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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Ulrich Duchrow

Warum und mit welchen Folgen Gemeinden das Thema Globalisierung meiden –

Eine Besinnung zur Teilnahme am ökumenischen "Processus Confessionis"

Gerhard Heintze gehört noch zu der Generation von Bischöfen, die von der Bekennenden Kirche zur Zeit der Naziherrschaft in Deutschland geprägt wurden. Kennzeichnend für sie war, dass sie ihr kirchenleitendes Handeln vom reformatorischen Erbe und damit vom Wort Gottes, d.h. konkret von der Bibel leiten ließen. Anders ausgedrückt: Sie betrieben Theologie in dem Sinn, dass sie versuchten, einen Standpunkt außerhalb des Zeitgeistes zu gewinnen, um von dort aus Ort und Auftrag der Kirche zu ermitteln und auf dieser Basis die kirchliche Realität selbstkritisch zu beurteilen und gegebenenfalls neu zu orientieren.

1. Anpassung an den Zeitgeist

Inzwischen ist unabhängige Theologie in deutschen Kirchen selten zu finden. In einer Festschrift darf man auch autobiographisch reden, um dieses harte Urteil zu begründen. Als ich 1979 aus meiner ökumenischen Arbeit in Genf nach Deutschland zurückkehrte, wurde ich in den Ausschuß meiner badischen Landeskirche berufen, der die Schwerpunkttagung der Landessynode Frühjahr 1981 vorbereiten sollte unter dem Thema: "Die Einheit der Kirche in der Zerrissenheit zwischen Nord-Süd und Ost-West". In einer der ersten Sitzungen dieses Ausschusses brachte ich die Resolution der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Dar-es-Salaam (1977) zur "konfessionellen Integrität" ein. Danach können politische und wirtschaftliche Systeme so pervertieren, dass uns unser Bekenntnis als Kirche zu einem klaren Nein nötigt. Konkret hieß das damals, dass die politische und kirchliche Apartheid in Südafrika einen status confessionis darstellte. Ich schlug dem Vorbereitungsausschuß vor, diesen Beschluß des LWB in unsere eigene Beschlussvorlage für die Synode und das geplante "Wort an die Gemeinden" zu übernehmen. Darauf sagte einer der Anwesenden: "Das kriegen wir in unserer Synode nie durch. In Baden bestimmt der Finanzausschuß die Theologie." Daraufhin erhob ich mich und sagte sinngemäß, ich würde gern meine Mitgliedschaft in diesem Ausschuß beenden, da ich von der falschen Vorraussetzung ausgegangen sei, ich befände mich hier in der Kirche Jesu Christi, in der innerhalb der Gemeinschaft der weltweiten Christenheit nach dem Willen Gottes gefragt werden dürfe. Man beschwichtigte mich und sagte, der Ausspruch sei nicht so ernst gemeint gewesen.

Wie sehr er der Wahrheit entsprach und entspricht, lernte ich erst schmerzlich im Lauf der Jahre erkennen. Als ich als Delegierter meiner Landeskirche von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1983 in Vancouver zurückkehrte, berichtete ich auch in der Landessynode über dieses Ereignis. Ich war dabei ganz unbefangen, weil seinerzeit 1981 die Synode trotz besagter untergründiger Spannungen ein "Wort an die Gemeinden" beschlossen hatte, das sich ökumenisch-theologisch sehen lassen konnte. Entgegen meinen Erwartungen brach jedoch ein Sturm der Entrüstung los, weil ich in Vancouver in meinem Einleitungsreferat der Arbeitsgruppe "Gerechtigkeit" gesagt hatte, ich käme aus einer Kirche, die an dem von den Industrieländern ungerecht angesammelten Reichtum partizipiere und deshalb eine Umkehr vollziehen müsse. Ich hatte unterschätzt, dass seit 1982 durch die Regierung Kohl die Einführung der neoliberalen Politik in Deutschland begonnen hatte und sich nun auch kirchlich Positionen an die Oberfläche trauten, die vorher nicht als politisch korrekt gegolten hätten.

