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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Helmut Liersch

Indien - Eindrücke und Gedanken kurz nach der Reise

Im Januar 2002 habe ich an einer "Exposure-Tour" teilgenommen: begleitet einer fremden Kultur "ausgesetzt werden", Informationen aus erster Hand bekommen, die ökumenische Herausforderung kennen lernen. Ziel war der indische Bundsstaat Tamilnadu, Gastgeber waren die Evangelisch-lutherische Tamilkirche (TELC) mit ihren Gemeinden, verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) und theologische Institute. Die Reise hat mein Bewusstsein für den indischen Subkontinent erheblich erweitert. Das lag zu allererst an der sorgfältigen Vorbereitung und Durchführung der Reise. In der Person von Hermann Hartmann (KED – Kirchlicher Entwicklungsdienst) hat ein erfahrener Fachmann für Entwicklungsarbeit die kleine Reisegruppe begleitet. Durch Dr. William Gnanasekaran vom ELM (Evangelisch-lutherisches Missionswerk) sind wir auf eine nicht besser vorstellbare Weise mit Menschen, Orten und Ereignissen in Kontakt gebracht worden. Dass wir neben vielen lutherischen Gemeinden auch andere Einrichtungen und Organisationen besucht haben, war eine überaus wichtige Bereicherung des Programms. Überall wurden wir überaus herzlich empfangen, fühlten uns willkommen und wurden großartig versorgt.

Allerdings verschaffte die eindringliche Darstellung der jeweiligen Situation und Nöte durch die Betroffenen permanent das Gefühl, mit leeren Händen dazustehen und den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Die Fülle der Eindrücke und Gespräche war während der Reise nur schwer zu verarbeiten. Es stand sehr wenig Zeit zum Lesen, Schreiben und Nachdenken zur Verfügung. Dazu kam, dass die für mein "westliches Empfinden" fast überbordende indische Gastfreundschaft gelegentliche Rückzüge fast unmöglich machte. In den ersten Tagen überwog der Eindruck: wie kann das alles so sein, wie es ist? Warum kann es so viel Armut geben? Wieso gibt es nicht einen gewaltigen Aufstand der Armen? 85% der Inderinnen und Inder sind, so lernte ich, Opfer des Systems und müssten sich eigentlich solidarisieren. In zahlreichen Kontakten erfuhren wir, dass es Impulse und Versuche dazu gibt. Es muss erkannt werden, dass man nicht einfach eine "Hindu-Mehrheit" konstatieren darf. Es gibt eine "Armen-Mehrheit", mithin eine Art "Neue Majorität". Dieses Bewusstsein können nicht wir im Westen schaffen. "Wer andere entwickeln will, muss sich selbst entwickeln; das gilt auch für die Inder, die in unserem Land etwas ändern wollen", so sagte uns ein indischer Gesprächspartner. Aber wir können Lobby sein, "Anwälte", Leute, die die Verhältnisse bekannt machen.

Mir hat sehr eingeleuchtet, dass Projekte dann eine gute Chance haben, wenn sie für alle Beteiligten transparent sind. Das schien mir besonders bei den etwa 1000 (!) Gruppen des CRHSE (Centre for Rural Health and Social Education) mit seinem Leiter Bennet Benjamin in Yelagiri Hills der Fall zu sein. Es hat mich außerordentlich beeindruckt, mit welcher Klarheit und mit welchem selbstbewussten Stolz dort die Frauen der Stammes- und Dorfgemeinschaften uns die Arbeit ihrer Selbsthilfegruppen und das Micro-Credit-System erklären konnten. Entwicklungsarbeit ohne Selbstverantwortung dürfte zum Scheitern verurteilt sein. "Löcher-Stopfen" mit Geld aus dem Ausland scheint die Abhängigkeit zu vergrößern. Statt dessen sind Systeme anzustreben, die sich im Effekt selber tragen. Eine sinnvolle Förderung von außen könnte darin bestehen, Risiken abzusichern. Von großer Bedeutung ist, dass die Betroffenen in die Lage versetzt werden, selber Geld zu verdienen und so eine dauerhafte Entwicklung ansteuern können. In der Vergangenheit scheint Geld aus den Partnerkirchen oft nicht in aussichtsreiche Projekte investiert worden zu sein, um es vorsichtig auszudrücken.

