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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Hansgünter Ludewig

Aufbrüche hinter Klostermauern

Die Evangelische Gethsemane-Bruderschaft in Riechenberg

Seit zwölf Jahren sind die Klostermauern von Riechenberg das Ziel eines ungewöhnlichen Aufbruchs. Tagtäglich klingeln Gäste an der Pforte, um hier für kürzere oder längere Zeit Aufnahme zu finden. Oft liegen weite Wege hinter ihnen. Sie kommen mit der Bereitschaft zu schweigen, zu beten, und vielleicht auch zu fasten. Sie erwarten Klosterzellen und Menschen, die darin leben. Sie dürfen teilnehmen an der Stille eines kontemplativen Klosters. Zumeist durchlaufen sie Tage von besonderer Intensität. Oft kommen sie nach geraumer Zeit wieder und stellen fest, daß auch die kleine Gemeinschaft am Ort Aufbrüche durchlaufen hat.

Für evangelische Christen ist die Abgeschiedenheit erklärungsbedürftig. Sie ist auch unter den evangelischen Bruder- und Schwesternschaften ungewöhnlich. Darum hat diese kleine kontemplative Kommunität von Anfang an eine Sonderstellung eingenommen. Sie führt ein verborgenes und deutlich zurückgenommenes Eigenleben, das wenig in das kirchliche Leben ringsum integriert ist. Gäste spüren schnell, daß dies nicht zufällig so ist, sondern einer bewußten Formung unterliegt. Die Beweggründe bleiben in der Regel ungenannt. So ist es wohl zu der Bitte gekommen, den Lebensstil dieser Kommunität etwas mehr aufzuschlüsseln. Ich wage es mit Behutsamkeit, denn die Klostermauern sind absichtsvoll gewählt. Ich versuche es durch eine Wegbeschreibung, indem ich erzählend den Werdegang dieser Gemeinschaft zurückverfolge. Dazu hilft die Nähe, die von Anfang an gewährt worden ist, aber auch die Distanz, die der andere Lebenskontext immer mit sich gebracht hat.

  1. Die Ursprünge
  2. Die Gethsemane-Bruderschaft ist das jüngste Kind einer weitverzweigten Familie von Gemeinschaftsbildungen, die in Hermannsburg und Göttingen ihren Ausgangspunkt genommen haben. Die Wurzeln liegen in den evangelischen Jugendgruppen der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Hannover und Göttingen. Prägende Erfahrungen von geistlicher Verbundenheit haben den Wunsch geweckt, diese intensiv erlebte und erprobte Gemeinschaft zu bewahren. So ist es 1963 in Hermannsburg und 1965 in Göttingen zu ersten Bruderschaftsgründungen gekommen. In beiden Anfängen hat der Neutestamentler Olav Hanssen eine Mentorenstellung eingenommen. (Als damaliger Seminarleiter am Missionswerk in Hermannsburg war ihm an einer Neubelebung der Missionsbruderschaft gelegen. Als langjähriger Impulsgeber der Jugendarbeit in Südniedersachsen hatte er die Verbundenheit mit den Freunden aufrecht erhalten.) Aber hier wie dort sind die Entschlüsse zur Gründung einer Bruderschaft vor allem aus den Gruppen selbst erwachsen. Geistliche Bewegungen innerhalb der Gruppen haben diese Entwicklung getragen.

