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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Jürgen Diestelmann

Das bischöfliche Lehramt des Superintendenten am Beispiel Joachim Mörlins

Zu den allgemein verbreiteten Vorurteilen, die meist ungeprüft weitergegeben werden, gehören diese: "In der evangelischen Kirche gibt es kein Lehramt" oder:

"In der evangelischen Kirche ist jeder Pastor sein eigener Papst."

Der Gegensatz zum unfehlbaren Lehramt, das die römisch-katholische Kirche für das Papstamt beansprucht, soll damit beschrieben werden. Zweifellos werden diese Vorurteile durch die Tatsache untermauert, daß durch den herrschenden Lehrpluralismus offensichtlich jeder Pastor etwas anderes lehrt. Aber: Hat die lutherische Kirche wirklich nie ein Lehramt gekannt?

Das wichtigste Anliegen der Reformation war die Verkündigung des Wortes Gottes. Weil das, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht, dem gemeinen Mann in vorreformatorischer Zeit kaum bekannt gewesen war, nun aber klar verkündigt wurde, brachte man dies gern mit den Worten zum Ausdruck, Luther habe "das helle Licht des Evangeliums wieder an das Licht gebracht". Von Anfang an bestand aber die Gefahr, daß dieses helle Licht durch anders lehrende Theologen - wie zum Beispiel Karlstadt, Münzer, Zwingli, Calvin u.a. -, die neben der lutherischen Reformation auftraten, wieder verdunkelt wurde. Die Früchte ihres Wirkens zerklüften bis heute den Protestantismus. Angesichts dessen wird oftmals nach einem bindenden Lehramt gefragt. Um so mehr legt sich die Frage nahe: Hat die lutherische Kirche wirklich nie ein Lehramt gekannt?

Wenn die Confessio Augustana in Artikel 28 lehrt, daß es nach göttlichem Recht das Amt der Bischöfe sei, "das Evangelium zu predigen, Sünde zu vergeben, Lehre zu urteilen und die Lehre, die dem Evangelium entgegen ist, zu verwerfen und die Gottlosen, deren gottloses Wesen offenbar ist, aus der christlichen Gemeinde auszuschließen ohne menschliche Gewalt allein durch Gottes Wort" - so heißt dies, daß das Lehramt den Bischöfen zusteht.

Daß es Bischöfe geben solle, haben die Reformatoren oft ausgesprochen. Sie lehnten aber die Vermischung von geistlicher und weltlicher Macht in der Hand der Bischöfe ab, wie sie im mittelalterlichen Abendland bestand. Das Bischofsamt war ja zu einem weltlichen Herrscheramt geworden. Infolgedessen nahmen die Bischöfe ihre geistlichen Pflichten nicht mehr wahr, sondern ließen diese - bestenfalls - durch Vertreter wahrnehmen. Von den lutherischen Bekennern wurde darum 1530 in Augsburg die Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment deutlich betont: "Deshalb sind die Unseren zu Trost der Gewissen gezwungen worden, den Unterschied der geistlichen und weltlichen Gewalt, des Schwertes und Regiments anzuzeigen".

Entsprechend heißt es in den Schmalkaldischen Artikeln (1538): "Wenn die Bischöfe rechte Bischöfe sein wollten und sich der Kirche und des Evangeliums annehmen, so möchte man das um der Liebe und der Einigkeit willen, doch nicht aus Not lassen gegeben sein, daß sie uns und unsere Prediger ordinierten und konfirmierten ... Da sie nun aber nicht rechte Bischöfe sind oder auch nicht sein wollen, sondern weltliche Herrn und Fürsten, die weder predigen noch lehren, noch taufen, noch kommunizieren, noch irgendein Werk oder Amt der Kirche treiben wollen, und auch diejenigen, die solch Amt berufen treiben, verfolgen und verdammen, so darf dennoch um ihretwillen die Kirche nicht ohne Diener bleiben. ..."

