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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Friedrich Wilhelm Horn

Charisma und Vernunft in Römer 12

1. Einführung in das Thema

Charisma und Vernunft stehen auf den ersten Blick in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Vergegenwärtigen wir uns den Sachverhalt an wenigen Beobachtungen zu 1 Kor 12. In dem Charismenkatalog, der insgesamt neun Geistbegabungen aufzählt (12,8-10), begegnen mit Glossolalie, Heilungsgabe und Prophetie Charismen, für die ganz oder teilweise ein Verzicht auf den Gebrauch der Vernunft konstitutiv ist. So sagt Paulus in 1 Kor 14,14, daß im glossolalen Gebet der Geist (to pneuma mou) redet, die Vernunft hingegen ruht (ho de nous mou akarpos estin).?Ebenso wird die Gefahr angesprochen, daß ein glossolaler Ausbruch im Gottesdienst in seiner Außenwirkung auf Ungläubige mit Raserei, Verzückung, eben als mainomai?(1 Kor 14,23) interpretiert werden könne, d.h. aber, daß er der Vernunft entgegensteht.

Demgegenüber betont Paulus im 1 Kor mehrfach Ordnungsprinzipien und -kategorien (1 Kor 14,27.33), spricht sich für eine Pädagogik des rationalen Gottesdienstes aus, in der es um ein Übersetzen oder Erklären (1 Kor 14,5.13.27) unvernünftiger Rede geht, und er mißt dem Lernen (1 Kor 14,31.35) und Ermahnen (1 Kor 14,31) einen hohen Wert bei. Gleichfalls gilt im Blick auf 1 Kor 12, daß Paulus elitäre Ansprüche innerhalb der Gemeinde, die sich u.a. durch besondere Geistbegabung begründen, mit Hilfe der Charismenlehre zurückweist, da für Paulus jeder Christ Geistträger ist und einem jeden ein Charisma verliehen wurde (1 Kor 7,7; 12,7.11; Röm 12,6).

Damit sprechen wir allerdings bereits von einem ersten kritischen Reflex des Paulus auf Geistesgaben. Während Paulus im 1 Thess und im Gal die Gemeinden auffordert, den Geist nicht zu dämpfen (1 Thess 5,19), sich vom Geist treiben und führen zu lassen (Gal 5,25), da der Geist das Leben der Gemeinde bestimmt, so erkennen wir im 1 Kor den Versuch, regulierend in die pneumatisch bestimmte Gemeinde einzugreifen. Schon die Einführung des Bildes von dem einen Leib und mehreren Gliedern bindet das Wirken des Geistes an den Organismus des einen Leibes und zeigt hier Grenzen auf. Der Geistbegabte ist jetzt nicht mehr ausschließlich dem Wirken des Geistes ausgesetzt, er muß sein Verhalten vor den anderen Gliedern verantworten. Aber auch die Einführung des Begriffs der Charismen lenkt von dem gebannten Blick auf die spektakulären Geistbegabungen ab, da Paulus grundsätzlich behauptet, ein jeder Christ habe ein spezifisches Charisma (1 Kor 7,7).

