherr von zahlreichen Dörfern in der weiteren Umgebung und kaufte zur Verbesserung des Absatzes Häuser und Höfe in Braunschweig, Magdeburg und Helmstedt.
Eine weitere Reformwelle lösten Franz v. Assisi (1182 - 1226) und der nach ihm benannte Franziskanerorden aus. Die Sehnsucht, weg von einer reichen, machtbewußten Kirche zu einer armen, solidarischen Kirche, war in der Bevölkerung groß. Die franziskanische Bewegung hinterließ früh auch in Niedersachsen Spuren. Bereits 1223 ließen sich die Franziskaner in Braunschweig, wie auch in Hildesheim und Halberstadt, nieder. Obwohl durch die furchtbare Pest in Braunschweig die gesamte Bruderschaft bis auf einen Mönch ausgelöscht wurde, kam es in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu dem großartigen Kirchbau der heutigen Brüdernkirche. Bettelnde Franziskanermönche tauchten auch in den Stadtbildern von Goslar, Helmstedt und Schöningen auf. Der um die gleiche Zeit gegründete Dominikanerorden (Dominikus 1170-1221), der sich die Predigt als Hauptaufgabe gesetzt hatte, errichtete 1307 in der Stadt Braunschweig ein Dominikanerkloster am Bohlweg. Beide Orden waren Bettelorden und hatten den Wandel von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft und das Aufblühen der städtischen Kultur zur Voraussetzung.
Neben Verwaltung und Seelsorge sah die Kirche in der Armen- und Krankenpflege eine neue Aufgabe. In Braunschweig entstanden das Aussätzigenhospital St. Leonhard an der Heerstraße nach Helmstedt bereits um 1200, das Marienhospital 1245 (heute das Gr. Waisenhaus), das St. Thomashospital vor dem Petritor 1331 und nach der großen Pest 1351-58 das St. Jodocushospital vor dem Wendentor. Vor den Toren der Städte entstanden Hospitäler und neben ihnen Cluskapellen z. B. in Schöningen, Königslutter und Gandersheim, in Helmstedt die Georgskapelle neben dem Jürgenhospital, später das Annenhospital als Siechenhaus für Aussätzige mit Kapelle, in Blankenburg der Georgenhof als Hospital und Armenhaus. Für sog. "gefallene Frauen" wurde 1234 ein Maria Magdalenakloster in Goslar auf dem Frankenberg gegründet. Der Krankenpflege widmeten sich insbesondere die Pflegebruderschaft der Alexianer in Braunschweig (1437), Goslar (1482) und auch in Helmstedt. Goslar verfügte über 5 Hospitäler.
Ein sichtbares Zeichen für den Umbruchcharakter jener Zeit war der aufwendige Umbau der romanischen Kirchen zu gotischen Hallenkirchen in der Stadt Braunschweig und auf dem Lande. Ägidien und Brüdern und die Paulinerkirche wurden im 14. und 15. Jahrhundert umgestaltet. Welche Reformideen verbanden sich mit diesem dramatischen Eingriff in die ursprüngliche Bausubstanz?
Die Lage der Kirche hatte sich stark verändert: die Blütezeit der Zisterzienserklöster war längst vorbei. Sie waren an ihrer eigenen Größe wirtschaftlich zugrunde gegangen und hatten viel Grundbesitz wieder abstoßen müssen. Die Stadträte in Braunschweig und Helmstedt widersetzten sich auch aus finanziellen Gründen energisch neuen Klostergründungen. Die Anzahl der Mönche nahm rapide ab, stattdessen wuchs die religiöse Laienbewegung als Protest gegen den herrschenden Klerus. Das Schisma des Papsttums spaltete auch die Bischöfe in Sachsen. Die Reformkonzile von Pisa (1409), Konstanz (1414 - 1418) und Basel (1431 - 1440) sollten noch einmal Anstoß zur Erneuerung der Kirche geben. Reformimpulse gingen auch bis nach Sachsen. Der Mönch Johann Dederoth (gest. 1439 an der Pest) hatte am Reformkonzil in Pisa teilgenommen und im Reformkloster der Benediktiner in Santa Justina bei Padua die Rückkehr zu gottesdienstlicher Strenge und zum gemeinsamen Leben kennengelernt. Dederoth wurde zum Abt des heruntergewirschafteten Klosters Clus bei Gandersheim gewählt. Dort lebten die Mönche bereits außerhalb des Klosters in eigenen Häusern und verfügten frei über ihre als Pfarrer erworbenen Einkünfte. Durch die Reform erlebte das Kloster einen bedeutsamen Aufschwung durch den Ausbau der Gemeinde, vermehrte Eintritte und durch zahlreiche sakrale Stiftungen wie z. B. den heute noch erhaltenen Schnitzaltar und eine kostbare handgeschriebene Bibliothek (heute in der Herzog-August Bibliothek Wolfenbüttel). Dederoth machte das Benediktinerkloster Bursfelde zum Ausgangspunkt einer neuen Bruderschaft im Sinne der Reformen. Nach seinem Tode führte sein Nachfolger Johann Hagen die Reformen weiter durch. Unter ihm vereinigten sich die zur Reform entschlossenen Benediktinerklöster zur Bursfelder Kongregation, die sich bis ins rheinische und norddeutsche Gebiet ausbreitete. Ihr gehörten u.a. die Klöster in Helmstedt, Königslutter, Ringelheim, Lamspringe und Kemnade an.
Kardinal Nikolaus von Kues (1401 - 1461) - ein Anhänger der Konzilsidee und bedeutsamer Verfechter eines deutschen Humanismus mit erstaunlicher Nähe zum Rechtfertigungsverständnis Martin Luthers und Verfasser der Schrift "Reformatio generalis" - bereiste ab 1450 im Auftrag des Papstes die Kirchen des Reiches, um aus Anlaß des Jubiläumsablasses die Kirchen zu reformieren. Er besuchte dabei auch die Klöster und Gemeinden in Sachsen. An die Kirchentüren wurden in deutscher Sprache das Vaterunser, Ave Maria, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote geschlagen. Nikolaus von Kues besuchte auch Helmstedt, Wolfenbüttel und Braunschweig und bemühte sich um eine Besserung im Ägidienkloster und im Kloster Königslutter. Er traf auf den Mönch Johann Busch (1399 - ca. 1479), der später das Buch "liber de reformatione monasteriorium" verfaßt hat. Johann Busch gehörte der Windesheimer Kongregation, einer aus den Niederlanden stammenden Reformbewegung an, die vom Basler Reformkonzil mit der Reform der Augustinerklöster beauftragt worden war. Nikolaus von Kues bestellte Busch zum päpstlichen Generalvisitator der Augustinerklöster in Sachsen und Thüringen. Busch besuchte die Pfarreien und Klöster in den Bistümern Hildesheim, Halberstadt und Magdeburg. In Heiningen war er 1457 - 76 nominell Propst und setzte dort die Reformen durch. Das Augustiner - Chorfrauenstift in Dorstadt aber widersetzte sich den Reformabsichten von Johann Busch energisch. Erst 1479 gelang dem Prior die Einführung von Reformen, die das Kloster zu neuer Blüte führten. In Derneburg ließ Busch 1442 die Augustinerinnen durch Zisterzienser-Nonnen ablösen. Das Kloster Steterburg wurde 1452 auf Ersuchen des Herzogs Heinrich d. Ä von Busch reformiert. Er brachte in das Kloster Marienberg, Helmstedt, reformwillige niederländische Nonnen. Heinrich d. Ä. gründete auch ein neues Franziskanerkloster in Gandersheim.
Aber statt einer grundlegenden Reform geriet die Kirche immer mehr in eine übermäßige Betriebsamkeit und Verbürokratisierung des Heiligen. Der kirchliche Apparat stand in keinem Verhältnis zur geistlichen Substanz. Die Stadt Braunschweig verfügte am Ende des 15. Jahrhunderts über etwa 60 Kirchen, Klöster und Kapellen mit insgesamt 210 Altären, davon allein 100 in den sieben Stadtkirchen. Darin arbeiteten etwa 450 - 500 Personen geistlichen Standes bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 12.000 Bewohnern. Helmstedt, die zweitgrößte Stadt im Lande mit 1 500 - 3 000 Bewohnern verfügte immerhin über drei Klöster und vier Kirchen und Kapellen, Schöningen über sechs gottesdienstliche Stätten, Gandersheim über vier Kirchen und drei Kapellen, Goslar über 50 Klöster und Kapellen, dazu fünf Pfarrkirchen.
Am Ende des Mittelalters war das Gebiet Niedersachsens in etwa 28 selbständige politische Gebilde, davon 8 Bistümer und Stifte (Bremen, Verden, Münster, Osnabrück, Hildesheim, Mainz, Loccum und Walkenried), 13 Grafschaften, zwei freie Reichsstädte und vier Fürstentümer des welfischen Erblandes bunt aufgeteilt.
Nach dem Zusammenbrechen des ausgedehnten Besitzes von Heinrich d. Löwen hatte 1235 Otto d. Kind lediglich das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg vom Kaiser als Lehen erhalten. Dieses Herzogtum wurde unter den Nachkommen im Laufe der Zeit immer wieder mal geteilt und vereinigt. Hervorzuheben ist die 40 -jährige Friedenszeit unter Heinrich d. Friedfertigen ( 1432 - 1473 ). Um 1500 gliedert sich der Welfenbesitz in das Fürstentum Lüneburg mit der Residenz Celle, das Fürstentum Calenberg-Göttingen mit der Residenz Calenberg, das Fürstentum Grubenhagen und das Fürstentum Wolfenbüttel.
Klaus Jürgens unterscheidet drei Formen der Einführung der Reformation in der Braunschweiger Landeskirche: eine Reformation von unten (seit 1528) in der Stadt Braunschweig, eine Reformation von außen (1542 - 1547) im Herzogtum Wolfenbüttel und eine Reformation von oben seit 1568.
Die Unterschiedlichkeit der Reformation in der Braunschweigischen Landeskirche ist politisch begründet. Stadt und Land Braunschweig waren politisch voneinander getrennt. Die Stadt Braunschweig wurde durch einen von Patriziern, Gilden und Bürgerhauptleuten zusammengesetzten Rat regiert, das Land Braunschweig durch den Herzog in Wolfenbüttel. Der Herzog verfügte allerdings über vereinzelten Besitz in der Stadt (u. a. das Blasiusstift, das Cyriakusstift, das Kreuzkloster), die Stadt hatte ihrerseits allerlei Streubesitz in der Umgebung. Der Braunschweiger Landtag konnte seine Funktion als einigende Klammer nicht erfüllen. Das Verhältnis von Stadt und Herzogtum Braunschweig war vom Kampf der Stadt um den Erhalt ihrer Unabhängigkeit geprägt, die die Herzöge immer wieder durch militärische Aktionen beenden wollten (1492-94/1550/1553). Aus dieser unterschiedlichen politischen Struktur stammt die für die Braunschweiger Landeskirche charakteristische Ungleichzeitigkeit der Einführung der Reformation. Das Land Braunschweig wurde erst 40 Jahre später als die Stadt Braunschweig protestantisch. In der Stadt Braunschweig wurden reformatorische Ideen seit 1522 durch die Vorlesungen des Mönchs Gottschalk Kruse (1499 - 1540) über das Matthäusevangelium im Ägidienkloster aufgenommen, von humanistischen Laien und den Prädikanten der Stadtkirchen weitergetragen, und evangelische Reformatoren vom zunächst zögernden Rat schließlich offiziell in die Stadt geholt. Vom Mai bis Oktober 1528 hielt sich Johannes Bugenhagen (1485 - 1558) in der Stadt auf. Der Rat nahm seine aus Predigten entstandene, in plattdeutscher Sprache formulierte, praktikable Kirchenordnung am 05.09.1528 an. Die Reformation verlief zunächst ohne aufrührerische Begleiterscheinungen.
Noch eher als in der Stadt Braunschweig wurde die Reformation allerdings in der Stadt Blankenburg durch die Anstellung des Stadtpredigers Radeke 1526 unter Mitwirkung des gräflichen Rates Hans von Lunderstedt eingeführt. Sie bestimmte bald das Kirchwesen in der ganzen Grafschaft Blankenburg, zu dem 20 Kirchengemeinden gehörten. 1544 kam das Kloster Michaelstein dazu. Die Grafschaft Blankenburg war eine selbständige politische Größe und fiel erst 1599 an das Herzogtum Wolfenbüttel.
In der politisch selbständigen Reichsstadt Goslar gab es dagegen seit 1518 Unruhen in der Bevölkerung wegen anhaltender Rechtsstreitigkeiten mit dem Hildesheimer Bischof. Diese Wut äußerte sich 1524 durch die Plünderung des Dechantenhofes und die Ermordung des Dechanten Diedrich Rorbeck. Auch mit dem Herzog Heinrich d. J. lag Goslar im Streit um den Besitz der Klöster Frankenberg, Georgenberg und Petersberg und wegen alter Rechtsansprüche auf die einzige Finanzquelle der Stadt, die Silberbergwerke vom Rammelsberg. Es gelang dem Herzog seit 1525, Goslar von seiner Finanzquelle abzuschneiden. Beim Reichstag in Speyer (1526) trat die Reichsstadt auf die Seite der protestantischen Fürsten. Die wachsende Arbeitslosigkeit und Verelendung der Bevölkerung waren die Ursachen für die wachsenden politischen und kirchlichen Spannungen, die sich in der Erstürmung des Kloster Frankenberg, der Stifte Petri und Georgenberg und zwei weiterer Kapellen entlud. Die Vorsteher der Pfarrkirche St. Jakobi und die mit ihnen verbundenen demokratischen Gilden gaben den Anstoß im Rat zur Einführung der Reformation. Nikolaus Amsdorf (1483 - 1565) konnte in sechs Wochen (März/April 1528) eine Kirchenordnung schaffen, die vom Rat angenommen wurde. Die sozialen Spannungen ließen jedoch nicht nach. 1529 erfolgte ein weiterer wüster Bildersturm. Die Festigung der Reformation dauerte noch drei Jahrzehnte.
