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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Werner Krusche

Biblische Orientierung zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR im Wendejahr 1989

Unterweg zu Gott – in Gesellschaft und Beruf

Lieber Gerhard,

frater et amice!

Ich freue mich mit Dir und für Dich, dass Freunde aus "Deiner" Braunschweigischen Landeskirche Dir wie schon zu Deinem 75. Geburtstag, so nun auch zu Deinem 90. Geburtstag eine Festschrift widmen. Dass ich von ihnen wie damals eingeladen worden bin, etwas dazu beizutragen, ist wohl der Tatsache zu verdanken, dass wir uns als Bischöfe zweier benachbarter Kirchen diesseits und jenseits der Grenze durch das gespaltene Deutschland nicht voneinander haben trennen lassen - Du hast uns regelmäßig besucht, und ich habe im Dom zu Braunschweig predigen dürfen – und dass wir als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Präsidium der Konferenz Europäischer Kirchen die "besondere Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland" miteinander praktiziert und in den Entscheidungen zur Geltung gebracht haben.

In Erinnerung an diese gemeinsamen Jahre im Dienst der Versöhnung (2. Kor. 5,18) und in Dankbarkeit für die in ihnen erwachsene Freundschaft grüße ich Dich zu diesem hohen Geburtstag und wünsche und erbitte Dir am Beginn eines neuen Lebensjahrzehnts die Gewissheit und die Erfahrung, dass Gottes Gnade und Treue jeden Morgen "ganz frisch und neu" ist.

Dein Werner

Unterwegs zu Gott – in Gesellschaft und Beruf

Unterwegs zu Gott sind wir mit unserm ganzen Menschsein, das sich nicht aufteilen lässt in einen privaten und eine politischen Sektor, in eine geistliche und eine weltliche Sphäre. Wir sind unterwegs zu Gott mit unserem ganzen Leben in allen seinen Beziehungen und Erstreckungen, - in den familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen es hineinverflochten und hineinverwickelt ist.

Die Nächstenliebe, zu der uns Christus befreit hat, lässt sich nicht einschränken auf das persönliche Verhalten dem Anderen gegenüber in den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen, sondern die Nächstenliebe macht uns zugleich verantwortlich für die Strukturen der Gesellschaft, in denen sich das Leben des Nächsten abspielt und von denen es nachhaltigst mitbestimmt wird. Nächstenliebe hat es nie nur mit Personen, sondern immer auch mit Institutionen zu tun. Nächstenliebe heißt: sich mit verantwortlich wissen für das, was in unserer Gesellschaft geschieht. Sich nicht darum kümmern, wenn in unserer Gesellschaft etwas krank ist, ist genauso Sünde, wie wenn ich mich nicht um meinen kranken Nachbarn kümmere.

Unsere Gesellschaft ist tief krank. Seitdem ich in der DDR bin, - also seit 35 Jahren – haben die Synoden und Leitungen unserer Kirchen immer wieder auf die schweren Schäden hingewiesen, an denen unsere Gesellschaft krankt, auf das, was die Menschen kränkt und die Gesellschaft krank macht. Wir haben freilich nicht polemisch, nicht aufgebracht, nicht verletzend geredet, sondern so, dass der staatliche Gesprächspartner merken können sollte, dass er mit dieser Kritik nicht geschmäht und herabgesetzt werden sollte, sondern dass diese Kritik hilfreich sein wollte. Wir haben ja von "kritischer Solidarität" gesprochen. Im Rückblick muss ich sagen, dass wir offenbar diese Hörfähigkeit und die Reformbereitschaft des staatlichen Gesprächspartners überschätzt haben, so dass ihm offenbar erst durch die Massenflucht und die Protestbewegungen der letzten Wochen aufgegangen ist, wie es um unsere Gesellschaft steht, wie es um sie wirklich bestellt ist. Erst unter dem Druck dieser Vorgänge, deren Bilder um den Globus liefen, ist man zu Änderungen bereit geworden. Von "Führung" konnte da keine Rede mehr sein.