Auf der Bildungs-Ebene und der sozial-psychologischen Ebene scheint es mir vor allem darum zu gehen, dass den Betroffenen ihre Situation ins Bewusstsein gebracht wird. Die Ausbeutung wird häufig erlitten, aber als solche nicht erkannt und benannt. Es scheint ein großes Nachholbedürfnis zu geben hinsichtlich der Kenntnis der eigenen Rechte, des Kastensystems und der wirtschaftlichen Zusammenhänge. Auf der anderen Seite müssen die westlichen Kirchen und Organisationen ihren Partnern vertrauen und ihnen zutrauen, dass sie Projekte entwickeln, die ihre Lage verbessern. NGOs wie die Kirchen dürften nur dann eine Chance zu effektiver Arbeit haben, wenn sie nicht als reine "Protestler" oder "Helfer" in Erscheinung treten, sondern sich als kompetente Partner erweisen, auch dem Staat gegenüber. Uneinig scheint man sich in den indischen Kirchen darüber zu sein, ob man das Dalit-Problem interreligiös oder innerchristlich angehen soll. Damit ist die Frage der Zusammenarbeit der Religionen gestellt. Der Wunsch nach christlicher Identität, gepaart mit der schwachen sozialen Position, besonders auf dem Lande, scheint es schwer zu machen, solidarisch Brücken zu anderen Benachteiligten zu bauen. Es scheint eine Re-Konversion der Christen auf dem Lande hin zum Hinduismus zu drohen, wenn die Kirche nicht selber mehr tut. Sie fordert zu Recht, dass christliche Dalits (Kastenlose) vom Staat die gleiche Unterstützung bekommen wie Hindu-Dalits. Die Ungleichbehandlung durch den Staat verhindert ein Wachstum der christlichen Gemeinden. Wird – auch weltweit und auf politischer Ebene – genug getan, um dieses Unrecht bekannt zu machen? Ziemlich ratlos hat mich der Eindruck zurückgelassen, dass das Kastensystem auch – bewusst und/oder unbewusst - in den Kirchen wirkt und damit die christliche Botschaft und einen wirksamen Einsatz für die Ärmsten untergräbt. Wer hat die Kenntnis, den Mut und die Autorität, solche Strukturen aufzudecken?

Es war gut, kleine Dörfer zu besuchen und zu sehen, wie konkret die Bedürfnisse sind. Reiche Inder wissen wenig darüber, wie es auf den Dörfern aussieht, so sagte man uns. Auch in mancher Ausbildungsstätte scheint es Defizite in der Wahrnehmung der indischen Realität zu geben. Meines Erachtens müsste auch Partnerschaftsarbeit darauf achten, dass Verbindungen da am stärksten geknüpft werden, wo die Lage es am meisten erfordert. Es muss auf Gemeinden in den ärmlichen Situationen auf dem Lande befremdlich wirken, wenn Besuche und Unterstützung sich auf besser situierte Pastorate konzentrieren. Es ist zu hoffen, dass es der Kirchenleitung gelingt, hier eine regulierende Position einzunehmen mit Ergebnissen, die für alle nachvollziehbar sind. Die Armut der TELC und mancher ihrer Einrichtungen hat mich, trotz einiger Vorkenntnisse, erschreckt. Es war schwer zu begreifen, warum Kinder in den Schulen häufig auf der nackten Erde sitzen und schlafen. Andererseits bin ich tief beeindruckt von einer anderen Art von Reichtum, auf die ich immer wieder gestoßen bin: mental richness, eine geistlich-seelische Größe und Weite, die ich in unserer Gesellschaft viel zu selten antreffe. Das ist ein großer Schatz, der hoffentlich in der Zukunft seine Bedeutung für die indischen Christinnen und Christen und für die ganze Gesellschaft des Subkontinents noch mehr erweisen wird.

Kurz nach der Reise habe ich einige Eindrücke auch in meiner Predigt in der Marktkirche zu Goslar verarbeitet. Es war der Sonntag Septuagesimae, als Predigttext war ein Abschnitt aus Römer 9 vorgegeben. Ich habe mich zunächst auf Vers 21 konzentriert: "Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?"