Dies ist der Hintergrund, vor dem die Einsetzung der Superintendenten der lutherischen Kirche zu sehen ist. Diese mußte erfolgen, weil einerseits die damals amtierenden Bischöfen die Ordination für lutherische Pfarramtskandidaten verweigerten, andererseits weil ein bischöfliches Amt als notwendig erachtet wurde. Der für das neue Amt gewählte Titel "Superattendent" - in der Anfangszeit sagte man so statt "Superintendent" - war nichts anderes als die latinisierte Form des griechischen episkopos (Bischof). Darum pflegte z. B. Luther seinen ehemaligen Klosterbruder Johann Lang (Reformator und leitender Geistlicher Erfurts), gelegentlich sowohl als "Superattendent" wie auch als "Bischof" anzureden, obwohl Lang zu jener Zeit offiziell einen solchen Titel nicht trug. Als "Bischof" redete Luther auch andere an, die ein entsprechendes Amtes trugen - in seinen Briefen zwischen 1522 und 1546 etwa 250 mal! So bezeichnete er auch Joachim Mörlin nach dessen Berufung als Superintendent von Göttingen als "getreuen Bischof der Göttingischen Kirche".

Luther sah in den Superintendenten nicht nur die rechten Bischöfe, sondern konnte im Hinblick auf die Träger eines solchen Amtes ganz unbefangen von der "successio apostolica", d. h. von der Kette der Berufungen, sprechen, die von den Aposteln zu den Bischöfen führt. So schrieb er im großen Galaterkommentar: "Es gibt also eine doppelte göttliche Berufung, eine mittelbare und eine unmittelbare. Gott ruft uns alle heute zum Wortamt durch mittelbare Berufung, d i. durch eine Berufung, die durch Menschen geschieht. Die Apostel aber sind unmittelbar durch Christus berufen, so wie die Propheten im Alten Testament von Gott selbst. Die Apostel haben später ihre Schüler berufen, wie Paulus den Timotheus, Titus etc.; - die haben dann die Bischöfe berufen, wie Titus 1 zu lesen ist, die Bischöfe haben ihre Nachfolger berufen bis auf unsere Tage. Und so wird’s weitergehen bis zum Ende der Welt. Das ist die mittelbare Berufung, weil sie durch Menschen geschieht, und dennoch ist sie göttlich." Von dieser Sicht Luthers her war es nicht die succesio, sondern die Jurisdiktion der mittelalterlichen Bischöfe, die mit der Einsetzung der Superintendenten durch die Reformatoren erlosch.

Auf dem Augsburger Reichstag 1530 wollte man sich den Weg für eine Wiederanerkennung der bischöflichen Jurisdiktion unter den Bedingungen der evangelischen Predigt und einer Sakramentsverwaltung, die dem Evangelium nicht widersprach, freihalten. Eine Wiederanerkennung der Bischöfe im Rahmen der bisherigen Kirchen- und Reichsverfassung sei möglich, wenn theologisch klar zwischen ihrem Amt als geistlichen Leitern ihrer Diözesen (Bischöfe im eigentlichen Sinne), und ihrem Amt als Fürsten unterschieden würde.

Als im Jahre 1544 das Domkapitel des Bistums Kamin an Bugenhagen herantrat, er möge das dortige Bischofsamt übernehmen, "seiner hohen Lehre, Tugend, unsträflichen Lebens und Wandels halber, das er bei allen christlichen Kirchen wahrhaftige und ungefärbte Zeugnis habe", lehnte er dies ab. Als Grund für diese Ablehnung gab er an, daß "die bischöfliche Regierung nach Gelegenheit dieser Zeit zwo Lasten tragen" müsse. Die erste und wichtigste sei die geistliche, nämlich "mit Lehr, Visitation, Beaufsichtigung der Praedikanten, auf die Zucht und Erhaltung rechter Konsistorien". Die andere "Last" sei die weltliche Regierung. Zur ersteren habe Gott ihm "ziemlich viel Gnad gegeben", aber zur weltlichen Regierung fühle er sich nicht geschickt. Er würde "durch diese weltliche Last ... auch von den Büchern und seinen Übungen im Studio und Gebet zu viel abgezogen" werden. Die Verquickung von geistlichem und weltlichem Regiment erwies sich somit auch bei möglichen Neubesetzungen vakanter Bischofssitze als Hinderungsgrund für die Erhaltung des überkommenen Bischofsamtes. So mußten dann notwendigerweise Zug um Zug Ersatzstrukturen aufgebaut werden.