..Menschen, die bewußt unterwegs zu Gott sind, lassen sich nicht vom Tumult ihrer Gefühle hin- und herzerren, sondern sie fragen nach Gottes Wort, nach dem sie sich richten wollen. Und dieses Wort gibt ein paar ganz elementare Grundorientierungen, die völlig klar und eindeutig sind. Ich will nur zwei davon nennen:

Im Brief an die Gemeinde in Ephesus heißt ( 4,25) es:

"Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit!"

Hört auf, weiter in der Lüge zu leben! Unser Leben hier ist ja doch beherrscht gewesen von der Lüge. Die Wahrheit sagen heißt zunächst einmal, dies Leben in der Lüge bewusst zu machen.

Es fing in der Schule an. Hier gewöhnte man die Menschen von Kindesbeinen an an ein Leben in der Lüge. Die Schüler sagten und schrieben nicht mehr, was sie dachten, sondern was von ihnen erwartet wurde. Sie wussten auch, warum sie das taten: weil ihnen das gute Zensuren einbrachte, während ihnen das Äußern eigener Gedanken Schwierigkeiten, ängstigende Aussprachen, ungünstige Beurteilungen einbrachten ("er hat keinen festen Klassenstandpunkt"). Was sie in der Schule sagten und schrieben, war etwas ganz anderes, als was sie unter sich sagten oder zuhause hörten. Sie hatten diese Doppelgleisigkeit, diese Doppelgesichtigkeit so verinnerlicht, dass sie ihnen gar nichts mehr ausmachte. Sie empfanden das gar nicht mehr als Lüge. Aber ihre Fähigkeit, echt zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden, ging verloren, da der Entscheidungsrahmen immer schon festgelegt war und die Entscheidungsmuster schon vorfabriziert waren. Und so wurde auch ihre Initiativkraft gelähmt. Die Lehrer durchschauten natürlich das Anpassungsverhalten der Jugendlichen. Aber ihr Erfolg und ihre Anerkennung von Seiten der Institution hing davon ab, dass sie den Nachweis erbrachten, das gewünschte Erziehungsziel auch wirklich erreicht zu haben. So haben sie Arbeiten, die für sie erkennbar als angepasst formuliert waren, als bare Münze genommen und als Ausdruck innerer Überzeugung weitergegeben und beurteilt, wobei manche Lehrer dies freilich auch taten, um den Schüler zu schützen und ihn vor Schwierigkeiten zu bewahren. Ich weiß, wie viele Lehrer unter dieser schizophrenen Existenz schwer gelitten haben.

Wir haben als Kirche immer und immer wieder auf diese für unsere Gesellschaft verhängnisvolle Erziehung zu einem Leben in der Lüge aufmerksam gemacht. Ich habe z.B. 1979 in einem Referat vor der Synode unserer Kirchenprovinz – in Anwesenheit von Staatsvertretern – gesagt: "Schwierig ist nach wie vor die Situation auf dem Bildungssektor. Nicht ,dass es nicht Lehrer gäbe, die verständnisvoll auf die Fragen und Probleme der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen einzugehen verstünden. Es gibt durchaus die Bemühung um eine gewisse Toleranz. Aber wir beobachten neuerdings doch wieder stärker eine ideologische Verhärtung und eine eher rückläufige Bereitschaft, unserer Jugend Raum zu geben zu selbständigem Denken und eigenem Urteilen. Daß dies nicht nur uns Christen zu schaffen macht, zeigen einige bemerkenswerte Äußerungen in Maxie Wanders jüngst erschienenem Buch "Tagebücher und Briefe". "Was lernen unsere Kinder? Stillhalten, Konformismus, Egoismus... Es kommt ihm (einem Lehrer) also nicht darauf an, die Kinder zu mündigen, freien, schöpferischen Menschen zu erziehen, sondern zu gut funktionierenden, angepassten Konformisten und Jasagern. Was machen die mit Wissen vollgestopften Kinder später ohne Initiative? Die Kinder reagieren dann nur noch auf Befehle...Kann man zusehen, wie unser Liebstes vor lauter Anpassung stumpf wird? Und wiederum ohne Anpassung – verkraftet so etwas ein Kind?" Es steht außer Frage, dass diese Äußerungen nicht in böser Absicht gemacht worden sind, sondern einer tiefen Sorge entspringen, die viele Menschen teilen. Aber: Wird man auf solche Stimmen hören?"