Nach der Synode wurde ich in eine Kollegiumssitzung des Oberkirchenrats vorgeladen. Der Haupttenor der Argumente war, dass die Kirche doch mit dem eingenommen Geld gute Dinge täte – was ich im Großen und Ganzen gar nicht bestritten hatte. Es ging um die Einnahmeseite des kirchlichen Haushaltes und die damit verbundene Einbindung in unsere Gesellschaft, die wiederum dazu führte und führt, dass die Kirchenleitungen und Gemeinden – mit ganz wenigen Ausnahmen – den ökumenisch und biblisch gebotenen Konflikt mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen und ihren Repräsentanten innerhalb der Kirche meiden. In jener Sitzung verteidigte mich weder der Bischof, damals Klaus Engelhardt, noch irgendein Oberkirchenrat. Die Vorsitzende des Ökumeneausschusses der Synode, Helga Gilbert, die selbst in Vancouver gewesen war und genau wusste, worum es ging, sagte mir nach der Sitzung: "Du verstehst, dass ich in dieser Situation ein Bekenntnis zur Volkskirche ablegen musste (sic!), weil ich sonst in meinen Ämtern keine Möglichkeit der Arbeit mehr gehabt hätte." Der für Ökumene zuständige Oberkirchenrat, Dr. Sick, seinerseits drückte seine heimliche Sympathie für meine kritischen Anfragen so aus: "Wenn Sie doch wenigstens diese Dinge als Professor der systematischen Theologie sagen würden und nicht als landeskirchlicher Pfarrer". Über diese Formulierung freute ich mich ausdrücklich; denn genau deshalb war ich nicht hauptamtlich an eine deutsche Universität gegangen, weil sich die deutschen Kirchen Theologie u.a. dadurch vom Leib zu halten verstehen, dass diese kirchlich unverbindlich in staatlich bezahlten Fakultäten produziert wird.

Der Vorsitzende der Gesamtkirchengemeinde Mannheim, Bankdirektor Wegmann, hingegen wollte klaren Tisch und stellte einen Antrag in der Landessynode, man möge mein Gehalt nicht mehr von Kirchensteuern bezahlen, weil ich reiche Kirchensteuerzahler mit meinen Äußerungen aus der Kirche triebe. Diesem Antrag wurde nicht entsprochen mit der Begründung, ich müsse als Theologieprofessor (nicht als landeskirchlicher Pfarrer!) die Freiheit zu kritischen Fragen haben. In einem weiteren Schlichtungsgespräch wurde beschlossen, im Jahr 1987 eine Synodensitzung im Rahmen des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zum Schwerpunkt Gerechtigkeit zu veranstalten. Der dazu eingesetzte Vorbereitungsausschuß – in den ich natürlich nicht wieder berufen wurde - beschloß jedoch, "nicht über Weltwirtschaft, sondern (sic!) über die Gerechtigkeit Gottes" sprechen zu wollen. Dies tat man, indem man den renommierten Theologieprofessor Jüngel aus Tübingen zu einem Einleitungsreferat einlud. Seither konnte und kann man nun mit gutem Gewissen die kirchliche Formel wiederholen, die Frage der Weltwirtschaft sei zu komplex, als dass "die Kirche" sich hierzu kompetent oder gar eindeutig äußern könne.

So kann man auch unbefangen die Errungenschaften dieser Wirtschaft nutzen. In den letzten Jahren wurde mit Hilfe von Kategorien von Werbefirmen unter Federführung des Finanzreferenten, Dr. Beatus Fischer, ein Prozeß zur Prioritätenermittlung der Landeskirche durchgeführt. Die dazu vorgesehenen vier Testfragen waren von der Art "Was ist ‚in‘?", "Was ist preiswert?". In einer Anmerkung erfahren die (hoffentlich) erstaunten LeserInnen, dass ausdrücklich theologische Fragen für die Prioritätenermittlung nicht nötig seien, weil alles, was die Kirche tue, theologisch sei. Die dabei implizit vorausgesetzte Theologie kann man in jedem schriftlichen Beitrag von Beatus Fischer nachlesen. Sie besteht aus einem einzigen Satz: "Wir leben in einer gebrochenen Welt, da kann sich auch die Kirche nicht raushalten." Sie lag auch seinem Beitrag 1994 in der badischen Kirchenzeitung "Aufbruch" zu "50 Jahre Internationaler Währungsfonds (IWF)" zugrunde, in dem er diesem zum Geburtstag ein langes Leben wünschte. Als ich darauf eine Erwiderung schrieb, veröffentlichte die Redaktion diese nur unter der Bedingung, dass ich darin den Namen des Finanzreferenten nicht erwähne. Begründung: "Wir sind in unserer Finanzierung auf ihn angewiesen." Eine Einladung des Bezirksbeauftragten für Mission und Ökumene in Mannheim, Peter Scherhans, sich in einer öffentlichen Veranstaltung mit mir und dem ehemaligen Generalsekretär des ÖRK, Philip Potter, über den kirchlichen Umgang mit dem IWF auseinanderzusetzen, lehnte der Finanzreferent mit der Begründung ab, er habe dafür keine Zeit.