    Die Hermannsburger Gründung hatte damals schon den Namen Gethsemane-Bruderschaft angenommen. Sie war am Missionsseminar entstanden und für den lebenslangen Dienst auf einer "Missionsstation" im "Busch" ausgerichtet. Die "Göttinger Bruderschaft" hatte zunächst ihre bündischen Traditionen als Programm "einfachen Lebens" entfaltet und ihr biblisch-missionarisches Profil in die Gründung von Hochschulgruppen einmünden lassen. An wichtigen Studienorten wie Hamburg, Berlin, München, Heidelberg, Tübingen wurden umgehend Wohngemeinschaften als Ausgangspunkte eigener Studentengruppen installiert. In beiden Bruderschaften war die Entdeckung der Exerzitien des Ignatius von Loyola von besonderem Gewicht. Hier tat sich ein methodischer Weg auf, neben einer historisch kritischen Bearbeitung von biblischen Texten einen meditativen Zugang einzuüben. Neu war weniger die existentielle Aneignung selbst, die immer gesucht wurde, als vielmehr die methodische Vorgehensweise. Umgehend entstanden erste Versuche mit "Einkehrtagen" im Stil der ignatianischen "Betrachtungen". Auch die Ordensgestalt der Jesuiten war für beide Gründungen zunächst richtungweisend. Hier begegnete uns die Möglichkeit, durch verbindlich verabredete tägliche Meditation und jährliche gemeinsame Einkehrtage verbunden mit Austausch und individueller Begleitung, einen lebenslangen Zusammenhalt über große Entfernungen hin unterhalten zu können.

    Beide Anfänge nahmen einen stürmischen Verlauf und wuchsen sehr schnell. Beide Aufbrüche waren von der Studentenbewegung jener Jahre maßgeblich mitgetragen. Es waren "unsere" Themen, die dort zur Sprache kamen: Studienreform und existentielles Lernen, Wohngemeinschaft, Weltverantwortung, Ökologie, Arm und Reich, Erlebnispädagogik. In der Debatte mit den sozialistischen Weggenossen über Selbstentfremdung ("Der eindimensionale Mensch") und repressive Gewalt erfuhren wir durch unsere konkret gelebten Alternativen viel Aufmerksamkeit. Wir artikulierten uns in Konferenzen und eigenen Zeitschriften, wir profilierten unsere WGs durch Freiräume für Spiritualität, Naturverbundenheit und Einfaches Leben. Dazu haben wir von Anfang an das Missionsseminar als die Chance einer exemplarisch umgesetzten Studienreform ergriffen. In dieser Aufbruchsituation schlossen sich 1966 die "Göttinger Bruderschaft" mit der "Gethsemane-Bruderschaft" unter dem neuen Namen "Koinonia" zusammen. Hermannsburg wurde zum Zentrum eines größeren Netzwerkes. Freunde sammelten sich: "Die kleinen Brüder vom Kreuz" siedelten sich an, die "Gruppe 153" entstand, die späteren "Hanstedter" trennten sich davon.

  3. Die Koinonia
  4. Der neue Name markiert einen Perspektivwechsel, denn die Auseinandersetzungen mit den Sozialisten in der Studentenbewegung hat zu systematischen Reflexionen geführt: Welche Geisteshaltung liegt zugrunde, wenn Meditation zum Mittelpunkt bruderschaftlicher Verbundenheit wird? Das verweilende Betrachten, das anfangs nur als Schlüssel zum Verstehen biblischer Texte erschienen ist, zeigt sich nun in einer grundlegenderen Bedeutung. Es erweist sich als eigene Art des Verstehens neben dem rationalen Begreifen. Es dämmert die Einsicht, daß die Moderne vor allem an ihrer einseitig ausgebildeten Rationalität krankt. Wenn das Denken nur noch zweckgerichtet ist, verliert es das staunende Anschauen, Verweilen und Geltenlassen. Aber gerade diese Einstellungen tragen eine gelingende Beziehung zu den Menschen, zur Natur und auch zu Gott.

    So trifft die Religion diese Verengung des Denkens unmittelbar. Sie hat aus Gründen der Wahrhaftigkeit die geschichtliche Bedingtheit ihres Werdens anerkennen müssen. Wenn aber der historisierende Blick allein ein sezierender sein kann, gibt es in der Religion nur noch "Interessantes". Es entfällt der tragfähige Grund für etwas, das allgemeine Geltung beanspruchen darf. Die Spannung von relativ und absolut existiert nicht länger. Die antike Transparenz-Erfahrung des Göttlichen im Relativen ist hinfällig.

