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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Klaus Jürgens

Ev.-luth. Kirche in einer werdenden Großstadt

- Zur Entstehung der St. Johannis-Gemeinde in Braunschweig -

 

"Albrecht, Prinz von Preußen etc., Regent des Herzogthums Braunschweig.

Da die Verhältnisse der evangelisch-lutherischen Stadtkirchengemeinden der Stadt Braunschweig in verschiedenen Beziehungen eine anderweite Ordnung haben erforderlich erscheinen lassen, wollen Wir zu diesem Behuf nach Anhörung Unseres Herzoglichen Consistoriums Folgendes verfügen:"

So beginnt der am 10. August 1894 ergangene Höchste Erlaß, durch den in Braunschweig - neben einigen anderen Anordnungen, auf die später noch eingegangen werden soll, - als Wesentlichstes zwei neue Kirchengemeinden: die St. Johannis-Gemeinde und die St. Pauli-Gemeinde begründet wurden. Der 10. August 1894 ist also zum mindesten im juristischen Sinne der Geburtstag der St. Johannis-Gemeinde; denn, so heißt es wörtlich in jenem Höchsten Erlaß: "Mit Veröffentlichung dieser Verfügung an Seiten Unseres Herzoglichen Consistoriums, die sofort zu erfolgen hat, treten die eben bemerkten neuen Kirchenanstalten und neuen Kirchengemeinden ins Leben."

Freilich, das, was wir theologisch unter einer Kirchengemeinde verstehen, daß sich Gemeinde im Gottesdienst versammelt, daß da ein Kirchenvorstand und ein Pfarramt sind, das sollte noch eine Weile dauern, ganz zu schweigen von dem Kirchengebäude, dessen Einweihung erst 11 Jahre später, am 24. Juni 1905, gefeiert werden konnte. Die Einweihung der St. Paulikirche erfolgte sogar erst 1906.

Wie es also noch eine ganze Zeit dauern sollte, bis die St. Johannisgemeinde ihr geistliches Leben voll entfalten konnte, so hat es auch eine ebenso lange Zeit gedauert, bis von dem ersten Gedanken, daß neue Kirchengemeinden in Braunschweig notwendig seien, - das mag etwa 1883 gewesen sein, - es zu der Verwirklichung dieses Gedankens kam.

Genau dieser Entwicklung möchte ich vornehmlich nachgehen und dabei ein besonderes Augenmerk darauf verwenden, wie die Kirche im vorigen Jahrhundert den Herausforderungen begegnet ist, die sich ihr mit der rasanten Entwicklung Braunschweigs zu einer Großstadt stellten.

Gehen wir zunächst einmal etwa 2 Generationen zurück, beispielsweise in das Jahr 1839. Damals war Braunschweig noch, - ich will es ruhig so nennen, auch wenn es durchaus eine ganze Reihe von sozialen Problemen gab, - eine idyllische Residenzstadt, die seit einem Jahre wieder ihr durch Karl Theodor Ottmer neu erbautes Schloß hatte. Wie seit dem Mittelalter oder der Reformationszeit war die Stadt im wesentlichen auf den Bereich innerhalb des Umflutgrabens der Oker beschränkt, wenn auch nach einer etwa 30 Jahre währenden Zeitspanne seit 1831 die Befestigungsmauern abgetragen und die Wälle durch Peter Joseph Krahe in eine großzügige Promenade verwandelt waren. Die Möglichkeit, die alten Stadtgrenzen zu sprengen, war damit angezeigt.

1839 zählte Braunschweig 37.583 Einwohner ohne Militär, letzteres wurde von dem Hof- und Domprediger betreut. Von den 37.583 Einwohnern waren etwa 35.00 evangelische Christen . Geistlich versorgt wurden sie durch 12 Pfarrer. Je zwei Prediger, - so nannte man das damals offiziell, - an St. Martini, St. Katharinen, St. Andreas, St. Magni und St. Ulrici, weiter je ein Prediger an St. Petri und St. Michaelis. Dazu kamen noch 2 Adjunkten, die aber vorwiegend für Vertretungsfälle da waren. Mithin kamen auf die 12 Pfarrer jeweils knapp 2.900 Gemeindemitglieder. (Diese Zahl sollten wir uns ein wenig merken!).

Das Jahr 1839 ist übrigens auch in sofern interessant, als ungefähr von diesem Zeitpunkt an, wenn auch zunächst noch sehr zögernd, die industrielle Entwicklung unserer Stadt beginnt. 1838 war hier die erste deutsche Staatseisenbahn eröffnet. Der in den folgenden Jahrzehnten durchgeführte Streckenausbau der Eisenbahn im Lande schuf nicht nur neue Arbeitsplätze, sondern gab auch sonst der heimischen Wirtschaft Impulse. Die Braunschweigischen Eisenbahnwerkstätten z. B. vermehrten ihre Belegschaft zwischen 1853 und 1873 von 173 auf 758 Mitarbeiter. Zunehmend trat nun auch Braunschweig den Weg in das Industriezeitalter an. Dazu nur ein paar wenige Stichworte: 1849 Fr. Voigtländer (Optik und Feinmechanik), 1853 die Braunschweigische Maschinenbauanstalt (BMA), 1856 die Wilke-Werke, 1860 Grotrian-Steinweg, ab 1861 Ausbau der Konservenindustrie, die in späteren Jahren nahezu ein Drittel der gesamten Gemüseproduktion Deutschlands lieferte, 1871 Grimme, Natalis und Co.(Brunswiga). 1873 die Fa. Max Jüdel (Eisenbahn-Signalbauanstalt). 1874 wurden 105 Betriebe mit über 10 Beschäftigten gezählt. Insgesamt stellte man dabei 6089 beschäftigte Männer und 1237 Frauen fest. Im Laufe der Zeit entstand besonders im Südwesten der Stadt ein ausgesprochenes Industriegebiet, wo 2646 Arbeiter tätig waren. Da in der Zeit nach 1871, in den sog. Gründerjahren, auch in Braunschweig eine Reihe von repräsentativen Bauten entstanden, florierten ebenso die Baubetriebe, eine Entwicklung, die dann durch den immensen Wohnungsbau in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. noch verstärkt wurde.