Das war 1979. Man hat nicht darauf gehört. Die Volksbildung hat das von unseren Kirchen immer wieder aufs dringlichste geforderte Gespräch hartnäckig abgelehnt – bis heute. Auf dem IX. Pädagogischen Kongress im Juni dieses Jahres hat Günter Neuner erklärt: "Wir haben weder Zeit noch Anlass zu Selbstzweifel." Das Ergebnis dieser Schulpolitik: unter den etwa 1000 000 Menschen, die allein in diesem Jahr die DDR verlassen haben, sind die allermeisten Jugendliche oder junge Erwachsene, die alle durch dieses Schulsystem gegangen sind und die nicht wollen, dass ihre Kinder noch einmal erleben sollen, was sie durchgemacht haben. Besteht da wirklich "kein Anlass zu Selbstzweifel"? Hier ist in Jahrzehnten ein so tiefer Schade angerichtet worden, der zugegeben und aus dem Konsequenzen gezogen werden müssen. Wenn sich hier – an dem für die zukünftige Entwicklung entscheidenden Punkt .- nichts Wesentliches ändert, ist die angekündigte Wende nur eine Drehung um bestenfalls 10 Grad und wird die Auswanderungsbewegung anhalten.

"Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit!" Das ist ja uns Christen gesagt. Und wir werden uns da unter Gottes Augen zu prüfen haben, wie es denn bei uns mit der Wahrheit in diesen Jahrzehnten gestanden hat. Wie haben wir reagiert, wenn uns unsere Kinder strahlend erzählten, was sie da wieder in einen Aufsatz hineingeschrieben haben – über die großen Errungenschaften des Sozialismus - ?.. Haben wir die Doppelzüngigkeit als Überlebensmethode unter dem Netz der
Lüge akzeptiert? Ich erinnere an die Jugendweihe. Um die jungen Christen davor zu bewahren, doppelgleisig zu fahren und also lügen zu müssen, haben die Kirchen hier eine klare Entscheidung gefordert. Unter dem massiven Druck, um ihren Kindern nur ja alle etwaigen Nachteile und sich selber alle Schwierigkeiten zu ersparen, haben dann die meisten christlichen Eltern ihre Kinder zur Jugendweihe geschickt. Sie haben die Wahrheit dem Fortkommen geopfert. Wie sehr das Lügenverhalten schon in Fleisch und Blut übergegangen war, hat sich mir erschreckend in der Antwort einer christlichen Mutter gezeigt; sie sagte: "Das Jugendweihegelöbnis nimmt doch nur noch die Kirche ernst." Aber wo ein Mensch sein eigenes Wort nicht mehr ernst nimmt und wo dieses nicht ernst genommene Wort als Ausweis politischer Zuverlässigkeit gewertet wird, geht eine Gesellschaft an ihrer Verlogenheit kaputt. Wir müssen es wieder lernen, die Wahrheit zu sagen und dazu zu helfen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in freier und selbständiger Auseinandersetzung lernen können, nach der Wahrheit zu suchen, und wir müssen verhindern, dass ihnen eine bestimmte Weltanschauung als Wahrheit übergestülpt wird. Es muss unbedingt schon in der Schule eingeübt werden, frei und ungeängstigt und unbevormundet die eigene Meinung äußern und vertreten zu können..