Andererseits aber verbinden wir mit dem Begriff Charisma die Vorstellung, daß der Geist Gottes frei und unverfügbar Gestalt gewinnt und nicht durch menschliche Vernunft zu kontrollieren ist. To pneuma mê sbennyte?(1 Thess 5,19), ruft Paulus den Christen in Thessalonich zu. Panta de tauta energei to hen kai to auto pneuma diairoun idia hekastô kathôs bouletai?(1 Kor 12,11), so unterstreicht Paulus die Freiheit des Geistes. Jedoch ist damit nur eine Seite des Begriffs Charisma angesprochen. Schon der erste Charismenkatalog in 1 Kor 12,8-10 enthält durchaus vernünftige Charismen (Weisheitsrede, Übersetzung der Glossolalie u.a.), ebenso der zweite Katalog in 1 Kor 12,28 (Lehre, Gemeindeleitung u.a.). Schließlich ist zu bedenken, daß 1 Kor 12,31 eine Wertung vornimmt und in der Liebe das im Vergleich mit Glossolalie, Prophetie, demonstrativem Glauben und Verzicht weitaus größere Charisma erkennt (1 Kor 13). Während diese zuletzt genannten Charismen vergänglich sind, bleibt die Liebe neben Glaube und Hoffnung unvergänglich. Zumindest im Blick auf 1 Kor 12 -14 kann man mit H. Balz feststellen: "Der Gedanke der rel. (dionysischen) Verzückung (vgl. Hdt IV 79 hypo tou theou mainetai)?ist im NT nicht positiv aufgenommen worden." Hier besteht zweifelsfrei eine Distanz. Wird aber Paulus der Vorstellung, daß es sich eben um den Geist Gottes handelt, noch gerecht, wenn er zunehmend regulierende Kriterien zur Bändigung des Geistes einbaut?

Aber auch die Vernunft oder die Ordnung ist für ihn nicht Gott entgegengesetzt. Im Gegenteil: Gott ist nicht ein Gott der Unordnung (1 Kor 14,33.40) und die Vernunft des getauften Christen ist eine erneuerte (Röm 8,5; 12,2).

Während das Verhältnis von Geist - Charisma - Gemeindegottesdienst in 1 Kor 12-14 vielfach untersucht und dargestellt worden ist, kann die gleiche Intensität der Bearbeitung für Röm 12 insgesamt nicht behauptet werden. Allerdings ist das Thema ‘Charisma und Vernunft’ hier noch grundsätzlicher als in 1 Kor 12-14 behandelt. Schon die beiden Eingangsverse in Röm 12,1-2 verpflichten die Gemeinde explizit auf Prinzipien der Vernunft und des erneuerten Verstandes. In welchem Verhältnis stehen hierzu die Charismen (Röm 12,6-8)? Und wie ist der Ausblick auf die Liebe in Röm 12,9f, der im Kontext von Vernunft und Charismen eine Parallele zu 1 Kor 13 darstellt, zu bewerten?

2. Überblick über Röm 12,1-21

Paulus setzt hier zu einem längeren ethischen Abschnitt im Römerbrief an, in dem er auf allgemeine (12,1-13,14) und speziellere Mahnungen (14,1-15,13) an die von ihm nicht gegründete und ihm persönlich noch nicht bekannte Gemeinde Roms abzielt. Es ist in der Sekundärliteratur üblich und sinnvoll, in Röm 12 eine Dreiteilung wiederzufinden: a) Röm 12,1-2: Der vernünftige Gottesdienst; b) Röm 12,3-8: ein Leib - viele Glieder/die Charismen; c) Einzelmahnungen unter dem Kriterium der Liebe.

a) Röm 12,1-2: Im Blick auf die beiden Eingangsverse in Röm 12 hat Ernst Käsemann von dem "Gottesdienst im Alltag der Welt" gesprochen. Mit Recht, denn Opfer (thysia) und Gottesdienst (latreia)?sollen sich nicht mehr in den vom Profanen ausgegrenzten sakralen Räumen vollziehen, sondern in einem bestimmten Verhalten der Christen in ihrem Alltag, welches sowohl ihre Leiblichkeit (sômata) als auch ihren Verstand (nous) betrifft. Wie bei einem Opfer werden heilige Körper für Gott zur Verfügung gestellt, doch nun nicht mehr Tierkörper, sondern menschliche Körper, und diese nicht mehr blutig, sondern lebendig. Der Zweck des Opfers, daß etwas für Gott wohlgefällig überreicht wird, bleibt erhalten. Der Vollzug des Opfers hat sich allerdings völlig verschoben. Röm 12,1 spricht konsequenterweise von einem vernünftigen Gottesdienst (logikê latreia). Hier kommt eine Ethisierung zum Ausdruck, die nicht ohne die Vorgaben der philosophischen Kritik an wirklichem Opfergottesdienst und nicht ohne ihre Rezeption im hellenistischen Judentum gedacht werden kann. Zugleich hatte sich in der jüdischen Diaspora, die nur noch auf Wallfahrten realen Kontakt zum Jerusalemer Tempelgottesdienst hatte, eine Ethisierung und Spiritualisierung gesetzlicher Bestimmungen, die ursprünglich am Jerusalemer Tempel hingen, vollzogen, auf die Paulus aufbauen kann.

