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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Hans-Martin Gutmann

Lieber Herr Heintze, obwohl ich noch relativ "klein" war, als Sie "unser" Bischof und mein Vater mit Ihnen in der Kirchenregierung waren, habe ich intensive Erinnerungen an Sie - die jüngste daran, daß Sie zur 1000-Jahr-Feier in meinem Heimatdorf Immenrode eingeladen wurden. Die Kirche Jesu Christi, die es auch in Braunschweiger Landen mal mehr, mal weniger sichtbar gibt, bleibt auf Menschen angewiesen, die in Konflikten klar sind, die um des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung willen nötig sind. Dafür danke ich Ihnen. Ihr Hans-Martin Gutmann

Der Aufsatz ist zum ersten Mal als Vortrag in der Reihe "Die Welt nach dem 11.September" an der Universität Hamburg gehalten worden. Die Vortragsform ist teilweise beibehalten.

 

Die Ambivalenz der Unterscheidung von Gut und Böse

Die Welt nach dem 11.September

1. Die verblassende Wirksamkeit des Ursprungsmordes

In den ersten Tagen nach dem 11.September herrschte ein Lebensgefühl vor, das mittlerweile verblaßt. Hier sei etwas geschehen, das es erlaube, die Zeitrechnung in ein "Davor" und "Danach" einzuteilen. Die Welt sei nach dem Massenmord, dessen Ziel mit hoher Intelligenz in der Wahrnehmung symbolischer Wirklichkeit ausgewählt wurde, eine andere als zuvor. Tagelang erschienen in Nachrichtensendungen und Tageszeitungen keine anderen Bilder und Artikel. Die Demonstration spontaner Solidarität und Sympathie, die sich in Berlin, Moskau und selbst Teheran zeigte, fand ihre Entsprechung im Zusammenrücken im westlichen Bündnis und in Zustimmung in anderen Machtzentren: das Übel des Terrorismus muss ausgerottet werden. George W.Bushs Doktrin von der "Achse des Bösen" – er nannte Iran, Irak, Nordkorea -, die er nach Monaten des Krieges in Afghanistan und zur Begründung weiterer Kriegsplanungen vortrug, fand bereits in diesen ersten Tagen nach dem furchtbaren Anschlag auf die beiden Türme des Welthandelszentrums den Zeitpunkt ihrer größten, geradezu sinnlichen Plausibilität.

Dieses Lebensgefühl, einen einzigartigen Einschnitt in der Geschichte der Weltläufte mitzuerleben, findet sich immer wieder, ebenso auch die Erfahrung, dass dieses Lebensgefühl immer wieder verfliegt und verblaßt. Die Bilder von den trudelnden und abstürzenden amerikanischen Hubschraubern, die sich vor der Küste Saigons wegen der zahlreichen Flüchtlinge aus der amerikanischen Botschaft, die sich an ihren Kufen festklammerten, nicht in der Luft halten konnten, haben am Ausgang des Vietnamkrieges für einige Monate und für bestimmte Segmente der Weltbevölkerung dieses Lebensgefühl hervorgerufen. Der 8.Mai 1945 galt für viele als "Stunde null" in Deutschland, und für manche Deutsche waren die Bilder der Graues aus den endlich befreiten Konzentrationslagern endlich auch eine Möglichkeit, sich der mörderischen Realität der Naziherrschaft zu stellen und so Trauer nicht nur über die nahen Toten und über den Verlust ihrer Größenphantasien zu empfinden. Und für wieder andere sind die Verträge von Versailles ein solcher Einschnitt – wie wir nach dem Gespräch des Bundeskanzlers mit Martin Walser wissen können, bis in unsere Tage hinein. Und im September 2001 waren es die Bilder von den brennenden und in sich zusammenstürzenden Türmen des Welthandelszentrums in New York, die für eine begrenzte, heute schon wieder zu Ende gehende Zeit die Wirksamkeit eines solch massiven Einschnittes entfalten konnten.

Wie lässt sich verstehen, dass immer wieder solche Ereignisse besonders dramatischer Gewaltsamkeit als Unterbrechung aller gewohnten Abläufe, als Stunde null, als Punkt erfahren werden, der die Zeit in ein Davor und Danach aufteilt? Und wie lässt sich das ebenfalls immer wiederkehrende Verblassen dieses Lebensgefühls interpretieren? Ich denke, dass sich in der Wahrnehmung solcher Sachverhalte viel von dem französisch-kanadischen Literaturwissenschaftler René Girard und seinen Überlegungen zu Gewalt, "Ursprungsmord" und "Opfer" lernen lässt.

Ich rekonstruiere diesen Argumentationszusammenhang. Girards These: Gewalt breitet sich durch "Mimese" aus. Dieser Mechanismus wird durch eine lebensgeschichtlich frühe und lebenslang wirksame unheilvolle Verbindung motiviert: "Wunsch" und "Gewalt" sind gleich ursprünglich und untrennbar miteinander verbunden. Dieser an die Lektüre Sigmund Freud's anknüpfende Gedanke - der Ödipus-Mythos gilt Girard aber lediglich als Konkretisierung eines allgemeineren Sachverhaltes – wird in der Überlegung zugespitzt: der "Wunsch" des Menschen ist keine Naturtatsache, sondern werde vielmehr an einem Vorbild erlernt. Das Begehren entspringt keinem "Trieb", sondern dem mimetischen Mechanismus. Die Konsequenz: Es gibt keinen Wunsch ohne die gleichzeitig eintretende gewaltsame Konkurrenz zum Mit-Wünschenden, der einem das Wünschen ebenso wie das Objekt des Wunsches gezeigt hat. Wunsch, Konkurrenz und tödliche Gewalt entstehen im gleichen lebensgeschichtlichen Augenblick. Und in jeder spätere Konfliktsituation wird im erwachsen werdenden Menschenkind diese tödliche ursprüngliche Verbindung wieder revitalisiert.

Dies hat gesamtgesellschaftlich wirksame Folgen. Gewalt ist grenzenlos überschwemmend, sie reißt alles in ihren Strudel. Einmal als Tatsache im gesellschaftlichen Zusammenleben wirksam geworden, findet sie kein Ende. Sie verschlingt die Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst.