Herzog Heinrich der Jüngere (1514 - 1568) regierte 54 Jahre das Herzogtum und hielt es mit einer kaisertreuen Außenpolitik auf streng katholischem Reichskurs. Nach der Ächtung Luthers auf dem Wormser Reichstag (1521) führte Heinrich d. J. das sog. Wormser Edikt sofort in seinem Land streng durch und verbot alle evangelischen Ansätze, wohl weniger aus Überzeugung des Glaubens, als zur Disziplinierung seiner Untertanen. Hätte Karl V. 1521 offiziell die Reformation eingeführt, wäre Heinrich d. J. ihm darin wohl bedenkenlos gefolgt. Heinrich beteiligte sich aus ordnungspolitischen Gründen führend an der Niederschlagung der sog. Baueraufstände, die in den Süden des Herzogtums überzugreifen drohten und kommandierte die Hinrichtung Thomas Müntzers (1525), der zeitweise an der Michaeliskirche eine Altarpfründe inne hatte und Kontakte zu Braunschweiger Bekannten pflegte.
Heinrich hatte sich kirchenpolitisch von den für sein Gebiet zuständigen Bischöfen in Hildesheim und Halberstadt vollständig getrennt. Er selber bestimmte die Richtlinien der Kirchenpolitik und führte ein katholisches landesherrliches Kirchenregiment. In der sog. Stiftsfehde (1518 - 1523) nahm er dem Hildesheimer Bischof den größten Teil seines Territoriums ab und verleibte es seinem Herzogtum ein, wodurch das bisher aufgesplitterte Territorium zu einem einheitlichen Gebiet zusammengefaßt wurde. Im Streit um die Einführung der Reformation im Herzogtum kam es zu einer wüsten literarischen Auseinandersetzung, in der u.a. Martin Luther gegen den Herzog Heinrich die Schrift "Wider Hans Worst" verfaßte.
Die Erstarrung der Auseinandersetzung zwischen evangelischem Glauben und katholischer Kirche zu militärischen Blöcken (Dessauer Bund, Schmalkaldischer Bund, Liga) war die Voraussetzung für die Reformation von außen. Goslar schloß sich 1531 und Braunschweig 1538 dem Schmalkaldischen Bund an, Herzog Heinrich wurde Wortführer der katholischen Liga. Die norddeutschen Territorien waren weitgehend protestantisch geworden, das Herzogtum Celle-Lüneburg und die Grafschaft Hoya 1525, Bremen und die Grafschaft Diepholz 1528, Göttingen 1529, Hannover 1533, das Herzogtum Grubenhagen 1538, Northeim 1539, das Herzogtum Calenberg-Göttingen 1542. Die unentwegt bedrohende Politik Herzog Heinrich d. J. gegenüber den Städten Braunschweig und Goslar war Anlaß und Vorwand zum Eingreifen der Schmalkaldischen Truppen, die unter der Führung des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und des Landgrafen Philipp von Hessen im Juli 1542 das Herzogtum Braunschweig in kurzer Zeit besetzten. Der Herzog floh, die Festungen Wolfenbüttel und Schöningen ergaben sich rasch. Die Braunschweiger Landstände, der Adel und die Städte huldigten am 27. August dem neuen Machthaber. Die Besatzer ordneten eine sog. Visitation des Herzogtums an, die von Oktober bis November 1542 unter Leitung von Johannes Bugenhagen durchgeführt wurde. Es gab zwar vereinzelte reformatorische Anklänge auch im Lande Braunschweig, tatsächlich aber wurde die Bevölkerung dem protestantischen Glauben unterworfen. Die Visitation diente der Erklärung der Unterwerfung der Klöster und Städte und der Bestandsaufnahme des kirchlichen Besitztums. Die Besatzer hinterließen im Lande eine blutige Spur, die Plünderung der Klöster Riddagshausen und Steterburg waren dafür besonders abstoßende Beispiele. 1545 wurde das Cyriakusstift, das ein Stützpunkt des Herzogs vor den Toren der Stadt Braunschweig gewesen war, vollständig zerstört. Ein tausendköpfiger Pöbelhaufen verschonte auch die angesammelten Kostbarkeiten und die 500 Jahre alte Basilika nicht. Auch das Kreuzkloster in Braunschweig wurde niedergebrannt, nachdem der Rat der Stadt die Abendmahlsgeräte u. a. beschlagnahmt hatte, ebenso die Heilig-Geist- Kapelle und das St. Thomas Hospital. Anders als die Reformation von unten verlief die Reformation von außen durchaus gewalttätig. Stadtsuperintendent Martin Görlitz, der Nachfolger Bugenhagens seit 1528, verließ aus Protest 1543 die Stadt und wurde 1545 Superintendent und Professor in Jena. Einige Frauenklöster des Landes leisteten bemerkenswerten Widerstand (St. Marienberg, Helmstedt, das Kanonissenstift in Gandersheim). 1543 wurde eine Kirchenordnung Bugenhagens auch für das Land Braunschweig erlassen. Sie entwarf eine kirchliche Neuorganisation, scheiterte aber daran, daß die welfischen Fürsten den Braunschweiger Dom als geistlichen Mittelpunkt einer Stadt und Land Braunschweig umfassenden Landeskirche nicht freigaben. Die Schmalkaldische Koalition zerfiel nach ihrer vernichtenden Niederlage in der Schlacht von Mühlberg im April 1547 durch die kaiserlichen Truppen. Herzog Heinrich d. J. wurde vom Kaiser wieder in sein Herzogtum eingesetzt. Dieser disziplinierte durch eine neuerliche Visitation das Land zum katholischen Glauben. Das Herzogtum wäre vermutlich auch katholisch geblieben, wenn nicht in der verlustreichen Schlacht von Sievershausen 1553 zwischen den herzoglichen und sächsischen Truppen (über 4 000 Gefallene) die beiden katholischen Thronerben Karl Viktor und Philipp Magnus gefallen wären. Der nun allein übriggebliebene Erbe Julius hatte schon früh evangelische Neigungen gezeigt und wurde deshalb durch den Vater vom Wolfenbütteler Hof verdrängt. Die Reformation von außen war gescheitert. "Der wiederholte Wechsel des Bekenntnisses auf obrigkeitlichen Befehl hat sicher zur Unkirchlichkeit des Braunschweiger Landes beigetragen" (Krumwiede).
Nach dem Tode Heinrich d. J. im Sommer 1568 führte sein Nachfolger Julius (1528 - 1589) nach Vorarbeiten des Kanzlers Frundeck von Mynsinger rasch zum 01.01.1569 die Reformation von oben durch den Erlaß einer evangelischen Kirchenordnung ein. Dabei vermied Julius den Eindruck einer radikalen Wende und betonte wiederholt die Kontinuität zur Politik des Vaters. Es ginge um eine Reinigung der Religion. Die Pfarrerschaft indes stand vor einer gründlichen Erneuerung, denn eine weitere Landesvisitation, die nunmehr dritte in 28 Jahren, durch Martin Chemnitz hatte ergeben, daß die große Mehrheit der Pfarrerschaft für eine Einführung der Reformation ungeeignet war. Von 291 Pfarrstellen waren 59 unbesetzt, nur 26 Pfarrer waren für die Übernahme eines Pfarramtes geeignet, für völlig untauglich wurden 77 Pfarrer gehalten, 11 aus Altersgründen und 13 aus disziplinären Gründen versetzt. Das Herzogtum stand vor einem geistlichen Neuanfang. Das von Herzog Julius aufgerichtete landesherrliche Kirchenregiment fühlte sich nicht nur für das irdische Wohl, vielmehr auch für das ewige Heil verantwortlich. Zur organisatorischen Erneuerung der Kirchengemeinden, der Errichtung von Superintendenturen und ihrer Zusammenfassung in Generalsuperintendenturen konnte Herzog Julius auf die Vorarbeiten von Johannes Bugenhagen aus dem Jahre 1543 zurückgreifen. Infolge des frühabsolutistischen Bewußtseins von Herzog Julius konnte sich eine dauerhafte Kirchenleitung aber nicht gleich etablieren. Die erstrebte Unabhängigkeit zwischen Landesregiment und Kirchenregiment führte zu grundsätzlichen Konflikten zwischen dem Herzog und Martin Chemnitz.
Die unterschiedlichen Arten der Reformation hinterließen je verschiedene Kirchenordnungen in unserer Landeskirche: die Reformation von unten die Kirchenordung Bugenhagens von 1528, die Reformation von außen die Kirchenordnung Bugenhagens von 1543 und die Reformation von oben die Kirchenordnung von Chemnitz und Andreä von 1569. Es war die Zeit der massenhaften Entstehung von evangelischen Kirchenordnungen, die das römische Kirchenrecht ablösten und die sich im Laufe der Zeit untereinander stark verflochten. Die Kirchenordnung Bugenhagens von 1528 war noch ganz selbständig und aus den Bedürfnissen der Bevölkerung der Stadt Braunschweig formuliert. Die Kirchenordnung von Chemnitz und Andreä war nur deshalb in sechs Wochen fertig, weil die Verfasser auf andere Kirchenordnungen zurückgriffen, nämlich auf die Württembergische Kirchenordnung von 1559 im kirchenrechtlichen Teil und auf die Lüneburgische Kirchenordnung von 1564 im agendarischen Teil. Der Lüneburgischen Kirchenordnung hatte bereits die Mecklenburgische von 1552 als Quelle gedient. Die Kirchenordnung von 1569 erwuchs nicht von unten, sondern wurde von oben verordnet. Der Trend zum verstärkten landesherrlichen autoritären Kirchenregiment war unverkennbar.
Durch eine sparsame und kluge Wirtschaftspolitik konnte sich das Land unter Herzog Julius finanziell von den schweren Schäden der jahrzehntelangen militärischen Operationen auf dem Territorium erholen und sogar 1584 durch Erbschaft um das beträchtliche Gebiet des Herzogtums Calenberg nach Westen wesentlich erweitern. Auch unter Julius blieb die Kirchenpolitik der Innen- und Außenpolitik untergeordnet. Julius zögerte nicht, sich das Gebiet des Bistums Halberstadt dadurch anzueignen, indem er seinen schon mit zwei Jahren zum Bischof gewählten Sohn Heinrich Julius mit 14 Jahren nun zum Bischof von Halberstadt weihen ließ. Das führte zur Isolierung des Herzogs im Kreis der protestantischen Fürsten und zum Rückzug von der ursprünglich kräftig unterstützten Konkordienformel, in der alle theologischen Differenzen im lutherischen Lager wegen des Verhältnisses von Glauben und Werken, von der Erbsünde und dem freien Willen ausgeräumt werden sollten. Das besondere Reizwort der Auseinandersetzung wurde die sog. Ubiquität Jesu. Es war aus dem Abendmahlstreit entstanden und wollte die Frage beantworten: Wie kann Christus im Abendmahl gegenwärtig sein, wenn er doch zur Rechten Gottes erhöht ist? Die orthodoxen Lutheraner beantworteten diese Frage mit der behaupteten Allgegenwart (Ubiquität) des Leibes Christi, die von den Calvinisten bestritten wurde. Die bereits von 244 Predigern des Landes unterschriebene Konkordienformel mit der Ubiquitätsformel wurde anders als in der Stadt Braunschweig nicht Gegenstand des Bekenntnisses im Lande Braunschweig. Man könnte von einer Bekenntnisspaltung in der Braunschweiger Landeskirche reden: der Bekenntnisstand in der Stadt Braunschweig mit der Konkordienformel und im Land Braunschweig ohne die Konkordienformel, sondern mit dem corpus doctrinae Julium, beide jedoch inhaltlich gut lutherisch.
Durch die Gründung der Universität Helmstedt (1576) wurde das Herzogtum in Norddeutschland zu einem Anziehungspunkt der wissenschaftlichen Welt. Die strengen Lutheraner beherrschten die Frühzeit der theologischen Fakultät. Zu ihnen gehörten die Professoren Kirchner, Hofmann, Sattler und Heßhusius. In welchem Maße die theologische Bildung der Braunschweiger Pfarrerschaft durch das verhältnismäßig kurze Theologiestudium an der Helmstedter Universität landesweit gehoben wurde, ist noch unerforscht und wohl fraglich. Zur Unterrichtung der Pfarrer und zur Verwendung im sonntäglichen Gottesdienste erschienen Predigtbände. Zu den populärsten in Niedersachsen gehörten die von Corvinus.
Die Festigung des Protestantismus wurde wesentlich durch den Umzug bekannter protestantischer Pfarrer in das Braunschweiger Land erreicht. Basilius Sattler (1549 - 1624) kam mit anderen süddeutschen Pfarrern als Zwanzigjähriger nach Braunschweig, stieg bald zum Generalsuperintendenten und Professor der Helmstedter Universität auf und leitete 35 Jahre lang als Generalsuperintendent und einflußreichstes Mitglied des Konsistoriums das Kirchentum. Basilius Sattler war der Hofprediger der ersten drei protestantischen Herzöge: Julius, Heinrich Julius (1589 - 1613) und Friedrich Ulrich (1613 - 1634). Unter dem begabten und hochgebildeten Herzog Heinrich Julius erlebte das Herzogtum territorial seine größte Ausdehnung. Das Bild Sattlers ist wegen seiner schroffen orthodoxen Art nicht unumstritten.
In der Stadt Braunschweig festigten sich die reformatorischen Anfänge besonders durch die jahrzehntelange Tätigkeit von Martin Chemnitz (1522 - 1586). Chemnitz mußte sich wegen Mittellosigkeit seiner früh verwitweten Mutter sein Studium in Frankfurt und Wittenberg selbst verdienen und hörte dort nicht den alten Luther, sondern die für ihn später einträgliche Astrologie und Mathematik. Als Astrologe des Herzogs Albrecht v. Preußen und dessen Schloßbibliothekar verbrachte er seit 1548 in Königsberg eine wissenschaftliche und gesellschaftliche ergiebige Zeit. Durch den Osiandrischen Streit ( bei dem es um die Rechtfertigung des Menschen entweder durch den ihm innenwohnenden Christus oder allein durch die Tat Gottes ging) aus Königsberg vertrieben, las er an der Wittenberger Universität über die loci communes von Melanchthon. Er wurde vom Stadtsuperintendenten Mörlin 1554 als Koadjutor nach Braunschweig berufen, hielt in Braunschweig die erste Predigt seines Lebens, wurde von Bugenhagen ordiniert und begann in Braunschweig eine 30 Jahre währende, das geistliche Leben der Stadt stark prägende Tätigkeit. Als er 1567 auch die Stadtsuperintendentur antrat, war er durch die ersten der vier Gesamtbände des Examen Concilii Tridentini bereits im ganzen Reich als energischer Verteidiger des Luthertums bekannt. In seinem Buch über das Abendmahl gab er sich als maßvoller Lutheraner, der sich gegen die Spitzfindigkeiten der Lutherschüler wendet. Er verfaßte für Herzog Julius die Kirchenordnung, für die er eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten evangelischen Artikel schrieb, visitierte die Landeskirche und examinierte die neuen Kandidaten. Bei der Einweihung der Helmstedter Universität hielt er die Festpredigt. Herzog und Chemnitz entzweiten sich gründlich, als Chemnitz die Weihe des Prinzen zum Bischof von Halberstadt von den Braunschweiger Kanzeln öffentlich geißeln ließ. Chemnitz starb als hochvermögender Mann, was ihm postum ungerechtfertigtes Gerede einbrachte.