Eine natürliche und notwendige Folge der Industrialisierung war das Anwachsen der Bevölkerung. In den 60er und 70er Jahren betrug die durchschnittliche Steigerungsrate jährlich etwa 2,74 %, teilweise über 3,5 %. 1870 zählte Braunschweig etwa 58.000 Einwohner, also gut 20.000 mehr als 1839. 1880 waren es bereits 75.000 und 1885 - gut zu merken - etwa 85.000 Einwohner. Nur fünf Jahre später, 1890, war mit 101.000 Einwohnern die Großstadtgrenze von 100.000 erreicht. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde davon dem Arbeiterstande im weitesten Sinne zugerechnet, und nur noch jeder dritte Einwohner wohnte innerhalb der Okerumfassung. Knapp 89 % der Bevölkerung gehörten der ev.-luth. Kirche an.

Der Anstieg der Bevölkerung wirkte sich zunächst einmal in der Innenstadt aus, wo auf den Hinterhöfen Stallungen und andere Gebäude zu Wohnungen gemacht wurden und wo bald, besonders in Vierteln wie in den Klinten, Werder, Mauernstraße, Friesenstraße u.a. Zustände eintraten, die ein Zeitgenosse so schilderte: "Die Beengung im Wohnraum, der Mangel an Luft und Licht, unzureichende sanitäre Anlagen, all das bot einen idealen Nährboden für Epidemien, denen besonders die ärmere Bevölkerung schutzlos ausgeliefert war." Doch mehr und mehr wuchs nun die Stadt nach außen.

Das bekannteste außerhalb der Wälle liegende Wohngebiet ist wohl das sog. "Krähenfeld", bekannt noch heute durch die "Krähenfelder Geschichten" Wilhelm Raabes, der im Jahre 1870 hierher zog. Das Krähenfeld umfaßte das Gebiet zwischen Wolfenbüttler Straße und Viewegs Garten, amtlich war dies der Augusttordistikt. Er umfaßte 1871 bereits 2439 Einwohner. Raabe wohnte damals auf der Salzdahlumer Straße 3 (heute Böckler Straße). Andere Distrikte waren: der Steintordistrikt, zu dem - hier nenne ich einmal die Namen - die Bertramstraße, die Kleine Bertramstraße, die Kasernenstraße, die Helmstedter Straße, die Straße Hinter dem Hopfengarten, Hopfengarten, die Parkstraße und der Riddagshäuser Weg gehörten, weiter der Wendentordistrikt zwischen Hamburger Straße und Gliesmaroder Straße, der Petritordistrikt von der Celler Straße bis zum Madamenweg und schließlich von da bis zur Frankfurter Straße der Wilhelmitordistrikt.

Während der vom Stadtbaumeister Carl Tappe vorgelegte und vom Ministerium am 1. Juli 1870 genehmigte Stadterweiterungsplan mehr eine Feststellung der bereits erfolgten Ausdehnung der städtischen Siedlungsflächen darstellte und sich bei der Projektierung neuer Straße im wesentlichen an bereits vorhandene Feldwege anschloß, kam es unter seinem Nachfolger, dem bekannten Stadtbaurat Ludwig Winter, zu weitreichenden Plänen, mit denen er energisch dem großen Wohnraumbedarf der Bevölkerung gerecht werden wollte. 1882 wurde vom Magistrat der "Wilhelminische Ring" beschlossen, also die fast die ganze Stadt umfassende Straßenführung vom Altewiekring bis zum Cyriaksring. Im gleichen Jahre legte Winter einen auf Grund dieses Ringprojektes erarbeiteten Entwurf vor, der bereits den Durchbruch der Kaiser- Wilhelm- Straße (Jasperallee), die Erschließung des herzoglichen Küchengartens (diese wurde erst nach dem 1884 erfolgten Tode des Herzogs Wilhelm möglich) und des Hagenbruches als Wohngebiet, die Straßenzüge im Westen der Stadt und den Hauptfriedhof an der Helmstedter Straße vorsah. So wurden die 80er Jahre durch den Bau zahlreicher neuer Straßen bestimmt. Im Bereich der Außenstadt waren durch die Stadt oder durch Unternehmer neu angelegt und als "Kommunalwege" übernommen: Nußbergstraße, Adolfstraße, Kurze Straße, Marienstraße, Zimmerstraße im Jahre 1881; Jerusalemstraße und Gaußstraße 1884; Spielmannstraße, Limbecker Straße, Ottmerstraße, Villierstraße, Mittelweg 1885; Geysostraße, Marthastraße, Friedrichstraße, Wiesenstraße, Klausenstraße 1886; dann bis 1888: Heitbergstraße, Bergfeldstraße, Wolfskamp, Kramerstraße, Taubenstraße, Cammannstraße, Sophienstraße, Döringstraße, Körnerstraße, Ludwigstraße, Eulenstraße, Langer Kamp, Lachmannstraße, Nordstraße, Hennebergstraße, Olfermannstraße, Kleine Campestraße, Hedwigstraße, Reichenbergstraße, Lampestraße, Wendenmaschstraße, Petristraße, Grünstraße, sodann zunächst einmal die Straßenanlagen auf dem Gelände des ehemaligen Küchengartens: Kaiser-Wilhelm-Straße, die Straßen nördlich und südlich des Hoftheaters, Bismarckstraße, Moltkestraße, Fasanenstraße und weitere Ausbauten am Wilhelminischen Ring.

All das vollzog sich natürlich auch vor den Augen der Stadtgeistlichkeit und der Landeskirche. Wie reagierten sie darauf?