In der heutigen ökumenischen Diskussion beklagt man vielfach, in der Reformationszeit sei die "apostolische Sukzession" der Bischöfe abgerissen. Es ist dies aber ein Thema, das dem lateinischen Mittelalter und auch den Reformatoren ganz unbekannt war. Es wurde damals von keiner Seite angeschnitten. Der Vorwurf, der gegen die Reformatoren erhoben wurde, zielte nicht darauf ab, daß die Superintendenten nicht in der "apostolischen Sukzession" stünden, sondern daß sie ihr Amt ohne päpstliche Bestätigung ausübten.

Eingerichtet wurde das Amt des Superintendenten im Jahre 1528, zunächst für das sächsische Kurfüstentum mit Luthers Schrift "Unterricht der Visitatoren". Darin findet sich das Kapitel "Von Verordnung des Superattendenten.. Über ihn wurde folgendes bestimmt: "Dieser Pfarrer soll superattendens sein und auf alle andere Priester, die im Amt oder Revier des Orts sitzen ... fleißig Aufmerken haben, daß in den jeweiligen Pfarren recht und christlich gelehrt und das Wort Gottes und das heilige Evangelium rein und treulich gepredigt, und die Leute mit den heiligen Sakramenten nach der Einsetzung Christi selig versehen werden, daß sie auch ein gutes Leben führen, damit sich das gemeine Volk bessere und kein Ärgernis empfange, und nicht gegen Gottes Wort oder etwas, das zu Aufruhr gegen die Obrigkeit dienstlich wäre, predigen oder lehren."

Im gleichen Jahr erschien Bugenhagens Kirchenordnung für die Stadt Braunschweig. In dieser ordnete Bugenhagen unter der Überschrift "Vom Superattendenten und seinem Helfer" nicht nur das Amt des Superintendenten, sondern auch das dessen Stellvertreters, des Kodadjutors (Helfers). Er legte damit die beiden Ämter fest, die seither in Braunschweig nebeneinander bestanden. Bugenhagen schrieb darin: "Vor allen Dingen müssen und wollen wir auch einen Superattendenten haben, das ist, einen Aufseher, dem mit seinem Adjutor die ganze Sache aller Prediger und der Schule, so viel es die Lehre und Einigkeit betrifft, durch den ehrbaren Rat und die Gemeinde dazu verordnet, als da sind die Schatzkastenherren, befohlen werde, Aufsicht zu führen, was man lehrt und wie etc. Das ist hoch von Nöten. Denn wir wollen durch Gottes Gunst einträchtige Predigten nach dem Wort Gottes haben in der ganzen Stadt, wie es auch von Gottes Gnade angefangen ist und im Schwange geht." So wirkte in Braunschweig z. B. neben dem Superintendenten Joachim Mörlin als Koadjutor der 8 Jahre jüngere Martin Chemnitz, bevor dieser 1567 das Amt des Superintendenten selbst übernahm.

In den beiden zitierten Schriften wird auch auf Luthers Schrift "Von weltlicher Obrigkeit" Bezug genommen und das Verhältnis von geistlichem und weltlichem Regiment geordnet. Entsprechend der Zwei-Reiche-Lehre werden beide deutlich unterschieden und die Verquickung beider, wie sie mit dem herkömmlichen Bischofsamt verbunden war, aufgehoben. Das weltliche Regiment regiert "durch das Schwert", während dem geistlichen Regiment allein das Wort gegeben ist. Beide sollten in gegenseitiger Achtung ihrer so gegebenen Funktionen zusammenwirken.

Hierin lag freilich ein Konfliktpotential, das sich in der Folgezeit in mancherlei Problemfällen bemerkbar machen sollte, insbesondere dann, wenn sich eine weltliche Obrigkeit gegen das geistliche Regiment stellte. Hierfür bietet der Lebenslauf Joachim Mörlins anschauliche Beispiele, vor allem im Hinblick auf sein erstes Superintendentenamt in Arnstadt..

Joachim Mörlin war nach dem Theologiestudium "Kaplan" in Wittenberg an der dortigen Stadtpfarrkirche gewesen. Im Jahre 1540 wurde er nach der Promotion in das Amt des Superintendenten von Arnstadt berufen. Daß er diese Berufung schon im Alter von 26 Jahre erhielt, war in jener Zeit nicht ungewöhnlich, weil damals - modern gesprochen - ein Mangel an geistlichen Führungskräften bestand, nachdem sich immer mehr Städte und Territorien der Reformation anschlossen.