Neben der Schule sind es ja vor allem die Medien gewesen, die uns ein schöngefärbtes Bild der Wirklichkeit zu suggerieren versuchten. Es bedurfte gar nicht des westlichen Fernsehens, sondern nur des eigenen Nahsehens, um der Diskrepanz zwischen der selbst wahrgenommenen Wirklichkeit und der durch die Medien vermittelten innezuwerden. Wir haben als Kirchen immer wieder auf diese unerträgliche Diskrepanz hingewiesen und eine wahrhaftige, wirklichkeitsgetreue Berichterstattung gefordert, aber es blieb so. Was in all den Jahrzehnten den Menschen in unserem Land an Entstellungen der Wahrheit, an Zynismus zugemutet worden ist, das ist ja doch einfach erschütternd. Und was für ein Stück Menschenverachtung war es, dass ein paar Leute darüber entschieden, was uns kleinen Dummerchen an Wahrheit zugemutet werden dürfe, und was uns an Information besser vorzuenthalten sei (z.B. über das Ausmaß der Umweltverschmutzung!) Nun – hier ist seit 1 ½ Wochen eine so erstaunliche Wende eingetreten, dass manche ihren Augen und Ohren nicht mehr trauten (auch deswegen, wie unglaublich schnell manche die Kurve gekriegt hatten!). Man wird es freilich niemandem verübeln dürfen, wenn er nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit nicht in Euphorie verfällt, sondern skeptisch bleibt, ob nicht doch wieder einmal der Zensor eingreifen wird, wenn es ihm zu bunt wird oder wenn er meint, jetzt sei genug Dampf abgelassen, jetzt müsse man das Heft wieder fest in die Hand nehmen.

Auch gegenüber der immer wieder erklärten Bereitschaft zum offenen Dialog über alle Probleme unserer Gesellschaft gibt es noch erhebliche Vorbehalte: ein wirklicher Dialog ist nur möglich zwischen gleichberechtigten Partnern, von denen keiner den Anspruch auf den Besitz der Wahrheit erheben darf (die Partei hat "immer recht"!) Kann es überhaupt einen echten Dialog geben zwischen denen, die wehrlos sind, und denen, die die Sicherheitskräfte im Hintergrund haben und den Dialog also notfalls mit Schlagstöcken beenden können? Bedarf es angesichts des fast totalen Vertrauensverlustes nicht fester Zusicherungen, dass der Einsatz von Gewalt ausgeschlossen ist, damit Vertrauen langsam wieder aufgebaut werden kann? Gibt es einen echten Dialog, wenn er nur im Rahmen der schon vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen geführt werden soll, also die neu entstandenen Gruppierungen von ihm ausgeschlossen sind?

Trotz dieser Vorbehalte werden Menschen, die unterwegs zu Gott sind und ihm vertrauen, dass er in der Geschichte am Werk ist und dass Sein Reich kommt, sich nicht von Misstrauen leiten lassen. Sie, die wissen, wie viel sie selbst verdorben haben, wie sehr sie durch Anpassung und Schweigen zu den entstandenen Verhältnissen beigetragen haben, wie sehr sie selber auf Vergebung abgewiesen sind, werden andere nicht für immer auf ihre Vergangenheit festnageln (auch wenn die alles andere als rühmlich ist), sondern nach dem Motto der Kirchentage im Lutherjahr 1983 verfahren: Vertrauen wagen -: kein blindes Vertrauen, sondern eine unverdiente Vorgabe an Vertrauen, ein sehr wachsames Vertrauen, das aber nicht von vornherein ausschließt, dass der andere wandlungsfähig sein könnte, ein Vertrauen, das ihn beim Wort nimmt, ihm also eine befristete Chance gibt.