Die Stadtsuperintendenten nach Chemnitz wechselten rasch. Die Stadtgeschichte geriet infolge wachsender sozialer Spannungen in Turbulenzen, als die Bürgerhauptleute auf weiteren Einfluß im Rat und auf die berechtigte Reduzierung der Rechte der überrrepräsentierten reichen Gilden drängten. Ihr Wortführer war der Jurist Henning Brabant. Die Brabanter Revolution (1601 - 1604) wurde zunächst von der Stadtgeistlichkeit unterstützt, und der 36jährige Stadtsuperintendent Johann Kaufmann hielt im Januar 1602 in der Brüdernkirche eine flammende Wahlrede gegen die Patrizier der Stadt. Für den neu gewählten, nun auf breitere Grundlage gestellten Rat, hielt die Kirche Dankgottesdienste. Die wirtschaftlichen Verhältnisse besserten sich aber nicht. Brabant sprach außerdem den Stadtgeistlichen das Recht auf Kanzelkritik ab, und deshalb wurden er und seine Hauptleute von Abendmahl und Taufe ausgeschlossen, und diese Kirchenzucht wurde auch streng durchgeführt. Das beeindruckte Stadtvolk wandte sich daraufhin von den Bürgerhauptleuten ab, Brabandt wurde verhaftet und starb im September 1604 auf dem Schafott unter furchtbarer Folterung mit den Zeilen des Lutherliedes "Du höchster Tröster in aller Not". Die gesamte Geistlichkeit feierte die Wende mit feierlichen Dankgottesdiensten und setzte sie noch acht Jahre lang jährlich fort: "Ein dunkles Blatt in der Geschichte der braunschweigigen Kirche" (Beste).
In einem Rückblick auf das religiös sittliche Leben dieser Epoche schreibt Johannes Beste u. a.:
"Die religiöse Erkenntnis wirkt noch so wenig reinigend und verklärend auf das ganze Leben, daher die Rohheit der Sitten, die unzähligen Zungensünden, das leidenschaftliche Streiten, das lieblose Verdammen. Wir sind überzeugt, bei allen Lichtseiten jener Zeit wird jeder, der einmal sich in die Geschichte der Brabantschen Händel versenkt, oder auch nur ein Torturprotokoll aus dem Anfange des 17. Jahrhundert gründlich studiert, oder das grauenhafte Schicksal der vielen tausend Schlachtopfer betrachtet, die gleichzeitig als Teufelsliebchen hingemordet wurden, Gott danken, daß er ihn nicht zu jener Zeit ins Leben gerufen hat. Zu den angeführten Schattenseiten kamen am Vorabend des 30-jährigen Krieges unsinniger Luxus und viehische Völlerei. Infolge des roten Goldes, das seit der Entdeckung Amerikas nach Europa strömte, wuchs beständig die Wohlhabenheit und damit die Hoffart und die Pracht in den oberen Klassen der Bevölkerung. Die Männer trugen fortan ungeheure Halskrausen, ihre Kleidung war von Sammet und Goldstoffen durchwebt und Pelzwerk besetzt. An der Seite hatten sie kleine Rappiere und Dolche, an den Füßen sammetne Schuhe. Kein Bauer war mit einheimischem Tuche zufrieden. Die Frauen stolzierten in kostbaren Kleidern von Seide mit entblößtem Hals und offener Brust, überreich geschmückt mit silbernen Gürteln, Armbändern und Halsketten; ihre Schleier und Hauben waren mit Perlen und Gold gestickt, ihre Krausen mit Korallen und Schmelzwerk belegt. Unter den Röcken hatte sie große Eisen und Wülste; an den Füßen seidene Strümpfe und hohe, ausgehackte Tripp- und Klippschuhe. Zu solchem Luxus kam die schon zu Tacitus' Zeiten berüchtigte Trunksucht und Völlerei. Bei Kindtaufen, Hochzeiten, Leichenbegräbnissen, selbst an Geburtstagen wurden die großartigsten Gelage gehalten. Kein noch so unbedeutendes Ereignis durfte ohne Schmausen und Trinken vorübergehen. Vergebens wurden strenge Luxusgesetze erlassen, um diesem übertriebenen Aufwande entgegenzuwirken. Da die Höfe selbst mit bösem Beispiele vorangingen, wurde dadurch wenig geändert. An vielen Orten eiferte die Geistlichkeit auf den Kanzeln gegen die mehrtägigen Schmausereien, das übermäßige Zutrinken, die allzu herrliche Kleidung; während nicht wenige Diener des Wortes mit dem Strome schwammen, so daß im Jahre 1620 beim Konsistorium zu Wolfenbüttel zahlreiche Anzeigen über Pastoren einliefen, die mit den Junkern in die Nacht hinein beim Aquavit oder Biere säßen, bis beide ihr Bewußtsein verlören. Ja, manche Prediger zechten sogar im Kruge mit den Bauern, zum großen Ärgernis der frommen Gemeindemitglieder. Das Konsistorium nannte solche Geistliche scherzweise die Sekte der Aquaviter; sie abzusetzen machte Schwierigkeiten, da ihre Zahl zu groß war; gewöhnlich begnügte sich die Behörde mit einem Reverse der Trunkenbolde, in welcher letztere Besserung versprachen; erst nach wiederholter Erneuerung desselben erfolgte die Entlassung."
Auf die Epoche des orthodoxen Luthertums folgte nicht wie in andern Ländern die des Pietismus, sondern als Besonderheit der niedersächsischen Kirchengeschichte der Calixtinismus. Er hat seinen idn nach Georg Calixt (1586 - 1656), der in fast 42 Lehrjahren ab 1614 als Professor der Helmstedter Universität das theologische Gesicht der Landeskirche prägte. Calixt setzte die Theologie Melanchthons fort und erntete den Haß der lutherischen Fundamentalisten. An die Stelle überzogener lutherischer Rechtgläubigkeit setzte Calixt das sittliche Handeln; er suchte die Theologie mit der Philosopie zu versöhnen; er unterschied zwischen Glauben und Religion und setzte das Theologiestudium auf eine strenge wissenschaftliche Basis; er erstrebte eine Union der Kirchen auf der Bekenntnisgrundlage der alten Kirche der ersten fünf Jahrhunderte (consensus antiquitatis resp. quinquesaecularis). Calixt, ein "unermüdlicher Kämpfer für Toleranz, Hörbereitschaft und Friedensgesinnung" , kann als ökumenischer Vorläufer in Niedersachsen gelten. "Helmstedt und mit ihm die Braunschweiger Landeskirche ist eine der Keimzellen der ökumenischen Bewegung im deutschen Protestantismus" urteilt Hans Walter Krumwiede in einem Festvortrag vor der Braunschweiger Landessynode. In der eigenen Kirchenleitung (Basilius Sattler) stieß Calixt auf unausrottbares Mißtrauen. Sie unterzog Calixt einem Lehrverhör und unterwarf ihn einer Druckzensur. Einer seiner wütendsten Gegner war Pfarrer Statius Büscher aus Hannover, der in der Gegenschrift "das heimliche Papsttum in der neuen Helmstädtischen Theologen Schriften" Calixt Abfall von der Rechtfertigungslehre zugunsten der Werke, Abfall von der Alleinwirksamkeit der Schrift zugunsten einer unangemessenen Aufwertung der Tradition der alten Kirche und Abfall von der alleinigen Wahrheit des Luthertums zugunsten eines Indifferentismus in religösen Fragen vorwarf. Calixt wurde vom Herzog August durch öffentliche Anschläge und Abkündigung von den Kanzeln in Schutz genommen. Im Thorner Friedensgespräch 1645, durch das der polnische König Protestanten mit den Katholiken aussöhnen wollte, schloß sich Calixt enger an die reformierte Seite an und löste damit schroffe Vorwürfe des Synkretismus aus, die in maßloser Form von den lutherischen Theologen Hülsmann (Leipzig), Calov (Wittenberg) und Weller (Dresden) unaufhörlich vorgetragen wurden. Für beide Seiten gab es keinen "Sieg": das erhoffte friedliche Nebeneinander der Konfessionen und Religionen kam nicht zustande, und die Zeit der lutherischen Orthodoxie und ihr bestimmender Einfluß am Hof waren abgelaufen.
Calixts bedeutsamster Schüler war Justus Gesenius (1601 - 1673), der sieben Jahre lang Pfarrer an der Braunschweiger Magnikirche war. Dort gab er einen mehrfach überarbeiteten Katechismus für Kinder und Erwachsene heraus, einen zunächst 1000 Seiten langen "kurzen Unterricht", der 1635 für die Hand der Schüler stark verkürzt wurde und Calixt gewidmet war. Der Katechismus "erlangte in vielen Gegenden Niedersachsens fast das Ansehen eines symbolischen Buches" und war "...Tausenden ein Führer zum Heilande und zum seligen Leben". In der Kirchenleitung kam die calixtinische Theologie zum ersten Male durch Brandanus Dätrius (1607 - 1686), seit 1662 26 Jahre lang Generalissimus, zum Zuge.
Die Tätigkeit von Calixt in Helmstedt wurde nachhaltig geprägt durch den 30-jährigen Krieg. Die Studenten verließen die Universitätsstadt. Zu den wenigen verbleibenden Professoren gehörte Calixt. Der 30-jährige Krieg wirkte sich im Braunschweiger Land unterschiedlich aus. Während der Norden des Landes von ihm kaum berührt wurde und die Stadt Braunschweig verschont blieb, hatten das Wesergebiet und Wolfenbüttel unter der wechselnden Besetzung der kaiserlichen und der dänischen wie schwedischen Truppen sehr zu leiden. In der Schlacht bei Lutter am Barenberge (1626) wurde die zweite Periode dieses 30-jährigen Krieges zu Ungunsten der protestantischen Seite entschieden. Herzog Friedrich Ulrich mußte das erneute Vordringen des Katholizismus durch die Einführung des sog. Restitutionsediktes (1629), das die Klöster des Landes für kurze Zeit erneut Mönchen und Nonnen öffnete, hinnehmen. Das Herzogtum zerfiel: das Gr. Hildesheimer Stift, Calenberg, Halberstadt, Grubenhagen gingen dem Herzogtum nach und nach verloren. Territorial fiel das Herzogtum auf den Stand zurück, den Heinrich d. J. 1514 beim Regierungsantritt vorgefunden hatte. Magdeburg, das noch vor Braunschweig protestantisch geworden war und als Hochburg des evangelischen Glaubens galt, wurde 1631 vollständig verwüstet.
Da Herzog Friedrich Ulrich kinderlos starb, stand das Schicksal des Herzogtums auf dem Spiel. Schließlich einigten sich die Erben und kamen dem territorialen Appetit des Kaisers zuvor. Herzog August d. J. (1579 - 1666) aus Dannenberg erhielt Wolfenbüttel zugesprochen. Er trat mitten im 30-jährigen Krieg 56jährig die Regentschaft an und residierte zunächst provisorisch in der Stadt Braunschweig Erst 1644 konnte er in die bislang noch von feindlichen Truppen besetzte Residenz einziehen, deren Bevölkerung von 1 200 Einwohnern auf 150 zusammengeschrumpft war und deren Schloß und Häuser fast unbewohnbar geworden waren. Unter Herzog Augusts umsichtiger Führung stabilisierten sich die Verhältnisse in Stadt und Land schnell. Er war der Herzog der inneren Reformen und "der Gelehrte auf dem Thron". In seiner Politik wurde er unterstützt durch den Kanzler Johann Schwartzkopff (1596 - 1658), einen schroffen Anhänger des landesherrlichen Kirchenregimentes. Herzog August fühlte sich ausgesprochen als Bischof, er verfaßte eine Evangelien- und Epistelharmonie für alle Sonntage des Kirchenjahres, regelte die Kasualienordnung neu, führte durch eine Schulordnung die allgemeine Schulpflicht auf dem Lande ein und ließ durch seinen Generalissimus Johann Lütkemann (1608 - 1656), eine der "edelsten und reinsten Gestalten der gesamten braunschweigischen Kirchengeschichte" 1551-53 eine Generalkirchenvisitation durchführen. Die Akten dieser Kirchenvisitation sind noch nicht vollständig ausgewertet. Beste urteilt zusammenfassend: "Fast überall herrschte grobe Unkenntnis der Heilswahrheiten und daneben gottloses Leben". Die Einkünfte der Klöster, bisher dezentralisiert verwaltet, wurden einer Zentralverwaltung unterstellt. 1657 erschien der erste Teil einer neuen Kirchenordnung und 1661 das erste Braunschweiger Kirchengesangbuch für die Hand der Gemeinden. Herzog August ist der Wiederaufbau Wolfenbüttels (Auguststadt mit Johanniskirche), der Ausbau der Bibliothek (Herzog August Bibliothek mit ihrer profunden Büchersammlung) zu verdanken. Nach seinem 87. Geburtstag verstarb Herzog August im Herbst 1666, nachdem ihm die Spieluhr seines Schlafzimmers wie jeden Morgen den Sterbechoral "Wenn mein Stündlein vorhanden ist" geschlagen hatte.