Will man Berichten aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts Glauben schenken, dann bewahrte die Stadt Braunschweig fast in allen Kreisen der Gesellschaft "mit krampfhafter Ängstlichkeit die rationalistische Abkältung", so Beste in seiner Braunschweigischen Kirchengeschichte, und er zitiert eine Stimme aus dem Jahre 1858: "seltsamer Weise sind es nicht am wenigsten die Frauen, welche diesem philisterhaften Sinne Vorschub leisten. So sonnt sich denn nicht nur die Braunschweig'sche Intelligenz sowohl in adligen wie in bürgerlichen Regionen, sondern auch der Kaufmanns- und Handwerkerstand, sofern derselbe nicht ganz in materiellen Interessen versunken ist, noch immer mit stark überwiegender Mehrheit im Lichte der Aufklärung und beruft sich mit stolzem Bewußtsein auf die Manen Lessings, von dessen Persönlichkeit man sich freilich ein Bild ganz im eigenen Geiste und Geschmack zurecht macht, so daß man ihn noch als den rechten Hort und Genius der Emanzipation vom sogenannten Pfaffentum und Aberglauben mit allerlei Kultus beräuchert." Eberhard Herdieckerhoff urteilt in seinem Buch "Der Braunschweiger Kampf um Evangelisation im 19. Jahrhundert" über die Zeit um 1880, es habe sich "der Atheismus in zweifacher Gestalt im geistigen Leben der Hauptstadt in den Vordergrund gespielt. Der säkulare Liberalismus und die politische Linke priesen ihre Unkirchlichkeit als Kennzeichen kulturellen Fortschritts. Der sozialdemokratische Spott, die Geistlichen seinen für die Reichen nur mehr angenehme Gesellschafter und in den Augen der Armen Tagediebe, wurde vom bürgerlichen 'Freisinn' schmunzelnd zur Kenntnis genommen." Letzteres mag noch durch eine kurze Schilderung von Kirchenrat Otmar Palmer, dem bekannten Führer der Braunschweiger Bekennenden Kirche, über seine Schulzeit am Wilhelm-Gymnasium, wo er 1892 sein Abitur machte, unterstrichen werden: "In der Schülerschaft aber spiegelte sich im großen Ganzen doch noch der die Stadt und das Land Braunschweig beherrschende Liberalismus wieder, der sich nicht wie Schule und Lehrerschaft damit begnügte, mit kühler Höflichkeit der Kirche und dem Christentum gegenüber zu stehen, sondern beides bewußt ablehnte und gelegentlich mit Hohn, Spott und Ironie nicht geizte. Kirche und gar Gottesdienst waren eine quantitèe negligeable."

Alles dies zeigt, daß im allgemeinen für die kirchlichen Belange und kirchliche Notwendigkeit kein gutes Klima herrschte, wenn auch diese Urteile nicht allzu sehr verallgemeinert werden dürfen, es gab genügend und auch einflußreiche Menschen, die treu zur Kirche standen. Ebenso dürfen Verdienste und positive Einflüsse von den sog. "liberalen" Geistlichen für Christentum und Kirche nicht gering veranschlagt werden.

Zu dem allgemeinen Klima kommt, daß trotz gestiegener Einwohnerzahl um 1880 herum die Zahl der Pfarrerschaft vermindert worden war. Schon 1839 war die zweite Pfarrstelle an der Andreaskirche in eine Kollaboratur umgewandelt worden. Ein gleiches geschah mit der zweiten Pfarrstelle an St. Ulrici im Jahre 1876, letztere war dann sogar von 1884 an elf (!) Jahre nicht besetzt. Dahinter standen offensichtlich finanzielle Gründe. Auch die beiden Adjunkturen, die im 17. Jhd. zur Vertretung der Pfarrer geschaffen waren, waren Kollaboraturen. Um 1880 erhielt der erste Adjunkt 2.099, 48 RM und der zweite nur 1.649, 48 RM jährlich! Was Wunder, daß diese Stellen nur schwer zu besetzen waren und immer wieder längere Vakanzen eintraten, vor allem aber mußten die Kollaboratoren ständig wertvollen Zeit und Kraft mit Privatstunden vergeuden, um existieren zu können; an die Gründung einer Familie war meist nicht zu denken. Bringen wir die Kollaboratoren im Abzug, dann waren 1880 bei 10 Pfarrern von jedem im Durchschnitt 7.500 Gemeindemitglieder zu betreuen, im Gegensatz zu 2.900 vierzig Jahre zuvor. Diese Bild allerdings täuscht, da inzwischen vermehrt die Gemeinden unterschiedlich groß waren. Ganz besonders waren St. Magni und St. Katharinen, aber auch die Michaelisgemeinde gewachsen, deren Pfarrer übrigens noch das Dorf Rüningen mit zu versorgen hatte. Die Mitgliederzahlen der Gemeinden schwankten nach einer Zählung aus dem Jahre 1885 zwischen 4.715 Seelen in St. Ulrici (übrigens vielleicht ein Hinweis darauf, daß man die Umwandlung der zweiten Pfarrstelle in eine Kollaboratur nicht sehr tragisch nahm) und 16.863 in St. Katharinen bzw. 19.378 in St. Magni.