Liebe Gemeinde, wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Vor ein paar Tagen bin ich aus Indien zurückgekehrt. Dort war ich im Auftrag der Landeskirche und des Kirchlichen Entwicklungsdienstes. Wir haben mit einer kleinen Gruppe unsere Partnerkirche besucht, die Ev.-luth. Tamilkirche. Wir waren in vielen Gemeinden zu Gast, in der Megastadt Madras und auf winzigen Dörfern. Ich habe gepredigt in verschiedenen lutherischen Kirchen, habe indische Schwestern und Brüder segnen dürfen und ihnen das Abendmahl gegeben. Wir haben Projekte gesehen, wo bitterarme Menschen versuchen, sich selber zu helfen und auf die Beine zu kommen.

Indien ist ein durch und durch religiöses Land. Manchmal wünschen wir uns das ja auch bei uns, aber es ist durchaus zwiespältig mit dem Hinduismus. Es gibt das "Kastenwesen", das die Menschen auf ewig festlegt und die Menschen selber akzeptieren das in aller Regel. Es ist eben ihr Schicksal, so empfinden sie das. Tief religiös sind die Menschen – überall in den Städten und auf dem Lande sieht man Tempel, überall Menschen, die Opfer darbringen. Aber es ist auch ein armes Land, ein extrem ungerechtes Land. Die große Mehrheit der Inder ist arm oder lebt sogar unter dem Existenzminimum. Menschen liegen auf der Straße herum, vom Staub der Straße kaum zu unterscheiden. Ein Job ist etwas Ersehntes, auch wenn er nur 12 Euro pro Monat bringt. Ein Pfarrer verdient 125 Euro im Monat und gehört damit schon zu den Besserverdienenden. Ich habe Schulen gesehen, fröhliche Kinder haben uns empfangen, für uns getanzt und gesungen. Sie gehören zu den Glücklichen, sie steigen auf, denn sie dürfen etwas lernen. Wir haben die Klassenräume gesehen: keine Stühle, keine Tische - und die Schlafräume: dünne Matten auf der Erde. Es ist soziale Arbeit, die motiviert ist aus dem christlichen Glauben. Auch die Christen sind tief religiös, ganz anders als bei uns. Es ist eine unmittelbare Frömmigkeit. Überall, wo man in ein Haus kommt, wird um Gebet und Segen gebeten.

Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen der Schicksalsergebenheit eines Hindu und dem christlichen Glauben? Das ist eine Frage, die sich durch meine Indien-Erfahrung wieder verschärft hat, aber sie ist ja nicht nur in Indien wichtig, sondern auch hier in Goslar. Gestern kam ich auf dem Hohen Weg an einem Geschäft vorbei, da stand zu lesen: Eine Handleserin sagt Ihnen Ihre Zukunft voraus! Was ist anders, was ist vielleicht sogar besser am christlichen Glauben? Ein Blick auf den heutigen Predigttext scheint zunächst zu entmutigen. Da steht: Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?

Da ist er wieder, dieser Schicksalsgedanke. Immer, wenn Menschen nicht weiter wissen, dann schieben Sie das Problem auf eine höhere Macht. Paulus versucht ja hier, ein besonderes Problem zu lösen, er fragt sich: Wie konnte es dazu kommen, dass Israel, sein eigenes Volk, Jesus nicht als Messias anerkennt? Das widersprach doch Gottes eigenen Absichten. Er hatte doch Israel erwählt – und jetzt, wo das Heil erschienen ist, öffnet er seinem Volk nicht die Augen. Ungerecht sei das von Gott, so argumentierten damals viele. Aber Paulus schmettert diesen Einwand ab. Gott ist frei darin, wem er sich zuwendet. Zitat: "Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will." Ja, was denn nun? wandten die Leute gegen Paulus ein. Dann ist das ja so, als ob der Mensch von Gott programmiert ist, und der Mensch gar keine Chance hat, sich zu entscheiden. Ein Vorwurf gegen Gott. Nein, sagt Paulus, ihr habt überhaupt kein Recht, Gott zu widersprechen. Er ist wie ein Töpfer, der macht mit dem Ton ja auch, was er will.