Es ist ein geradezu geflügeltes Wort, daß die "flächendeckende Unkirchlichkeit" im Braunschweiger Land (Krumwiede) darin begründet sei, daß es in der Landeskirche keinen Pietismus gegeben habe. Das ist wohl auch eine Frage der engeren oder weiteren Definition des Begriffes "Pietismus". In Johann Arndt, der als Pfarrer von St. Martini in Braunschweig (1605-09) das erste seiner viel gelesenen "Vier Bücher vom wahren Christentum" verfaßt hatte, hatte Braunschweig einen Vorläufer des Pietismus. Herzog August war eine tiefe, persönliche Frömmigkeit nicht abzusprechen. In der Handbibel von Herzog August sind 43 Morgengebete verzeichnet, die er seinem ältesten Sohn empfahl, Lieblingsverse mit "täglich" bezeichnet, vier Abendgebete, 12 Tischgebete, sechs vor und sechs nach den Mahlzeiten genannt. Joachim Lütkemanns Schrift "Vorschmack göttlicher Güte" wurde mit Arndts "Wahrem Christentum" verglichen. "Ich will lieber eine Seele selig als hundert gelehrt machen", äußert er. Beste bezeichnet ihn als Vertreter "einer gesunden lutherischen Mystik". Seit 1680 sammelte sich ein kleiner Kreis von Lehrern und Pfarrern in Wolfenbüttel, die eine segensreiche Kinder- und Schülerarbeit betrieben, später andere Kreise in Blankenburg, Bad Gandersheim, Helmstedt und Braunschweig. Zur Gruppe der Pietisten rechneten sich zwei Mitglieder des Konsistoriums: Konsistorialrat Justus Lüders und Generalsuperintendent Bertold Meier. Herzog Rudolf August (1666 - 1704) nennt man den "Pietisten auf dem Welfenthron". Er korrespondierte mit Philipp Jakob Spener, einem der Gründungsväter des Pietismus und dem Verfasser der "pia desideria". Als Rudolf August auf dem Sterbebett der Paul GerhardtVers "Wer so stirbt, der stirbt wohl" vorgesprochen wurde, antwortete er: "Wer so stirbt, der stirbt nicht." Ausgerechnet unter diesem Regenten, der sich die Herrschaft mit seinem Bruder Anton Ulrich (1685 - 1714) teilte, wurde im März 1692 für die Landeskirche das "Antipietistenedikt" erlassen und von beiden Fürstenbrüdern auch unterzeichnet. Es verbot alle heimlichen Treffen und den Schriftverkehr; zugesandte Originale von Enthusiasten, Chiliasten, Sectraristen, Pietisten und Quäkern seien dem Konsistorium weiterzuleiten, der Druck solcher Schriften wurde verboten, die Predigt sei am besten schriftlich zu fixieren und der Unterschied zwischen einer "ordentlichen Amts-Predigt" und "familiären Diskursen" einzuhalten. Die Pfarrerschaft wurde unter Androhung der Amtsenthebung gezwungen, das Antipietistenedikt durch Unterschrift anzuerkennen. Die Pfarrer Lüders und Neuß sowie Generalsuperintendent Meier verweigerten die Unterschrift, wurden aus dem Amt entlassen oder verließen die Landeskirche. So wurden die pietistischen Ansätze im Lande Braunschweig durch die Fürsten von oben erstickt.
Unter dem Mitregenten Anton Ulrich, dem klassischen Fürsten des Absolutismus (Anton-Ulrich Museum in Braunschweig) und Herausgeber einer erneuerten Kirchenordnung geriet die Landeskirche in eine dramatisch empfundene Krise, weil der Herzog mit 77 Jahren kurz vor dem Weihnachtsfest 1709 heimlich zum Katholizismus übertrat, was gerüchteweise seit März 1710 durchsickerte. Der Herzog versicherte den Landständen, daß alle Rechte unberührt blieben. Zwei Töchter Anton-Ulrichs und die Enkeltochter Elisabeth Christine wurden aus dynastischen Gründen ebenfalls katholisch. Anton Ulrich ließ 1710 die katholische barocke St. Nikolaikirche in Braunschweig erbauen. An seinem Sterbebett standen ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher. Die Bitte nach einem Abendmahl unter beiderlei Gestalt war dem Fürsten vom Papst dreimal abschlägig beschieden worden.
Sowohl die Unterdrückung des Pietismus wie der Übertritt Anton Ulrichs zum Katholizismus können als Folgeerscheinung des Calixtinismus verstanden werden, dem eine gewisse Großzügigkeit in konfessionellen Fragen und eine Intoleranz gegenüber einem engherzigen, privatisierenden Christsein eigen waren. Um die Jahrhundertwende entstand dem Herzogtum im Westen ein in der Folgezeit immer stärker werdender Nachbar. 1692 hatte der Calenberger Herzog Ernst August zum Ärger seines Wolfenbüttler Verwandten die Kurfürstenwürde erhalten und vergebliche militärische Aktionen der Wolfenbüttler ausgelöst. 1705 vereinigte Kurfürst Georg von Calenberg die Fürstentümer Calenberg mit Lüneburg und Grubenhagen. Unter dem Nachfolger Anton Ulrichs, Herzog August Wilhelm (1714 - 1731), kam es, verstärkt durch das Reformationsjubiläum 1717, zu einer lutherischen Reaktion.
So wie Herzog Julius und Basilius Sattler, Herzog August und Joachim Lütkemann einen bestimmten Frömmigkeitstyp verkörperten, so galten Herzog Karl I. und Abt Jerusalem (1709 -1789) als die klassischen Gestalten der Aufklärung in Braunschweig. Beide prägten schon durch die jahrzehntelange Dauer ihrer Wirksamkeit das 18. Jahrhundert. Karl I. regierte 45 Jahre (seit 1768 mit seinem Sohn Karl Wilhelm Ferdinand), Abt Jerusalem war seit 1742 ebenso lange Berater von zwei Herzögen. Karl I. siedelte neue Industriebetriebe im Wesergebiet an (Porzellanfabrik Fürstenberg), nahm aus Steuergründen eine Generalvermessung des Landes vor, verbesserte das Schulwesen durch die Gründung von zwei Lehrerseminaren und den Erlaß einer Ordnung für die Landschulen. Die darin geforderte allgemeine Schulpflicht ließ sich noch lange nicht durchsetzen. Neben die bisher ausschließlich biblischen Stoffe sollten auch naturwissenschaftliche treten. Er gründete zusammen mit Abt Friedrich Wilhelm Jerusalem das Collegium Carolinum in Braunschweig, die Vorläuferin der heutigen Technischen Universität. Die von Friedrich "d. Gr." von 1740 - 1763 in fast ununterbrochener Folge geführten Kriege (österreichischer Erbfolgekrieg, zwei schlesische Kriege, siebenjähriger Krieg) forderten sehr hohe Verluste, schädigten den Staatshaushalt und befestigten nach innen ein autoritäres Regime. In dieses Regime Friedrichs d. Gr. wurde auch das Herzogtum durch familiäre und politische Bindungen hineingezogen. Mit Friedrich d. Gr. von Preußen war Herzog Karl I. doppelt verbunden: seine Frau war eine Schwester Friedrichs d. Gr., Friedrichs Frau war eine Schwester Karls. Die kirchliche Trauung fand in Salzdahlum statt. Karl I. unterhielt bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 160 000 Bewohnern ein stehendes Heer von 16 000 Mann, das der produktiven Arbeit entzogen wurde und den Staatshaushalt in eine sehr hohe Staatsverschuldung trieb. Prinz Ferdinand ("Gutsherr von Vechelde"), der Bruder Karls I., war preußischer Generalfeldmarschall und befehligte die verbündeten Truppen der Engländer, Hannoveraner, Braunschweiger und Preußen im siebenjährigen Krieg. Die Aufstellung eines stehendes Heeres machte die Ernennung von Garnisonkirchen an den Standorten notwendig. Dazu wurden die Trinitatiskirche in Wolfenbüttel und die Ägidienkirche in Braunschweig ausgewählt. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit den Gemeindegliedern um die angestammten Plätze und das "ungebührliche Benehmen der Soldatenweiber."
Abt Jerusalem war Hofprediger und Prinzenerzieher, 37 Jahre lang Direktor des frisch gegründeten, fälschlicherweise sog. Predigerseminars in Riddagshausen, Vizepräsident des Konsistoriums, um das er sich kaum gekümmert hat, und weit berühmt durch seine 1770 erschienenen "Betrachtungen über die vornehmen Wahrheiten der Religion," 1770, die ins Französische, Holländische, Schwedische und Dänische übersetzt worden waren. Jerusalems Theologie war vor allem apologetisch. Jerusalem wollte die christliche Religion vor dem Zerfall bewahren und ihre Grundwahrheiten verteidigen. Dazu unterschied er zwischen "Religion" und "Theologie", wobei der Begriff "Theologie" negativ besetzt war und das orthodoxe Lehrgebäude beinhaltete. An die Stelle der Orthodoxie trat das System der allgemeinen, natürlichen Religion, deren Gegenstände die Lehre von Gott, von der Nächstenliebe und der Unsterblichkeit bildeten. Religion zielte nach Jerusalem auf Erziehung der Menschen. Die Menschen sollten durch aufgeklärte Religion ihre Unvollkommenheit überwinden. Die Religion entwickelte sich nach dem Maß ihrer Aufgeklärtheit von der natürlichen zur christlichen Religion. Jesus war der Abgesandte Gottes, weniger der Erlöser. Jerusalem trennte sich von grundlegenden Einsichten der alten Kirche wie der Zweinaturenlehre und der Trinitätslehre, ohne allerdings diesen Bruch öffentlich deutlich zu markieren. Obwohl er langweilig predigte und seine Reden ablas, war er ungewöhnlich populär in Braunschweig "Zur Aufklärung legte er den ersten Grund", steht auf seinem Grabmal, das ihm die Herzogin in Riddagshausen setzen ließ. Prinz Ferdinand setzte unter ein Monument im Vechelder Schloßgarten die Worte: "Ausgebreitete Gelehrsamkeit, Welt- und Herzenskunde, begleitet von vieler Bescheidenheit und Sanftmut waren ein Teil seiner vortrefflichen Eigenschaften und Geistesgaben." Zu einer Auseinandersetzung mit Lessing (1729 - 1781), der zu gleicher Zeit Bibliothekar in Wolfenbüttel war, war Jerusalem nicht bereit. Gotthold Ephraim Lessing, der in Wolfenbüttel die Dramen "Emilia Galotti" und "Nathan der Weise" und die Schrift "Die Erziehung des Menschengeschlechts" verfaßt hatte, hatte eine heftige Bibelkritik des Hamburger Orientalisten Reimarus, als "Wolfenbütteler Fragmente"getarnt, in zeitlichen Abständen veröffentlicht und dadurch eine scharfe Diskussion mit der orthodoxen Geistlichkeit ausgelöst. In der Braunschweiger Landeskirche wurden die Fragmente vom Wolfenbütteler Pfarrer Reß, vom Vorsfelder Superintendenten Lüderwald, von Abt Velthusen und Prof. Henke abgelehnt. Nach der Veröffentlichung des letzten Fragmentes beklagte sich das Konsistorium, dem Jerusalem angehörte, bitter beim Herzog, der nun über alle Schriften Lessings die Zensur verhängte.
In dieser Zeit wurde die Kirchenleitung, das Konsistorium, zu einer unteren Verwaltungsbehörde degradiert. Es war der "Tiefstand der äußeren Lage des Konsistoriums in seiner langen Geschichte". An der Spitze des Konsistoriums stand seit 1689 bereits kein Theologe mehr, die anderen geistlichen Konsistorialratsplätze blieben im Laufe der Zeit unbesetzt, von 1758 - 1765 hatte das Konsistorium überhaupt keinen Theologen mehr, so daß die Examina vom 1. Pfarrer der Wolfenbüttler Marienkirche abgenommen werden mußten. In diese Zeit fiel der Umzug des Hofes und der Behörden von Wolfenbüttel nach Braunschweig. Die Stadt Braunschweig war bereits 1671 gemeinsam von den welfischen Herzögen unterworfen worden und hatte ihre Selbständigkeit verloren. Die Einwohnerzahl von Wolfenbüttel sank von 12 000 (1748) auf 5 830 (1776). Karl I. scheute sich, am Braunschweiger Hof eine Abteilung für Schul- und Kirchensachen einzurichten und dafür das Konsistorium aufzulösen. Er reorganisierte es statt dessen, setzte einen Juristen an die Spitze, sowie fünf weitere weltliche Konsistorialräte und einen theologischen Konsistorialassessor an seine Seite. Die Berufung von Jerusalem zum Vizepräsidenten 1771 hob zwar das Ansehen der Behörde, änderte aber nichts an seiner praktischen Arbeit, weil Jerusalem kaum nach Wolfenbüttel fuhr.
1779 wurde ein völlig neu gestaltetes Gesangbuch gedruckt, das Theologie und Frömmigkeit der Aufklärung in Aufbau und Inhalt widerspiegelte und nach 20 - jähriger Übergangszeit zum Neujahrstag 1801 endlich allgemein eingeführt wurde. Es blieb bis 1902 in Geltung. Es begann im Gegensatz zum Gesangbuch der Orthodoxie nicht mit den Liedern zum Kirchenjahr und zum Katechismus, sondern dogmatisch mit Chorälen über das Dasein und die Eigenschaften Gottes und über die Sittenlehre.