Mit großem Eifer nahm Mörlin das Arnstädter Superintendentenamt wahr. Er verkündigte das Evangelium anschaulich und klar. Seine Predigten bezeugen das seelsorgerliche Bemühen um ein vom Worte Gottes her geprägtes Leben der ihm anvertrauten Gläubigen. Wiederholt nahm er in diesem Sinne zum Beispiel auch zu Fragen des heiligen Ehestandes Stellung und gab dabei durchaus ganz konkrete Anweisungen.

Die Verpflichtung, über die Lehre zu wachen, bedeutete für ihn nicht nur ein theoretisches Wachen über korrekte Lehraussagen. Weil es ihm um die praktische Umsetzung der reinen Lehre des Wortes Gottes sowohl im Leben des einzelnen Christen, wie auch im Leben des Gemeinwesens ging, sah er sich genötigt, auch das unchristliche Verhalten des städtischen Regimentes zu geißeln. Darin war er so konsequent, daß es zum offenen Konflikt mit der nicht allzu frommen Arnstädter Obrigkeit kommen mußte. Unter dem Vorsitz des - wesentlich älteren und amtserfahrenen - Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius wurde eine Synode aller Ordinierten abgehalten. Diese verabschiedete das sog. "Einfältige Bedenken und Ratschlag, wie man ohne Leichtfertigkeit mit solchen Personen, die in öffentliche Laster gefallen, handeln möchte". Danach soll eine solche Person mit Flehen und Bitten zur Buße ermahnt werden. Sollte dies nichts nützen, soll der Pfarrer den Betreffenden mit zwei Zeugen aufsuchen und verwarnen. Wenn der betreffende auch weiterhin in seinem "verstocktem Sinn und Herzen" verharrt, solle der Pfarrer zusammen mit den beiden Zeugen dem Superintendenten Anzeige erstatten. Nach einer weiteren Beratung mit anderen "verständigen Mitbrüdern" solle der Bann erfolgen.

Dieses "Einfältige Bedenken ..." wurde Luther zur Stellungnahme vorgelegt. Er antwortete mit einem Schreiben von eigener Hand, in dem er die Weise dieses Vorgehens ausdrücklich billigte. Er schrieb: "Mir gefällt diese Verfahrensordnung, weil sie mit der Einsetzung des Schlüsselamtes (Matth. 18) übereinstimmt."

Mörlins öffentliche Stellungnahme gegen die städtische Obrigkeit hatte jedoch zur Folge, daß ihm der Rat der Stadt kurzerhand kündigte. Dazu hat wohl auch beigetragen, daß die Art seines Auftretens infolge seiner Jugend und Unerfahrenheit etwas vorschnell war, denn darauf deuten die Worte von Myconius hin: "Herr D. Joachim ist sicher ein gelehrter, frommer und guter Mann", sei aber zuweilen etwas "zu geschwinde" gewesen. Myconius betonte jedoch zugleich, das Wächteramt habe Mörlin niemals ungerecht ausgeübt; es könne "niemand sagen, daß er ihn zu heftig gestraft hat, sondern nur das, was zum ewigen Leben hindert ...". Mörlin wurde allgemein als gewissenhafter, gelehrter und hochgeachteter Theologe angesehen, und es wurde ihm in Bezug auf seine dem Rat der Stadt Arnstadt gegenüber eingenommene Haltung in der Sache Recht gegeben. Später gab es eine Versöhnung zwischen Mörlin und den Arnstädtern. Aber er kehrte dorthin nicht zurück, weil er inzwischen das Amt des Superintendenten in Göttingen innehatte.

Aber auch auf seinen nächsten beiden Lebensstationen mußte sich Mörlin der weltlichen Obrigkeit widersetzen. Seine Person ist ein lebendiger Gegenbeweis gegen die Behauptung, die Lutheraner seien stets allzu obrigkeitsfromm gewesen. Da die Superintendenten in ihrem Amt über keinerlei weltliche Regierungsgewalt verfügten und ihr geistliches Regiment nur mit dem Wort ausübten, lag es nahe, daß manche Obrigkeit, die nicht bereit war, sich dem Wort des geistlichen Regiments zu beugen, ihre weltliche Macht diesem gegenüber mißbrauchte. Konflikte des Verhältnisses zwischen dem geistlichen Regiment des Superintendenten und dem weltlichen Regiment der Obrigkeit gab es auch anderswo immer wieder. Mörlin selbst schrieb daher ein auch in der Folgezeit immer wieder zitiertes Gutachten über die Frage, wieweit eine solche Obrigkeit befugt sei, die Entlassung von Geistlichen vorzunehmen.