An dieser Stelle werden in der Perspektive Girards Ereignisse wie der 11.September, aber auch der 8.Mai und andere "Stunden null" interpretierbar: Weil die Gewalt sich mimetisch ausbreitet, kann sie auch durch Mimese "gebunden" werden: durch ein Gewaltereignis nämlich, das so gewaltig ist, dass es die gesellschaftlich brennende und ziellos sich vermehrende Gewalt in sich selbst aufsaugt. Girard nennt dieses Datum den "Ursprungsmord" einer Gesellschaft. Der Ursprungsmord stellt das allgemeine Morden, die Gewalt aller gegen alle zumindest für einen begrenzten Zeitraum still. Ein solcher Ursprungsmord kann den mimetischen Gewaltmechanismus unterbrechen und Frieden bewirken, aber nur solange, wie durch Begehung und Erzählung, durch Ritual und Mythos die Kraft dieses Ursprungsereignisses gewahrt werden kann. Das heißt auch: Die befriedende Wirkung des Ursprungsmordes ist immer prekär, sie verblasst zunehmend mit zeitlicher Entfernung, neue Gewalttaten überschatten nach und nach die Bilder des grundlegenden Ereignisses, der mimetische Mechanismus entfaltet von neuem seine Wirksamkeit – nicht in der Bannung, sondern in der Ausbreitung von Gewalt. Die dramatischen und erschreckenden Ereignisse in Israel und Palästina, die wir in den letzten Monaten bestürzt und hilflos miterleben, geben dafür mit brutaler Deutlichkeit den Beleg.

2. Die wirklichkeitsschaffende Wirksamkeit von Erzählungen

Ich verschiebe jetzt die Perspektive innerhalb des skizzierten Mechanismus und sehe nicht zuerst auf das begründende Ereignis des Ursprungsmordes, sondern auf seine Vergegenwärtigung und deren nachlassende Wirksamkeit. Ich halte es für angemessen, in diesem Zusammenhang auf die Macht von Erzählungen zu achten.

Erzählen kann zum Sprechakttyp der performativen Sprechakte gehören. Im Unterschied zu anderen Sprechakten, in denen Tatsachen mitgeteilt werden, die in der Wirklichkeit bereits da sind, oder aber in denen moralische Normen gesetzt bzw. angesprochen werden, stellen performative Sprechakte die Wirklichkeit selbst her, die sie aussprechen. Die Grundform performativer Sprechakte ist das Gerichtsurteil: Im Namen des Volkes spreche ich Sie schuldig und verurteile Sie zu einer Gefängnisstrafe.

Die wirklichkeitsschaffende Wirksamkeit machtvoller Erzählungen ist weniger offenkundig. Ich möchte es so formulieren: Sie schaffen gedankliche Vertrautheiten, wirksame innere Bilder, bisweilen Körperinszenierungen und akzeptierte Handlungsmuster. Oft lassen sich Szenen und Milieus, in denen bestimmte Erzählungen in dieser Weise wirksam werden, von anderen unterscheiden, in denen das nicht der Fall ist.

Im beständigen Fluss alltäglicher und medialer Erzählungen gibt es manche, die ich als machtvolle Erzählungen bezeichnen möchte. Sie haben eben diese Qualität: sie setzen die Wirklichkeit, die sie erzählen, und sie setzen sie neu bzw. modifizieren vorhandene Wirklichkeit. Der kommunikative Raum, der durch sie entsteht, hat die Kraft, die Gestimmtheit und auch die Wege der Gedankentätigkeit von Menschen zu gestalten, aber auch Beziehungen zwischen Menschen zu eröffnen und zu trennen. Im Sinne der neuen Phänomenologie, z.B. bei Hermann Schmitz, geben machtvolle Erzählungen einer Atmosphäre Gestalt, die sich als Gefühlsraum im äußeren Raum aufbaut und von den Individuen in ihrem "inneren" Raum, als Gestimmtheit gespiegelt wird.

Ich denke, machtvoll wirklichkeits-schaffend sind tatsächlich erst die Erzählungen, nicht die bloßen Ereignisse. Die Erzählungen machen die Ereignisse langfristig wirksam, indem sie diese immer wieder erinnern, bekräftigen, sie "auf die Reihe bringen". Solche Erzählungen haben, so könnte man sagen, beziehungsbegründende Kraft, und jedes Mal, wenn sie wieder erzählt werden, schaffen sie den Kontakt zur Ursprungssituation und verbinden die Alltäglichkeit gemeinsam gelebten Lebens mit dem Charme und der Kraft des Anfangs. Man kann sie als Analogie zu der Weise beschreiben, wie der Religionsphänomenologe Mircea Eliade die Kraft von religiösen Mythen in alten Gesellschaften – und in gebrochener Weise bis heute in spätmodernen Gesellschaften - beschreibt. Im Mythos, in der heiligen Erzählung wird die alltägliche Raum-Zeit-Erfahrung unterbrochen. Der Mythos qualifiziert die Zeit des Festes, durch die heilige Erzählung wird diese Zeit als die eigentliche Zeit gesetzt, und sie bringt die alltägliche Zeit der Arbeit und eingespielten Interaktionen zum Verschwinden. Der Mythos, die heilige Erzählung wird im Ritual inszeniert und begangen, und sie stellt die Verbindung zur Urszene am Anfang aller Zeit her.

In der Moderne haben verschiedene andere Erzähltypen die Rolle der Mythen in alten Gesellschaften übernommen, haben sie teilweise ersetzt, aber umgekehrt auch Anteil an ihrer Macht gewonnen. Machtvolle Erzählungen liegen im Streit miteinander. Es muss entschieden werden, welche Erzählung die Oberhand in der Konstruktion von Wirklichkeit erhält.