Ähnlich dramatisch wie der Umbau des Gesangbuches war der Umbau der Kirchengebäude. Der herzogliche Baukondukteur Liebau beschrieb den Wandel folgendermaßen: "In dem Mittelalter, wo die meisten Kirchen erbaut wurden, wollte man die Menschen nicht durch Überzeugung, sondern durch dunkle Gefühle leiten, wozu man schwach erleuchtete Gebäude wählte, in der man den Hochaltar in täuschender Entfernung aufstellte, welches auch den Absichten vollkommen entsprach. Jetzt aber, da sich unsere Religionsgebräuche geändert haben, können unsere Kirchen nicht anders als Hörsäle betrachtet werden, in welchen sich zu allen Jahreszeiten eine Gesellschaft zur Verehrung Gottes versammelt, es ist also erforderlich, daß sie ein gesunder Aufenthaltsort sind, und das kann nicht anders stattfinden, als wenn große Fenster die sich öffnen lassen, gemacht werden. Daß bei solchen Vorrichtungen Symmetrie beobachtet wird, erfordert die Kunst und kann nur als solche beurteilt werden". In dieser Zeit wurden nach diesem Motto zahlreiche Kirchen restauriert, die alte Farbenpracht oft nur weiß übertüncht, die Fenster erweitert, die Kirchen wurden heller und luftiger, der Kirchenraum vergrößert. Andere Kirchen wurden wegen gähnender Leere beim Gottesdienst abgerissen z. B. die Braunschweiger Jakobuskirche, Johanneskirche und Marienkirche. Der Gottesdienst verkümmerte zu endlos langen Predigtgottesdiensten, das Glaubensbekenntnis entfiel laut einer Konsistorialverordnung von 1780, die Privatbeichte wurde abgeschafft, Reste von Beichtstühlen in Braunschweiger Dorfkirchen zeugen noch heute von der altkirchlichen Praxis. Die kleineren Kirchenfeste entfielen, Taufe und Abendmahl verloren ihren Gehalt, in der Gottesdienstgestaltung herrschte der private Geschmack des Ortspfarrers vor.
Jeder Pfarrer konnte laut herzoglicher Instruktion "die erforderlichen Abänderungen nach den Bedürfnissen der Zeiten, Umstände und Personen mit weiser Schonung der persönlichen Gefühle" vornehmen. Pfarrer Schiller in der Brüdernkirche predigte über den Nutzen der Morgenstunden (Mk 16) und der Abendstunde (Lukas 24), über die Seligkeit des Kaufmannstandes ("Zwar ist es schwer, doch geht es an, daß auch ein Kauf- und Handelsmann rechttun und selig werden kann") und über die Pflichterfüllung im neuen Jahr (Beschneidung Jesu: "In diesem neuen Jahr ganz unsrer Pflicht zu leben, sei unser emsiges und redliches Bestreben"). Bei den Pfarrern auf dem Lande war die Beschäftigung mit praktischen Dingen und die Erfindergabe verbreitet: ein künstliches Auge erfand P. Häseler, eine Dreschmaschine P. Peßler in Wedtlenstedt, eine "Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens" P. Helmuth in Volkmarsdorf, über den "Prediger als Landwirt" schrieb P. Schröter aus Kissenbrück.
Aus dieser praktischen Seite der aufgeklärten Frömmigkeit, die das Wort "Pflicht" groß schrieb, erwuchs ein geschärftes Verständnis für die Diakonie. Einen erstaunlichen Aufschwung nahm die Armenpflege. Ein Erlaß von 1742 ordnete die wöchentliche Haussammlung für die Armen. Es wurden Armenarbeitshäuser in Braunschweig und Blankenburg, Waisenhäuser in Helmstedt, Holzminden und Königslutter, Krankenhäuser in Braunschweig und Wolfenbüttel errichtet.
Im Fahrwasser eines toleranten Luthertums hatte Johann Lorenz Mosheim von 1723 - 1747 an der Helmstedter Universität Kirchengeschichte gelehrt und war dann zum Kanzler der neu gegründeten Göttinger Universität gewählt worden. Ebenso jung wie Mosheim erhielt Wilhelm Abraham Teller (geb. 1734) von Jerusalem unterstützt, mit 28 Jahren eine Helmstedter Professur und löste durch das "Lehrbuch des christlichen Glaubens" (1764) einen großen Wirbel aus. Teller griff scharf die in Helmstedt wieder herrschende Orthodoxie an und verwarf die Lehre von der Verbalinspiration, der Trinität, der Zweinaturenlehre. Schon mit 33 Jahren verließ er Helmstedt mit den Worten: "Der Geist muß am Ende in solcher Wüstenei mit verdorren" und wurde in Berlin Oberkonsistorialrat und Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
30 Jahre lang lehrte an der Helmstedter Universität Heinrich Philipp Konrad Henke (1752 - 1809) Kirchengeschichte und Neues Testament. Er erklärte die Kirchengeschichte des Altertums und des Mittelalters als eine Geschichte des Irrtums und des Fanatismus. Seine Vorlesungen über die neutestamentlichen Schriften hinterließen bei mehreren Theologengenerationen einen nachhaltigen Eindruck. Henke wurde auch Generalsuperintendent in Schöningen und Vizepräsident des Konsistoriums. Mit der Schließung der Helmstedter Universität durch Napoleon ging auch die Lehrtätigkeit Henkes unfreiwillig zu Ende. Die Bedeutung der Helmstedter Universität war allerdings durch die Gründung der Göttinger Universität und des Carolinum in Braunschweig erheblich gesunken.
Das Herzogtum Wolfenbüttel galt unter dem Sohn Karls I., Karl Wilhelm Ferdinand (1780-1806) als ein Musterland geistvoller, aufgeklärter Gesellschaft. Karl Wilhelm Ferdinand wollte die Reformpolitik seines Vaters auf dem Schulgebiet fortsetzen und Kirche und Schule gründlich voneinander trennen. Dazu berief er den berühmtesten Schulreformer seiner Zeit, Joachim Heinrich Campe, an den Hof und zusammen mit Fürst Hardenberg in das 1786 neu gebildete Schuldirektorium.
Im selben Jahr veröffentlichte Campe ein Fragment "über einige verkannte, wenigstens ungenützte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des öffentlichen Wohlstandes". In diesem entwickelte er sein pädagogisches Programm in drei Punkten. Er schlug die Verwandlung der Volksschulen in Industrieschulen, eine neue Ausbildung der Pfarrerschaft und die Durchsetzung des weitmöglichsten Toleranzbegriffes vor.
Die bisherige Wirksamkeit eines Landpredigers schilderte Campe folgendermaßen:
"Er taufte, kopulierte, saß zur Beichte und teilte das Abendmahl aus; er administrierte seine Pfarrgüter und hob da, wo dieses zu seinen Intraden gehörte, den Zehnten ein; er besuchte, wenn es verlangt wurde, die Kranken und versah sie, statt der letzten Ölung mit der Kommunion zur Bestärkung des allgemeinen Aberglaubens, daß diese zu ganz anderen Zwecken eingesetzte heilige Handlung das Mittel sei, ein ganzes Leben voll Sünden und Schandtaten auf einmal zu tilgen und für nichts und wieder nichts die ewige Seligkeit zu verschaffen. Er besuchte, wenn es hoch kam, je zuweilen die Schule seines Dorfes, nicht eben um selbst darin zu lehren, sondern um etwa einmal nachzusehen, ob auch der Katechismus gehörig gelernt werde, und den Schulmeister zu erinnern, daß er einen Vorgesetzten habe. Er präparierte einige Monate lang die Katechumene, d. i. er examinierte sie, ob sie den Katechismus gelernt hätten und pfropfte dem auswendig gelernten Katechismus einen Teil seiner auf Universitäten gehörten und nachgeschriebenen Dogmatik ein. Statt dessen soll der Geistliche der Vater, Lehrer Arzt, Ratgeber und das Vorbild seiner Gemeinde sein. Er soll dem Landmann angemessene Aufklärung über sein Dorf und seine Gegend geben, für die Erziehung der Jugend sorgen, die Sitten veredeln, die Haushaltung, den Ackerbau und die sonstigen Gewerbe seiner Gemeinde verbessern, abergläubige und quaksalberische Genesungsmittel durch wirklich heilsame Arzneien verdrängen, den an äußeren Teilen des Körpers Beschädigten oder Verwundeten durch einige Geschicklichkeit in der Wundarzneikunst zur rechten Zeit zur Hilfe kommen, und wenn er sich durch dies alles volles Vertrauen und kindliche Liebe erworben hat, dann kann er so manchem Unfug vorbeugen, so manchen Hader stillen, so manchen unnützen und verderblichen Prozeß in der Geburt ersticken, kurz, das allerehrwürdigste und allernützlichste Werkzeug sein, um wahre, praktische Gottesfurcht, zweckmäßige Aufklärung, gute Sitten, Ordnung, Fleiß, Industrie, Bevölkerung und allgemeinen Wohlstand zu fördern. Dazu muß aber die Vorbildung der künftigen Landgeistlichen eine andere werden. Nicht mehr zu gelehrten Theologen im schulgerechten Sinne sind sie zu drillen, wodurch sie steif und pedantisch und der wirklichen Welt entrückt werden. Der geistliche Lehrer des Volkes soll ein Mann des Lebens sein und nicht der Spekulation. Darum ist die griechische und hebräische Sprache, Hermeneutik, Dogmatik, Polemik, Logik und Metaphysik aus ihrer Vorbildung zu verbannen. Dagegen ist ein Quentchen gesunden Menschenverstandes auch für sie mehr wert als ein Pfund Gelehrsamkeit. Gründliche Kenntnis der Religion, wie sie von Christus selbst gelehrt ist, Übung in der sokratischen Religionsgeschichte, anthropologische, naturwissenschaftliche und landwirtschaftliche Kenntnisse, Verständnis für Kunst, Gewerbe, endlich eine gewisse medizinische und chirurgische Geschicklichkeit, das sind Campes Forderungen."
Campe wurde ein glühender Verehrer der französischen Revolution, machte sich dadurch in Braunschweig unmöglich, gründete in der Stadt eine Schulbuchhandlung, durch die er vermögend wurde; er wurde durch Plakatanschläge in der Stadt öffentlich bedroht: "So sollt ihr Schurken bei Abendzeit keinen sicheren Schritt mehr tun können. Ja, ihr seid in Gefahr!" Das Schulexperiment war bereits nach zwei Jahren auf Druck des Konsistoriums und der Stände vom Herzog nur widerwillig begraben worden.
Die französische Revolution und die Proklamation der Republik in Frankreich 1789 waren der Anfang der Demokratisierung in Europa. Durch die napoleonischen Kriege wurden die republikanischen Ideen von der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz nach Deutschland getragen. Die Trennung von Staat und Kirche, von Schule und Kirche, von Justiz und Regierung, die Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung und Verwaltung, die Säkularisierung des kirchlichen Besitzes gehörten zu den grundlegenden Erkenntnissen. Sie wirkten natürlich auf dem Hintergrund des absolutistischen, landesherrlichen Kirchenregimentes abstoßend und revolutionär. Beste urteilte noch 1889, die Wohlfahrt könne nicht gedeihen "wenn sich die Völker selber befreien wollen". Sieben Jahre lang (1806 - 1813) dauerte die französische Besetzung des Braunschweiger Landes, in der das Herzogtum dem Okerdepartment zugeschlagen wurde, das ein Teil des Königreiches Westfalen wurde. Die Vorrechte der Stände wurden aufgehoben, das Prinzip der Öffentlichkeit in die Justiz eingeführt, die Religionsfreiheit brachte den Juden die Gleichberechtigung. Die Trennung von Kirche und Staat wurde an der Einführung von Zivilstandregistern deutlich, in die nun von den Pfarrern Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle eingetragen werden mußten. Die Anpassungsbereitschaft der Braunschweiger war beträchtlich. Man leistete den Treueid, und die Kirchen veranstalteten in Stadt und Land zu den neuen Staatsfesten (Napoleons und Jeromes Geburtstag, Siegesfeiern) Gottesdienste, hielten besondere Gebete und sangen das Tedeum. Es kam aber auch vor, daß eine widerwillige Gemeinde vor dem Absingen des Tedeum am Ende des Gottesdienstes das Gotteshaus verließ und ein Spötter auf die Melodie des Hymnus anstimmte: "Herrgott, da laufen sie!" Eine Auswertung der Predigtliteratur jener Zeit oder besonderer Pfarrergestalten jener Zeit wie des Hordorfer Pfarrers Carl Venturini hat noch nicht stattgefunden. Beste urteilte aus lutherischer Sicht etwas defensiv, die Geistlichkeit hätte im Großen und Ganzen die Treue bewahrt. Die schönen republikanischen Ideen wurden durch die Tatsache der Besatzung, die hohen Steuerlasten, das Verhalten der Soldaten und durch Napoleon selber, der sich zum Kaiser ausrufen ließ, schwer diskreditiert.
Im Reichsdeputationshauptschluß 1803 hatten die europäischen Fürsten die geistlichen Fürstentümer und den kirchlichen Besitz unter sich aufgeteilt. Preußen hatte Hildesheim und Goslar erhalten, Kurhannover das Bistum Osnabrück, Oldenburg hatte Vechta und Cloppenburg erhalten. Hier liegt der Beginn einer großräumigen Gliederung Niedersachsens. Die Helmstedter Universität wurde 1809 aufgelöst. Im Wiener Kongreß 1815 setzte sich der Prozeß der Neugliederung Niedersachsens fort. Das Herzogtum Braunschweig erstand zwar in seinen alten Grenzen wieder, allerdings wie schon 1803 ohne nennenswerten Zugewinn. Hannover dagegen wurde zum Königtum erhoben und erhielt von Preußen Hildesheim und Hannover. Durch den Wiener Kongreß (1814/15) wurde das Land Braunschweig in seinem Besitzstand bestätigt. Die Hoffnung auf Zugewinn eines geistlichen Territoriums, etwa des Gr. Stiftes von Hildesheim, erfüllte sich nicht. Aber Hannover wurde zum Königreich ausgerufen und erhielt zahlreiche geistliche Gebiete zugesprochen. Kirchlich war das Königreich Hannover in mehrere selbständige Kirchengebiete mit selbständigen Konsistorien aufgespalten, denen erst 1866 durch königliche Verordnung ein Landeskonsistorium übergeordnet wurde.