Das Ergebnis der unter seiner Leitung durchgeführten Prioritätenfindung sieht folgendermaßen aus. Letzter Platz 26: Mission und Ökumene; vorletzter Platz 25: Industrie- und Sozialarbeit; 24: Jugendheime; 23: Arbeit mit Studierenden. Priorität heißt natürlich auch Feststellung, wo Finanzen hingehen sollen und wo nicht. So wurde auch sogleich eine der drei Regionalstellen für Mission und Ökumene um 50% reduziert. Geht der nächste Regionalbeauftragte in den Ruhestand, geschieht das Gleiche mit dessen Stelle. Das heißt, alle Arbeit, in der der Kontakt der Kirche mit der Realität der Welt, insbesondere mit der Welt der globalisierten Wirtschaft, geschieht und wo möglicherweise kritische Fragen an den Betrieb der Kirche oder Konflikte mit den Mächten dieser Welt entstehen könnten, wird unterdrückt. Dagegen steht an erster Stelle Krankenhausseelsorge und "missionarische Dienste". Nichts gegen diese Tätigkeiten der Kirche. Aber hier geht es traditionsgemäß um den persönlichen Glauben, im letzteren Fall sogar um dezidiert individualistische, angeblich "unpolitische" Verkündigung.

Sind diese Erfahrungen mit der Evangelischen Landeskirche in Baden ein Einzelfall? Ich bin überzeugt, dass sie in unterschiedlichem Maß in jeder Landeskirche gemacht werden können. In Bayern beispielsweise tobt nach der Beauftragung der Werbefirma McKinsey mit der Neugestaltung kirchlichen Handelns im Sinn der "Kundenfreundlichkeit" ein heftiger Kampf um die "Ökonomisierung der Kirche". Es hat sich ein "Initiativkreis Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft" gebildet, der mit zwei Broschüren "Auf das Evangelium hören" hervorgetreten ist. Seit einem Artikel von Christian Nürnberger in der Süddeutschen Zeitung wird dieser Streit auch öffentlich geführt, u.a. mit einem Beitrag von Carl Amery.

Als Gegenargument gegen diese kritische Einschätzung der kirchlichen Anpassung an den Zeitgeist könnte dienen, dass die EKD schon 1992 eine Wirtschaftsdenkschrift sowie Ende der neunziger Jahre zusammen mit der Katholischen Bischofskonferenz ein Gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage herausgebracht hat. Analysiert man allerdings diese Bemühungen, so geben sie genau zu dieser Kritik Anlaß. In der Denkschrift wird der Ansatz bei Adam Smith, dem Vater des Liberalismus, gewählt. Die Bibel dient nur der Garnitur. Außerdem wird die Wirklichkeit schöngeredet und der Eindruck erweckt, wir hätten damals noch eine soziale Marktwirtschaft gehabt, obwohl deren soziale Elemente seit 1982 Schritt für Schritt abgebaut wurden. Außerdem wurde dort ausdrücklich festgestellt, dass es sich bei der Wirtschaft nicht um eine Bekenntnisfrage handeln könne. Das spätere Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Situation enthielt dank 2000 Eingaben zum ersten Entwurf einige kritische und konstruktive Elemente, wenngleich auch hier die biblisch-theologische Basis schwach ausgebaut war. Als es dann überdies um die konkrete Fortsetzung des neoliberalen Sozialabbaus durch die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder ging, etwa in der Steuer- und Rentenreform, hörte man aus den Kirchen kein Wörtlein, das die Erkenntnisse des Gemeinsamen Wortes politisch eingefordert hätte. Nimmt man schließlich die EKD-Synode im November 2001 zum Thema Globalisierung hinzu, so stößt man u.a. auf Paragraphen, die den Transnationalen Konzernen (TNCs), dem IWF und der Weltbank ausdrücklich versichern, sie seien für die Kirchen keine "Widersacher", sondern Dialogpartner. Dies war nicht nur ausdrücklich ein Kotau vor den Mächtigen, sondern gleichzeitig eine Distanzierung vom ÖRK und den sozialen Bewegungen, die diese Einrichtungen wegen ihrer systemisch unsozialen, unökologischen und undemokratischen Strukturen und Handlungen grundlegend kritisieren.