Zum erstenmal hatte sich endlich, wenn ich es richtig sehe, im Herbst 1882 die Inspektionssynode der Stadt wenigstens mit einem Teilproblem dieser ganzen Entwicklung befaßt, nämlich mit dem Mißstand, daß eine übergroße Zahl von Konfirmanden zusammen unterrichtet werden mußte. Auf Aufforderung des Konsistoriums beschäftigte sich daraufhin das Geistliche Ministerium mit dieser Frage. Da saßen dann am 20. November 1882 in einem außerordentlichen Colloquium als Gesamtpfarrerschaft sechs Herren zusammen. Pastor Moshagen von Andreas fehlte, und die beiden Martinipfarrer waren im Laufe des Jahres verstorben, ihre Stellen aber noch nicht wieder besetzt. So kam es zu einem Beschluß, der nur als Provisorium angesehen werden sollte: "1. In den beiden größten Stadtgemeinden zu St. Catharinen und St. Magni sollen in Zukunft beide Prediger zugleich den Confirmandenunterricht ertheilen. 2. Die Theilung der zu unterrichtenden Kinder soll so geschehen, daß jeder Prediger möglichst gleich viele Kinder aus den niedrigen und den höheren Schulen zu unterrichten hat. 3. Jeder Prediger confirmiert die von ihm unterrichteten Kinder selber, der eine am Palmsonntag, der andere am weißen Sonntag." Das war allerdings auch als Provisorium nur äußere Kosmetik. Immerhin gibt der Beschluß einen Einblick in die Art und Weise, wie damals der Pfarrdienst gehandhabt wurde. Danach hatte in den Gemeinden mit zwei Predigern jeder ein um das andere Jahr sämtliche Konfirmanden der Gemeinde zu unterrichten. Mit den übrigen Amtshandlungen verfuhr man so, daß jeder in der Woche, an deren Sonntag er zu predigen hatte, diese übernahm. Die Seelsorge versahen sie in der ganzen Gemeinde, eine Einteilung in Bezirke gab es nicht. Normalerweise hatte so jeder Pfarrer eine freie Studienwoche, und mancher konnte sich so literarisch betätigen.

Übergroße Zahl von Konfirmanden! 1882 waren in der Stadt 1.003 Kinder konfirmiert worden, davon allein in St. Magni und St. Katharinen mehr als die Hälfte, nämlich 527! Man fragt sich, ob nicht die weitere Entwicklung hätte entschieden jetzt schon ins Auge gefaßt werden müssen. Denn immerhin betrug die Zahl der Taufen, also der Kinder, die im nächsten Jahrzehnt zu konfirmieren seinen, 1882 bereits 2.294! Ebenso, wenn nicht noch mehr, fragt man sich, was wohl bei dem Konfirmandenunterricht herauskommen konnte. Gewiß, der Religionsunterricht wurde in den Schulen mit einer großen Stundenzahl erteilt, der Konfirmandenunterricht war vor allem Sakramentsunterricht und fand von Weihnachten bis Ostern durch einen Pfarrer statt. Dennoch bleibt die Frage, wenn man bei einer weiteren Behandlung dieser Frage im Mai 1883 erfährt, daß von Pastor Bertram, St. Katharinen, die 119 Knaben allein und die 137 Mädchen in zwei Abteilungen von ihm und seinem Kollegen unterrichtet seien.

Letztlich waren, das wurde dann doch schnell erkannt, die Probleme bei Magni und Katharinen nicht zu lösen. So faßte man im August 1883 den Plan, der Inspektionssynode bzw. dem Kirchenkonvent die Anstellung von jeweils einem Collaborator vorzuschlagen. Offensichtlich war das der billigste Weg. Dieser Vorschlag ging dann auch durch und wurde vom Herzoglichen Konsistorium "als in hohem Maße wünschenswert" bezeichnet und also durch die Kirchenvisitatoren an den Stadtmagistrat mit dem Ersuchen weiter geleitet, "diese Angelegenheit einer Prüfung zu unterziehen".

Der Stadtmagistrat antwortete darauf nach zwei (!) Jahren, am 22. Oktober 1885.

An dieser Stelle muß ich ein paar Bemerkungen über die damaligen Verflechtungen von Kirche und Staat bzw. von Kirche und Stadt machen. Bekanntlich war bis zum Ende des 1. Weltkrieges die Kirche bei uns Staatskirche. Der Herzog war zugleich Summus episcopus, Landesbischof. Das Konsistorium (Landeskirchenamt) war herzogliche Behörde, eben Herzogliches Konsistorium. An der Spitze der Stadtkirche standen die Kirchenvisitatoren, und zwar als weltliche Visitatoren der Magistrat und als geistlicher Visitator der Stadtsuperintendent. Beide Visitatoren hatten den Vorsitz im Kirchenkonvent, zu dem alle geistlichen Mitglieder der Kirchenvorstände und ebenso viele Kirchenverordnete gehörten. Die Finanzhoheit, vor allem für Bauangelegenheiten, aber auch für Zuschüsse zu den Besoldungen der Pfarrer, Kantoren usw., lag bei dem Kirchenkassenkollegium, das aus dem Oberbürgermeister, dem Stadtsuperintendenten, einem Pfarrer und einem lutherischen Stadtverordneten bestand, also paritätisch geistlich und weltlich besetzt war. Von daher war auch der fünfköpfige Stadtmagistrat und selbst die Stadtverordnetenversammlung an den kirchlichen Belangen, besonders der Schaffung neuer Gemeinden und dem Bau neuer Kirchen mit beteiligt. Nimmt man hinzu, daß auch die Kirchenvorstände ein Wort mit zu reden hatten, so waren in den nächsten Jahren nicht weniger als sechs staatliche, städtische und kirchliche Behörden und Körperschaften an den zu fällenden Entscheidungen zu beteiligen!

Zurück zur Antwort des Stadtmagistrats vom Oktober 1885.