Im Braunschweigischen setzten sich republikanische Ideen früh durch. Wegen der Mißwirtschaft des noch jungen Herzogs Karls II. (1823-1830) probten die Braunschweiger den Aufstand, steckten am 07.09.1830 das Braunschweiger Schloß an und verjagten den Herzog. Es gibt ein schiefes Bild, diesen Aufstand im Zusammenhang mit den Revolutionen der 30iger und 40iger Jahre in Frankreich und Deutschland zu sehen. Es handle sich eher um ein letztes Auflammen des alten Widerstandsrechts ständischer Schichten gegen die rechtswidrig handelnde Obrigkeit, bemerkt Joseph König zutreffend. Karls Nachfolger Herzog Wilhelm (1830-1884) wurde zur liberalen Vaterfigur des Herzogtums. Er verabschiedete die Neue Landschaftsordnung vom 12.10.1832, eine der ersten Verfassungen des Deutschen Reiches, die auch für die Landeskirche bedeutsam wurde. Sie war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den Ständen und dem Herzoglichen Ministerium unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die neue Verfassung trennte erstmals grundsätzlich das fürstliche Vermögen von den Staatsfinanzen und unterwarf die Verabschiedung des Haushaltes der Ständeverwaltung. Es garantierte eine unabhängige Rechtspflege und beteiligte Rittergutsbesitzer (10 Sitze), freie Bauern (10 Sitze) und Bürger (12 Sitze) an der Legislative, dazu 16 Männer aus Bildung und Wissenschaft. Alle sechs Jahre wurden 48 Abgeordnete in die Ständeversammlung gewählt nach dem Dreiklassenwahlrecht, das also weder allgemein noch gleich war wie heutzutage. Das Wahlrecht war nach Einkommen gestaffelt. Das aktive Wahlalter betrug 25 Jahre, das passive Wahlalter 30 Jahre. Frauen durften nicht wählen. "Was hier vertreten wird, sind also nicht die Staatsbürger allgemein, auch nicht die verschiedenen Stände, sondern die unterschiedlichen Interessen" (Pollmann). Das 2. Kapitel der Landschaftsordnung formulierte die Grundrechte des Bürgers wie Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit. Kapitel acht legte die staatliche Oberaufsicht über Kirche und Schulen fest, wobei dem Konsistorium als Staatsbehörde eine gewisse Selbständigkeit eingeräumt wurde. Es erfolgte eine erste vorsichtige Trennung der Kirchengewalt von der Staatsgewalt. Aber die Kirchengewalt ging nach wie vor vom Landesherren aus.
Es wurde auch die Einführung von Kirchenvorständen vorgeschrieben, die aber erst knapp 20 Jahre später 1851 erfolgte. Danach wurden je nach Seelenzahl für sechs Jahre 4 - 16 Kirchenverordnete gewählt. Das aktive Wahlalter lag bei 25, das passive bei 30 Jahren, Frauen hatten kein Stimmrecht. Es wurde auch nicht geheim abgestimmt, sondern der id des erwünschten Kandidaten durch Erklärung zu Protokoll gegeben. Erst nach 1873 wurde mit Stimmzetteln und geheim gewählt. Der Wirkungskreis des Kirchenvorstandes war beträchtlich: er hatte die Ämter der Kantoren, Opferleute und Organisten zu besetzen und hatte abwechselnd mit dem Konsistorium das Recht, den Pfarrer zu wählen, Die Auswirkungen dieses Kirchenvorstandsgesetzes auf das Gemeindeleben sind noch nicht untersucht. Auch eine neue Verfassung wurde in der Landeskirche bereits in den 40iger Jahren erörtert, die von einem Verfassungsausschuß im Dezember 1849 dem Herzoglichen Konsistorium vorgelegt wurde. Sie baute die Kirche von unten auf. Sie beschrieb die Aufgaben der Kirchengemeinde, der Kreissynoden, der Landessynode und der Kirchenbehörden, außerdem die Ordnung des kirchlichen Lebens (Kasualien). Allerdings scheiterte dieser erste Versuch einer neuen Verfassung. Erst 1872 trat nach heftigen innerkirchlichen Kontroversen die erste ordentliche Landessynode zusammen. Sie bestand aus 36 Synodalen und tagte in der Regel alle vier Jahre mehrere Wochen lang. Bis 1916 wurden die Sitzungsprotokolle in Wortform, dazu eine Zusammenfassung der Verhandlungen, sowie alle Anträge und Beschlüsse der Beratungen gedruckt und liegen in der Regel in den Pfarrarchiven vor.
Ein weiteres Zeichen der Demokratisierung in der Kirche war die Herausbildung von Kirchengruppen und Kirchenparteien. Als Gegengewicht zu den liberalen Grundströmungen in der Kirche und zu dem besonders im Gesangbuch immer präsenten Geist der Aufklärung erfolgte eine Rückbesinnung auf das lutherische Erbe. Diese war verstärkt als Reaktion auf die Bildung einer Union zwischen reformiertem und lutherischem Bekenntnis 1817 in den preußischen Kirchen unter König Friedrich Wilhelm III. zu sehen. Seit 1850 erschien "das Kirchenblatt für die ev.-luth. Gemeinde", 1852 sammelten sich die Lutheraner in der "Konferenz der Diener und Freunde der evangelisch-lutherischen Kirche". Der Braunschweiger Dom wurde durch den Domprediger Heinrich Thiele( 1814 - 1886 ) zu einer Quelle der liturgischen Erneuerung. Lutheraner, auch die Positiven genannt, und Liberale standen sich in der Synode schroff gegenüber. Das anfänglich zahlenmäßig große Übergewicht der Liberalen, die sich seit 1884 als Organ das "Evangelische Gemeindeblatt" hielten, veränderte sich im Laufe der Zeit bis zum ersten Weltkrieg zu Gunsten der Positiven.
Die Oberkonsistorialräte und Äbte Wilhelm Hille (1803 - 1880) und Ludwig Ernesti (1814 - 1880) haben 25 Jahre lang gemeinsam im Konsistorium gearbeitet (1850 - 1875) und die kirchliche Arbeit behutsam den neuen konfessionellen und synodalen Strömungen gegen den auslaufenden Rationalismus und die erstarkende Orthodoxie geöffnet. Ernesti schuf ein neues Buch für den Konfirmandenunterricht, mit dem der Gebrauch der sog. Ziegenbeinschen Bibel abgelöst wurde. Ihm war auch die Ablösung der Stolgebühren, einer staatlichen Gebühr für Amtshandlungen, gegen eine einmalige Zahlung von 1 Million Taler zu verdanken.
Am 04. 05.1892 gründeten 60 Pfarrer den Braunschweiger Landespredigerverein zur Vertretung ihrer Standesinteressen gegenüber dem Landeskonsistorium. Diese Gründung war dem staatskirchenfeindlichen, demokratischen Linksverdacht ausgesetzt. Der unmittelbare Anstoß dazu war die ungerechte, weit auseinander klaffende Dotierung der Pfarrstellen, die Angriffe der sozialdemokratischen Presse und der interne Zerfall der Pfarrerschaft. Die seit 1873 geschaffene Möglichkeit zum Kirchenaustritt und die Einrichtung von Standesämtern waren weitere Schritte auf dem Wege der Trennung von Kirche und Staat. Aus dem Landespredigerverein stammte daher auch die Anregung zur Abschaffung des Pfründenwesens und der Vereinheitlichung des Pfarrergehaltes, das bisher in unterschiedliche Gehaltsklassen je nach einer verschiedenen Dotierung der Kirchengemeinden auseinanderfiel und den ständigen Wechsel von einer niedrig dotierten Pfarrstelle in eine höhere zur Folge hatte. Diese Neuordnung verabschiedete die Landessynode 1911 durch ein Pfarrbesoldungsgesetz, das eine nach Dienstalter langsam steigende Pfarrerbesoldung vorsah. Nach heftiger Debatte löste die Landessynode das Gesangbuch der Aufklärung im Jahre 1902 ab und führte ein neues Gesangbuch ein, die dritte Generation des Braunschweiger territorialen Gesangbuches. Daraus waren eine Vielzahl rationalistischer Lieder entfernt, die Lutherlieder aus dem Anhang wieder in den Hauptteil gerückt, einige Lieder des 19.Jahrhunderts hinzugefügt worden, und die Gliederung folgte wieder dem Kirchenjahr. Dieses Gesangbuch blieb bis 1950 in Geltung.
Zu einer wesentlichen Entflechtung von Staat und Kirche kam es bereits 1909 durch die Verabschiedung einer neuen Kirchengemeindeordnung. Die politische Kommune vor Ort wurde von der Verpflichtung befreit, für die finanziellen Bedürfnisse der Ortskirchengemeinde mit aufzukommen. Zugleich wurde die Mitwirkung der Kirchengemeinde durch die Bildung eines größeren 8-24 köpfigen Kirchengemeinderates und eines daraus gebildeten engeren Kirchenvorstandes gestärkt.
Zu einem Prüfstein der Demokratisierung in der Kirche wurde die Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft, die sich in Parteien organisierte und um ihre Anerkennung in den Parlamenten rang. Auf den Inspektionssynoden diskutierte die Pfarrerschaft über die Arbeiterfrage. Teile der Kirche beantworteten die soziale Frage durch Gründungen von karitativen Einrichtungen, z. B. des Rettungshauses St. Leonhard 1852, heute Christopherusschule, die Gründung der Neuerkeröder Anstalten 1886, des Diakonissenmutterhauses Marienstift 1870. 1881 gründete einige Pfarrer den "Evangelischen Verein für innere Mission".
Die Bevölkerungsexplosion zum Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Kirche vor weitere große Aufgaben. Die Einwohnerzahl des Herzogtums war von 271.208 (1852) auf 434.213 (1895) gestiegen, und die Bevölkerung der Stadt Braunschweig explodierte von 35.000 (um 1830) auf 145.000 (1910). Die Industrialisierung, die um 1900 einen Höhepunkt erreicht hatte, hatten Stadt und Land Braunschweig gründlich verändert. Die Zuckerrübenindustrie hatte die daran beteiligten Landwirte reich gemacht, die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Spargelernte stieg von 500 im Jahre 1874 auf 8000 im Jahre 1893, die Umstellung von Handarbeit auf maschinelle Fertigung ließen die Eisen- und Textilverarbeitende Industrie besonders in und um die Stadt Braunschweig zum Anziehungspunkt für die vom Land in die Stadt strebenden Landarbeiter werden. Für die kaum Verdienenden wurden die Wohnungs- und Sanitärverhältnisse schwer erträglich, die begüterten Kreise bauten sich Villen vor dem Grüngürtel der Stadt, meist auf und vor den alten Wallanlagen, für die gehobenen Facharbeiter entstanden neue Wohnquartiere in langgestreckten geschlossenen Häusereihen im Südwesten der Stadt Braunschweig. Die Landeskirche suchte diese völlig neue Situation durch den Bau von Kirchen und erstmals auch von Gemeindehäusern in den Ballungszentren zu meistern. So entstanden im Braunschweiger Stadtgebiet die Paulikirche, Jakobikirche und Johanneskirche und Gemeindehäuser in St. Katharinen, Braunschweig, in Wolfenbüttel und Blankenburg.
Kurz vor dem 1. Weltkrieg sammelten sich die Frauen in der Ev. Frauenhilfe, die sich im Laufe des Jahrhunderts zu einem selbständigen, tragenden Teil der Landeskirche entwickelte.
Diese wachsende Demokratisierung in der Gesellschaft wurde immer wieder von nationalistischen Gegenbewegungen unterbrochen, die sich nicht selten in Kriegen austobten (Freiheitskriege1812/13, Deutsch/Französischer Krieg 1870/71, der 1. Weltkrieg 1914 - 18), wobei sich der 1. Weltkrieg als "totaler Krieg" wesentlich von den Kriegen des 19. Jahrhunderts abhob. Die Industrialisierung hatte die Produktion und den Einsatz auch von Tanks, Flugzeugen und Gas ermöglicht. Dieser Wandel veränderte die Dimension des Krieges als einer begrenzten Auseinandersetzung von Mann zu Mann zu einem dämonischen "Stahlgewitter" mit bleibenden traumatischen Verwundungen, die nach dem Krieg jedoch massenweise verdrängt wurden. Der Weltkrieg ruinierte den Unterricht in der Schule, die Schuljugend wurde der Verwahrlosung ausgesetzt, die Braunschweiger Industrie hatte sich rasch auf Kriegsproduktion umgestellt und boomte, die Sozialdemokraten dagegen wandten sich bereits im ersten Kriegsjahr gegen jeden "Siegfrieden" und die Arbeiterschaft organisierte fühlbare Streiks. Als nationalistische Gegenbewegungen fanden die Kriege in der Kirche einen starken Rückhalt, der grundsätzliche Wandel wurde nicht verstanden, sondern mit den Liedern Theodor Körners aus den Freiheitskriegen von 1814 betete sie Gott als der Lenker der Schlachten an.
Die Niederlage von 1918 leitete zu einer endgültigen Beseitigung der Monarchien in Deutschland und des Herzogtums in Braunschweig über. Aus dem Herzogtum wurde der Freistaat Braunschweig, aus dem herzoglichen Konsistorium das Landeskonsistorium. Die mehrheitliche Beteiligung der Sozialisten an der Braunschweiger Landesregierung an November 1918 war der Anstoß zu einer auffälligen parteipolitische Betätigung einer großen Zahl von Braunschweiger Pfarrern. überwiegend in der liberalen Mittelpartei DVP (Demokratische Volkspartei), aber auch in der rechten, republikfeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und vereinzelt auch in der linksliberalen DDP (Deutschen Demokratischen Partei). Das Ziel der DVP und der DNVP war die Wiederherstellung der politischen Verhältnisse vor dem 1. Weltkrieg. Die vom Soldatenrat herbeigeführte Trennung von Kirche und Schule im Volksschulbereich wurde von der Lehrerschaft begrüßt, von dem lutherischen Teil der Pfarrerschaft dagegen als großer Verlust beklagt. Typisch für das verkrampfte Verhältnis von Staat und Kirche im Land Braunschweig wurde eine Schulpolitik der sozialistischen bzw. bürgerlichen Landesregierung, bei der es im Wesentlichen um den im Schulgesetz von 1913 noch festschriebenen Charakter der Braunschweigischen Volksschule als "christlicher Schule" ging. Da die Mehrheiten in der Landesregierung alle drei Jahre wechselte (1921: sozialistisch, 1924: bürgerlich, 1927: sozialistisch, 1930: bürgerlich/ nationalsozialistisch) wechselte auch jeweils die Schulgesetzgebung. Tatsächlich war der Schulkampf bereits an Anachronismus. Die Landeskirche kämpfte um Statusfragen anstatt ein attraktives religionspädagogische Angebot für die Religionslehrer zu machen.