Die Berufung zum Superintendenten von Göttingen erhielt er Ende des Jahres 1543 durch die calenbergische Herzogin Elisabeth. Diese hatte nach dem Tode ihres Gatten, des Herzogs Erichs I., die Regentschaft über das Herzogtum Braunschweig-Calenberg in Vormundschaft ihres Sohnes Erichs II. inne. Sie war eine Tochter des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg und eifrige und fromme Förderin der lutherischen Reformation. Mörlin hatte in ihr eine hochherzige Gönnerin. Darum war die erste Zeit seines Wirkens in Göttingen problemlos. Ähnlich wie in Arnstadt erfüllte er die Pflichten seines geistlichen Berufs auch in Göttingen gewissenhaft - zur großen Zufriedenheit Elisabeths.

Nachdem aber der ganz lutherisch erzogene Erich II. mündig geworden war und die Herrschaft selbst übernommen hatte, wandte sich dieser von seiner Mutter ab und löste sich aus der Abhängigkeit von ihr. Da er sich nun kirchlich und politisch ganz in den Schatten seines Vetters Heinrich des Jüngeren von Wolfenbüttel stellte, waren die Folgen für das reformatorisch geordnete Kirchenwesen im Fürstentum Calenberg katastrophal. Das am 15. 5. 1548 verabschiedete Augsburger Interim verlangte von den protestantischen Ständen die Rückkehr zum alten Glauben oder die Unterwerfung unter das Interim. Erich II. setzte dieses für sein Fürstentum mit aller Entschiedenheit durch. So mußte sich Mörlin wiederum der weltlichen Obrigkeit entgegensetzen. Er tat dies mit aller Entschiedenheit, vor allem von der Kanzel herab. So endete auch seine Göttinger Tätigkeit als Superintendent, denn unter dem Druck Erichs II. beschloß der Rat im Januar 1550 Mörlins Entlassung. Herzogin Elisabeth verhalf ihm zur Flucht, so daß er der Verhaftung und langjährigen Kerkerhaft, die z. B. Antonius Corvin erleiden mußte, entging.

Die nächste Lebensstation Mörlins war Königsberg. Nach einem kurzen Aufenthalt in Schleusingen (Grafschaft Henneberg) kam er dort im September 1550 an. Von Herzog Albrecht von Preußen wurde er aufs freundlichste aufgenommen. Eigentlich sollte er zuerst die Superintendentenstelle von Preußisch-Holland erhalten Aber der Herzog fand soviel Gefallen an ihm, daß er ihn sofort als Inspektor und Pfarrer am "Kneiphofschen" Dom in Königsberg ernannte. Damit ergab sich eine unmittelbare Nähe zu Andreas Osiander, dem Herzog Albrecht von Preußen 1549 die Altstädtische Pfarrei und eine Professur in der Universität Königsberg übertragen hatte.

Aber schon bald brach hier der Osiandersche Streit aus. In einer Disputation trug Osiander hinsichtlich der Rechtfertigung Meinungen vor, die von der allgemeinen Auffassung stark abwichen: unsere Gerechtigkeit kann - meinte Osiander - nicht in der Versöhnungstat Christi bestehen, sondern muß sich auf den in uns wohnenden Christus beziehen, d. h. auf die göttliche Natur, die uns durch Aneignung des Evangeliums mitgeteilt wird. Osiander hatte beabsichtigt, auf seine Weise gewissen Seiten in Luthers Theologie Ausdruck zu verleihen, die sonst verdeckt geblieben waren, aber er vermischte die reformatorischen Gedanken mit aus der Kabbala und der Mystik stammenden Spekulationen. Das ureigenste Anliegen der lutherischen Rechtfertigungslehre wurde dadurch verfälscht. Mörlin widersetzte sich dem und nahm auch auf der Kanzel dazu Stellung.