Nimmt man all diese Erfahrungen und Beobachtungen zusammen, so muß man sich nicht mehr darüber wundern, dass sich die Mehrheit der deutschen Kirchen, Gemeinden und ChristInnen zwischen 1933 und 1945 nicht zur Bekennenden Kirche hielt. Zwar hat die ökumenische Bewegung im 20. Jahrhundert immer wieder Ansätze entwickelt, die die nachkonstantinische Anpassung der Kirchen an die Macht und die damit verbundene Individualisierung des Glaubens punktuell durchbrachen. Dazu gehören nach der Bekennenden Kirche die Auseinandersetzungen um die Apartheid und die Massenvernichtungsmittel. Sie sind nicht ohne Einfluß auf die deutschen Kirchen und Gemeinden geblieben. Aber in der Frage der Weltwirtschaft stellen diese sich, nachdem sie den Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in den neunziger Jahren einschlafen ließen, mit wenigen Ausnahmen nach wie vor schlafend oder versuchen, mit verschleiernden Formulierungen des Problems Konflikte zu entschärfen.

2. Die ökumenische Herausforderung

Diese Konflikte könnten nun aber bald ins Haus stehen. Die schärfste Anfrage an uns kommt hier aus dem Süden, aus Afrika, dem durch die Globalisierung und deren Vorläufer, den Kolonialismus, am lebensgefährlichsten geschädigten Kontinent. Hier hat bereits 1995 die Konferenz zu "Reformierter Glaube und wirtschaftliche Gerechtigkeit" in Kitwe/Sambia festgestellt, dass für sie die Armut und Zerstörung produzierende Weltwirtschaft einen status confessionis darstellt. Das heißt, sie vergleicht das gegenwärtige System mit dem Nationalsozialismus und der Apartheid und deren Verbrechen gegen die Menschheit. Daraufhin hat der Reformierte Weltbund (RWB) 1997 einen processus confessionis beschlossen, zu dem dann 1998 auch die Vollversammlung in Harare die Mitgliedskirchen des ÖRK aufgerufen hat. Dort heißt es in der Entschließung zur Globalisierung:

"Wir würdigen den Aufruf der 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes (Debrecen 1997) zu einem verpflichteten Prozess des Erkennens, Lernens und Bekennens (processus confessionis) im Hinblick auf wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Mitweltzerstörung, und wir ermutigen die ÖRK-Mitgliedskirchen, sich diesem Prozess anzuschließen."

Seither hat es einen intensiven weltweiten Prozess gegeben, in dem diese Beschlüsse umgesetzt werden. Inzwischen ist auch der Lutherische Weltbund (LWB) dazugestoßen und beteiligt sich mit dem Ziel, "zu reflektieren über die Dynamik und die Folgen wirtschaftlicher Globalisierung und zu beurteilen, wie wir darauf antworten müssen im Licht des Glaubens, den wir bekennen, der Werte, für die wir eintreten, und der Gemeinschaft, in der wir als Leib Christi leben." LWB, RWB und ÖRK führen diesen Prozess auch zugespitzt auf ihre kommenden Vollversammlungen (2003, 2004, 2006). Hier sollen die gemeinsamen Antworten auf die Anfragen aus dem Süden gefunden werden. In allen Kontinenten finden vorher regionale Konsultationen statt, um die Weltversammlungen vorzubereiten. Die westeuropäische Konsultation findet vom 15. bis 20. Juni 2002 in Holland statt. Seit Mai 2001 sind die westeuropäischen Kirchen vom ÖRK, RWB, LWB und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eingeladen worden, sich in ihren Gemeinden, Gruppen und Synoden auf dieses Ereignis vorzubereiten. Das ökumenische Basisnetzwerk Kairos Europa bot Materialien für Gemeinden und Gruppen sowie workshops für kirchliche MultiplikatorInnen an.

Jetzt stellte sich allerdings heraus, dass kaum jemand in Deutschland Beschlüsse und vorangehende Ereignisse in diesem Prozess kennt. Nachforschungen zeigen, dass die entsprechenden Briefe nicht aufzufinden sind oder einfach an Ausschüsse weitergeleitet wurden. Fast wäre die geplante westeuropäische Konsultation am Desinteresse der Kirchen geplatzt. Die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen des Südens im "processus confessionis" sind so entsetzt über das Ausweichen der westlichen Kirchen, dass sie erwägen, eine Versammlung mit Teilnehmenden nur aus Asien, Afrika und Lateinamerika einzuberufen, um unilateral den status confessionis gegenüber der neoliberalen Weltwirtschaft und allen, die sie theologisch unterstützen, auszurufen. Worum geht es dabei inhaltlich?