Allerdings hält Paulus eine Differenz im Verständnis des Gottesdienstes fest. Der Gegensatz sakral - profan ist nicht mehr wirklich räumlich nachzuzeichnen als Gegensatz von einerseits Tempel und andererseits Bereich außerhalb des Tempels. Für Paulus ist die Grenzziehung nicht grundsätzlich festgelegt. Sie entscheidet sich in dem Verhalten eines jeden Christen in bezug auf seine Körperlichkeit und auf seinen Verstand im Gegenüber zu diesem Äon, diesem Weltalter (12,2). Also leben die Christen im Alltag der Welt, ihr Gottesdienst vollzieht sich nicht in einem sakral ausgegrenzten Raum. Dennoch gibt es für sie einen Gegensatz zu diesem Weltzeitalter. Ihm sollen die Christen sich nicht gleichstellen, sondern sich verändern lassen. Das Ziel dieser Veränderung ist die Erneuerung des Verstandes. Wenn dies geschieht, dann werden die Christen in die Lage versetzt, zu prüfen und wohl auch zu leben, was Gottes Wille ist. Inhaltlich ist der Wille Gottes sogleich durch bestimmte Attribute charakterisiert: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene (to agathon kai euareston kai teleion).?

Wir müssen zu einigen Begriffen innerhalb dieser Argumentation einige Erklärungen hinzufügen. Der Ausdruck ‘dieser Äon’ entstammt apokalyptischem Denken. Er kennzeichnet die gegenwärtige Weltzeit im Gegenüber zur jenseitigen Weltzeit als vergänglich und gottfern. Für Paulus bedeutet dies, daß der Christ in einer grundsätzlichen Distanz zu dieser Weltzeit lebt. Andererseits soll er nicht einfach auf das Ende der begrenzten Weltzeit warten und sich in die Innerlichkeit zurückziehen, sondern soll sich dem gegenwärtigen Äon nicht anpassen. Im folgenden entwirft Paulus vielmehr eine offensive Strategie des Verhaltens in dieser Weltzeit. Sie zielt auf eine Veränderung des Verstandes. Von dieser Veränderung spricht Paulus so, daß er einen Prozeß des Sich-Verändern-Lassens in Blick nimmt. Voraussetzung dieses Denkens ist, daß der Mensch dieser Weltzeit keinen wirklichen Zugang zum Willen Gottes mehr hat. Paulus hat in Röm 1,18-3,20 ausführlich dargelegt, daß Gott selber sich in eine Distanz zu seiner Schöpfung begeben hat. In Röm 7 hat Paulus im Rückblick den Konflikt des Menschen beschrieben, der dem Gesetz Gottes nicht zustimmen kann, auch wenn er es möchte. Möglich geworden ist dieser Prozeß der Erneuerung und des Sich-Verändern-Lassens durch das Heilsgeschehen in Christus und durch die Gabe des Geistes. Paulus hat diese Grundlegung des neuen Lebens in Röm 5-8 ausführlich beschrieben. Daher ist nach dieser Veränderung und der Distanz zu diesem Äon ein wirkliches neues Prüfen des Willens Gottes möglich.