Es ist noch gar nicht so lange her, da fand sich in philosophischen Seminaren, in intellektuellen Straßencafégesprächen und in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen immer wieder eine Überlegung: Die aktuelle, als "Postmoderne" klassifizierte Epoche zeichne sich dadurch aus, dass die sogenannten "Metaerzählungen" ihre Plausibilität eingebüßt haben. Die grundlegende These der Postmoderne-Diskussion, wie sie von dem französischen Philosophen Jean Francois Lyotard angestoßen und in Deutschland beispielsweise von Wolfgang Welsch verbreitet worden ist, ist diese: Die Großerzählungen ("Meta-Erzählungen"), die noch in der industriellen Moderne den gesellschaftlichen Zusammenhalt legitimiert haben, haben heute, in der "Postmoderne", ihre Plausibilität und ihre Kraft verloren. Es gelte zu erkennen, dass unter gegenwärtigen Bedingungen solche Vorstellungen, die Totalität und Einheit verbürgen könnten, nur noch als Versuche gelten könnten, die unreduzierbare Vielfältigkeit von Lebensformen in totalitärem Sinne zurückzuschneiden.

Meta-Erzählungen, so Lyotards Meinung, können heute keine Plausibilität mehr beanspruchen: beispielsweise die Rede vom immer zunehmenden Fortschritt durch Entwicklung und Industrialisierung (der liberal-bürgerliche Traum seit dem 19.Jahrhundert) oder der Glaube daran, dass durch eine Sozialisierung der Produktivkräfte die Menschen in die Lage versetzt würden, zu Herren ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation zu werden (der Traum des sozialistisch-kommunistischen Projektes). Solche Großerzählungen haben an Überzeugungskraft und an Funktion für individuelle Identitätssicherung und gesellschaftliche Integration verloren. An die Stelle der Meta-Erzählungen sei ein Patchwork, ein Mosaik, ein vielfältiges Nebeneinander von einzelnen Orientierungen getreten, unter denen die einzelnen sich ihre jeweilige Lebensorientierung auswählen können und müssen.

Ich denke, wir haben heute allen Anlass, die Plausibilität dieses Deutungsmusters vom Ende der Groß-Erzählungen zu misstrauen. Nach den verheerenden Terroranschlägen in New York und Washington hat sich in den USA, aber auch in den politischen Zentralen der verbündeten Staaten eine Erzählung etabliert, die ihrerseits Wirklichkeit schafft - bis hin zur Mobilisierung aberwitziger ökonomischer Ressourcen (85 Milliarden Dollar wurden im amerikanischen Parlament nach dem 11.September für Kriegführung bewilligt ) und bis zum – mindestens projektiert – unbegrenzten Krieg. Diese Erzählung heißt: die Welt ist sauber in Gute und Böse aufzuteilen. Die Guten sind wir selber: die zivilisierten Länder der westlichen Demokratien, der freie Markt. Das Böse ist immer draußen, außerhalb von uns, es hat zugleich ein Gesicht – die verzerrten Video-Bilder des definitiven Schurken Bin Laden – und ist andererseits überall und damit unauffindbar: alle Anstrengungen müssen an jedem Ort und zu jeder Zeit mobilisiert werden, um es ausfindig zu machen, und wer diese Erzählung nicht glaubt, macht gemeinsame Sache mit dem schrecklichen Feind. Alternative Erzählungen haben – ungeachtet ihres Realitätsgehaltes – gegenüber dieser Erzählung keine Chance auf Anerkennung bei den politischen Handlungsträgern des Westens – beispielsweise diese: die ökonomisch-politische Interessenkoalition der USA mit undemokratischen, korrupten Regimes in der arabischen Welt, aber auch die Unfähigkeit, den friedensbereiten Kräften in Israel und Palästina zur Durchsetzung zu verhelfen, haben in weiten Kreisen der Bevölkerung des Nahen Ostens, aber auch muslimischer Gesellschaften weltweit eine hassvolle Ablehnung der amerikanischen Politik, ja tendenziell der bürgerlich-demokratischen und dominant christlichen Gesellschaften des Westens geschaffen, die es überhaupt ermöglicht, Massenmorde wie die in New York oder Selbstmordattentate in Israel als politisch, moralisch und religiös legitime Handlungsformen wahrzunehmen.

Ich denke: die dominierende machtvolle Erzählung entwickelt ihre Kraft nicht allein aus ihrer eigenen Plausibilität, sondern dadurch, dass sie eine uralte Erzählung reinszeniert: Die zwei Jahrtausende alten dualistischen Erzähltraditionen des Manichäismus erfahren eine bis vor kurzem kaum für möglich gehaltene Wiederbelebung. Meine beunruhigende Wahrnehmung ist – und ich schließe mich da selbst mit ein: selbst moralisch und intellektuell elaborierte ZeitgenossInnen tendieren mindestens zu Beginn von Gewaltkrisen dazu, der Macht dieser Erzählung zu erliegen. Die Plausibilität einer Re-Manichäisierung der Welt - es gibt Gute und Böse, beide Gruppen sind klar voneinander unterscheidbar, und die Bösen müssen einen auf den Hut kriegen, genauer: die böse Gewalt muss durch die gute Gewalt eingedämmt und beseitigt werden – ergreift auch die Gehirne und Herzen von UniversitätsprofessorInnen und LehrerInnen, genau wie die von ZeitgenossInnen mit geringerem Kontakt zu Bildungsinstitutionen, und es ist mühsam, sich nach und nach durch angestrengte Realitätswahrnehmung wieder davon zu distanzieren. Mir selber ging das so in den ersten Tagen und Wochen nach Beginn der Bombenangriffe auf Serbien vor zwei Jahren, und in den ersten Tagen der Angriffe auf Afghanistan vor sieben Monaten war es wieder dasselbe. Und bei vielen moralisch und intellektuell entwickelten Menschen in meiner Umgebung habe ich genau dies beobachtet. Ich denke, es ist schlechterdings lebensnotwendig, zwischen heilsamen und zerstörerischen wirklichkeitsschaffenden Groß-Erzählungen unterscheiden zu lernen.