3. Widerstand und Alternativen zur neoliberalen kapitalistischen Globalisierung

Bei einem status confessionis geht es immer um einen springenden Punkt. In der Frage der Weltwirtschaft geht es um Leben. Das ist nicht etwa eine Wertaussage im Sinn einer beliebigen privaten Entscheidung (Max Weber). Es handelt sich vielmehr um eine Aussage über Sachnotwendigkeit. Wirtschaft ist dafür da, "Lebensmittel" zu produzieren und zu verteilen. Es geht zunächst um die Deckung der Grundbedürfnisse: Essen, Kleidung, Wohnung, Gesundheit und zwar so, dass alle Menschen versorgt sind. Es geht aber auch um Leben in Würde. Alle Menschen müssen sich nach Kräften an ihrer Grundversorgung beteiligen können. Dazu gehört auch die Kooperation untereinander. Menschen sind soziale, politische Wesen, die nur in Beziehungen zueinander überleben können. Zum Leben in Würde gehört auch die Schönheit der Lebenswelt. Ohne Schönheit verkümmern Menschen und ihre Kreativität. Schließlich gehört zum Leben die Erhaltung der natürlichen Bedingungen für zukünftige Generationen. Leben hat immer eine Zukunftsdimension. Es ist auf neues Leben angelegt.

Alle diese ganz einfachen und für jeden Menschen verständlichen Zusammenhänge werden durch die gegenwärtige kapitalistische Weltwirtschaft gefährdet. Schon in der Antike kann man eine Entwicklung beobachten, in der Eigentumsvermehrung durch grenzenlose Akkumulation von Geld die Versorgungswirtschaft zu überlagern und zu gefährden begann. Das heißt, nicht mehr der Gebrauchswert der Güter und Dienstleistungen steuert das Wirtschaften, sondern der Tauschwert, genauer: die Akkumulation von Eigentum, gemessen in Geldvermögen. Rechtlich fixiert wurde dieser Vorrang der Akkumulation von Reichtum vor der Bedürfnisbefriedigung im Recht des Römischen Imperiums. Eigentum wird als absolutes Herrschaftseigentum (dominium) definiert, das der Eigentümer (der pater familias als "Despot") nach Belieben gebrauchen, missbrauchen, verbrauchen und auch zerstören kann. Das hellenistisch-römische Imperium setzt diese Ordnung durch Unterwerfung möglichst vieler Völker militärisch durch. So kann es sich für die Schicht der Eigentümer Land, andere Ressourcen wie Edelmetalle und Sklaven für die notwendige Arbeit sichern.

Seit dem 14. Jahrhundert n. Chr. verschärft sich diese Entwicklung in Europa und der zunehmend von Europa und später den USA eroberten und beherrschten Welt. Neu ist die Ersetzung der Sklaven- durch Lohnarbeit (um die Kosten für die Lebenserhaltung der Sklavenfamilien sparen zu können). Neu ist auch die technologische Entwicklung (um auch auf diesem Weg Kosten für den "Faktor Arbeit" zu reduzieren und den Gewinn für die Kapitaleigentümer zu maximieren). Ideologisch wird seit der klassisch liberalen Phase im 19. Jh. der Zweck des Wirtschaftens umdefiniert von der Befriedigung der Grundbedürfnisse zur Angebotsantwort auf (kaufkräftige) "Präferenzen" in der Nachfrage. Der entscheidende Mechanismus wird der Markt, der diese "wertfreie" Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage über den Preis regelt. Er wird von Adam Smith zur "unsichtbaren Hand" mystifiziert, die angeblich die wirtschaftlichen, auf individuellen Reichtum und Macht zielenden Egoismen zum "Reichtum der Nationen" umschmiedet.

Die Wirklichkeit sah bekanntlich anders aus. Die Verelendung der arbeitenden Menschen in den sich industrialisierenden Ländern, die Unterwerfung der Völker in den Kolonien mit den Völkermorden seit der Conquista und die sich anbahnenden zunehmenden Zerstörungen der Natur begrenzten die Wohlstandsentwicklung auf einen kleinen Teil der (besitzenden) Bevölkerungsschichten.