Zunächst erkennt der Stadtmagistrat an, daß der Zustand der übermäßig angewachsenen Gemeinden einer Besserung bedürfe. Allerdings hält er die Errichtung neuer Pfarr-Kollaboraturen nicht für sinnvoll., wie es überhaupt zweifelhaft sei, ob Kollaboratoren, die zumeist rasch wechseln, das kirchliche Leben zu fördern in der Lage seien. Sinnvoller war schon die Erwägung, "ob nicht Wandel zu schaffen sei durch Gründung einer neuen Kirchengemeinde". Allerdings habe man die "Verfolgung dieses Gedankens einstweilen aufgegeben." Dafür werden drei Gründe genannt: einmal, "weil die hiesigen Kirchengebäude vollauf Raum bieten und uns eine Entleerung derselben durch Vermehrung ihrer Zahl bedenklich erschien," sodann wird die Höhe der Kosten angesprochen, und drittens dürften "mit der steigenden Zahl und räumlichen Ausdehnung der evangelisch-lutherischen Stadtbevölkerung (...) in voraussichtlich nicht ferner Zeit reformatorische Maßregeln" nötig sein, wenn "man nicht Gefahr laufen will, einen Rückgang im kirchlichen Gemeindeleben entgegenzutreiben". Offensichtlich wollte der Stadtmagistrat Zeit gewinnen und bestimmte Entwicklungen zunächst noch abwarten. Er hat dann allerdings seinerseits einen konkreten Vorschlag zu "einer zeitgemäßen Neuordnung der Gesamtheit der städtischen Parochialgrenzen und pfarramtlichen Verhältnisse." Danach sollen die Grenzen der 7 Stadtkirchengemeinden so neu abgesteckt und die größeren Gemeinden so in Bezirke eingeteilt werden, daß jeder Prediger etwa die gleiche Anzahl von Gemeindemitgliedern zu betreuen hat. "Die gegenwärtige hier bestehende Einrichtung, wonach zwei an derselben Gemeinde angestellte Geistliche die vorkommenden Amtshandlungen in allwöchentlicher Abwechslung, die Vorbereitung der Confirmanden je ein um das andere Jahr vorzunehmen, und die Seelsorge ein Jeder in dem ganzen Gemeindebezirke zu treiben habe, erscheint unhaltbar." Dabei flicht der Magistrat auch ein, daß er es "im Interesse des Kirchendienstes für wünschenswert halte," daß die Geistlichen "nebenamtliche Tätigkeit, im Besonderen durch die hier gebräuchliche Ertheilung von Schulunterricht, auf das verträgliche Mindestmaß beschränken" mögen. Zur sinnvollen Durchführung seines Vorschlages teilt der Magistrat die Absicht mit, die Zahl der Geistlichen von 10 auf 12 zu erhöhen. Konkret hieß das, die Pfarrkollaboraturen an St. Andreas und St. Ulrici wieder in volle Pfarrstellen zu verwandeln. Als Ziel pro Pfarrer waren etwa 6.000 Gemeindemitglieder gedacht, was bei gut 75.000 Evangelischen im Jahre 1885 schon bei einzelnen überschritten werden mußte.

Diese Antwort erscheint als weitsichtiger und der Kirche angemessener als das, was wir bisher vom Kirchenkonvent und den Konsistorium vernommen haben. Allerdings wenn Pastor Gerlich in seinem Vorwort zur Kirchweih-Festschrift berichtet, daß vor allem Pastor D. Skerl von St. Katharinen, sicherlich der profilierteste Geistliche in jener Zeit, den Oberbürgermeister Dr. Pockels von der Zweckmäßigkeit, "kleiner übersichtlicher Gemeinden mit getrennten Seelsorgebezirken" überzeugen konnte, dann dürfte Skerl für dieses in die Zukunft weisende Schreiben mit verantwortlich gewesen sein.

Das ganze Jahr 1886 über beschäftigte man sich nun mit diesem Plan, ohne daß es zu einem greifbaren Ergebnis kam. Im Gegenteil: in St. Andreas wurde die Situation in sofern schwieriger, als man im Hinblick auf die zu erwartende Wiedereinrichtung der zweiten Pfarrstelle, von einer Besetzung der Kollaboratur absah. Pastor Dr. Hasenclever und auch sein Nachfolger saßen dann bis 1894 alleine da. Der Stadtgeometer Kroll verfertigte einen Plan für die Neueinteilung. Da er nicht allen Wünschen, besonders der Pastoren von St. Petri und St. Michaelis, entsprach, wurde er noch einmal umgearbeitet. Ein zwischenzeitlich vom Stadtmagistrat eingegangener Vorschlag, die Aegidienkirche wieder zu eröffnen, wurde vom Geistlichen Ministerium verworfen, da sie für den Gottesdienst nicht brauchbar erschien; dafür beharrte man auf der Schaffung einer neuen Kirche und Gemeinde vor dem Steintor, worauf schließlich im September 1886 der Magistrat dem geistlichen Ministerium ersuchte, seine Weiterberatung der Neueinteilung der Parochien auf Grund der Annahme der Erbauung einer Kirche vor dem Steintor zu pflegen. Im Zusammenhang mit diesen Beratungen beschäftigte sich dann auch das Geistliche Ministerium schon sehr eingehend u. a. mit den nicht unerheblichen Fragen der Vermögensauseinandersetzung, der veränderten Stellung der Kantoren, Organisten und Kirchenbuchführer, sowie der praktischen Durchführung der Bezirkseinteilungen. Am 7. Januar 1887 konnte dann endlich der Kirchenkonvent die Vorlage beraten und kam zu dem Beschluß, der Neueinteilung der Gemeinden und der Schaffung einer neuen Gemeinde zwischen dem Augusttor und Steintor zuzustimmen. Ein Antrag, auch im Nordosten der Stadt eine neue Gemeinde zu gründen, ging nicht durch. Dann aber trat, da der Plan der Neuordnung nicht die Zustimmung des Herzoglichen Konsistoriums fand, für drei (!) Jahre ein Pause ein.