3. Die Alternative in der inneramerikanischen Debatte

Eine m.E. hochintelligente Analyse der Debatte, die in den USA selbst nach dem 11.September geführt wurden, stammt von dem erst 27jährigen Yale-Absolventen und Fellow der New America Foundation in Washington D.C. Jedediah Purdy, dessen 1999 erschienenes Buch "For Common Things" die amerikanische Kritik in Erstaunen versetzt hat. In seinem ZEIT-Beitrag vom 28.Februar 2002, "Das Amerika der reinen Herzen", unterscheidet Purdy zwei Strömungen in der politischen Diskussion. Auf der einen Seite steht eine Gruppe von sechzig amerikanischen Intellektuellen, die mit maßvollen Argumenten den Krieg gegen die Terror-Organisation Al Quaida verteidigt, aber zugleich für eine Selbstbegrenzung der militärischen Optionen eintritt. Zu dieser Gruppe gehören eher linke Intellektuelle wie der Kommunitarismus-Theoretiker Michael Walzer, aber auch linksliberale und konservative GesprächspartnerInnen wie z.B. Samuel Huntington, der den "Kampf der Kulturen" ausgerufen hat, oder Francis Fukuyama, der schon in der frühen 90er Jahren das "Ende der Geschichte" proklamiert hat. Gemeinsame Absicht der Sechzig ist, einem kritischen Patriotismus Ausdruck zu verleihen. Es geht um die Wahrnehmung nationaler Interessen der USA, zugleich ihre Wertbindung an übernationalen Standards. Einige Autoren betonen ihre Ablehnung problematischer Aspekte der amerikanischen Kultur – wie des zügellosen Konsums und eines übersteigerten Individualismus. Alle warnen jedenfalls vor einer Selbstentgrenzung nationaler Interessendurchsetzung. Der Krieg könne nicht als legitimes Mittel auch gegen Gefahren betrachtet werden, die "durch Verhandlungen, durch Appelle an die Vernunft, durch die Vermittlung Dritter oder andere gewaltfreie Methoden" abgewendet werden könnten.

Von dieser Perspektive eines reflektierten und gemäßigten Patriotismus unterscheidet Purdy eine andere, die im Wahljahr 2000 mit dem Präsidenten George W.Bush knapp an die Macht gewählt wurde und seither in dem Maße an Popularität gewinnt, wie sie genau diese Weltsicht zur Grundlage ihrer praktischen Politik macht. Bush steht, so sieht es Purdy, für die Tradition des "guten Herzens" in der amerikanischen Politik, die im Wesentlichen zwei Grundmotiven folgt: Gute Absichten schützen vor Machtmissbrauch; und: die Orientierungspunkte von "gut" und "böse" genügen zur Bestimmung des richtigen politischen Kurses. Diese Richtung hat Traditionen bis hin in die Vorstellungswelt der englischen Siedler des 17.Jahrhunderts, die ihre Kolonien in einem besonderen Bund mit Gott wähnten. Purdy unterstreicht vor allem auch die religiöse Basis dieses höchst wirksamen Lebensgefühls: "Eine ähnliche Gefühlslage erzeugt die Überlieferung des amerikanischen Protestantismus. Nach dessen Lehre findet der Gläubige die göttliche Führung in seinem eigenen Herzen. Übertragen auf die Sphäre der Politik führen diese Traditionen vor allem zu Misstrauen und Verdacht: Unsere Feinde sind böse! Zweifel sind unpatriotisch! Zögerlichkeit ist unmännlich, und Unentschlossenheit ist ein Zeichen von Schwäche!" – Bedrohlich an dieser Orientierung und an den sie begleitenden und inszenierenden machtvollen Erzählungen ist, dass sie in erheblichem Maße in der Lage sind, nicht nur die Zustimmung beim Wahlvolk zu finden, sondern auch die politischen Realitäten nach ihrem Bild zu beeinflussen. Außenpolitisch ist der Versuch, das Böse in bestimmten "Schurkenstaaten" zu verorten, besonders für solche Gesellschaften wie den Iran verheerend, in denen Ansätze einer kulturellen Öffnung und der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen durch das Wiedererstarken von reaktionären Machtgruppen erstickt werden können. Und was ein Angriff auf den Irak, sollte er denn Wirklichkeit werden, für die prekäre Balance im Nahen Osten – einschließlich der Existenz Israels – bedeuten könnte, ist vermutlich nur in Horrorszenarien einigermaßen realistisch auszuphantasieren. Innenpolitisch bewirkt das Vorherrschen dieser Richtung in den USA eine beängstigende Bereitschaft, liberale Traditionen bis hin zu Grundrechten wie der Meinungsfreiheit und der Unverletzlichkeit der Privatsphäre aufs Spiel zu setzen.

Die Diskussionslage ist in der Bundesrepublik eine andere, die Positionen konturieren und begründen sich anders, und die Machtverteilung zwischen vorherrschenden Meinungen und Erzählungen ist ebenfalls anders. Vor dem Mechanismus, der aktuell die Balance in den weltpolitischen Konstellationen ebenso gefährdet wie eine liberale, grund- und menschenrechtsorientierte Politikgestalt nach innen, sind die deutsche und andere westeuropäische Gesellschaften aber keinesfalls ausgespart. Der mimetische Gewaltmechanismus wirkt, sobald es zu einer tatsächlichen oder auch nur befürchteten Gewaltentwicklungen kommt – beispielsweise zu einem terroristischen Anschlag – mindestens in diese beiden Richtungen: Es kommt zu einer Entdifferenzierung der Wahrnehmung in Richtung auf eine eindeutige Verteilung von "gut" und "böse", wobei das Böse immer als draußen gedacht wird, den Anderen zugeschrieben wird, während das Gute drinnen ist, bei uns, ja in uns repräsentiert wird. Und es kommt zweitens in kritischen Phasen zum Heißlaufen des mimetischen Gewalt-Mechanismus, den ich als "schlechte Reziprozität" bezeichnen möchte.