Das Ergebnis dieser skizzierten Entwicklung ist für die zunehmende Zahl der Verlierer der globalisierten Kapitalakkumulation katastrophal. Es geht nicht mehr nur um Ausbeutung, sondern um Ausschluß der Mehrheit der Weltbevölkerung aus der formalen Wirtschaft. 80% der Menschen müssen mit weniger als 20% der Ressourcen, Güter, Einkommen und Dienstleistungen auskommen, ca. 40 Millionen von ihnen sterben jährlich an Hunger und seinen Folgen – d.h. jedes Jahr die Zahl der Opfer wie im 2. Weltkrieg. Irreversible Zerstörungen in der Natur gefährden das Leben der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Kurz, statt zum Leben führt unsere globalisierte Wirtschaft zum Tod – und kollektiven Selbstmord.

Warum ist es für die Kirchen und Gemeinden so schwer, in dieser Situation zu eindeutigem Urteilen und Handeln zu kommen? Ein häufig gehörtes Argument lautet: Bei Hitler und in der Apartheid war die Sache klar, die Weltwirtschaft ist so komplex. Wie soll man da zu einem ebenso klaren Urteil kommen. In der Tat konnte im Prinzip jeder, der lesen kann, in "Mein Kampf" nachlesen, dass Hitler die Juden vernichten wollte. Auch sagt bereits das Wort "Apartheid", Trennung zwischen herrschenden Weißen und abhängigen Schwarzen, dass die Gleichberechtigung aller Menschen aufgehoben werden soll. Einmal abgesehen davon, dass keineswegs alle Kirchen und Gemeinden diese Klarheit gegenüber Hitler und der Apartheid zeigten, ist doch ein Wahrheitskern in diesem Argument. Die liberale und neoliberale Ideologie verschleiert auf eine ganz spezifische Weise die Wahrheit. Nach ihrer ökonomischen Theorie soll die Wirtschaft Reichtum, monetär gemessen, fördern. Und sie tut es auch. Die negativen Auswirkungen auf arbeitende und ausgeschlossene Menschen sowie auf die Natur werden zu nichtintentionalen Effekten erklärt. Diese müssen auch subjektiv gesehen von den handelnden Akteuren in Unternehmen, Banken und Politik gar nicht bewusst gewollt sein. Die Frage darf also auf keinen Fall personalisiert oder moralisiert werden. Es geht vielmehr um ein strukturelles Problem.

Wenn man als Zweck der Wirtschaft monetär gemessenes Wachstum, also geld- und marktvermittelte Kapitalakkumulation ansetzt, klammert man eben die Frage des konkreten Lebens und der Bedürfnisbefriedigung prinzipiell aus. Dies geschieht bewusst oder unbewusst im Interesse der Eigentümer. Bezieht man diese Frage ein, ist klar, das eine Form des Wirtschaftens nur dann als erfolgreich gelten kann, wenn sie gleichzeitig auch sozial und ökologisch erfolgreich ist. Der Widerstand der Kirche müsste sich also prinzipiell gegen eine Wirtschaft richten, deren einziger Zweck auf absolutem Privateigentum aufbauende Kapitalvermehrung ist, während die negativen Wirkungen auf Menschen und Natur als indirekte Effekte ausgeklammert werden. Und sie müsste an Alternativen mitarbeiten, die auf die Förderung des Lebens von Mensch und Natur ausgerichtet sind.

Ein zweites Hindernis über dieses erkenntnistheoretische hinaus ist ein sozio-psychologisches. Darauf hat Geiko Müller-Fahrenholz im Anschluß an den US-Psychologen Lifton hingewiesen. Dieser hat das Phänomen "numbing" untersucht, dass heißt, durch Überforderung gelähmt sein – wie ein Kaninchen vor der Schlange. Die globalen Herausforderungen sind so überwältigend, dass Menschen sich tot stellen.

Wenn diese Beobachtungen stimmen, stellt sich die Frage, wie Kirchen und Gemeinden ihre vordergründige Interessengebundenheit überwinden, ihre Wirklichkeitserkenntnis schärfen und aus der Lähmung erwachen können.