Erst im März 1890 kam die Sache neu in Gang. Zuerst war es der Evangelische Bund, der sich hier mit einem Zweigverein 1887 gebildet hatte. Er lud den bekannten Dresdener Pfarrer D. Sulze zu einem Vortrag am 6. März in das Altstadtrathaus ein. Sulze war der eigentliche Vorkämpfer in der evangelischen Kirche für eine Neuordnung der Verhältnisse in den Großstädten, besonders durch Schaffung kleinerer Gemeinden, durch Bezirkseinteilungen, Bau von Gemeindehäusern und Einrichtung vielfältiger Gemeindekreise. Sulzes Vortrag blieb nicht ohne Eindruck, und er beförderte erneut die Absicht, seine Pläne nun auch endlich in Braunschweig umzusetzen. Dann war es der Braunschweigische Bürgerverein, der in seiner Sitzung am 14. März die kirchliche Lage der Stadt zu seinem Thema machte. Dazu sprach der als Kandidat für die Reichstagswahlen 1886 in Braunschweig durchaus bekannte Rentner Hermann Winter (nicht zu verwechseln mit dem Stadtbaurat Winter). Winter wies in seinem Vortrag auf den kirchlichen Notstand hin, der in den letzten Jahren immer größer geworden sei. "Die Prediger seien vollkommen außerstande, ihre Gemeinden zu übersehen und in denselben die Seelsorge auszuüben; der Arbeiter aber suche die Kirche nicht auf, wenn ihn diese nicht aufsucht. Dies sei aber unbedingt nötig; denn die Lösung der sozialen Frage liege zum großen Teile in der Hand der Kirche. Vieles auf anderen Gebieten Geschehene habe keinen wirklichen Erfolg, weil ihm die Segnungen der Religion mangelten. Gemeinden von mehr als 5.000 Seelen seien ein Unding." Offensichtlich hatte Winter Sulze sehr deutlich zugehört. Die Erwähnung der sozialen Frage aber erinnert auch an die Sozialerlasse, die Kaiser Wilhelm II. in diesem Jahr hatte ergehen lassen und in denen gerade die Kirchen zu deren Lösung mit aufgerufen waren, besonders auch im Hinblick auf die nach Aufhebung der Sozialistengesetze wieder erstarkende Sozialdemokratie. Insgesamt stellt der Bürgerverein an den Magistrat den Antrag: "In dem zwischen Wendenmasch und Wolfenbüttler Straße belegenen Teile der Außenstadt drei neue Kirchengemeinden zu schaffen mit je etwa 5.000 Seelen und für die Beschaffung der dazu erforderlichen Geldmittel Sorge zu tragen." Sicherlich angeregt auch durch diese beiden Veranstaltungen, die in der Presse ein deutliches Echo fanden, dann aber entscheidend für ein neueres und nunmehr entschiedenes Angreifen der Sache war das Eingreifen des Prinzregenten Albrecht, der mit einer Immediatbestimmung vom 31. März 1890 dem Konsistorium gegenüber seinen Wunsch nach endlicher Erledigung der seit mehren Jahren schwebende Frage in ziemlich dringender Weise zu erkennen gab.

Das Konsistorium reagierte nun ziemlich schnell und betraute die Kirchenvisitatoren mit einer entsprechenden Vorlage. Diese wiederum setzten eine ad-hoc-Kommision mit den Pastoren D. Skerl und Dr. Hasenclever, dem Landsyndikus Rhamm und dem Landrichter Wolff ein, und bereits am 29. April tagte der Kirchenkonvent unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters Pockels. Es wurde beschlossen, daß die bestehenden Gemeinden außer den beiden kleineren zu St. Petri und St. Michaelis (mit je einem Geistlichen) in Seelsorgegebiete von höchstens 6.000 Gemeindemitgliedern eingeteilt werden sollen. Von der Katharinengemeinde und der Magnigemeinde sollen selbständige Gemeinden mit eigenen Kirchen abgezweigt werden, und zwar in der äußeren Magnigemeinde, deren bauliche Entwicklung dem Abschluß näher ist als die der Katharinengemeinde, schon in allernächster Zeit. Der Bau der neuen Kirchen und ihre Unterhaltung soll, - da man im Magistrat entschieden die Ansicht vertritt, daß man sich das Patronat nicht aus der Hand nehmen lassen dürfe, - aus städtischen Mitteln und zwar auf dem Wege einer Kirchensteuer bestritten werden. Zum letzteren Vermerkt das Braunschweigische Tageblatt: "Dazu würde es der Genehmigung des Landtages zu einer Änderung der Städteordnung bedürfen, und tatsächlich soll die betr. Vorlage so schnell ausgearbeitet werden, daß sie dem Landtage bei seinem Wiederzusammentritt im Mai vorgelegt werden kann." Nun, so schnell ging denn alles wiederum nicht! Zunächst teilte das Konsistorium am 10. Mai mit, daß das Schreiben der Kirchenvisitatoren es nicht in den Stand gesetzt habe, sich über die Vorschläge des Kirchenkonvents ein endgültiges Urteil zu bilden. Unter anderem vermißte es, sachliche Motivierungen, weiter eine Einzelberechnung anstatt eines Gesamtüberschlages der Kosten wie überhaupt eine rechtliche Abklärung der Kosten.

In den folgenden Monaten erstellte der Stadtgeometer einen der fortschreitenden Stadtentwicklung angepaßten Entwurf der Pfarreinteilung, jedoch kam es erst im Dezember 1890 zu einer Sitzung des Kirchenkonvents. Inzwischen aber hatte das Ev. Gemeindeblatt erneut gemahnt: "Wie notwendig die Schaffung neuer Kirchengemeinden in der Stadt Braunschweig ist, möchte daraus hervorgehen, daß nach einer kürzlichen ausgeführten polizeilichen Zählung in der Gemeinde zu Katharinen 19.200 und in der zu Magni 24.800 Seelen vorhanden sind. Fürwahr kann da von einer gedeihlichen Seelsorge keine Rede sein, und ist eine Abhilfe dringend nötig. Und nach seinem Bericht über den Kirchenkonvent vom 12. Dezember meint das gleiche Blatt: "Der raschere Fortgang der Sache hängt jetzt davon ab, ob das Konsistorium den Beschlüssen des Kirchenkonvents seine Zustimmung erteilt."

In der Stadt legte nun der Magistrat der Stadtverordnetenversammlung eine Vorlage vor, die die Vorschläge des Kirchenkonventes aufnahm und der die Stadtverordneten im März 1891 dann auch zustimmten. Noch einmal das Ev. Gemeindeblatt vom 15. März 1891: "Hoffentlich wird die notwendige Neuordnung bald ausgeführt. Letzteres ist davon abhängig, daß die Kirchenregierung zu den von der Stadt geplanten Maßregeln ihre Zustimmung gibt und sodann Landtag und Synode in die geplante Einführung einer Kirchensteuer willigen."