4. Notwendigkeit und Aporie einer Aufhebung der manichäischen Erzählstruktur

Ich würde nicht so weit gehen wie beispielsweise Peter Sloterdijk, der George W.Bush und Bin Laden in Wahrnehmung dieser Konstellation als "Zwillinge" bezeichnet hat; dazu sind die religiösen, kulturellen und politischen Traditionen und Konzepte doch zu unterschiedlich, und die Chance einer Unterbrechung verheerender Zuspitzungen ist in einer demokratischen Kultur wie der Vereinigten Staaten allemal größer als in einer religiös aufgeladenen terroristischen Organisation, die Bin Laden repräsentiert. Fatal ist allerdings, daß bei einem solchen Heißlaufen der schlechten Reziprozität die Differenzierungen auch jeweils intern tendenziell eingeschmolzen werden: es hat den Anschein, als glichen sich die Wahrnehmung des Anderen als des zu vernichtenden Bösen und die religiöse Selbstlegitimation des Eigenen als des Guten spiegelbildlich aneinander an, und diese Angleichung kann in dem Maße zunehmen, wie der wechselseitige Einsatz von Gewalt eskaliert. Entscheidend ist, Ansatzpunkte zu finden, diesen Mechanismus zu unterbrechen. Und dies ist auch der Ort, an dem ich als christlicher Theologe (und nicht als dilettierender Politikwissenschaftler) meine, etwas beitragen zu können.

Denn die Erzählstruktur, die den heißlaufenden mimetischen Mechanismus begleitet, ist mythisch, revitalisiert uralte manichäische Muster und gewinnt ihre Energie aus einem Reservoir symbolischer Ordnung, die durch Aufklärung und Vernunft offenbar weniger gebannt ist, als wir es um der Bewahrung unserer politischen Kultur willen gemeinsam hoffen müssen. Bereits in den fünfziger Jahren, in der Debatte um die sogenannte "Entmythologisierung" der biblischen Erzähltradition – Mythen, so diese lautete diese durchaus einflussreiche Meinung, hätten in der Moderne ihre Plausibilität eingebüßt - , kam der entscheidende Einwand gegen die damals in der theologischen und kirchlichen Landschaft aufsehenerregenden Sicht der Dinge von einem Nichttheologen, nämlich von dem Philosophen Karl Jaspers. Jaspers Hypothese: Mythen werden durch rationalen Diskurs nicht entmächtigt und sind in ihrer gesellschaftsbegründenden Kraft auch nicht zu ersetzen, beispielsweise durch Vernunft und Vertrag. Sondern Mythen können nur durch andere Mythen, durch andere machtvolle Erzählungen aufgehoben werden. Die m.E. in unserem Zusammenhang entscheidende Frage heißt deshalb: Wie kann der manichäische Erzähltypus - die Erzählung nämlich, die gute Welt des Eigenen ließe sich klar von der bösen Welt des Anderen trennen, und diese böse Welt müsse mit allen, vor allem gewaltsamen Mitteln zur Strecke gebracht werden – wie kann diese Erzählung ihrerseits entmächtigt werden?

Ihre Entmächtigung scheint mir unabdingbar notwendig, weil diese Erzählung immer wieder neu den mimetischen Gewaltmechanismus entfacht, auf der Suche nach dem größten Schlag, der ultimativen Gewalttat, die das Böse endgültig zur Strecke bringt auf diese Weise Frieden schafft. Wirklich fatal und tendenziell alles Leben bedrohend ist, daß beide Seiten dieses gewalttätigen Spieles zugleich auf der Suche nach dieser ultimativen friedensschaffenden Gewalttat sind – "peace maker" im Sinne der Kanone dieses Namens, nicht im Sinne gewaltfreier Aktion - , und dass sich dieses Spiel im Sinne seiner eigenen Logik nicht begrenzen lässt, also die Gefahr beinhaltet, dass schließlich alles Leben zerstört werden kann.

Wenn meine Annahme plausibel ist, dass sich diese mythische Erzählstruktur nicht durch Aufklärung, durch Vertrag und Vernunft restlos bannen lässt, so liegt genau in diesem Punkt, so denke ich, die Leistung und die schlechthin notwendige Aufgabe der Religion, und aus meiner Perspektive beinhaltet gerade die jüdisch-christliche Erzähltradition in ihrer protestantischen Perspektive die Chance, eine andere machtvolle Erzählung zu etablieren, die dazu beitragen kann, den mimetischen Gewaltmechanismus und die ihn begleitenden, legitimierenden und jeweils neu entflammende Erzählgestalt eines mythischen Gut-Böse-Mechanismus zu entmächtigen.

5. Die Grenze der Zentralisierung staatlicher Macht

Mit dieser Überlegung sollen nicht die Versuche unterschätzt werden, durch international koordinierte und rechtlich abgesicherte militärische Maßnahmen von außen - legitimiert durch die Vereinten Nationen – Frieden zu erzwingen, Menschenrechte zu schützen und aktuell in Not geratenen Menschengruppen lebensrettende Hilfe zukommen zu lassen. Die Zentralisierung staatlicher Erzwingungsmittel über nationalstaatliche Grenzen hinaus scheint mir in manchen Fällen – ich denke beispielsweise an die Eröffnung der Bombenangriffe durch die NATO nach dem Massaker von Srebenica – tatsächlich die einzig mögliche Rettung für betroffenen Menschen zu sein.

In der gegenwärtigen Lage kommt dieses Konzept m.E. aber auch deutlich an seine Grenzen, und zwar dann und deshalb, wenn und weil sich mit der internationalisierten militärischen Erzwingungspolitik eigene ökonomische und politische Interessen einer – und zwar der mächtigsten – Einzelmacht verbinden, und vor allem dann, wenn diese Politik ihrerseits in die Erzählstruktur eines mythischen Dualismus von Gut und Böse eingebunden wird und in dieser mythischen Struktur und dem sie begründenden mimentischen Gewaltmechanismus ihre eigentliche energetische Basis findet.