M.E. wird es entscheidend sein, was der immer wiederholte Satz (der auch in der Rede von Egon Krenz betont ausgesprochene Satz), beinhaltet, der Sozialismus in der DDR stehe nicht zur Disposition. Mit diesem Satz kann natürlich jede kritische Position in die sozialismusfeindliche Ecke gedrückt und unterdrückt werden. Welcher Sozialismus steht nicht zur Disposition: der real existierende, also der in den bisherigen Strukturen praktizierte Sozialismus oder der Sozialismus als die Gesellschaftsform, deren Bewegung darin besteht, dafür zu sorgen, dass alle Menschen gleicherweise teilhaben an dem Ertrag der von allen geleisteten Arbeit, in der es also keine Privilegierten und keine Unterprivilegierten gibt und in der alle als freie Menschen für das Wohl des Ganzen und des Einzelnern dasein können? Es dürfte niemanden geben, der dies letztere zur Disposition stellen möchte, dem also der Kapitalismus mit seinen Unrechtsstrukturen vorschwebte.

Konkret gefragt:

  1. Gehört es unabdingbar zum Sozialismus, dass eine Partei die führende Rolle beansprucht, indem sie das Macht- und Wahrheitsmonopol innehat –, heißt es also den Sozialismus zur Disposition stellen, wenn die Forderung nach einem Mehrparteiensystem gestellt wird?
  2. Gehört es unabdingbar zum Sozialismus, dass die Ausübung der Macht und die Kontrolle der Macht in denselben Händen liegt – heißt es also den Sozialismus zur Disposition stellen, wenn die Forderung nach Gewaltenteilung, nach einer unabhängigen Kontrolle der Macht, namentlich der Sicherheitsorgane, und nach einer unabhängigen Rechtsprechung erhoben wird?
  3. Gehört es unabdingbar zum Sozialismus, dass eine zentral geleitete Planwirtschaft praktiziert wird – heißt es also den Sozialismus zur Disposition stellen, wenn eine stärker marktgerechte Wirtschaftsweise gefordert wird?

Ich könnte noch weitere Fragen stellen. Ich weiß, dass damit heiße Eisen angefasst sind. Aber: wenn hier nicht absolute Klarheit geschaffen wird, wird es zu dauernden Verunsicherungen kommen und wird keine Ruhe einkehren und darf keine Ruhe einkehren. Vielleicht ist es im Augenblick noch zu viel verlangt, dass hier schon klare verbale Aussagen gemacht werden; aber die Antworten darauf müssen in den Entscheidungen der nächsten Monate gegeben werden. "Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit!" hat der Apostel gemahnt. Zur Wahrheit gehört, dass man nicht unklare, zweideutige Formulierungen gebraucht.

II.

Ich möchte noch ein zweites biblisches Wort anführen, das für die, die sich auf dem Weg zu Gott bewegen, eine elementare Grundorientierung gibt. Es ist das Wort des Apostels Paulus aus seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich (5,21): "Prüft alles, das Gute behaltet!"

Alles prüfen – also nichts einfach übernehmen.

Alles prüfen – also keine Tabus.

Damit ist ein kritisches – und d.h. ein konkret unterscheidendes Verhalten von uns Christen gefordert. Und es wird damit gerechnet, dass bei diesem Prüfen auch Gutes erkennbar wird...Selbstverständlich hat es in den vergangenen 40 Jahren auch Gutes gegeben. Die Kirchen haben das durchaus gewürdigt. Sie hätten es vielleicht noch ein bisschen lauter getan, wenn nicht die Regierenden sich selber immer wieder hymnisch ihre Errungenschaften und Erfolge bestätigt hätten. Aber das kritische Prüfen übersieht keineswegs das Gute, das es bei uns auch gegeben hat und das beibehalten werden sollte. "Prüfet alles, und das Gute behaltet!". Norm dieses Prüfens ist der von Gott geliebte, zur Freiheit der Kinder Gottes bestimmte Mensch: hat es ihm genützt, ihm gut getan, oder hat es ihm geschadet? Hat es ihm zu seinem Recht, ungehindert und ungemindert Mensch sein zu dürfen, geholfen oder nicht? Die evangelischen Kirchen in der DDR haben immer wieder erklärt, dass sie weder ein pauschales Ja noch ein pauschales Nein zum Sozialismus sagen, sondern dass sie zu einer mündigen Mitverantwortung und also zu konkret unterscheidender Mitarbeit bereit sind, bereit dazu, hier Ja und dort Nein zu sagen, sich hierfür einzusetzen und sich dort zu widersetzen.

