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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Herbert Erchinger

Gottesdienste und Andachten im

Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA)

Als ich 1995 holterdiepolter aus der Pauligemeinde ins Industriepfarramt ging, hatte ich im Wesentlichen die soziale Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Wandel in der Arbeitswelt vor Augen. Seit meiner Zeit als Studentenpfarrer hatte ich diese Fragen ja nie aus dem Auge verloren. Ich war ziemlich skeptisch, ob neben diesen Fragestellungen auch Gottesdienst, Andacht und Spiritualität zu ihrem Recht kommen würden.

Ich war mir auch vielleicht gar nicht bewußt, wie lebenswichtig für mich selbst diese Frage war. In St.Pauli hatte ich ja beides ganz selbstverständlich: Es gab sozialkritische Gruppen und es gab ein bunt gefächertes gottesdienstliches Leben. Beides befruchtete sich gegenseitig.

Und nun? Das Programm des KDA war ziemlich verkopft. Der Schwerpunkt sind bis heute die Bildungsurlaubsseminare zu sozialpolitischen Fragen. War da für Andacht und Gottesdienst überhaupt Platz?

Trotzig packte ich Gitarre, Bibel, Meditationsbücher und Liederhefte zu meinen Unterlagen, als ich auf mein erstes Seminar fuhr.

Würden sich diese VW-, Bühler- und Salzgitter- Stahl -Beschäftigten vielleicht auf eine kleine Morgenbesinnung einlassen, war meine bange Frage.

Meine Ängste waren völlig unbegründet. Schon nach dem ersten Lied war der Bann gebrochen. Wobei es bestimmt eine große Hilfe war, daß immer einige RentnerInnen mitfahren, die oft noch einige Lieder kennen und ein bißchen kirchlich sozialisiert sind, insbesondere, wenn sie auf dem Lande aufgewachsen sind, wo kirchliche Sitte sich länger gehalten hat als in der Stadt.

Wenn man die ArbeitnehmerInnen zum Singen kriegt, hat man schon halb gewonnen.

Es muß ja nicht gleich ein frommes Kirchenlied sein. Es gibt wunderbare "weltliche" Lieder als Brücke zum kirchlichen Gesang. Mit Wonne sangen alle "Die Gedanken sind frei" oder

"Du laß dich nicht verhärten" von Biermann. Dann ist es nicht mehr weit zu "Sonne der Gerechtigkeit", der heimlichen Hymne der Evangelischen Arbeitnehmerschaft (EAN).

Das Singen erschließt neue emotionale Ebenen, schafft Gemeinschaft und erhebt das Gemüt.

Geholfen haben mir auch meine vielen Bücher mit kurzen Meditationstexten und auch die Fastenkalender von 7 Wochen ohne. Ich fand immer passende Kurztexte zu den Themen des Seminars und ganz natürlich kamen auch bald Bibeltexte dazu. Sehr ermutigt hat mich zu Anfang, daß bei der Seminarauswertung die Morgenbesinnungen positiv gewertet wurden

.

Der eigentliche religiöse Anknüpfungspunkt im KDA ist ja die Ethik. Die Arbeitswelt wirft in allen Bereichen ethische Grundfragen auf: Gerechtigkeit, Teilhabe, Leistung, Eigentum, Ehrlichkeit, Interessenabwägung zwischen Gemeinnutz und Eigennutz..Es ist überhaupt erstaunlich, wieviele Bibeltexte Fragen und Bilder der Arbeitwelt beackern, besonders in den Gleichnissen Jesu vom Fischnetz bis zum ungerechten Haushalter, vom Schatz im Acker bis zu den Arbeitern im Weinberg. Und das verweltlichte Ohr unserer Teilnehmenden hat diese Gleichnisse noch im direkten Wortsinne wahrgenommen und sie ihrer dogmatischen Patina entkleidet. So ist die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg nicht nur ein Gleichnis für die lutherische Rechtfertigungslehre, das ist sie natürlich auch. Aber für einen gestandenen Gewerkschaftler ist sie zuerst einmal eine sozialpolitische Provokation, die ihn an die Decke gehen läßt. So hat mir der KDA geholfen, biblische Texte wieder im direkten sozialen Wortsinne als Wahrheit ernst zu nehmen und nicht gleich in das tertium comparationis einer spekulativen Theologie abzuheben. So finden wir Gott mitten im Leben, in neuen Formen der Gerechtigkeit, in einer anderen Leistungsbewertung und einer Aufwertung der Schwächeren. Bibeltexte gegen den Strich bürsten, den Maßstäben der Welt andere Maßstäbe entgegensetzen. So schließt sich der Kreis zur Bildungsarbeit.