Der Wille Gottes liegt nicht offen zutage. Er begegnet nicht in geschriebener Form wie etwa die Tora. Dennoch soll sich das christliche Leben an ihm orientieren. Paulus spricht den erneuerten Verstand der Christen an: sie sollen prüfen, was Gottes Wille ist. Dies schließt grundsätzlich die Möglichkeit ein, daß in dieser Prüfung mehrere Antworten gegeben werden können. In unterschiedlichen Situationen werden sich unterschiedliche Antworten finden. Allein eine Zielrichtung kann Paulus angeben: gut, wohlgefällig, vollkommen.

b) Röm 12,3-8: Bevor Paulus auf die Charismen in V.6-8 zu sprechen kommt, hält er zwei Kriterien für ihre Anwendung fest: das Kriterium der Besonnenheit und das Kriterium des Zusammenspiels von vielen Gliedern in einem Leib. Hierbei beruft er sich zur Begründung seiner Autorität zunächst auf die Gnade, die ihm gegeben ist (V.3a). In V.6a wird er dann die Gnade, die allen Glaubenden in unterschiedlicher Weise gegeben, aber von seiner besonderen apostolischen Gnade unterschieden ist, erwähnen.

In einem Wortspiel mit den Verben hyperphronein - phronein, phronein - sôphronein?ruft Paulus zu einer Gesinnung auf, die sich an das Maß des Glaubens hält, welches einem jeden Glaubenden zugeteilt ist. Abgewiesen wird die Überheblichkeit auf Kosten eines Gemeindeglieds, gefordert wird eine Besonnenheit, die nicht ohne Bescheidenheit dahergeht. Phronêsis?und sôphrosynê?zählen neben dikaiosynê?und andreia in der klassischen griechischen Philosophie zu den Kardinaltugenden der aretê. Das hellenistische Judentum hat diese vier Kardinaltugenden aufgenommen und sie nun nicht mehr unter den Begriff der Tugend (aretê),?sondern biblischem Denken entsprechend eben unter die Gerechtigkeit (SapSal 8,7) oder unter die Weisheit (4 Makk 1,18) subsumiert. Paulus kann sich hier nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich anschließen. Die Besonnenheit ist für ihn diejenige Haltung, die innerhalb der christlichen Gemeinde sowohl gegenüber dem Inhalt des Glaubens als auch gegenüber dem Gemeindeglied angewandt werden soll. Sie setzt also ein vernünftiges Maß.

Paulus bleibt in V.4f im Bereich allgemein anerkannter, durch griechische Philosophie und hellenistisches Judentum vermittelte Vorgaben, um die besonnene Haltung gegenüber dem Gemeindeglied von anderer Seite her zu beleuchten. Das Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern beschreibt ein Modell der menschlichen Gesellschaft (=Leib), die funktioniert, wenn es zu einem Zusammenspiel der einzelnen Glieder kommt. Das Bild ist in der Antike häufig in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet worden, es geht wohl zurück auf die Fabel des Agrippa Menenius Lanatus aus dem Jahr 494 v. Chr. Angewandt auf die Gemeinde in Rom besagt das Bild ein doppeltes: einerseits sind alle Christen einzelne Glieder an dem übergeordneten Leib. Zwar sagt Paulus nicht, daß dieser Leib mit Christus gleichzusetzen sei, der Gedanke steht aber im Hintergrund und schwingt mit. Hier geht es andererseits um die sozialen Aspekte des Bildes, nämlich um das gegenseitige aufeinander Angewiesensein in der Gemeinde, to de kath’ allêlôn melê.