Herzog Albrecht stand jedoch ganz unter dem Einfluß Osianders. Er verfolgte dessen Gegner mit großer Strenge und auch seine ursprünglich so freundliche Haltung Mörlin gegenüber schlug um. Sobald er von dessen Predigt Kunde erhielt, verfügte er für ihn nicht nur ein Kanzelverbot, sondern auch seine sofortige Ausweisung aus dem Herzogtum Preußen. So mußte Mörlin im Februar 1553 Königsberg verlassen und war sogar gezwungen, seine kranke Frau zurückzulassen, die ihm dann später freilich nach Braunschweig nachfolgte.

Er erhielt nämlich unmittelbar darauf die Berufung in die Superintendentenstelle in Braunschweig. Hier konnte er von 1553 bis 1567 einen gesegneten Dienst tun, zusammen mit seinem Koadjutor Martin Chemnitz, den er in Königsberg kennengelernt hatte. Der Braunschweiger Kirchenhistoriker Johannes Beste (+ 1928) schrieb über dieses Wirken Mörlins in Braunschweig: "... Solche eisernen, streitbaren Theologen waren in jenen Zeiten, da man nicht nur für patriotische Ziele, sondern auch für religiöse, bis aufs Blut kämpfte, zwar den Fürsten, welche die kirchliche Oberleitung begierig erstrebten, sehr unbequem, dem Volke aber als furchtlose unabhängige Heerführer im Glaubenskampfe gerade recht. Die Orthodoxie war damals in der freien Stadt Braunschweig auch deshalb populär, weil sie das Gegenteil war von aller Liebedienerei nach oben. Von Männern, die alles für ihre Überzeugung einsetzten, ließ man sich gern beeinflussen.

So entwickelte sich denn in Braunschweig unter Mörlins Leitung eine hohe Blüte des religiös-kirchlichen Lebens. Mörlin zeigte sich als ein brennend scheinend Licht, das sich selbst verzehrte im Dienst des Hauses Gottes, als ein Mann voll heiligen Geistes, groß als Redner, größer noch als religiös-christlicher Charakter. Sein Wandel war wie ein Blitz, darum waren seine Worte wie Donnerklang. Voll Eliaseifers für die Erhaltung der reinen, seligmachenden Lehre scharf und streng in der Kirchenzucht, war er auch wieder liebreich gegen diejenigen, welche ihre Schuld erkannten und nach Besserung strebten. Denjenigen, welche ungeachtet aller treuherzigen Vermahnungen zum längsten in zwei Jahren nicht zum heiligen Abendmahl gewesen, verweigerte die Geistlichkeit unter seiner Leitung das christliche Begräbnis um sich nicht ihrer Sünden teilhaftig zu machen, vielmehr ihren Unwillen öffentlich zu bezeugen, damit man nicht fromme, gehorsame Christen und halsstarrige Unchristen für gleichviel achte und also aus der heiligen christlichen Religion ein unnötig Ding machte. So zeugte diese strenge Zucht von der höchsten Liebe, wie auch die liebevollsten Eltern ihren Kindern gegenüber die strengsten zu sein pflegen."

Das Lehramt im eigentlichen Sinne nahm Joachim Mörlin wahr, indem er zusammen mit seinem Coadjutor Martin Chemnitz für die Kirche der Stadt Braunschweig ein Bekenntnisbuch ("Corpus doctrinae") erarbeitete, in dem die Lehrgrundlagen verbindlich niedergelegt wurden. Die Geistlichen der Stadt mußten als Lehrverpflichtung "VI Leges pro ministerio Brunsvicensi", unterschreiben.

In Gemeinschaft mit anderen niedersächsischen Städten wurde ein Bekenntnisbuch erarbeitet, das als Vorläufer des - später unter maßgeblicher Beteiligung von Martin Chemniz erarbeiteten - Konkordienbuches von 1580 anzusehen ist. Die Absicht war, unter Zugrundelegung der Augsburgischen Konfession, deren Apologie und der Schmalkaldischen Artikel innerhalb des norddeutschen Luthertums Einigkeit zu erzielen. Zusammen mit den Superintendenten der Städte Lüneburg, Hamburg und Lübeck hatte Mörlin schon 1557 acht Artikel "zur Vergleichung zwischen den Adiaphoristen und des wahren Evangelii Bekennern" verfaßt und sich damit in Wittenberg um eine Versöhnung zwischen Flacianern und Melanchthonianern bemüht. Beim Lüneburger Konvent im Juli 1561 einigten sich die von den Städten Lübeck, Bremen, Hamburg, Rostock, Magdeburg, Lüneburg, Wismar und Braunschweig abgeordneten Theologen auf eine von Mörlin verfaßte "Erklärung" über das für alle verbindliche Corpus doctrinae, über die Verurteilung falscher Lehren (Osiandrismus, Majorismus, Sakramentsschwärmerei und Adiaphorismus) und über die vom Papst beanspruchte Jurisdiktion anläßlich der erneuten Einladung der Protestanten zum Konzil von Trient.