Für meine Andachten bin ich ständig auf der Suche nach guten Meditationstexten zur Arbeitswelt. Aber in der Flut der Meditationstext- Sammlungen kommt die Arbeitswelt zu kurz. Kurt Marti, Sölle, Khalil Gibran, Fastenkalender, einige Gedichte der Expressionisten oder Rilke, das war´s dann schon. Oft schreibe ich daher kurze Texte selbst.

Durch die Andachten fühlte ich mich ermutigt, es nun auch mit Gottesdiensten zu versuchen. Doch wo anfangen?

Der höchste "kirchliche" Feiertag des KDA ist natürlich der 1. Mai. Da gibt es eine große Kundgebung mit anschließendem Volksfest im Bürgerpark. Da dieser Tag prall gefüllt ist mit Kundgebungen und Aktionen, haben wir den Gottesdienst auf den Vorabend, den 30.4. verlegt. Es gelang mir immer, eine Arbeitsgruppe zusammenzustellen, die zu einem aktuellen Thema Texte zusammenstellte. Rollenspiele, Fallbeispiele wurden dargestellt und eine Predigt zu einem Bibeltext ließ ich mir auch nicht nehmen. Da ich, wenn es meine Zeit erlaubt, im Posaunenchor Neuerkerode mitspiele, hat mich dieser häufig unterstützt. Aber auch weltliche Chöre aus der Brunsviga mit Spirituals und Freedom- Songs aus Süd- Afrika sind da schon aufgetreten. Trommel- Gruppen und Jagdhorn- Orchester. Die Bandbreite und die liturgische Toleranz ist groß. Häufig sprechen wir auch gemeinsam ein neu formuliertes "Glaubensbekenntnis der Arbeit".

Glücklich bin ich immer, wenn Gastgruppen sich beteiligen. So trat der Stadtjugenddienst mit Vertretern der Sem Terra- Bewegung aus Brasilien auf, brachte seine Lieder mit und sprengte das Programm, so daß der Gottesdienst Überlänge hatte. Die Hallendorfer Werkstätten (für Behinderte) des CJD führten ein kleines Theaterstück zum Thema "Stärken entdecken" - "Niemand soll verloren sein" auf und zeigten eine Ausstellung. Der Ausbildungsleiter entpuppte sich als arbeitsloser Theologe und half mir gleich beim Predigen. In der Folge machten wir in Hallendorf einen schönen Betriebsbesuch.

Auch Gewerkschaftsfunktionäre lieben es, längere predigtartige Grußworte in unserem Gottesdienst zu sprechen. Sie kündigen ihn auch in ihrem Plakat und Flugblatt zum 1.Mai an.

Natürlich findet nach jedem dieser Gottesdienste ein geselliges Treffen statt, wo insbesondere

die Musik- und Gastgruppen bewirtet werden.

Meine neue Anbindung an die Propstei hatte die segensreiche Folge, daß ich erstmals auch direkt am 1.Mai d.J. um 17.00 im Braunschweiger Dom eine Predigt halten durfte. Und zwar zu dem EKD- Plakat "Ist der Mensch nur soviel wert, wie er verdient?" Dazu hatte ich genug zu sagen. Auch in diesem Gottesdienst kam unser Gewerkschaftsvorsitzender zu Wort mit seinen Thesen zur Globalisierung, die erstaunlich gut in den Rahmen paßten. Leider wurde nicht gesungen. Für´s nächste Jahr habe ich mir fest vorgenommen, ein Liedblatt mitzubringen.