Die Kirche Jesu Christi umspannt den ganzen Erdkreis und ist gleichzeitig verwurzelt in lokalen Kontexten, in denen die konkreten Menschen wohnen. Keine andere menschliche Organisation hat so gute Voraussetzungen wie sie, eine realitätsbezogene Interessenanalyse im Kontext der Globalisierung vorzunehmen. Überall in der Welt beobachten wir die gleiche spaltende und zerstörende Wirkung des globalen Kapitalismus – allerdings je weiter am Rand, desto schärfer. Denn im absoluten Konkurrenzsystem kann der Stärkere sich ungehemmt gegenüber dem Schwächeren durchsetzen. Das heißt, die Gewinner werden immer weniger, die Verlierer immer mehr. Was deshalb heute am Rand geschieht, wächst morgen immer mehr ins Zentrum hinein. Die Gemeinden in Zentrumsländern wie Deutschland können also – wenn sie es denn schon nicht im eigenen Umfeld wahrnehmen – in ihren Schwesterkirchen im Süden wahrnehmen, was morgen auf sie selbst zukommt.

Nehmen wir Argentinien als Beispiel. Dieses Land war eines der reichsten Länder Lateinamerikas. Vor allem hatte es im Unterschied zu vielen anderen Ländern dieser Region eine breite Mittelklasse entwickelt. Die von USA - wie in anderen Ländern der Zweidrittelwelt – eingesetzte Diktatur öffnete dem transnationalen Kapital Tor und Tür, natürlich immer unter Gewinnbeteiligung der nationalen Eigentümereliten. Die Folge waren Verschuldung, Sozialabbau und Ausverkauf des nationalen Tafelsilbers im Sinn der vom IWF diktierten Strukturanpassungsprogramme und nun der Staatsbankrott. Für Deutsche und die deutschen Mittelstandsgemeinden und –kirchen ist es besonders wichtig wahrzunehmen, dass die eigentlichen Verlierer dieser Entwicklung eben die Mitglieder des Mittelstands sind. Sie leben in der Illusion, sie könnten Gewinner bleiben in diesem Krieg auf Leben und Tod. Sie täuschen sich. Der Kapitalismus zielt auf immer weniger Gewinner, die Großeigentümer. Zuerst verlieren die Erwerbslosen, dann die Arbeitenden, dann die Kranken, dann die Kinder, weil am Sozial-, Gesundheits- und Schulsystem gespart wird – kurz an allem, was nicht der Kapitalakkumulation dient.

Die nächste weltweite Katastrophe wird schon in der Welthandelorganisation (WTO) vorbereitet – in den sogenannten GATS-Verhandlungen (General Agreement on Trade in Services). Dort geht es darum, alle kommunalen und öffentlichen Basisdienste zu privatisieren, d.h. Wasser, Energie, Müllabfuhr, Gesundheit, Erziehung, Transport usw. D.h. all dies soll zur Ware gemacht werden, an denen Kapitaleigentümer verdienen. Das Ergebnis sehen wir nicht nur an der privatisierten Bundesbahn, sondern an extremeren Beispielen wie der Privatisierung der Energieversorgung Kaliforniens (Enron-Skandal) oder der Privatisierung des Wasser in Cochabamba/Bolivien. Einfach ausgedrückt: durch die Privatisierung wird alles teurer (damit die Eigentümer von Aktien höhere Dividenden einstreichen können), so dass nur noch Reiche die besseren Dienste bezahlen können, während die Qualität der Dienste für die breite Bevölkerung abnimmt oder diese ganz eingestellt werden.

Es ist also falsch verstandenes Eigeninteresse, wenn die deutschen Kirchen gerade die Kontaktmöglichkeiten zu den Kirchen in den arm gemachten Ländern (Mission und Ökumene) abbauen, wenn sie die Beziehung zu Erwerbstätigen und Erwerbslosen (Industrie- und Sozialarbeit) und die Arbeit mit der zukünftigen Generation (Jugendheime und Studierendenarbeit) zurückfahren. Hier gerade können sie lernen, was auf ihre Mitglieder aus der Mittelklasse und sie selbst zukommt – wenn sie denn schon keine biblisch fundierte Gotteserkenntnis haben.

Beim Propheten Jeremia (22,16) steht der Satz über den König Josia: "Er half den Armen und Schwachen zum Recht. Heißt nicht das, mich erkennen, Spruch Jahwes". Die Befreiungstheologie Lateinamerikas und anderer Länder hat uns den Schleier von der Bibel wegnehmen gelehrt, den Jahrhunderte nach-konstantinischer Kirche – dank ihrer Koaliton mit den Mächtigen – darüber gelegt hatten. Wir sehen wieder, dass der biblische Gott als Sklavenbefreier in die Geschichte tritt, ständig bemüht, ein Volk dafür zu gewinnen, eine Alternative in der durch Verabsolutierung von Macht und Reichtum gefährdeten Welt aufzurichten.