Neu war für die Kirchengemeinde eine Reihe von Wahlen, an der sich erstmals auch Frauen beteiligen konnten, die zur verfassunggebenden Synode führten. Diese entwarf nun eine Verfassung für die Landeskirche: "Die Braunschweigische evangelisch lutherische Landeskirche ruht auf dem Evangelium, wie es in der Heiligen Schrift enthalten und in dem lutherischen Bekenntnis bezeugt ist. Sie will auf diesem Grunde unter tätiger Mitarbeiter ihrer Glieder sich zu einer Gemeinschaft christlichen Glaubens und Lebens aufbauen." Mit diesem ? 1 der Verfassung wurde die Verbindung zur reformatorischen Geschichte und zugleich die diakonische und solidarische Gestalt der Landeskirche beschrieben. Als neue Organe der Landeskirche wurden der Landeskirchentag (heute Landessynode), die Kirchenregierung und das Landeskirchenamt gegründet (? 7). Die Landeskirche baute sich von unten auf. Daher erfolgte zunächst die Beschreibung der Kirchengemeinden (?? 8-13), der Kirchenkreise (?? 14-25), und des Landeskirchentages (?? 26-48). Der Vorsitzende der Kirchenregierung (?? 49-53) ist der Landesbischof. Damit trat zum ersten Mal seit gut 350 Jahren an die Spitze der Landeskirche ein vom Landeskirchentag gewählter Theologe mit dem Titel Landesbischof. Der erste Landesbischof war der vormals baltische Generalsuperintendent Alexander Bernewitz (1923-1933). 1923 hatte die Landeskirche mit drei Theologen und zwei Juristen eine völlig erneuerte Kirchenleitung.. Personalreferent war bis 1933 Oberkirchenrat Georg Meyer, umstrittener Finanzreferent wurde Oberkirchenrat Reinhold Breust und blieb es mit einer kurzen Unterbrechung bis 1963. Im Anschluß an die Verfassung wurde im selben Jahr erstmals eine Kirchengemeindeordnung (113 ??) verabschiedet. Von 1924 bis 1933 tagte der Landeskirchentag in zwei Sitzungsperioden. Er setzte sich aus 36 gewählten Abgeordneten zusammen, die sich auf drei Kirchenparteien teilten: die kirchliche Rechte, die kirchliche Mitte und "die Freunde der evangelischen Freiheit". Wahlberechtigt waren alle Gemeindemitglieder ab 25 Jahre, wählbar waren alle Wahlberechtigten ab 30 Jahre. Finanziell machte sich die Landeskirche durch die Bildung einer zentralen Landeskirchenkasse und die Erhebung einer Landeskirchensteuer vom Staat weitgehend unabhängig. Die Erhebung einer völlig überhöhten Landeskirchensteuer von 15 % führte zu einer drastischen, einmaligen Kirchenaustrittswelle von 21.000 Kirchenmitglieder im Jahre 1922, die allerdings offiziös ausschließlich der Agitation der politischen Linken angelastet wurde. Die durch die Inflation bedingte Notsituation in den Jahren 1922/23, unter der besonders die Pfarrerswitwen zu leiden hatten, die aber auch manche Pfarrer zu einer Nebenbeschäftigung zwang, besserte sich sichtlich im Laufe der 20iger Jahre. Die Bewertung der Situation der Landeskirche in der Weimarer Zeit ist immer noch ungerechterweise einseitig von der Notsituation der Landeskirche geprägt.
Da die Weimarer Republik aus der Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg hervorgegangen war und die Abdankung der Monarchien unfreiwillig erfolgt war, außerdem die Niederlage mit einer fünfjährigen Notzeit samt Inflation und mit hohen Reparationen an die Siegerstaaten bezahlt werde mußte, gewann die NSDAP besonders seit 1926 ein so dramatisches Übergewicht, daß die deutsche Bevölkerung 1933 mit Adolf Hitler den autoritären Führerstaat wählte, der nach zwölf Jahren in einer totalen militärischen Niederlage endete, und den Verlust der deutschen Ostgebiete, eine mehrjährige Besetzung durch amerikanische, englische, französische und sowjetische Truppen und eine 44jährige Spaltung Deutschlands in zwei selbständige Staaten zur Folge hatte.
Im Braunschweigischen war der Führerstaat beträchtlich ausgeprägt. Er fand, wie im Reich, auch in der Landeskirche anfänglich die breite Unterstützung der Pfarrerschaft und von Landesbischof Bernewitz, die sich schon seit 1931 im Wesentlichen positiv zum Nationalsozialismus einstellten, zumal sich der Nationalsozialismus laut Parteistatut einem "positiven Christentum" verpflichtet fühlte und Hitler in seiner Regierungserklärung die Kirchen als Stützen seiner Politik bezeichnet hatte. Die zunächst kleine Gruppe "Deutsche Christen" unter der Führung des Braunschweiger Katharinenpfarrers Johannes Schlott, die sich als "SA Jesu Christi" bezeichnete, unterstützte die fragwürdige, nationalsozialistische Politik Hitlers ausdrücklich auch in der Judenfrage. Es gelang ihnen, im Frühjahr 1933 den Landespredigerverein und Landeskirchentag "gleichzuschalten" und schließlich auch die Zusammensetzung des Landeskirchenamtes grundlegend in ihrem Sinne zu ändern. Gegen sie bildete sich als innerkirchliche Opposition unter der Führung von Domprediger Karl Adolf v. Schwartz, der Blankenburger Pfarrer Ottmar Palmer und Heinrich Lachmund der Pfarrernotbund, dem in der Braunschweiger Landeskirche mit 70 Pfarrern rund ein Drittel der Pfarrerschaft angehörte. Die Bekennende Kirche bildete in Blankenburg, Helmstedt und der Stadt Braunschweig einige Stützpunkte. Der nun nur noch aus Deutschen Christen bestehende Braunschweiger Landeskirchentag wählte im September 1933 mit dem 30jährigen Dorfpfarrer Wilhelm Beye (gest. 1975) den jüngsten und außerordentlich fanatischen deutsch/christlichen Bischof, der nun die gesamte organisatorische Struktur der Landeskirche dem nationalsozialistischen Organisationsschema unterwerfen wollte. Die Größe der Kirchenkreise wurde den politischen Landkreisen angepaßt. Beye, der erst im Januar 1934 im Braunschweiger Dom feierlich vom Reichsbischof Müller in sein Amt eingeführt worden war, mußte allerdings schon im März 1934 sein Bischofsamt nach einem spektakulären Prozeß vor dem Braunschweiger Landgericht wegen geringer Unregelmäßigkeiten in der Kirchenkasse gezwungenermaßen aufgeben.
Sein Nachfolger Helmut Johnsen (1934 - 1946) bezeichnete sich selber in einem Grußwort an die Gemeinden als bewußten Nationalsozialist und überzeugten Lutheraner. Er versuchte, lutherische Kirche im Nationalsozialismus zu bauen und die Landeskirche durch Gründung übergemeindlicher Ämter, durch Einstellung von Diakonen,einige Kirchenneubauten (Martin Luther in Braunschweig, in Kreiensen, St. Georg und Bugenhagen in Braunschweig und die Kirche in Lehndorf) und eine unermüdliche volkstümliche Predigttätigkeit neu zu beleben. Durch eine Position in der Mitte zwischen dem Pfarrernotbund und den Deutschen Christen vermied er dramatische Entwicklungen wie in den Landeskirchen der altpreußischen Union unter Martin Niemöller. Die zunehmende Entfremdung zwischen nationalsozialistischer Partei und ev. Kirche verhinderte nicht, daß die gesamte Braunschweiger Pfarrerschaft demonstrativ am Geburtstag des "Führers", dem 20.04.1938, sich feierlich nach einem gemeinsamen Festgottesdienst in der Martinikirche in Braunschweig auf Hitler vereidigen ließ. Der Regierung des nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Dietrich Klagges gelang es jedoch, durch die regimetreue Besetzung der 1936 eingerichteten Finanzabteilung mit Regierungsrat Hoffmeister das Landeskirchenamt mit Ausnahme der Personalabteilung unter Oberkirchenrat Wilhelm Röpke vollständig zu nazifizieren. Hoffmeister versuchte, auch die Kirchenvorstände durch die Einrichtung von Finanzbevollmächtigten auf Kirchengemeindeebene gleichzuschalten, was jedoch auf Widerstand stieß. Der Braunschweiger Dom wurde nach jahrelangen Schikanen von der Regierung Klagges in eine nationalsozialistische Weihestätte verwandelt.
Wie die Deutsche Evangelische Kirche Reich trug auch die Braunschweiger Landeskirche die Außenpolitik Hitlers mit immer neuen Loyalitätserklärungen von Anfang an mit. Trotzdem kam es zu Zusammenstößen mit den staalichen Organen, zu Verhören, Überwachungen und Verhaftungen von kirchlichen Mitarbeitern, wie sie sonst in der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Braunschweiger Staat und der Landeskirche bisher nicht vorgekommen waren. Während des 2. Weltkrieges schlossen Staat und Kirche eine Art "Burgfrieden". Im siegreichen ersten Jahr des 2. Weltkrieges jubelte und feierte die Landeskirche wie auch die Kirche im Reich kräftig mit, sie verurteilte nach dem Attentat auf Hitler am 09.11.1939 und am 20.07.1944 die Attentäter scharf und dankte für die gnädige Bewahrung des "Führers".
Während des Krieges kam es zu der einschneidendsten territorialen Veränderung seit dem 30jährigen Krieg, die vom Staat eingefädelt war. Das Salzgittergebiet, in dem die Hermann Göringwerke einen tragenden Beitrag zum militärischen Endsieg durch die Intensivierung der Stahlproduktion leisten sollten, kam zum Braunschweiger Staat, der dafür den schönen Holzminder Landkreis opferte. Außerdem erhielt Braunschweig die Stadt Goslar. Zu einem entsprechenden Austausch kam es zwischen der Hannoverschen und der Braunschweigischen Landeskirche im Jahre 1942. Dieser Austausch wurde nach Kriegsende trotz beidseitiger Bemühungen nicht rückgängig gemacht. Die Hälfte der Pfarrerschaft war an die Front eingezogen, die Last des kirchlichen Alltags wurde von den Alten und den Frauen mitgetragen. Die seit 1940 anhaltende Bedrohung von Land und Stadt Braunschweig aus der Luft, angekündigt durch Fliegeralarm, und die Bombardierung der Dörfer und der Stadt Braunschweig in der zweiten Kriegshälfte veränderten den kirchlichen Alttag gravierend. Am Kriegsende 1945 waren 35 Pfarrer und Diakone der Landeskirche an der Front gefallen, 91 Kirchen und 76 andere kirchliche Gebäude wurden beschädigt, davon 17 total und 44 schwer.
Die Geschichte der Landeskirche während der Zeit der Nationalsozialismus ist trotz des sehr großen zeitlichen Abstandes bis heute ein mit außerordentlichen Emotionen belastetes und von Verdrängung gekennzeichnetes, leidvolles Thema.
Es war für die Nachkriegszeit und die nun erneut einsetzende demokratische Erneuerung ein tragischer Umstand, daß die deutsche Bevölkerung Hitler nicht abwählen konnte und die Demokratie von außen durch Siegermächte importiert wurde. Für die Landeskirche blieb es kennzeichnend, daß nicht wie in den Kirchen der Altpreußischen Union z.B. in Westfalen und im Rheinland, die Mitglieder der Bekennenden Kirche 1945 die Kirchenleitung übernahmen, sondern die personellen Kontinuitäten weit überwogen.. 1946 wurden der Landeskirchentag, der seit 1934 nicht mehr zusammengetreten war, und die Kirchenvorstände, die an Bedeutung immer mehr abgenommen hatten, wieder neu ins Leben gerufen. In einem Wort an die Gemeinde sollte an den beiden Pfingstfeiertagen 1946 die vom Landeskirchentag verabschiedete Erklärung vorgelesen werden, in der es u. a. hieß:
"In Verkündigung und Verwaltung ist manches unter uns getan und geduldet worden, was dem Geist unseres Herren Jesus Christus widerstreitet. In vielen Fällen ist geschwiegen worden, wo hätte geredet werden müssen. Vor Gott bekennen wir: es hat unter uns gefehlt an der Klarheit der christlichen Erkenntnis und an der Treue gegen die unverrückbaren Grundlagen der Kirche, an der Kraft des Gebetes, am rechten Widerstand gegen falsche Lehre und am Geist der Liebe."
Die Entnazifizierung in der Landeskirche unter dem Vorsitz des seit 1939 bis zum Kriegsende in Konzentrationslagern einsitzenden Pfarrers Hans Buttler (1894-1970) blieb umstritten und bewirkte nach innen eher Trotzreaktionen. Als weitgehend unbelastet galt der volkstümliche Lelmer Dorfpfarrer Martin Erdmann, der im Mai 1947 als Landesbischof (1947-1965) eingeführt worden war, nachdem dem in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Landesbischof Johnsen die Bischofsrechte in einem umstrittenen Synodenbeschluß aberkannt worden waren. Ein halbes Jahr nach der Einführung Erdmanns wurde Landesbischof Johnsen in der Gefangenschaft gewaltsam umgebracht.
Die Mitgliederzahlen im Bereich der Landeskirche hatten sich durch den Massenansturm von Flüchtlingen aus dem deutschen Osten schon seit 1944 und dann seit 1946 durch die systematische Vertreibung der dort Zurückgebliebenen nach Niedersachsen erheblich verändert. Der Anteil der evangelischen Bevölkerung wuchs von 459.000 (1939) auf 596.000 (1946) und 700.000 (1950). Zur Eingliederung der Flüchtlinge wurde das Evangelische Hilfswerk bis in die Gemeinden durchorganisiert. Auch die konfessionelle Zusammensetzung im ursprünglich rein evangelischen Land Braunschweig veränderte sich durch den steigenden Anteil der katholischen Bevölkerung von 4% 1933 auf 17% der Gesamtbevölkerung. Durch die Anteilnahme der Flüchtlinge am gottesdienstlichen Leben und in den Kirchenvorständen erhielten die Gemeinden für einige Jahrzehnte eine neues, lebendiges Profil. Einschneidend waren die Veränderungen im gottesdienstlichen Leben: 1950 beschloß die Landessynode die Einführung des neuen Gesangbuches, das den Abschied vom eigenen Braunschweigischen Territorialgesangbuch von 1902 bedeutete. Es galt nun für die ganze evangelische Kirche in Deutschland. Seit 1958 und schließlich verbindlich seit 1963 wurde auch "die alte Braunschweiger Liturgie" durch die in den lutherischen Kirchen der EKD geltende Agende I abgelöst. Die Ausbildung der Pfarrerschaft wurde durch das 1952 in Braunschweig neu eröffnete Predigerseminar unter der Leitung von Predigerseminardirektor Rudolf Brinckmeier (1906-1986) intensiviert. Die Schaffung eines katechetischen Amtes unter Leitung von Pfarrer Heinrich Brinkmann 1953 suchte die Verbindung zur Lehrerschaft und eine für Konfirmandenunterricht und Christenlehre aufgeschlossene Pfarrerschaft zu stärken. Das Amt für missionarische Dienste gab durch zahlreiche Dorfwochen Impulse im ländlichen Bereich.