Ein weiterer gottesdienstlicher Schwerpunkt des KDA ist das Thema Mobbing. Schon beim ersten Mobbing- Seminar hatte ich zu den Morgenandachten Mobbing- Geschichten der Bibel herausgesucht von Kain und Abel, Abraham und Lot, Josef und seinen Brüdern, David und Bathseba. Das fanden alle spannend.

Da wir jedes Jahr im Herbst die Anti- Mobbing- Tage durchführen mit vielen Ehrenamtlichen unter der Leitung unseres Mitarbeiters Eric Dancs, lag es nahe, zum Abschluß am Sonntag einen Gottesdienst zum Thema zu feiern. Es zeigte sich, daß die biblischen Geschichten sehr zur Vertiefung des Themas beitragen. An der Josefgeschichte lassen sich alle Merkmale auch des heutigen Mobbing- Geschehens bewußt machen und sogar die Wege zur Überwindung. Und auch die Brücke zum Glauben ist leicht zu beschreiten: Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott hat es alles gut gemacht. Benennen, bearbeiten, bereinigen, begleiten. Ich bin bis heute beglückt darüber, mit welcher ernsten Bereitschaft auch völlig kirchenfremde Mobbing- Interessierte sich auf Vorbereitung und Durchführung dieser Gottesdienste eingelassen haben. Ein großer, aber auch arbeitsreicher Höhepunkt war unser Rundfunkgottesdienst 2000, wo wir das Mobbing- Geschehen und seine Überwindung an der Geschichte der syrophynizischen Frau entfaltet haben. Selbst Jesus war in Gefahr, einen hilfebedürftigen Menschen lieblos und verletzend zur Seite zu drängen. Erst dieser Gottesdienst hat mir Tiefendimensionen dieser Geschichte nahegebracht.

Anstrengend fand ich es zu Anfang, Gottesdienste im KDA aus dem Nichts heraus zu planen.

Die Verlegenheit, daß nichts wie in einer Ortsgemeinde vorab geregelt ist, erlebt man erst als Hürde. Du hast keine Kirche, keinen Organisten, keine Lektoren, keine Liturgie. Und ganz zu Anfang auch keine Nachfrage. So hilft nur die Creatio ex nihilo. Da machte ich überraschende Entdeckungen von Talenten zur rechten Zeit:

Da ich zu einem KDA- Gottesdienst keinen Organisten hatte - der cantor loci spielt grundsätzlich keine Neuen Geistlichen Lieder- sprach ich am Vortag zwei Musikerinnen an, die die Straßenaktionen des KDA mit Klezmer- Musik begleiteten. Mit Geige und Zieh- Harmonika erklärten sie sich sofort bereit, den Gottesdienst am folgenden Sonntag mitzugestalten. Außer einigen Musikstücken begleiteten sie schließlich alle geistlichen Lieder mit und können es seitdem gar nicht abwarten, wieder einen Gottesdienst zu gestalten. Auch bei unserem Rundfunkgottesdienst waren sie mit Hingabe, exakter Vorbereitung und sekundengenauer Generalprobe dabei.

Eine behinderte Arbeitslose entdeckte ich bei einer Weihnachtsfeier. Auf Drängen eines Freundes hatte sie ihr Bandoneon dabei und wollte es zuerst überhaupt nicht auspacken. Aber dann wurde sie nicht müde, viele Weihnachtslieder zu begleiten und zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten mit ihrem Instrument aufzutreten. Aber nur bei dem nötigen Zuspruch.