Es hat in den Gesellschaften des Abendlandes seit Spätmittelalter und früher Neuzeit Jahrhunderte gedauert, in denen nach und nach zentralisierte staatliche Strukturen zugleich mit psychischen Charaktertypen vorherrschend wurden, die große Menschengruppen in die Lage versetzt haben, ihre Affekte – und zwar vor allem libidinöse und aggressive Affekte – durch innerpsychische Instanzen zu kontrollieren. Die Wirksamkeit des mimetischen Gewaltmechanismus – die Blutfehde zwischen den Einzelhaushalten, den Clans, den kleinen face-to-face-Einheiten – wurde nach und nach durch Vernunft und Vertrag außer Kraft gesetzt: "Vernunft" im Sinne der Herausbildung und massenhaften Wirksamkeit einer Charakterstruktur, die Menschen zur Innenlenkung ihrer Affekte befähigt und zugleich zwingt, und "Vertrag" im Sinne der Ersetzung von mimetisch wirksamer Gewalt durch rechtsförmige Übereinkünfte, die durch eine zentrale politische Instanz abgesichert und durch ihre Macht durchgesetzt werden konnten.

Wir verdanken Norbert Elias und seiner "Theorie der Zivilisation" das gedankliche Instrumentarium, für die frühe Neuzeit in Europa den Zusammenhang zwischen Zentralisierung gesellschaftlicher Macht im Staat und der Verinnerlichung der Affektkontrolle bei den Menschen zu verstehen – und seine Sicht der Dinge macht es nun allerdings unmöglich, die historische Durchsetzung eines innengeleiteten Charaktertypus umstandslos mit der gesellschaftlichen Ausbreitung von "Vernunft" gleichzusetzen.

Soziogenese und Psychogenese sind, so Eias, Teil eines Prozesses. Um die Beziehung zwischen gesellschaftlichen und psychischen Veränderungen zu kennzeichnen, spricht Eias von "Figuration". Auf der einen Seite sind im Europa der frühen Neuzeit gesellschaftliche Entwicklungstendenzen zu beobachten. Beispielsweise die Entwertung traditioneller Nachbarschaften mit ihrer Funktion sozialer Kontrolle durch Stadtneugründungen und Bevölkerungswanderungen im Zusammenhang der Entwicklung der Bergbauindustrie; beispielsweise die Intimisierung der Familie in begrenzten Schichten des städtischen Bürgertums, wo sich - historisch neu - die Bereiche des Arbeitens und Zusammenlebens in der Familie voneinander trennen; oder die Zentralisierung der gesellschaftlichen Gewalt in den Fürstentümern der damaligen Zeit; und die immer stärkere Verflechtung von menschlichen Handlungen und Planungen durch die Zunahme der Arbeitsteilung und die Intensivierung des Verkehrs, vor allem die Ausweitung und Intensivierung des Fernhandels.

In diesem Zusammenhang stehen auf der anderen Seite Veränderungen in der Charakterstruktur der Individuen: die Affektregulierung (libidinöser, aber auch vor allem aggressiver Antriebe) durch äußeren Zwang wird von der Affektregulierung durch den Selbstzwang der Individuen abgelöst. Der "Kriegsschauplatz" wird nach innen verlegt. "Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraumes über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach- und die zukünftigen Folgeketten ..."

"Innenkontrolle der Affekte" ist für Elias aber keineswegs gleichbedeutend mit einer stärkeren Bewusstheit, Vernünftigkeit, Rationalität oder gar Ich-Stärke der jetzt innenregulierten Menschen. Ganz im Gegenteil. Die Innensteuerung durch Scham- und Peinlichkeitsgefühle beinhaltet eine Abspaltung der libidinösen und aggressiven Regungen: Was zuvor öffentlich dargestellt wurde, worüber gesprochen wurde, was mehr oder weniger selbstverständlicher Bestandteil öffentlicher Kommunikation war, darf jetzt nicht mehr gezeigt, nicht mehr ausgesprochen, ja nicht einmal mehr bemerkt werden. Verinnerlichung heißt nicht: Vorherrschaft einer diskursiven Vernunft über die Triebe. Scham- und Peinlichkeitsgefühle werden gegenüber immer weiteren Teilen der spontanen Abtriebe von Menschen vorherrschend. Verinnerlichung heißt: eine Verinnerlichung von Ängsten, und die.

Ich sehe hier bis heute einen wesentlichen Grund dafür, dass sich zentralisierte staatliche Machtinstanzen immer wieder in den mimetischen Gewaltmechanismus einbinden lassen. Wird der Außendruck hoch genug, kommt es beispielsweise wie nach dem 11.September zu einem schockartigen Schub im Gewaltmechanismus, können selbst übernationale Maßnahmen der Friedenserzwingung unter den Druck von Stimmungen geraten, die sich massenhaft in der Bevölkerung ausbreiten, und die im Sinne des archaischen Mythos zum Ziel haben, die Bösen zu vernichten. Ich sehe genau in diesem Punkt die Grenze einer übernationalen Politik der Friedenserzwingung. Daß eine solche Politik wirklich Frieden bringen kann, hat zur Voraussetzung, dass sie nicht nur gegenüber ökonomischen und politischen Interessen übermächtiger Einzelmächte wie der USA frei wird, sondern auch gegenüber den Angstbildern manichäischer Denkmuster. Bei Menschen, die unter ihre Herrschaft geraten, lösen sich auch die mühsam erworbenen Standards zivilisierter Selbstkontrolle gegenüber aggressiven Antrieben allzu schnell in nichts auf. Auch die Perspektive einer überstaatlichen Friedenssicherung braucht deshalb m.E. notwendig die Entmächtigung der manichäischen Erzählstruktur, und ich komme auch auf diesem Wege, jetzt noch einmal drängender, zur Frage nach dem Beitrag der christlichen Religion.

6. Der Beitrag der christlichen Religion in evangelischer Perspektive zu einer Kultur der Verständigung

Ich spreche heute Abend zu Ihnen als evangelischer Theologe, und ich möchte plausibel machen, dass die biblische Erzähltradition gerade in protestantischer Perspektive einen notwendigen Beitrag leisten kann zu einer politischen Kultur, die die Ambivalenz der Unterscheidung von Gut und Böse wahrnimmt und auf diese Weise friedensfähiger und verständigungsbereiter werden könnte. Ich sehe diesen Beitrag vor allem in drei Orientierungspunkten:

6.1 Das Böse muß benannt und ausgeschlossen werden; und das beinhaltet auch: Toleranz ist ausgeschlossen gegenüber Menschen, die zum Massenmord entschlossen sind und die Bedingungen für eine Kultur der Toleranz zerstören wollen. Solche Leute müssen müssen entmächtigt werden – durch Kampf gegen ungerechte Strukturen, die Nährboden für terroristische Propaganda darstellen, aber auch durch.effektiven Einsatz demokratisch kontrollierter militärischer Macht.