Christoph Demke, mein Nachfolger im Amt des Bischofs der Kirchenprovinz Sachsen, hat Ende August (also lange vor dem 40. Jahrestag) einen Brief an die Mitarbeiter geschrieben, in dem er in einer sehr hilfreichen Weise zeigt, wie dieses Wort des Apostels "Prüfet alles, und das Gute behaltet!", negativ formuliert: Prüfet alles und das Schlechte verwerfet! – heute zu praktizieren sei. Er schreibt: " Ich wünsche mir – und ich bete darum – dass wir jeder einzeln und gemeinsam die Freiheit haben, das Gute und das Böse, das Gelungene und das Verdorbene, das Erreichte und das Misslungene in diesen 40 Jahren zur Sprache bringen. Wir brauchen das offene, mutige und streitbare Gespräch über die Wirklichkeit unseres Landes. Denn ohne diese Erkenntnis werden wir die Antwort darauf, wie es weitergehen soll in den nächsten Jahren, nicht finden. "Und nun der entscheidende Satz, der ganz im Sinne des Apostelwortes ist: "Das Gute und das Schlechte sehen, unterscheiden (!) zwischen dem,. was bleiben soll, und dem, was nicht weitergehen darf, das, denke ich ,ist nötig." Und er nennt dann einige Punkte zum Gespräch, an die ich mich halte und die ich ergänze.

Er nennt zuerst das, was bleiben soll – aber nicht einfach so, wie es ist, sondern in veränderter Weise:

Bleiben soll die soziale Sicherung der Grundbedürfnisse des Lebens, der Möglichkeit der Arbeit, der Wohnung, der medizinischen Grundversorgung für jedermann. Aber soweit dies durch Subventionspolitik geschieht, sei die Grenze erreicht. Je offener unser Land wird, umso mehr müsse diese soziale Sicherung anders angepackt werden.

Bleiben soll der Vorrang der Friedensverantwortung in der Außenpolitik unseres Landes. Aber Frieden und inneres Recht gehören zusammen, wenn Vertrauen wachsen soll. Erweiterung und Sicherung der Rechte des Bürgers sind nötig. Nötig ist auch – so füge ich hinzu – die Entmilitarisierung des Denkens, der Abbau der vormilitärischen Ausbildung, die Auflösung bzw. Umgestaltung der paramilitärischen Verbände, die Schaffung eines zivilen Wehreratzdienstes.

Bleiben soll die antifaschistische Verpflichtung unseres Landes. Aber angesichts der neuen Faszination, die Stärke und Gewalt wieder auf manche Jugendliche ausübt, brauche es mehr als die blosse gewaltsame Unterdrückung solcher Regungen..

Bleiben soll trotz der bedrückenden ökonomischen Schwäche der sozialistischen Länder das sozialistische Grundanliegen, Lasten und Früchte der Arbeit miteinander zu teilen...

Nachdem Christoph Demke dargelegt hat, was bleiben – freilich sehr modifiziert, bleiben – soll, geht er die andere Frage an, was auf keinen Fall weitergehen darf:

Nicht weitergehen darf der Widerspruch zwischen veröffentlichter Wirklichkeit und Alltagserfahrungen.. Hier sind ja inzwischen Zeichen gesetzt, dass es in der Tat nicht so weitergehen soll.

Nicht weitergehen darf die Praxis des Umgangs von Staatsorganen mit Bürgern, - die Praxis, die die Gewährung von Rechten als Belohnung und Geschenk betrachtet. Wir brauchen mehr Rechtssicherheit für jeden Einzelnen. Es muss einklagbare Rechte geben und unabhängige Instanzen, die die Verweigerung von Rechten überprüfen und aufheben können.