An elitärer Kirchenmusik ist ja kein Mangel. Ich sehe meine Aufgabe darin, die Ungeübten und Verstummten zum Singen und damit zum Lob Gottes zu bewegen. Da wird vieles Verschüttete wieder freigelegt und viel Verhärtung aufgebrochen.

Die normale Kirchlichkeit ist im Umfeld des KDA und der Betriebe, zu denen wir Kontakt haben, weitgehend tot, trotz beglückender Ausnahmen. Aber es bleibt die Pilotflamme einer diffusen religiösen Ansprechbarkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit und Sinnerfüllung. Menschen haben Fragen, möchten ernst genommen, verstanden und emotional erhoben werden. Sie möchten bei uns nicht nur, wie sonst immer rational beansprucht werden.

Melodien und Lieder schlummern in vielen. Da setze ich an, denn alles Singen hat eine religiöse Offenheit.

Wichtig ist für die Gottesdienste im Bereich der Arbeitswelt: Man darf keine Massen erwarten. Ich freue mich über jeden, der kommt und habe über meinen persönlichen Fan- Club eine Stamm- Belegschaft. Ich muß bekannte und eingängige Lieder anbieten, wobei ich meine eigenen Geschmacksvorstellungen nicht zum Maßstab machen kann. Es bildet sich ein Liederkanon heraus von "Danke" EG 334 über "Vertraut den neuen Wegen" EG 395, "Wo ein Mensch Vertrauen gibt" EG 604 bis "Sonne der Gerechtigkeit" EG 263. Auch das russische "Kyrie" EG 178.9 findet immer wieder in der Klage über Mißstände seinen festen Ort. Und was wären Fürbitte und Segen ohne alle vier Strophen von "Bewahre uns Gott" EG 171 !

Die Kooperation mit Ortsgemeinden ist mir wichtig. Es hat sich bewährt, Gottesdienste zu Fragen der Arbeitswelt zu den ganz normalen Gottesdienstzeiten der Kirchengemeinden abzuhalten. Der Pastor loci freut sich über die Entlastung, die Kerngemeinde vor Ort ist schon da und durch die thematisch motivierten Besucher kommt neues Leben und ein anderer Sozial- Typ in die alten Mauern.

Wie schön und einladend sind doch im allgemeinen unsere Kirchen! So mancher gewinnt ein neues Heimatgefühl, das er ganz vergessen hatte. Insbesondere, wenn er aktiv am Lesepult oder im Rollenspiel eingebunden wird.

Und eins versöhnt mich mit der Entkirchlichung der Werktätigen: Wer selten zum Gottesdienst in eine Kirche geht, erlebt dies, wenn er einmal da ist, besonders intensiv.

Besonders froh bin ich immer, wenn ich in meinem Arbeitsbereich um Amtshandlungen gebeten werde. Manche, die mich nur aus sozialpolitischen Veranstaltungen kennen, sind dann ganz erstaunt: Sowas machst du auch? Sie erleben mich dann in einer ganz anderen Rolle und staunen nicht schlecht. Manche betasten ungläubig verlegen meinen Talar.

Bei Amtshandlungen kommt dann ja alles zusammen: Die Familiengeschichte, die Arbeitswelt, die ethischen Grundfragen, die sozialen Nöte, die Sehnsucht nach gelingendem Leben. Man darf sich sogar küssen. Nach dem Entzünden der Taufkerze, deren Flamme im Kerzenkreis weitergereicht wird, entsteht aus der kirchenfernsten Malocher- Familie die Ergriffenheit der Urgemeinde. So erlebe ich es wenigstens. Ja, die Amtshandlungen sind ein großer Schatz der Kirche, weil sie das Private, das Öffentliche und das Religiöse aufs Innigste verbinden. Jede Amtshandlung erlebe ich als Krönung meiner Arbeit. Es muß ja nicht unbedingt eine Beerdigung sein. Aber auch die mache ich seltsamerweise sehr gern.

Ja, so entsteht meine Gemeinde immer wieder.


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