Der Diskurs darüber, ob staatliche Macht notwendig sei, worin sich eine gute staatliche Obrigkeit auszeichne, wo die Notwendigkeit und die Grenzen zentralisierter staatlicher Gewalt liegen, findet sich bereits in den Heiligen Schriften der Bibel und zieht sich durch die ganze Geschichte der Kirche. Mit besonderer Intensität wurde er in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus geführt, und die Antwort der sogenannten "Bekennenden Kirche", wie sie 1934 in der "Theologischen Erklärung von Barmen" Gestalt gewonnen hat, wird bis heute – beispielsweise durch das Ordinationsversprechen von PfarrerInnen in manchen Landeskirchen – verbindlich gemacht. In der These 5 der "Theologischen Erklärung" von Barmen heißt es: unter anderem: "Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen." - In dieser Perspektive wird die Legitimität staatlichen und auch überstaatlichen Handelns einschließlich militärischer Optionen daran gebunden, dass dieses Handeln für Recht und Frieden sorgt. Dies ist offenbar keine pazifistische und auch keine grundsätzlich institutionskritische Perspektive. Diejenigen, die Recht und Frieden zerstören, müssen daran gehindert werden – und dies trifft in der aktuellen Lage Massenmörder, die ihre Gewalthandlungen religiös überhöhen und darauf zielen, an symbolisch intelligent ausgewählten Punkten die westlichen, d.h. kapitalistischen, demokratischen und dominant christlichen Kulturen insgesamt zu treffen. Aufgabe staatlichen und überstaatlichen Handelns ist auch in der Perspektive der "Theologischen Erklärung von Barmen" von 1934, dem ein Ende zu setzen und Menschen unter Wahrung der Menschenwürde und rechtsstaatlicher Prinzipien aus dem Verkehr zu ziehen, die auf diese Weise handeln.

Aber: die Legitimität staatlichen und überstaatlichen Gewalthandelns bleibt genau daran gebunden, dass bei solchen Aktionen und Prozessen Recht und Frieden überprüfbar im Zentrum stehen. Und die Legitimität staatlichen und überstaatlichen Handelns wird auch verletzt, wenn soziale, politische und kulturelle Verhältnisse legitimiert und politisch, aber auch militärisch abgesichert werden, in denen Menschen um ihre Lebensmöglichkeiten und Lebensperspektiven gebracht werden. Im Diskurs über Terrorismus darf nie vergessen werden, dass Terroristen ohne massive Unterdrückung, Ausgrenzung, ja den Entzug materialer Lebensmöglichkeiten für große Bevölkerungsgruppen in den armen Ländern – und gegenwärtig mit besonderer Brisanz im Nahen Osten – keine Chance auf Akzeptanz, politische Bewegungsfreiheit und Erfolg hätten. Dorothee Sölle hat in ihrem Buch "Mystik und Widerstand" die christlich-religiöse Perspektive in diesem Zusammenhang mit m.E. großer Plausibilität benannt: "Die religiöse Tradition (den Neuen Testaments, HMG) hilft ..., unsere Rolle an der Spitze der Weltgesellschaft richtig zu benennen: Wir sind Feinde der Erde, Feinde von mehr als zwei Dritteln aller Menschen, Feind dem Himmel über uns und Feindin auch uns selber ... Dieses Zusammenspiel von Weltherrschaft der Konzerne in der Globalisierung und einer neuartig inszenierten Individualisierung ohne Rest, ohne Bindung an die Geschwistergeschöpfe, erscheint hoffnungslos, ein Weiterrasen auf den apokalyptischen Untergang hin, und wird von vielen Nachdenklichen als unaufhaltsames Fatum angenommen ..."

Die Legitimität staatlichen Handelns, "unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen." hat dann und dort Chancen auf Realisierung, wo dieses Handeln effektiv kontrolliert und von den betroffenen Menschen eingeklagt wird, beispielsweise durch friedliche Demonstrationen wie in diesen Tagen in Berlin. Der Aufruf des "Bundesausschusses Friedensratschlag", der gestern mit zahlreichen Unterschriften unter dem Titel "Wir wollen Ihre Kriege nicht, Herr Präsident" veröffentlicht wurde, kann in diesem Sinne als Leitfaden einer notwendigen Begrenzung staatlichen und überstaatlichen Gewalthandelns m.E. nur begrüßt und unterstützt werden. Hier heißt es u.a.: "Wir appellieren an die deutsche Regierung und an die anderen Regierungen der Europäischen Union: Beteiligen Sie sich nicht weiter an dem US-Kriegsfeldzug gegen Staaten im Nahen und Mittleren Osten und anderswo. Machen Sie Ihren Einfluss bei der US-Regierung geltend, um sie von weiteren Kriegsabenteuern abzubringen. Leisten Sie einen konstruktiven Beitrag zum Frieden, indem Sie sich für weniger Rüstung und mehr Entwicklungshilfe, für den Verzicht auf Militärinterventionen und den Ausbau der zivilen Konfliktprävention einsetzen. Frieden beruht auf Gerechtigkeit und Gerechtigkeit kann nur durch Frieden gedeihen."