    Vor diesem Hintergrund hat sich die Bruderschaft als ein Wegbereiter in einem fundamentalen Umdenkungsprozeß wahrgenommen. Das hat schließlich seinen Ausdruck im Namen Koinonia gefunden. Unter diesem Stichwort ist in der Antike Erkennen als "Teilhabe" beschrieben. Dieser Spur sind wir nachgegangen, zumal die Bibel dieses Stichwort auch für christliche Gemeinschaft verwendet:

    Gemeinschaft erwächst in Spontaneität und Freiheit aus einer verweilenden Art des Erkennens. Sie macht den Einzelnen zum "Teilhaber" von etwas, das sich aus sich selbst heraus in seiner Wahrheit mitteilt. Wie zeigen sich Philosophie und Soziologie, Medizin und Biologie, Pädagogik und Theologie unter solchem Paradigmenwechsel? Diese Reflexionsphase hat die Bruderschaft insgesamt erfaßt. Bei der Suche nach einer entsprechenden Umsetzung haben Ansätze der Platonischen Akademie und der Florentiner Frührenaissance Spuren hinterlassen.

    Der weitere Verlauf der Studentenbewegung hat uns anschaulich vor Augen geführt, was passiert, wenn die Unterscheidung von relativ und absolut nicht mehr greift. Wir haben erlebt, wie ehemalige Weggefährten ihre Gesellschaftsanalysen "verabsolutierten" und sich unversehens damit eine ideologische Basis für Gewaltanwendung schufen.

  5. Sichtungen
  6. Die Turbulenzen an den Hochschulorten, das schnelle Wachsen der Bruderschaft, Übergänge in die Berufstätigkeit, interne Richtungskonflikte und die Schwierigkeit, das Bruderschaftliche mit Ehe und Familie in Einklang zu bringen, haben zu erheblichen Sichtungen geführt. Vor allem ist der Anspruch, alles Tun und Gestalten aus einer lebendigen Erfahrung der Gegenwart Gottes zu vollziehen, in der Regel unerfüllt geblieben. Auf die Dauer haben die ignatianischen Exerzitien die Erwartungen an sie nicht erfüllt. Die darin enthaltene Willensübung hat die eigenen Autonomietendenzen eher bestärkt als begrenzt. Die Übertragung einer Jesusgeschichte mit Hilfe der Phantasie in den eigenen Lebensraum hat der Feuerbachschen Projektionstheorie geradezu Vorschub geleistet. Das behutsame Aufmerken auf das, was sich zeigt, ist auf viel persönliche Ungeduld gestoßen. Die "dunkle Nacht" der Abwesenheit Gottes, von den Mystikern früher vereinzelt berichtet, hat in unserer Epoche wohlmöglich kollektive Ausmaße angenommen.

    Die Koinonia erlebt sich in einer Krise. Ausgerechnet in der Geschlechterbeziehung, in der sie neue Wege der Partnerschaft beschreiten wollte, kommt es häufig zu Konflikten. Am Ende der Sichtungsphase hat etwa die Hälfte der Geschwister die Koinonia wieder verlassen.

  7. Klärungen
  8. Die Gemeinschaft besinnt sich auf den Kern ihrer Verbundenheit. Viele Aktivitäten in den Hochschulen werden zurückgenommen. Die persönliche Einübung in Meditation und einfaches Leben bekommen wieder Priorität. Die Regel der Koinonia erhält eine schriftliche Fassung. Klassische Ordensregeln werden dafür zurate gezogen. Frühere Ordensgründungen finden Beachtung, darunter insbesondere die franziskanische und die karmelitische Bewegung. Fortan werden die Aufnahmen in die Koinonia mit einer Einübungszeit (Noviziat) verbunden. Der Erfahrungsaustausch mit anderen Kommunitäten wird aufgenommen.

    Strukturell kommt es zu folgenreichen Entflechtungen. Die Geschwisterschaft, die die Arbeit an den Hochschulen trägt, bekommt eine eigene Leitungsstruktur und schafft sich sogleich eine eigene "Geistliche Ordnung". Auch der Freundeskreis formiert sich neu und tritt seitdem als "Gruppe 153" hervor. Ebenso werden die "Kleinen Brüder vom Kreuz" endgültig eigenständig. Dadurch kommen mehr Leitungsbegabungen zum Zuge, Richtungskonflikte müssen nicht immer entschieden werden. Eigenentwicklungen kann ein Entfaltungsraum gelassen werden. Nur verliert die Bewegung dabei mehr und mehr ihren Netzwerkcharakter.