Es ist allerdings erst eine relativ neue Erkenntnis, dass wir in der Bibel bereits eine Auseinandersetzung mit Vorformen der kapitalistischen Wirtschaft finden. Sie kann unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ungemein schärfen. Zumeist wird davon ausgegangen, der biblische Kontext sei von königlich-feudalen Strukturen geprägt. Nimmt man dies an, entsteht der Eindruck, die Bibel sei mit ihren Aussagen doch relativ weit von unserer Wirklichkeit entfernt. Es lässt sich aber zeigen, dass Prophetie und Rechtsreformen seit dem 8. Jh.v.Chr. sehr präzise auf die oben angedeuteten Anfänge der Eigentums-Geld-Wirtschaft reagieren. Theologisches Zentrum der Argumentation ist die Aussage, dass Gott die Erde und die Menschen gehören und dass deshalb kein Mensch absolutes Eigentum an Land und Leuten beanspruchen darf, vielmehr alle ein Recht auf wirtschaftliche Lebenserhaltung haben (vgl. z.B. Lev. 25). Daraus folgen konkret z.B. präventive Maßnahmen wie das Zinsverbot, oder korrigierende wie die periodische Erlassung von Schulden, Freilassung von Schuldsklaven und Neuverteilung des Landes, so dass alle Menschen immer wieder die Voraussetzungen für ihre Selbstversorgung erhalten. Im Fall eines Gold und Macht vergötzenden, totalitären Imperiums ist unzweideutiger Widerstand geboten (Dan 3). Jesus selbst greift zurück auf die Manna-Ökonomie des täglichen Brotes für alle, animiert zu solidarischem Teilen und Schuldenerlaß und geht offen in Konflikt mit dem wirtschaftlichen Machtzentrum, dem Tempel.

Auf dieser hier nur kurz angedeuteten biblischen Basis können Gemeinden und Kirchen unzweideutig erkennen, dass eine Wirtschaft, die ausschließlich auf die Reichtumsvermehrung der Eigentümer ausgerichtet ist, unmöglich mit der Nachfolge Jesu vereinbar sein kann. Gleichzeitig können sie eigene, alternative Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen, z. B. bei der Anlage kirchlicher Gelder, sowie politische Forderungen entwickeln und versuchen, diese zusammen mit sozialen Bewegungen durchzusetzen.

Wie aber ist die Lähmung zu überwinden, die Kirchen und Gemeinden wie viele Menschen befallen hat? Geiko Müller-Fahrenholz verweist hier auf eine neue Erfahrung des heiligen Geistes. Sie ist möglich, wenn wir unsere Individualisierung des Glaubens aufgeben und mit anderen zusammen nach der Geisteskraft fragen, die uns in alle Wahrheit führt, die uns tröstet und die uns hartnäckig ("geduldig") bei Widerstand und alternativem Handeln macht. Bildung von Gruppen zur Bearbeitung beispielhafter Probleme und die Vernetzung dieser Gruppen ist das Geheimnis, das uns die neuen globalisierungskritischen Bewegungen vorleben. Im Sinn des processus confessionis müsste dies allerdings verkoppelt werden mit synodalen Prozessen. Wenn unsere existierenden Synoden – wie im Faschismus die Reichskirche – die Anpassung an das Unrechtssystem der kapitalistischen Weltwirtschaft trotz eindringlicher Aufforderung unserer Schwesterkirchen im Süden nicht aufgeben, ist mit diesen gemeinsam die Einberufung von ökumenischen Bekenntnissynoden zu erwägen. Eine gewisse Vorform war der Ungehorsam von Gemeinden und Bezirken in der Rheinischen Landeskirche, gegen deren Verbot Kirchensteuern an den Sonderfonds zur Bekämpfung des Rassismus zu spenden.

Sollte es je zu solch harten Auseinandersetzungen kommen, so brauchen wir Bischöfe und Bischöfinnen, die nicht einfach nur die Herde zusammenhüten oder gar Werbefirmen anheuern, um feststellen zu lassen, was die Prioritäten der Kirche sind. Dann ist das Amt der Einheit in theologischem Sinn gefragt. Dann brauchen wir Menschen, die ökumenisch erfahren sind und biblisch auf festem Grund stehen und so den Gemeinden Orientierung geben– in der Tradition derer, die um ihres Zeugnisses willen Konflikte in Kauf zu nehmen und, wenn nötig, zu leiden bereit waren.


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