Ein gefährliches Bild ist das, liebe Gemeinde. Wir sollten die Bibel durchaus kritisch lesen. Man kann diesen Gedanken nämlich auch überdrehen. In die Richtung: Es ist sowieso alles vorherbestimmt, wir können nichts machen. So etwas wie eine freie Entscheidung ist eine Illusion. Und unversehens landen wir dann bei dem, was die Handleserin im Laden am Hohen Weg auch tut: uns festlegen auf ein angeblich unausweichliches Schicksal oder auf das, was auch in Indien und in seiner Religion im Hinduismus passiert, nämlich: egal, was wir tun, es kann unsere Lage nicht verändern. Die Ungleichheit der Menschen, sie ist vorgegeben und es ist letztlich sinnlos, das einem Gott oder den Menschen zu klagen. Gefährlich nah an all dem ist Paulus da dran, und es ist gar nicht so abwegig, hier Parallelen zu sehen, denn der Hinduismus ist ja sogar älter als das Christentum. Bedenklich, mit dem Gedanken, "alles ist vorherbestimmt" sich der Probleme der Zeit zu entledigen. Man denke nur an die Opfer des Nationalsozialismus, heute ist ja der Gedenktag. Kann man wirklich sagen, es musste so kommen!? Man konnte doch nichts daran machen, es ist eben Schicksal? Ist es das, was wir glauben, haben wir mehr nicht zu bieten? Dann können wir wirklich einpacken, liebe Gemeinde, dann können wir anderen Religionen das Feld überlassen, denn diesen Gedanken beherrschen sie besser. – Nein! Wir müssen Paulus richtig lesen! Natürlich: Gott ist frei in dem, was er tut und lässt. Das ist so, und das kann bedeuten, er erbarmt sich und er verstockt, wen er will. Dafür gibt es keine "Gründe". Es ist sinnlos, sie zu suchen. Das meint das Gleichnis vom Töpfer.

Aber da ist etwas Anderes, etwas Neues. Gott beruft Menschen frei und souverän, Juden und Heiden. Er schaut nicht wie eine Krämerseele darauf, ob das "rechtens" ist. Er rechnet nicht kleinlich ab mit den Menschen, er schaut nicht darauf, ob es jemand verdient hat oder nicht. Erinnern Sie sich an das Evangelium, das vorhin Herr Lehmann verlesen hat? Die Arbeiter im Weinberg. Da gibt er denen, die ganz zuletzt kamen, denselben Lohn. "Gerecht" in unserem Sinn ist das nicht. Aber es ist der Durchbruch. Und genau das wird in Indien auch gepredigt: Du bist nicht auf Ewigkeit festgelegt auf etwas, das in der Vergangenheit war. Du brauchst keine bedeutsame Herkunft, keine bedeutenden Taten aufzuweisen, keiner hohen Kaste anzugehören. Du bist mir recht, komm zu mir, folge mir nach. Das ist das Andere. Gott ist souverän. Aber eben nicht als ein Tyrann oder als einer, der mich auf ewig festlegt, sondern als Befreier. Mach dich auf, ruft er mir zu, wirf die Fesseln deines alten Lebens ab. Niemand hat ein Recht, dich an das zu binden, was früher war. Alles, was uns trennt, ist durch Jesus Christus beseitigt. Das letzte Opfer ist gebracht. Das ist es! Der Gott des Auszugs aus Ägypten, der Gott, der mit uns auf dem Weg ist, der Gott mit dem menschlichen Antlitz. Überall begegnet er mir, in jeder Begegnung mit einem anderen Menschen ist er dabei. Es kann das arme Kind auf dem Erdboden in Indien sein, es kann der reiche Goslarer in der gepolsterten Limousine sein. Ich rufe dich, steh auf, lös dich aus dem, was dich fesselt, erkenne deine göttlich Berufung.

Die Konsequenz heißt: Unterschiedslose Nächstenliebe, Glaube an Veränderung im Diesseits, irdische Gerechtigkeit als Folge unseres Glaubens an Gott. In Indien habe ich viele Menschen getroffen, die aus diesem Glauben leben. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Vertrauen in Gott und diese Dankbarkeit ihm gegenüber auch bei uns wieder zunimmt. So, dass wir den Wochenspruch aus vollem Herzen sprechen können: "Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit." Amen.


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Impressum und Datenschutzerklärung, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/FS90Heintze/, Stand: 18. November 2002, dk