Innerhalb der Stadt Braunschweig ergaben sich für Mörlin kaum Anlässe zu streitbaren Auseinandersetzungen mit der weltlichen Obrigkeit. Der Rat - wie auch die Bevölkerung - schätzten und ehrten ihn als Superintendent hoch und er respektierte seinerseits die Mitglieder des Rats als "seine Herren".

Inzwischen lagen die kirchlichen Verhältnis in Preußen ganz darnieder. Osiander war bereits 1552 verstorben, aber es gab erbitterte Auseinandersetzungen mit seinen Freunden und Schülern, was einen Niedergang des kirchlichen Lebens zur Folge hatte. Daher verlangten die preußischen Stände die Rückberufung des 13 Jahre zuvor vertriebenen Mörlin nach Königsberg und seine Ernennung zum Bischof von Samland, zumal Herzog Albrecht nun einsah, daß er Mörlin Unrecht getan hatte. In Königsberg war bekannt, daß Mörlin in Braunschweig trotz der in Königsberg erfahrenen schweren Kränkungen in seinen Predigten für "das alte graue Haupt in Preußen" zu beten befohlen hatte. Der altersschwache Herzog ließ sich nun bewegen, selbst an ihn zu schreiben. Er begehrte, ihn mit Chemnitz unter glänzenden Bedingungen wieder in seine Dienste zu berufen. Nach einigen Verhandlungen einigte man sich darauf, daß Joachim Mörlin als Bischof von Samland nach Königsberg zurückkehrte, während Martin Chemnitz als Mörlins Nachfolger im Amt des Stadtsuperintendenten in Braunschweig verblieb.

Seit 1525 war Georg von Polentz Bischof von Samland gewesen. Obwohl er wahrscheinlich nie Theologie studiert hatte, wurde er zum Reformator Ostpreußen, darin unterstützt durch lutherische Theologen wie Johannes Brießmann, Paul Speratus und Johann Poliander (Gramann). Somit hätte hier die Möglichkeit bestanden, einen lutherischen Bischofssitz in Kontinuität zur alten Kirche zu erhalten. Aber nach seinem Tode (1550) stattete Herzog Albrecht von Preußen gegen den Widerstand der Geistlichkeit und des Adels den von ihm begünstigten Andreas Osiander mit dem Titel eines Präsidenten des samländischen Bistums aus. Mit der Berufung Mörlins wurde die bischöfliche Verfassung wieder hergestellt.

Mörlin verblieben noch vier Jahre rastlosen Wirkens als Bischof von Samland. Das Bekenntnisbuch "Corpus Doctrinae Prutenicum, dessen Entstehung ihm zu verdanken ist, war ihm dafür die Lehrgrundlage. Auch unternahm er einige Visitationsreisen, bei denen er die kirchlichen Verhältnisse in seinem Bistum ordnete. Die Konsistorialverfassung, die von Herzog Albrecht eingeführt war, wurde wieder abgeschafft, sodass Mörlin als Bischof von Samland in diesen letzten Lebensjahren ein wirklich bischöfliches Wirken vergönnt war. Allerdings war seine gesundheitliche Konstitution inzwischen so stark geschwächt, dass er am 29. (?) Mai 1571 an den Folgen einer mißglückten Blasenoperation verstarb.

Später setzte sich dann jedoch die Konsistorialverfassung allgemein durch und das Lehramt ging weitgehend an die Konsistorien über – vielleicht ein erster Schritt dazu, dass das Lehramt des Superintendenten zurückgedrängt wurde. Heute erscheint das Amt des Superintendenten in den Landeskirchen mancherorts nur noch als eine Verwaltungsfunktion, als ein untergeordnetes Bindeglied zwischen Kirchenbehörde und Gemeinden.


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