Paulus hat hiermit durch den Verweis auf die Besonnenheit und durch das Bild von dem Leib und den Gliedern zwei Kriterien benannt, die von ihrer philosophischen Herkunft her der Vernunft einen hohen Rang einräumen und zugleich auf den sozialen Raum der Gemeinde bezogen sind. Man hat den Eindruck, daß die korinthischen Erfahrungen mit den Enthusiasten nachwirken und daß Paulus stärker noch als im 1 Kor Vernunftkategorien einbaut, um ein kritisches Gegengewicht für diejenigen Charismen zu haben, die in Korinth gemeindetrennend gewirkt haben. Ohne die Situation aus Korinth hier nachzeichnen zu können, soll doch soviel gesagt sein. In Korinth hat sich nach der Abreise des Paulus in einem Teil der Gemeinde ein pneumatischer Enthusiasmus entwickelt, für den Begabungen wie Glossolalie zu einem Kennzeichen für Geistbesitz wurden. Dieser enthusiastische Teil der Gemeinde sprach von sich als von den pneumatikoi?und blickte wohl verächtlich auf diejenigen, die solche Gaben nicht hatten, als auf psychikoi?herab. Die Aufgabe, die sich für Paulus nach den korinthischen Erfahrungen stellt, lautet: Wie können Charismen in der Gemeinde Ausdruck finden, ohne daß die heidnische Umwelt in den Charismen ekstatische Manie erblickt (1 Kor 14,23)? Wie können Charismen in der Gemeinde Gestalt gewinnen, ohne daß der Inhalt des Glaubens (kata tên analogian tês pisteôs; Röm 12,6)?und ohne daß die konkrete soziale Gestalt der Gemeinde, der Leib, Schaden nimmt?

Die Aufzählung der unterschiedlichen Charismen in 12,6-8 verbindet die ersten vier Charismen mit eite, schließt dann weitere drei Charismen mit vorangestelltem Artikel an. Jedem der sieben Charismen ist eine Bestimmung, eingeleitet mit en?beigefügt. Schon dies zeigt an, daß Paulus keinesfalls daran gelegen ist, die Charismen frei und unkontrolliert in der Gemeinde walten zu lassen. Er bindet ihr Erscheinen an ein Kriterium. Freilich begegnet dieses Kriterium allein bei dem einleitenden Charisma, der prophêteia, in einer ausgeführten Gestalt. Die Prophetie wird gebunden an die analogia tês pisteôs.?Hier ist nicht die subjektive Seite des Glaubens, sondern ihre objektive Gestalt (fides quae creditur) angesprochen. Sie stellt ein Maß für die Charismen dar. Gerade der Begriff analogia?spricht die Vernunft an und fordert auf, eine klar nachvollziehbare Verbindung zwischen dem Glaubensinhalt und dem jeweiligen Charisma herzustellen. Dieser Bestimmung kommt das dritte Kriterium en tê didaskalia?nahe, was gleichfalls auf verfestigte Inhalte des christlichen Glaubens zu beziehen ist, nicht aber bereits auf einen ausgeführten Katechismus. Insgesamt fällt bei der Liste der sieben Charismen auf, daß sie im wesentlichen kerygmatische, diakonische und kybernetische Gaben aufzählen (Prophetie, Dienen, Lehren, Ermahnen, Gaben verteilen, Vorstehen, Barmherzigkeit üben). Hingegen werden die eher individuell ausgerichteten, ekstatischen Charismen nicht mehr erwähnt. Hatte Paulus in der Aufzählung in 1 Kor 12 solche Gaben wie etwa genê glôssôn, hermeneia glôssôn, glôssais lalein?an das Ende der Liste gestellt (1 Kor 12,10.28.30) und damit auch eine Wertung vollzogen, so werden diese Gaben wie auch die möglicherweise enthusiastisch ausgerichtete Heilungsgabe hier in Röm 12 überhaupt nicht mehr angesprochen. Die Gründe hierfür können wie folgt vermutet werden: a) die korinthischen Erfahrungen haben Paulus in eine Distanz zu pneumatischem Enthusiasmus gebracht; b) Paulus spricht aber jetzt nur noch diejenigen Charismen an, die in einem klaren Bezug zu der oikodomê stehen. Daher wird der enge Bezug der Charismen zu dem Leib-Christi-Gedanken in Röm 12,4-8 verstärkt; c) Er übergeht diejenigen Charismen, die auf den einzelnen Ekstatiker hin ausgerichtet sind.