Nicht weitergehen darf die Neigung, ungeplante Initiativen von vorneherein mit Misstrauen zu betrachten und der besonderen Beobachtung der Sicherheitsorgane zu unterstellen. Ich würde hinzufügen: nicht weitergehen darf die unkontrollierte, als bedrohlich empfundene Tätigkeit der Organe des Staatsicherheitsdienstes. Es muss eine unabhängige Instanz geben, die darüber informiert wird, welche Personen und Personengruppen observiert werden und aus welchem Grunde und mit welchen Mitteln. Ich weiß, dass das in jedem Staat ein heikles Gebiet ist. Aber das Gefühl, dauernd von irgendwelchen Leuten beobachtet zu werden, die dann Berichte über einen schreiben, welche man nie zu sehen bekommt, ist unerträglich und macht ein vertrauensvolles Zusammenleben unmöglich.

Ich füge einen weiteren Punkt hinzu: nicht bleiben darf das bisherige Wahlsystem, in dem offen gewählt werden darf und in dem eine Partei sich von vornherein die Mehrheit gesichert hat. Dabei ist klar, dass nichts ohne und nichts gegen die SED, sondern nur mit ihr zusammen geht. Ihre führende Rolle würde darin bestehen, nicht Machtpositionen zu besetzen, sondern zu mehr Demokratie zu führen, also die Macht mit andern zu teilen. Ob sich hier etwas Entscheidendes ändert, ist der Test darauf, wie ehrlich das Wort von der Wende gemeint ist. Ohne solch eine Änderung wird keine Ruhe in unserem Lande einkehren, es sei denn die Grabesruhe der Gewalt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein Wort Jesu erinnern. Er hat gesagt: "Der Sabbath – also eine von Gott gesetzte Ordnung – ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbaths willen." Um wie viel mehr gilt das von einer von Menschen gemachten Ordnung. Dann heißt dieser Satz: Der Sozialismus ist um des Menschen willen da, und nicht der Mensch um des Sozialismus willen. Es geht nicht um den Aufbau des Sozialismus, sondern um die Aufrichtung des Menschen im Sozialismus. Im übrigen dürfen wir die Veränderungen, die in unserm Lande anstehen, nicht provinzialisieren, sondern sie im Horizont der Überlebensfragen der Menschheit sehen. Heino Falcke schreibt: "Neu denken heißt begreifen, dass wir in Ost und West uns selbst und unsere Gesellschaften so verändern müssen, dass sie überlebensfähig und überlebensdienlich werden. Die wirkliche Systemfrage heißt nicht: Sozialismus oder Kapitalismus. Es geht nicht um das Überleben von Systemen, sondern darum, dass sie dem Überleben dienen und Zukunft möglich machen."

Für uns, die wir uns unterwegs zu Gott wissen, ist die Zukunftsperspektive das auf uns zukommende Reich Gottes, das – nach dem Apostel Paulus – "Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist" ist, in dem nicht mehr geweint werden muß, in dem das Weh- und Hassgeschrei aufgehört haben wird, in dem die erneuerte Menschheit in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes leben wird in vollem Einklang mit der übrigen Schöpfung, in der jeder ungehindert und ungemindert Mensch sein darf, in dem die Geschichte als Todes- und Tötungsgeschichte beendet sein wird.

Das Warten auf dieses Reich ist kein dösendes Abwarten, sondern ein tätiges Erwarten. Wenn uns diese Zukunft in Bewegung gesetzt hat, dann werden wir unterwegs zu ihr das tun, was diesem Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude entspricht. Also indem wir dafür sorgen, dass überall der Mensch zu seinem Recht kommt –seinem von Gott gegebenen Menschenrecht – menschenwürdig leben zu können, dass der Friede nach außen und nach innen Gestalt gewinnt im Abbau aller Gewalt und dass die Freude – die Freude an Gott und an seiner wunderbaren Schöpfung – wieder die Herzen ergreifen kann.