    Spirituell sind auf die Koinonia in dieser Phase (1969/70) drei Herausforderungen zugekommen. Die eine hat sich in einem schlichten Taschenbuch versteckt: "Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers". Die andere hat sich in der immer häufiger zu hörenden Forderung geäußert, "wir brauchen einen Kreis von Ehelosen". Die dritte zeigt sich in dem Versuch, Wohngemeinschaften in Familienkommunitäten umzuwandeln.

    Das Taschenbuch hat die Lösung eines Problems in Aussicht gestellt, an dem wir zuvor regelmäßig gescheitert sind. Wie läßt sich ein Leben in der Gegenwart Gottes mit den Anforderungen von Ehe und Beruf verbinden? Der russische Pilger hat eine sehr einfache Gebetsübung kennengelernt, die er mit dem Atem und dem Herzen vollzieht. Ein kleines Gebetswort wird murmelnd so mit dem Ein- und Ausatmen verbunden, daß es nach gewisser Zeit ebenso unablässig mitläuft wie der Atem. Die Einübung besteht darin, die Atmosphäre der Ehrfurcht, die sein Anrufen mit sich bringt, in den Atem mitzunehmen. Der Raum der Gottesnähe ist in uns. Nicht aus dem Kopf, sondern aus dieser Körpermitte heraus zu leben, wird dabei zum großen spirituellen Widerfahrnis. Der Pilger macht deutlich, daß er damit in die Übung eintritt, die die Ostkirche als Herzensgebet der Väter in der Wüste überliefert.

    Es war uns, als wäre hier plötzlich eine Tür aufgegangen, hinter der sich ein uns völlig unbekannter Erfahrungsschatz verbarg. Es mußte sich zeigen, was diese Übung an uns ausrichten würde. Östliche und frühkirchliche Theologie und Spiritualität waren daraufhin ins Zentrum des Interesses gerückt. Dabei konnten auch Parallelen zur fernöstlichen Spiritualität nicht unbeachtet bleiben. Im Nachvollzug zeigte sich jedoch schnell, daß die Leichtigkeit der Übung täuschte. Sie erforderte ein einfacheres Leben. Sie ließ sich nicht in jedes beliebige Alltagschaos integrieren. Sie benötigte auch eine längere Eingewöhnungszeit, als wir zunächst vermutet hatten. Trotz der Grenzerfahrungen hatte sich diese Übung als außerordentliche Hilfe für uns erwiesen. Hier wurden innere Erfahrungen vermittelt, die zum tragenden Grund der Gemeinschaft geworden sind.

    Aber es ist darüber auch deutlich geworden, daß wir einen Kreis von Ehelosen brauchen. Das innere Gebet hat soviel Anziehungskraft, daß es eine Lebensform geben muß, die ihr alle Priorität einräumt. Es muß möglich sein, die Grundpfeiler des Alltäglichen, Arbeit und Beziehung, daraufhin zu gestalten. Gebet darf nicht immer nur auf ein starres Gefüge von Beruf und Familie aufgepfropft sein. Unsere Gemeinschaft braucht einen Ort, wo die "Lust" an Gott spürbar wohnt. Eine solche Art von Refugium hilft denen, die von draußen kommen, ihr Maß zu finden. Das Loslassen hat dort seinen Ort, aber auch die Freiheit und Leichtigkeit, die daraus erwachsen.

    Etliche Geschwister suchen eine Lösung auch darin, daß sie Beruf und Familie neu zu gestalten suchen. In den studentischen Wohngemeinschaften sind Freiräume für Meditation und kommunitäres Leben leicht zu schaffen gewesen. Sollte es nicht möglich sein, dies in Gestalt von Familienkommunitäten mit den Erfahrungen einfachen Lebens neu zu gewinnen? Ein gewichtiger Teil der Koinonia-Familie sucht unter der Bezeichnung "Communität Koinonia" auf diesem Weg ihre Gestalt und entwickelt ein starkes Eigenleben.