Das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum 1946 neu gebildeten Land Niedersachsen wurde im Loccumer Vertrag 1955 mit großzügiger Ausstattung der Kirchen durch staatliche Dotationen als gegenseitige, freie Partnerschaft definiert. Durch den unerwartet hohen Anstieg der Landeskirchensteuern von 2, 4 Millionen DM im Jahre 1950 auf 19,7 Millionen DM im Jahre 1967 war es der Landeskirche möglich, in kurzer Zeit die Kriegsschäden an den Kirchen zu beseitigen und ein unerhört aufwendiges Kirchbauprogramm aufzulegen. Es wurden bis 1967 30 Kirchen, 20 Kindergärten, 71 Pfarrhäuser und 84 Gemeinderäume neu gebaut. Im ganzen Gebiet der Landeskirche befinden sich zahlreiche Zeugnisse eines Beton als Baumaterial bevorzugenden, mit modernen Glasfenstern ausgestatteten Kirchbaus. Die Dienstgebäude des Landeskirchenamtes wurden nach internen Auseinandersetzungen über eine mögliche Verlegung in die Stadt Braunschweig vom Wolfenbüttler Schloßplatz in drei Gebäude am Neuen Weg verlegt. Die Fragen der Remilitarisierrung der Bundesrepublik und der Atombewaffnung dagegen, die in den 50iger Jahren die Synoden der EKD besonders im Zusammenhang mit der Einführung einer Militärseelsorge sehr stark beschäftigten, lösten in der Landeskirche keine Diskussionen aus. Braunschweig und Wolfenbüttel wurden wie schon früher, Garnisonstädte und erhielten einen Militärpfarrer.
Diese Nachkriegsphase, die mit der Regierungszeit Konrad Adenauers zusammenfiel, wurde von einem Teil der Pfarrerschaft zunehmend als unerfreuliche Restauration kirchlich-konfessioneller Verhältnisse empfunden, da sich Landesbischof Erdmann eine Erneuerung der Landeskirche durch die Berufung auf das altlutherische Bekenntnis erhoffte und sich gegen eine Zulassung von Frauen zum Pfarramt sperrte.
Einen energischen Schritt auf eine weitere Demokratisierung in der Kirche im Sinne von größerer Beteiligung der Gemeinden erfolgte erst nach der Wahl von Dr. Gerhard Heintze zum 5. Landesbischof (1965 - 1982). Heintze war Landpfarrer, Predigerseminardirektor auf der Erichsburg und dann Landessuperintendent von Hildesheim gewesen. Er galt als überzeugter Verfechter von Kirchenreformen. Seit 1966 kam es in den Kirchengemeinden überhaupt erst zu echten Wahlen von Kirchenvorständen. Bisher hatte sich eine Wahl erübrigt, wenn sich ein Kirchenvorstand in der notwendigen Anzahl aufstellen ließ. Das Wahlalter wurde kontinuierlich auf 18 und 21 Jahre gesenkt, Laien konnten den Vorsitz im Kirchenvorstand übernehmen, die Anzahl der Frauen in den kirchlichen Gremien stieg ständig an, 1968 wurden nach einer deutlichen innerkirchlichen öffentlichen Auseinandersetzung mit großer Synodenmehrheit auch Frauen zum Pfarramt zugelassen. Zur Pfarrerschaft suchte der Bischof den Kontakt durch intensive Besuche und ausführliche, persönlich gehaltene Pfarrerrundbriefe. Das politische Wächteramt bewährte er besonders während der Diskussion um die 1966 erschiene EKD - Denkschrift zur Vertriebenenfrage. Heintze führte die Landeskirche an die Grenze ihrer Reformfähigkeit. Seine Bischofszeit fiel zusammen mit der Präsidentschaft Gustav Heinemanns und der Regierung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willi Brandt und Helmut Schmidt. Es gelang Bischof Heintze nicht, weitere demokratische Elemente wie die zeitliche Begrenzung der kirchlichen Ämter in die Neufassung der Verfassung von 1970 einzuführen. Die Arbeit der Landessynode wurde seit jener Zeit mit der Kirchenbasis durch die Einführung des Informationsblattes der KURIER verknüpft. Auch in dieser Phase gab es in der Landeskirche sich auf das lutherische Erbe berufende Gruppen besonders in der Brüdernkirche, die die Demokratisierung und die Kirchenreform mit Berufung auf ein wörtliches Verständnis der Bibel bekämpften. Sie lösten mit der Diskussion um die von Brüdernpfarrer Hellmuth Lieberg verfaßten Braunschweiger Thesen (1966) eine umfassende theologische Diskussion aus, die kirchenpolitisch vergeblich auf die Ablösung von Bischof Heintze zielte. Heintze, der an der kirchenreformerischen Weltkirchenkonferenz in Uppsala (1968) teilgenommen hatte, Mitglied der Konferenz Europäischer Kirchen wurde und in der Ökumene großes Ansehen genoß, öffnete den engen Horizont der Braunschweiger Kirchenprovinz für die Anliegen und Fragen der weltweiten Christenheit.
Seit 1982 stand die Landeskirche unter Leitung des sechsten Bischofs, des Erlanger Professors für Kirchengeschichte Dr. Gerhard Müller. Während dieser Zeit hatte in der Braunschweiger Landessynode der konservative Bugenhagenkreis die Mehrheit gegenüber dem in der Reformphase 1970 gegründeten AK 70. Nennenswerte kirchenreformerische Impulse waren in diesen 80iger Jahren von der Landessynode nicht ausgegangen. Die Reformphase wurde durch eine Zeit der Bewahrung und Verwaltung abgelöst. Die Weltpolitik war von der zunehmenden militärischen Konfrontation des Westblockes unter der Führung der USA und des Ostblockes unter der Führung der Sowjetunion und von der Aufstellung riesiger Raketenkontingente geprägt. In den Landeskirchen der Bundesrepublik und der DDR entstand ein heftiger theologischer Streit um eine verbindliche Stellungnahme zu den atomaren Vernichtungswaffen. In der Landeskirche bildete sich eine beachtlichen Gruppe kirchlicher Mitarbeiter, die sich um den Lebenstedter Pfarrer Hartmut Barsnick in der "Friedensinitiative in der Braunschweiger Landeskirche" sammelte. Die auf der Ökumenischen Vollversammlung von Vancouver 1983 ausgesprochene scharfe Ablehnung der Herstellung und Stationierung atomarer Waffen wurde von der Friedensinitative als Bekenntnisfrage in die Landeskirche getragen. Sie verstand sich als Nachfolgerin der Bekennenden Kirche und aktualisierte die Barmer Erklärung 1984 anläßlich ihres 50jährigen Gedenktages für den Bereich der Landeskirche.
Der Zusammenbruch der DDR im November 1989 unter führender Beteiligung der evangelischen Christen in der DDR an der gewaltlosen Revolution und die Aufhebung der "Zonengrenze" zwischen den beiden deutschen Staaten, die eine lange Grenze im Osten der Landeskirche gebildet hatte, veränderte die politische Situation grundlegend. Die seit 1945 faktisch abgetrennten Gebieten Blankenburg und Calvörde, die 1972 auch förmlich an die Kirchen in der DDR abgetreten waren, wurden nun 1992 wieder mit dem Gebiet der Landeskirche vereinigt.
Im November 1993 wurde der Generalsekretär des Deutschen ev. Kirchentages Christian Krause von der Landessynode mit großer Mehrheit zum siebenten Bischof der Landeskirche gewählt. Krause gab zu erkennen, daß er die Landeskirche erneut öffnen werde für vielfältige Formen des Glaubens und für die sich verschärfenden Problemen der Zeit, wie der Arbeitslosigkeit, der neuen Armut, aber auch der immer weiter ansteigenden Austrittszahlen aus der Landeskirche.
Mitte der 90igr Jahre gab die Braunschweiger Landeskirche ein zwiespältiges Bild ab: die personelle und finanzielle Ausstattung war historisch gesehen ungewöhnlich gut. Die Kirchbauten befanden sich in einem vergleichsweise hervorragenden Zustand. Der Pfarrerberuf war in Land und Stadt durchaus angesehen. Die Pfarrergehälter befanden sich auf einem ansehnlichen Niveau. Die Pfarrerausbildung auf Universitäten und im Predigerseminar war gründlich. Die Kirchenmusik wurde in vielen Gemeinden gepflegt. Die Gemeindemitglieder trafen sich in ganz unterschiedlichen Gruppen aller Altersgruppen. Die Taufe und die christliche Bestattung wurde noch von ca. 90% der evangelischen Bevölkerung verlangt. Andererseits wurde die Landeskirche durch Kirchenaustritte spürbar verringert. In den letzten 10 Jahren waren rund 40.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten, das müßte die Einsparung von 20 Pfarrstellen bedeuten. Der Mitgliederbestand war unter die Zahl 500.000 gesunken. Die Pfarrerschaft wirkte untereinander wenig kommunikativ. Die Amtskonferenzen und auch der Pröpstekonvent verlockten kaum zu theologischem und praktischen Austausch. Die Klagen über wachsende, aber unproduktive, Zentralisierung von Aufgaben in der Kirchenbehörde und mangelnde Delegation von Aufgaben an die Basis war groß. Die überaus geringe Zahl von Gottesdienstbesuchern vor allem auf dem Lande (zwischen 3 und 10 Besuchern) weckte oft unausgesprochene Frustrationen. Hingegen war das Gefühl der Überforderung verbreitet. Der Gesamtzustand der Landeskirche war auf einer Reformsynode im Mai 1995 untersucht worden. Dazu hatten sich erstaunlich viele Gemeindegruppen, Propsteisyndoden und einzelne Gemeindemitglieder zu Worte gemeldet. Auf der Synode waren mehrere Projektgruppen beschlossen worden, die eine Reform der Landeskirche betreiben sollten. Dazu waren folgende zehn Thesen für die Weiterarbeit plakativ abgefaßt worden:
Während der Maisynode 2001 kündigte Landesbischof Krause seinen Rücktritt zu seinem 62. Geburtstag am 6. 1. 2002 an.
Dieses frühestmögliche Ausscheiden aus dem Dienst begründete der Landesbischof vor der Synode mit einem von ihm erwünschten Generationswechsel und mit dem Angebot, das noch die laufende Landessynode, deren Wirksamkeit zum Jahresende 2001 auslief, seinen Nachfolger wählen sollte. Das Ausscheiden wurde unterschiedlich bewertet. Die einen würdigten die Wirksamkeit des Landesbischofs als Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, zu dem er auf der Weltkirchenkonferenz in der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong 1997 für sechs Jahre gewählt worden war. Für seine Tätigkeit als Generalsekretär des Kirchentages und in der Landeskirche wurde Bischof Krause vom Bundespräsidenten im Februar 2000 mit dem Grossen Verdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnet. Der von ihm unterzeichnete Konsens in der Rechtfertigungsfrage mit der römischen Kirche in Augsburg im Oktober 1999 galt ihnen als ein Meilenstein bei der Aussöhnung mit der röm. Katholischen Kirche. Der Jahrestag der Unterzeichnung wurde im Braunschweiger Dom in einem gemeinsamen Gottesdienst mit Kardinal Kasper und Bischof Homeyer feierlich begangen, wobei der Kardinal die Person Krauses mehrfach hervorhob. Andere sahen mit Besorgnis die wachsende Isolierung des Landesbischofs in der eigenen Kirche. Der Kontakt des Bischofs zur Pfarrerschaft wurde immer schwächer. Der Landesbischof äußerte selber, er fühlte sich von der Pfarrerschaft nicht genügend angenommen. Der Rechtfertigungskonsens fand in der Landessynode auch beachtete Gegenstimmen, vor allem aber ganz erheblichen Widerspruch innerhalb der Universitätstheologie. Es gelang ihm auch nicht, die weitreichenden ökumenischen Beziehungen für die Kirchengemeinden fruchtbar zu machen. Die Landessynode verweigerte die Zustimmung zu einem vom Bischof ganz besonders geförderten Projekt, nämlich der Einrichtung eines Einkehrhauses im früheren Kloster Riddagshausen. Seither spitzte sich das Verhältnis des Landesbischofs zur Landessynode zu, das er bereits Ende 1995 als "kaputt" bezeichnet hatte. Auch andere Reformprojekte, die der Landesbischof angestossen hatte, blieben., wie er selber äusserte, an den Juristen des Landeskirchenamtes stecken. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung sprach von einem schlingernden Schiff in der Kirchenverwaltung und einer weithin frustierten Pfarrerschaft.
Die Mitgliederzahl sank auf 435.000 Personen und die Situation der kirchlichen Finanzen wurde trotz erfreulicher Rücklagen eher zurückhaltend beurteilt. Der einsetzende Stellenabbau, die Teilung von Pfarrstellen, die Zusammenlegung von Kirchengemeinden, die Reduzierung der Zuweisung an landeskirchlichen Steuern schufen zusätzlich ein belastendes Klima.
Die Landessynode wählte am 10. November 2001 den vom Bischofswahlausschuss vorgeschlagenen Kandidaten Propst Dr. Friedrich Weber aus Wiesbaden im ersten Wahlgang mit der erforderlichen 2/3 Mehrheit. Propst Dr. Weber wird seinen Dienst als 8. Landesbischof unserer Landeskirche im Frühjahr 2002 in Wolfenbüttel aufnehmen.