Dabei wissen wir, dass das, was wir schaffen, auch im besten Fall nur ein schwacher Abglanz dessen ist, was Gott uns verheißen hat und was auf uns wartet. Dieses Wissen um den letzten (eschatologischen) Unterschied wird uns davor bewahren, uns von den unausbleiblichen Ohnmachts- und Enttäuschungserfahrungen lähmen zu lassen, so dass wir aufgeben, oder umgekehrt, auch noch die kleinsten Verbesserungen zu epochalen Ereignissen hochzustilisieren. Dieses Wissen wird uns davor bewahren, angesichts der unentrinnbaren Schuldverstrickungen uns an das Unrecht- Tun zu gewöhnen oder unsere Schuld zu bestreiten und sie anderen anzulasten, und uns helfen, aus der Kraft der Vergebung immer wieder neu anzufangen. Menschen, die unterwegs sind zu Gott und auf sein kommendes Reich zu, sind eine Widerstandsbewegung gegen die Hoffnungslosigkeit, die erklärt: es hat ja doch alles keinen Sinn, es ändert sich ja doch nichts.. Menschen, die unterwegs sind zu Gott, richten ihre Hoffnung fest auf den, der gesagt hat und es allein sagen kann: "Siehe ich mache alles neu". "Ich bin das A und das O, das Alpha und das Omega", der Anfang und die Vollendung. In der Hoffnung auf ihn werden wir die Mühen, die unausbleiblichen Enttäuschungen und Rückschläge, die möglichen Leiderfahrungen bestehen und aufrechten Ganges und erhobenen Hauptes auf das Reich zugehen, "da Fried und Freude lacht" und "Gerechtigkeit wohnt".

Nachwort:

Ich habe den in dieser Festschrift auszugsweise gedruckten Vortrag am 24. Oktober 1989 im Rahmen einer Kirchlichen Woche mit dem Thema "Unterwegs zu Gott" im Dom zu Güstrow gehalten. In diesem Monat sollte das 40jährige Bestehen der DDR groß gefeiert werden. Die Unbereitschaft und Unfähigkeit der DDR-Staatsführung zu grundlegenden Reformen – wie sie Gorbatschow in der Sowjetunion angestoßen hatte, - hatte schon lange vorher eine aufgeladene Stimmung in der DDR erzeugt. Der Ruf nach Veränderungen wurde unüberhörbar. Diejenigen, die die Hoffnung auf Reformen aufgegeben hatten, hatten zu Hunderttausenden die Monate der Sommerferien dazu benutzt, der DDR den Rücken zu kehren und sich abzusetzen. Diejenigen, die aus Verantwortung für das Land geblieben waren, hatten sich in Gruppen zusammengeschlossen, die mit ihren Forderungen nach mehr Demokratie in die Öffentlichkeit gingen und sich nicht mehr einschüchtern ließen. Sie hatten nicht gerufen: "Wir wollen raus!", sondern: "Wir bleiben hier!" Im September begannen in vielen Städten in den Kirchen Gebetsgottesdienste zur gesellschaftlichen Erneuerung in unserem Land, zu denen Tausende von Menschen kamen. Am 9. Oktober dann die große gewaltfreie Demonstration in Leipzig, die sich nach solch einem Gebetsgottesdienst in der Nikolaikirche formierte und sich auf das Stadtzentrum zu bewegte und der dann den ganzen Oktober hindurch überall im Land nach den Gottesdiensten solche gewaltfreien Demonstrationen folgten. An dem Abend, an dem ich meinen Vortrag hielt, wurde in Schwerin eine von der SED inszenierte Großdemonstration durchgeführt, an der teilzunehmen auch in Güstrow aufgerufen worden war. Am Tag darauf fand im Anschluß an meinen Vortrag im Dom die Gründung des "Neuen Forum" statt. Einer der Gründer hat mir gesagt, ich hätte ihnen schon gut vorgearbeitet. Die meisten von uns gingen damals von tiefgreifenden Veränderungen in der DDR aus (ganz kluge Leute – und es werden immer mehr – wußten natürlich damals schon, dass die Wiedervereinigung in kürzester Zeit passieren würde. Ich bekenne, nicht zu ihnen gehört zu haben).


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