c) Röm 12,9-21: In dem abschließenden Teil sind eine Reihe von Einzelmahnungen in der 2. Person Plural zusammengestellt. Sie sind allenfalls locker verbunden durch das Leitmotiv ‘Gut und Böse’, welches in den V.9.17 und 21 begegnet, gelegentlich auch durch gemeinsame verbindende Stichworte. Es finden sich aber auch übergreifende Zusammenhänge. So wird das Verb phronein?aus 12,3 in 12,16 gleich dreimal wieder aufgenommen, um ein vernünftiges Zusammenleben innerhalb der Gemeinde zu beschreiben. Hingegen ist das Liebesgebot wohl einleitend angesprochen, aber doch nicht wirklich das durchgehende Thema des gesamten dritten Teils. Kennzeichen der erwarteten Haltung ist, daß die Hochschätzung des Statusgewinns abgelöst wird durch eine Hochschätzung des Statusverzichts. Paulus bewegt sich hier wiederum in Bahnen, die im hellenistischen Judentum vorgezeichnet worden sind. Aber auch an anderen Stellen dieses Schlußabschnitts kann er sich an überkommene, vernünftige Grundsätze des hellenistischen Judentums anschließen.

Wesentlich ist natürlich die enge Verbindung des Charismenkatalogs (12,6-8) mit dem Liebesgebot (12,9f). Schon in 1 Kor 12-14 hat Paulus diesen Zusammenhang hergestellt, wenn er die Liebe als das höchste Charisma inmitten der anderen Charismen anspricht (1 Kor 12,31), das allen Charismen, vor allem dem zuerst genannten der Glossolalie, überlegen ist. Während alle anderen Charismen vorläufig sind, ist die Liebe als einziges Charisma eschatologisch. In 1 Kor 12-14 verschiebt Paulus die Perspektive von den vordergründig auffälligen enthusiastischen Charismen hin zu der Liebe als dem Charisma schlechthin. "Wie die Agape nach 1 Kor 13 Kriterium allen christlichen Verhaltens ist, so a forteriori auch des Umgangs mit den Charismen." Röm 12 setzt diese Linie fort, verstärkt aber mit dem in hellenistischer Literatur stehenden Gegensatzpaar ‘Gut und Böse’ die vernünftige, weisheitliche, praktische Orientierung der Liebe. Sie kann nicht nur ein Gefühl sein und sie ist auch mehr als nur eine Grundhaltung. Die Liebe steht nach Röm 12,9 vor einem Entscheidungsruf, nämlich das Böse zu verabscheuen und dem Guten anzuhängen. Sie orientiert sich am Guten, also nach Röm 12,2 am Willen Gottes, den sie konkret zu prüfen und zu erheben hat.

  1. Schlußfolgerungen

Charisma und Vernunft können als Gegensatz begriffen werden, wenn man im Charisma eine unverfügbare, ekstatische Wirkung des Geistes sieht, für die eben die Ausschaltung der Vernunft konstitutiv ist. Paulus kennt diese Sicht, möglicherweise aus der jüdisch-hellenistischen Überlieferung, und er setzt sie in 1 Kor 14,14.23 voraus, indem er Geistbegabung und Vernunft als sich einander ausschließend gegenüberstellt. Jedoch übernimmt er diese Sicht nicht, sondern ordnet in Röm 12 das allgemeine Wirken des Geistes dem speziellen Wirken des Geistes in der Vernunft unter. Diese Vernunft ist für Paulus eben nicht eine allgemeine Vernunft, sondern eine durch Christus und die Gabe des Geistes erneuerte und veränderte. Sie vermag es, nach dem Willen Gottes zu fragen und zu prüfen, was gut, wohlgefällig und vollkommen ist (12,2).

Die paulinische Charismenlehre ist m. E. häufig überbewertet worden. Dies zeigt die vergangene Debatte um Geist und Amt. Paulus ist weit davon entfernt, für das freie Wirken des Geistes einzutreten und einer charismatischen Gemeindeordnung, die im Gegensatz zu Amtsstrukturen begriffen wird, das Wort zu reden. Er kann Lebensäußerungen in der Gemeinde als Wirkung des Geistes erkennen und als Charismen ansprechen. Dies ist jedoch kein Plädoyer für eine exklusiv charismatisch ausgerichtete Gemeindeverfassung.

Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, daß im Rahmen der Ethik und ihrer Begründung auch von den Prinzipien der erneuerten Vernunft her kritische Vorbehalte gegenüber einer charismatischen Ausrichtung vorzubringen sind. Der vernünftige Gottesdienst bemüht ja gerade die Vernunft und ihre Prinzipien zur Gestaltung der Ethik. Und dieser Vorspruch in Röm 12,1-2 wird in den beiden folgenden Abschnitten 12,3-8 und 12,9-21 nie aus dem Blick verloren.

Nur an einer Stelle in Röm 12 läßt Paulus die zweifelsfrei vorhandene ekstatische Tradition des frühen Christentums anklingen. In Röm 12,11 fordert er auf: tô pneumati zeontes?(vgl. als entfernte Parallelen Apg 18,25; 1 Thess 5,19).?Allerdings ist diese Mahnung in ihrem Kontext eingeordnet in eine Abfolge durchweg praktischer Mahnungen. Man wird daher sogar sagen müssen, daß das Brennen des Geistes sich eben in der Bruderliebe, in der Ehrschätzung des andern, im Eifer, im geduldigen Ausharren etc. erweist.

Man kann die Frage stellen, ob Paulus wirkungsgeschichtlich in Röm 12 nicht eine Seite des Christentums verdrängt hat, die gegenwärtig von Gemeindeerneuerungsbewegungen, charismatisch ausgerichteten Gemeindegruppen, aber auch von Freikirchen und Sekten bewußt wieder in den Mittelpunkt gerückt wird. Diese Verlagerung fordert nach meiner Einschätzung in der Konsequenz in der Tat etwas ein, was nicht nur Paulus, sondern auch die anderen Schriften des Neuen Testaments nicht oder nur spärlich aufgenommen haben: die ekstatische Seite der Religion. Man sollte die möglichen Hintergründe dieses neu erwachten Interesses mit bedenken, bevor man einem Trend Folge leistet.

Dieser Paulus aus Röm 12 ist mir einerseits sympathisch, da er den einzelnen Glaubenden ernst nimmt und einen jeden Christen auffordert, den Gottesdienst in seinem Alltag vernunftgemäß zu praktizieren, da er die Religion nicht abordnet an die dazu eingesetzten Priester und an die ihnen zugeordneten sakralen Räume. Andererseits aber wirkt dieser Paulus mit seinem Plädoyer für einen vernünftigen Gottesdienst eher spröde. Seine Botschaft setzt intellektuelle Anforderungen, die nicht allgemein nachvollzogen werden können. Domestiziert Paulus möglicherweise das Wirken des Geistes mit Hilfe der Vernunft? Es erheben sich weitere Fragen an Paulus wie an die ihn bestimmende aufklärerische jüdisch-hellenistische Tradition: Kann von Gottesdienst, Opfer, Hingabe der Leiber gesprochen werden, wenn diese Begriffe und die mit ihnen verbundene Sache sofort uneigentlich verstanden werden, wenn sie intellektualisiert und ethisiert werden? Braucht Religion nicht den Vollzug von Opfer und Kultus eben nicht nur im Alltag der Welt, sondern in sakralen Räumen? Wenn innerhalb des hellenistischen Judentums eine Spiritualisierung der Kultusbegriffe angestrebt wurde, so wußte man immer noch um das faktische Weiterbestehen des Kultus am Jerusalemer Tempel und war ihm auch durch Vollzüge wie Wallfahrten praktisch verbunden. Kann man die kultische Sprache, wie Paulus in Röm 12,1-2 tut, übernehmen, aber die Sache ethisch uminterpretieren? Ich schließe mit diesen Fragen. Sie zeigen auch, daß die Veränderungen in evangelischer Theologie und Kirche, etwa die wieder neu erwachte Frage nach dem Wesen der christlichen Religion, zugleich die exegetischen Fragen neu stellen lassen.


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