  9. Der Ehelosenkreis
  10. Schon in der Regel der Koinonia heißt es, daß ein Leben in der Gegenwart Gottes die Ehelosigkeit als "eine Frucht echten Betens" nach sich ziehen kann. Wenig später hat es die ersten Anfragen von Brüdern gegeben, die diesen Weg wagen wollen. Aber erst nach dem Tod von Barbara Hanssen im Jahr 1970 hat Olav Hanssen es übernommen, eine Gruppe von Ehelosen zu begleiten.

    Neun Jahre hindurch hat diese Gruppe in wechselnder Zusammensetzung zwischen der Hermannsburger Seminarbruderschaft, der Missionsbruderschaft und der Koinonia ihr Eigenleben gesucht. Sie hat herausfinden müssen, welche Gestalt die klassischen Ordensversprechen Armut, Keuschheit und Gehorsam für sie bekommen sollen. Sie hat unterschiedliche Bilder von Frömmigkeit und Aufgaben miteinander auszugleichen gehabt. Zur Schlüsselfrage ist allerdings geworden, ob der Einzelne die Stille so auszufüllen vermag, daß er tatsächlich "von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all seinen Kräften" darin leben kann, ohne sich Gewalt anzutun.

    1980 ergibt sich die Möglichkeit, das Domkloster in Ratzeburg neu zu beleben. Dabei wird deutlich, daß die Brüder für sich selbst zwar einen eigenen Lebensraum suchen, das historische Klosterviereck ihnen aber zu groß und zu mittelalterlich geprägt ist. Während die Brüder für sich etwas Kleineres suchen, kommt aus der Koinonia der Wunsch, ein Gästehaus zu haben, das ausschließlich denen vorbehalten ist, die Stille und Gebet suchen. Darüber entsteht die Frage, ob es für den Ehelosenkreis eine wichtige Aufgabe sein kann, mit ihren Stundengebeten den Gästen ein Tagesgerüst vorzugeben.

    Die Brüder erklären sich dazu bereit, fordern aber für das Gästehaus einen anderen Träger. Spontan entsteht ein neuer Freundeskreis, der die Belegung und die finanziellen Risiken trägt. Er strukturiert sich als freies Werk innerhalb der Kirche. Damit erklärt er seine Verwurzelung im evangelischen Bekenntnis und in der Rechtfertigungslehre, hält sich aber frei von kirchlicher Verwaltung und ihrem Geld. Das Wagnis "Domkloster Ratzeburg" beginnt mit einem Trägerkreis und sieben Brüdern, die im Umkreis wohnen.

    Schon bald liegt in den Gästezimmern ein Gebet aus, das einen Einblick gibt in die Erwartungshaltung der Brüder und ihrer Besucher:

    "Jemand muß zu Hause sein, Herr!

    Jemand muß dich erwarten und nach dir Ausschau halten.

    Wachen ist unser Dienst, auch für die Welt.

    Sie ist so leichtsinnig, läuft draußen herum

    Und nachts ist sie auch nicht zu Hause.

    Herr, jemand muß dich aushalten, dich ertragen, ohne davonzulaufen.

    Deine Abwesenheit aushalten, ohne an deinem Kommen zu zweifeln.

    Dein Schweigen aushalten und trotzdem singen.

    Das ist unser Dienst: Dich kommen sehen und singen.

    Weil du Gott bist und wunderbar wie keiner. Amen."

    Die Brüder orientieren sich an Lebensformen kontemplativer Gemeinschaften in der Ostkirche. Sie leben in kleinen Wohneinheiten (Kellien) zu zweit oder zu dritt, arbeiten soviel, daß sie als Kellion unabhängig leben können und auch im Alter versorgt sind. Die Herausforderung an jeden einzelnen besteht darin, unablässig "in Christus" zu leben. So werden Verabredungen getroffen, die es erlauben, große Teile des Tages schweigend zu verbringen. Alles andere soll so geordnet sein, daß es möglichst wenig davon abzieht: d.h. kein gemeinsamer Besitz, wenig Verwaltung, viel Selbstverantwortung.