Aber wieder ging es nicht so schnell. Auf einer Sitzung der Inspektionssynode der Stadt vom 27. August 1891 wurde daher eine Resolution einstimmig verabschiedet, nach der die Synode ihr Bedauern ausspricht, daß die Angelegenheit der neuen Parochialeinteilung der Stadt Braunschweig nun schon seit Dezember vorigen Jahres bei der Kirchenbehörde ruht, die Versammlung daher an dieselbe die gehorsamste Bitte richtet, die Angelegenheit tunlichst zu beschleunigen.

Ein besonderer Punkt in der Magistratsvorlage war der Punkt 8: "Die neu erbauten Stadtkirchen sind dem Patronat des Stadtmagistrats zu unterstellen." Dahinter verbarg sich die Frage nach der Pfarrstellenbesetzung. In den "Alten Gemeinden" wählte die Gemeinde die Pfarrer, und der Magistrat als Patron sprach darauf die Präsentation aus. Dieses Verfahren sollte auch auf die neu zu bildenden Gemeinden angewandt werden. Damit aber erklärte sich Anfang 1892 das Herzogliche Staatsministerium bzw. das Konsistorium nicht einverstanden. Am liebsten hätte man die Besetzung ganz an sich gezogen und den neuen Gemeinden nicht wie den alten ein dauerndes Wahlrecht zugestanden. Wahrscheinlich gehen Vermutungen, die damals geäußert wurden, nicht fehl, die meinten, das Konsistorium wolle sich damit einen Einfluß auf die Pfarrstellenbesetzung schaffen, um zu verhindern, daß in Zukunft in Braunschweig das liberale Element weiterhin wie bisher überwiege. Auf das Wahlrecht zu verzichten, war man in Braunschweig keineswegs gesonnen. Der Bürgerverein beschloß sogar, man solle von dem Bau neuer Kirchen vorerst noch absehen, denn das Wahlrecht der Gemeinden und das Patronatsrecht des Magistrats auch für die neuen Kirchen müsse unter allen Umständen gewahrt werden. Der Kirchenkonvent bot dann aber auf seiner Sitzung am 13. Januar 1892 einen Kompromiß an: 1. die Stadt möge auf die Ausübung des Patronats durch den Stadtmagistrat zwar verzichten, 2. auf der Wahrung des Prediger Wahlrechtes müsse jedoch bestanden werde. Diesem Kompromiß gab dann, "wenn auch nicht mit ganz leichtem Herzen" die Stadtverordnetenversammlung im April ihre Zustimmung.

Schließlich stimmte auch das Konsistorium dem zu, und das Ev. Gemeindeblatt konnte seinen Lesern mitteilen: "Es gereicht uns zur lebhaften Freude, mitteilen zu können, daß die brennende Frage, wie dem Unwesen der übergroßen Gemeinden in der Stadt Braunschweig zu steuern sei, einen entscheidenden Schritt zur Lösung vorwärts getan hat. Bekanntlich drohte die ganze Angelegenheit stecken zu bleiben, weil die kirchliche Oberbehörde für die Besetzung der neu in Aussicht genommenen Pfarrstellen größere Rechte in Anspruch nahm, als die öffentliche Meinung in Braunschweig ihr zuzugestehen bereit war; insbesondere hätten der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung ganz ohne Zweifel zu einer Einschränkung des Gemeindewahlrechtes, wie sie bisher von der Regierung gefordert wurden, freiwillig nie ihre Zustimmung gegeben. Wenn die Regierung auf ihrem Standpunkte beharrt hätte, wäre die Neuregelung der kirchlichen Verhältnisse Braunschweig sicherlich bis auf unabsehbare Zeit verschoben worden. Nunmehr ist jedoch der (...) Kompromißvorschlag (...) auch von der Regierung angenommen worden." Das Ev. Gemeindeblatt gibt dann noch eine interessante Mitteilung. Es schreibt: "Wenn wir recht unterrichtet sind, so haben wir es insbesondere der persönlichen Entschließung Sr. Königlichen Hoheit, des Prinz-Regenten, zu danken, daß die Entscheidung in günstigstem Sinne ausgefallen ist; Seinem landesväterlichen Wohlwollen haben wir es wesentlich mit zu verdanken, wenn das kirchliche Wesen in Braunschweig demnächst auf einen gesunderen Fuß gestellt wird."

Nun konnten endlich die für die Neuordnung notwendigen Vorbereitungen getroffen werden. Daß sie mehr als überfällig waren, mag noch folgende kurze Notiz in dem Ev. Gemeindeblatt vom Juni 1893 zeigen, wonach in St. Magni am 1. Pfingsttag 50 Taufen stattgefunden haben.

Die letzten notwendigen Vorbereitungen bestanden in der Schaffung mehrerer Landes- und Kirchengesetze, so z. B. ein Gesetz über die Aufbringung der Parochiallasten in den Städten, ein Gesetz über die Anwendung des für das Kirchenwesen der Stadt Braunschweig bestehenden besonderen Rechtes auf die aus dem Bestande der Stadtkirchengemeinden abgezweigten Gemeinden, eine Ergänzung der Vorschrift über das Verfahren bei Kirchenvorstandswahlen und ein städtisches Statut über die durch eine Kirchensteuer aufzubringenden Parochiallasten.

Nachdem das alles die entsprechenden Gremien passiert hatte, konnte dann endlich der am Anfang erwähnte Höchste Erlaß vom 10. August 1894 ergehen. In ihm sind neben der Neueinteilung der Parochien vor allem die Schaffung von zwei neuen Kirchengemeinden, eben von St. Johannis und St. Pauli, auch die Wiederherstellung der zweiten Pfarrstellen an St. Andreas und St. Ulrici verfügt, weiter wird geregelt, wie die neuen Kirchenvorstände zu wählen sind, und schließlich wird in diesem Erlaß durch die Schaffung eines Stadtkirchenbuchführers auch die Keimzelle zum heutigen Stadtkirchenamt gelegt.