6.2 Der archaische Opfer-Mechanismus, der Mechanismus der zerstörerischen Reziprozität kann nur aufgehoben werden, indem der Mythos an seiner zentralen Stelle um-erzählt wird, indem also die machtvolle Erzählung nicht allein durch rationale Kritik durchschaubar gemacht wird, sondern anders und neu erzählt wird. Diese zentrale Kehre in der Erzählform der machtvollen Erzählung heißt: das Opfer ist unschuldig. Frieden kann durch Massaker am Sündenbock nicht hergestellt werden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Überlegungen von René Girard zurückkommen, der nicht nur den Ursprungsmord und die diesen begleitenden Erzählmuster kritisch analysiert hat, sondern auch deutlich gemacht hat dass die biblische Erzählung eine andere Erzählung dagegenstellt, die den archaischen Sündenbock- und Opfermechanismus an seiner entscheidenden Stelle unterbricht. Girard analysiert in Hinblick auf seine "Ursprungsmord"-Hypothese sogenannte "Verfolgungstexte" aus dem Mittelalter und Mythen aus dem Altertum. Bestimmten Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen - den Juden; den Hexen; den Zigeunern – wird Schuld an gesellschaftlichen Krisen - Pest; Hungersnot; Krieg – zugeschrieben und erwartet, dass mit der Vernichtung dieser "Schuldigen" auch die gesellschaftliche Krise selber beendet wird. Die Verfolgungstexte folgen diesem Erzählmuster: Am Anfang steht die Krise der Gesellschaft (z.B.Pest) und der Zusammenbruch von Institutionen, die die gesellschaftliche Ordnung sichern; es werden "Schuldige" ausgewählt, und ihnen werden verderbliche Kräfte/Handlungen zugeschrieben; schließlich kommt es zu Mord/Massaker/Opfer an den "Schuldigen", die als Lösung der Krise erlebt werden. Die in der Gewaltkrise verstrickten Gesellschaftsmitglieder erleben ihre Auslöschung als Augenblick, in dem die Verursacher der tödlichen Gewalt zur Strecke gebracht worden sind und jetzt endlich Versöhnung und Frieden eintreten kann. Immer teilen die jetzt aus der tödlichen Gewaltkrise befreiten Gesellschaftsmitglieder die Meinung, dass die Sündenböcke "schuld" sind an der Gewalt und damit "schuld" auch an ihrem eigenen Opfer. An dieser gemeinsam geteilten Überzeugung hängt zuinnerst die befriedende Wirkung des Pogroms.

Girard stellt diesem Typus des Opfers einen fundamental anderen gegenüber; man könnte ihn den "evangelischen" Opfer-Typus nennen. Die neutestamentlichen Evangelientexte durchbrechen das Gewalt-Opferschema an seinem entscheidenden Punkt. Sie erzählen in immer neuen Variationen davon, dass das Opfer unschuldig ist. Auch die neutestamentlichen Texte, die wie der Hebräerbrief den Kreuzestod als Opfer bezeichnen, halten an der Schuldlosigkeit dieses Opfers ausdrücklich fest. Das Opfer als freiwillige Selbsthingabe hebt den Gewalt-Mechanismus des Opfers auf: Jesu Tod am Kreuz ist, so heißt es im Hebräerbrief, das ein für allemal wirksame Opfer: alle anderen Opfer - kultische Opfer, aber auch Opfer sozialer und wirtschaftlicher Strukturen, Opfer vor allem des mythischen Gewaltmechanismus - müssen nicht mehr sein und dürfen um Gottes willen nicht mehr sein.

Ich denke, dass dieser Blick eines Nicht-Theologen auf die biblische Erzähltradition einen zentralen Punkt getroffen hat. Der mythische Erzähltypus der Herstellung des Friedens durch Hinschlachtung des schuldigen Bösen wird nicht durch rationale Argumentation aufgedeckt, sondern er wird neu erzählt, um-erzählt, könnten man sagen. Auf diese Weise wird die Kraft und die Macht der überkommenen mythologischen Erzählstruktur ernstgenommen und gewissermaßen umgelenkt. Ihre Kraft wird nicht verleugnet, sondern in einer neuen im entscheidenden Punkt fundamental anderen Erzählung in neuen Bahnen kanalisiert: Das Opfer ist unschuldig, Opfer müssen und dürfen nicht mehr sein, Frieden kann durch die Ausrottung des Bösen nicht endgültig durchgesetzt werden, es gibt – über die Grenzen der Formulierungskünste der "political correctness" hinaus – keine "Operation grenzenlose Gerechtigkeit"

6.3 In der protestantischen Theologietradition wird dieser Gedanke in der Lehre von der "Rechtfertigung des Sünders" aufgenommen und radikalisiert. Gott schenkt dem Menschen Gerechtigkeit, der durch eigene Leistungen und im eigenen Lebensvollzug hierzu nicht in der Lage ist. Eine heile Welt ist kein menschenmögliches Projekt. Die Verheißung einer neuen Welt, in der alle Tränen abgewischt werden, hat Gott als Subjekt und nicht die Menschen. Gesellschaftlich-politische Perspektiven stehen immer unter diesem Vorbehalt. Oder, wie es der Reformator Martin Luther formuliert hat: solange das Reich Gottes am Ende aller Zeit noch nicht da ist, solange die irdisch-gesellschaftlichen Lebensverhältnisse fortdauern, bleibt auch der von Gott geliebte und gerecht gesprochene Mensch "simul iustus et peccator", gerecht und sündig zugleich.

Diese theologische Denkfigur beinhaltet eine Menge an Perspektiven und Problemen, die uns hier nicht interessieren müssen. Wichtig erscheint mir aber, daß sie mindestens die Entzauberung und Entmächtigung einer zerstörerischen Größenphantasie beinhaltet. Die Eindeutigkeit der Unterscheidung von Gut und Böse, wie sie im manichäischen Mythos suggeriert wird und in seinen modernen Varianten reinszeniert wird – Licht und Finsternis, Leben und Tod, Heil und Sünde werden jeweils distinkten soziologischen Gruppierungen und politischen Machtkonstellationen zugemessen, und das Böse ist immer draußen, bei den Anderen, die Guten sind wir selber – diese eindeutige Unterscheidungsmöglichkeit wird in der biblischen Erzähltradition gerade in ihrer protestantischen Lektüre unterbrochen. Es sind vor allem zwei Wahrnehmungen, die in der theologischen Rechtfertigungslehre des Reformators Martin Luther zugespitzt wurden: das Böse ist immer auch drinnen, immer auch im Eigenen, immer auch in uns selbst; und: die endgültige und vollständige Ausrottung des Bösen ist unter geschichtlichen Bedingungen für Menschen unmöglich und soll Gott überlassen werden.


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