Noch 1894 wird für die neue St. Johannisgemeinde ein neuer Kirchenvorstand gewählt, der am 3. Dezember zum erstenmal zusammentritt. Durch diesen kam es dann am 25. August 1895 zur Wahl des ersten Pfarrers der Gemeinde. Es war der Rektor Ludwig Schmidt, der allerdings bald wieder ausschied. Am 22. Dezember 1895 wählte der Kirchenvorstand als zweiten Pfarrer den Pastor Paul Schmidt aus Scheppau, der hier fast 43 Jahre bis 1938 im Amt blieb und als Nestor der Braunschweiger Pfarrerschaft neunzigjährig 1955 verstarb. Für Ludwig Schmidt wählte man am 26. November 1899 den Pastor Richard Gerlich, - bis dahin in Hordorf, - der bis zu seinem Tode am 28. Dezember 1924 in St. Johannis segensreich gewirkt hat.

Der Kirchbau zog sich noch lange hin. Nachdem Anfang des Jahres 1897 ein erster Entwurf für ein Bauprogramm (Kirche, Pfarrhäuser, Kirchendienerwohnung und Konfirmandensäle) vorgelegt worden war, dauerte es noch bis zum 3. Mai 1901, - an diesem Tage begannen die Ausschachtungsarbeiten, - bis die ersten Bauarbeiten beginnen konnten. Gegen Ende 1902 konnten die Pfarrhäuser, die Kirchendienerwohnung und die Konfirmandensäle der Benutzung übergeben werden. Ein großer Fortschritt für die Gemeindearbeit, denn nun war man, besonders für den Unterricht, nicht mehr auf Provisorien angewiesen! Am 2. August 1903 war mit der Bekrönung des Turmes mit Knopf und Wetterfahne der äußere Kirchbau vollendet. Nach langwieriger Innenausstattung und Ausmalung fand schließlich am 25. Juni 1905, dem Sonntag nach dem Johannistag, die Einweihung der St. Johanniskirche statt. St. Pauli folgte ein Jahr später am 16. September 1906.

Die frühe Geschichte der Gemeinde zu erzählen ist hier nicht der Ort. P. Gerlich berichtet in der zur Kirchweihe herausgegebenen Festschrift einiges darüber, besonders auch über die bereits am 1. Oktober 1895 gegründete Gemeindepflege mit zwei Gemeindeschwestern, ein Zeichen dafür, daß die Gemeinde von Anfang an sich besonders auch der sozialen Not annehmen wollte.

Nicht unterschlagen aber möchte ich zwei Zahlen. 1897 wurden aus der St. Johannisgemeinde (noch in der Magnikirche) 210 und 1904 250 Kinder konfirmiert. Vergleichen wir diese Zahlen mit denen der Konfirmanden von 1882, - damals waren es in Katharinen 267 und in Magni 260, .- dann sieht man, daß die Stadtkirche nach der Schaffung neuer Gemeinden etwa da stand, von wo man einmal ausgegangen war. Auch die Gemeindemitgliederzahl beziffert P. Gerlich 1905 mit etwa 15.000.

Im Westen der Stadt wurde 1904 die Jakobigemeinde mit einem Pfarramt begründet, die Kirchweihe erfolgte 1911. Bei der Gründung mag diese Gemeinde auch etwa 6.000 Seelen umfaßt haben. 1919 waren es 8.936. Ähnlich war die Entwicklung in anderen Gemeinden.

Gewiß war die Freude bei den Kirchen und besonders bei den Gemeindemitgliedern über die neuen Kirchengemeinden und Kirchengebäude groß. Das spürt man den Berichten aus jener Zeit und besonders auch der großen Opferbereitschaft für den Kirchbau wie dem Engagement in den neuen Gemeinden ab.

Dennoch das Urteil über die Kirche in der werdenden Großstadt kann nicht positiv sein, im Gegenteil: zu spät, viel zu spät und zu wenig! Die Ursachen lagen zunächst in den schwerfälligen Strukturen, den vielfältigen Verflechtungen von Staat, Stadt, Landeskirche und Stadtkirche, auch bei aller Lauterkeit und guten Absicht auf allen Seiten. Mancherlei davon mag deutlich geworden sein. Die Ursachen lagen aber sicher auch bei einer Pfarrerschaft, die viel zu spät erkannte, daß die Zeit neue Wege erforderte. Und als man anfing, sie zu gehen, waren viele Menschen schon nicht mehr erreichbar und der Kirche entfremdet, wenn sie nicht gar schon ausgetreten waren. Nicht zuletzt, - so denke ich, - lagen die Ursachen sehr früh, in einer vom Rationalismus ausgedürrten Theologie und Predigt, die zu so viel Unbeweglichkeit führten.

Angesichts der auch nach 1894 fortschreitenden Vergrößerung der Stadt und angesichts der großen Zahlen von Gemeindemitgliedern, Amtshandlungen und gemeindlichen Anforderungen aber wird man der Generation unserer geistlichen Väter vor 100 Jahren, die, - zumeist erfüllt von den Gemeindeaufbaugedanken Emil Sulzes, - sich mit großem Fleiß und großer Treue und Opferbereitschaft ihren Gemeinden widmeten, Hochachtung und Respekt nicht versagen dürfen, im Gegenteil.

 

 

 

Quellen

Gesetzes- und Verordnungssammlung des Herzogtums Braunschweig

Magistratsberichte der Stadt Braunschweig

Protokolle der Landessynode der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig

Protokollbuch der Sitzungen des Geistlichen Ministeriums der Stadt Braunschweig

Evangelisches Gemeindeblatt für das Herzogtum Braunschweig

Ev.-luth. Wochenblätter für Kirche, Schule und Innere Mission

Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten. 1981

Diese Arbeit entstand als Vortrag zum 100. Jubiläum der Gemeindegründung

der St. Johannisgemeinde in Braunschweig. -

Die Form des Vortrages wurde weithin beibehalten.


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