    Dem Trägerkreis gelingt es, einen der Brüder als theologischen Leiter des Einkehrhauses zu gewinnen. Die Gäste sollen dazu eingeladen werden, während ihrer Zeit im Kloster an dem geistlichen Leben der Gemeinschaft teilhaben zu können. Die Brüder erklären sich bereit, nach dem Maß ihrer Erfahrungen und Kräfte die Gäste individuell zu begleiten. Der Trägerkreis verpflichtet sich, nur solche Gäste ins Haus zu laden, die für sich selbst Zugänge zum inneren Gebet suchen oder sie vertiefen wollen.

    So werden in wöchentlicher Folge durchs Jahr hindurch von Mitgliedern der Koinonia "Tage der Stille" mit Einführungen zum "Betrachtenden Gebet" und zum "Herzensgebet" durchgeführt. Schon im ersten Jahr hat das Haus mehr als 3000 Übernachtungen verzeichnet.. Zum Profil der Bruderschaft gehört ein ganzheitliches Gestalten von Raum und Zeit. Die ehemaligen Klosterzellen werden einfach, aber individuell mit Mobiliar, das Geschichte zeigt, ausgestattet. Der Dom und die Kapelle klingen nur stimmig mit einem benediktinischen Stundengebet. Die Naturverbundenheit bekommt ihren Raum auf den stillen Wegen am See entlang. Die Verpflegung ist vegetarisch und so, daß sie andere davon überzeugen kann.

    Für die Koinonia insgesamt war der Weg der Ehelosen über die Elbe noch einmal ein empfindlicher Einschnitt.. Hermannsburg blieb zwar für die Geschwister in Übersee der selbstverständliche Bezugspunkt. Auch hatte die Familienkommunität sich dort ein eigenes Zentrum erbaut. Aber in Ratzeburg hatte die Gemeinschaft nun eine unverkennbare Gestalt angenommen. Einige Familien hatten sich dafür besonders engagiert. Das verstärkte die Tendenz zu Eigenständigkeit der je eigenen Gruppierung. Sie fand schließlich auch in eigenen Namensgebungen ihren Niederschlag. Der Ehelosenkreis und die damit verbundenen Familien nahmen den ursprünglichen Namen Gethsemane-Bruderschaft wieder für sich an. Die Hermannsburger Koinonia wurde zum Epiphaniaskreis.

  11. Das Gethsemanekloster in Riechenberg

Heftig kollidierende Interessen am Ratzeburger Klosterviereck haben 1989 dazu geführt, für die Gethsemane-Bruderschaft einen neuen Ort zu suchen. Die Hannoversche Klosterkammer zeigte sogleich eine große Bereitwilligkeit, eine ihrer alten Klosteranlagen dafür herzustellen. Die Wahl fiel auf das Kloster Riechenberg bei Goslar. Der Zustand der Sakralräume gab den Ausschlag. Die Klosterkirche erschien uns in ihrer mächtigen Ruine wie eine Verkörperung der "Volkskirche". Die wunderbar erhaltene Unterkirche war mit ihrer sammelnden Ausstrahlung wie eine Aufforderung, in solcher Verborgenheit neues geistliches Leben zu wagen.

In dieser Entscheidungsfindung waren auch die Kontaktgespräche mit der Braunschweiger Landeskirche in der Person ihres Landesbischofs Prof. Dr. Gerhard Müller von besonderem Gewicht. Einerseits ging es darum, das kontemplative Profil dieser Bruderschaft als mögliche Ausdrucksform einer bewußt lutherischen Theologie und Kirche anzusehen, zum anderen ging es um die kirchenrechtliche Zuordnung einer Bruderschaft zur Kirche. Hier war sowohl das Recht einer bischöflichen Visitation zu regeln, als auch die Ordination eines Bruders für die Sakraments-Gottesdienste, aber auch für Beichte und Seelsorge an den Gästen. Der Bruderschaft war wichtig, dies ohne ein kirchliches Anstellungsverhältnis gewährt zu bekommen. Die institutionelle und finanzielle Unabhängigkeit der Bruderschaft von der Kirche sollte gewahrt sein, und trotzdem soll das Wirken dieses Klosters als Tätigkeit innerhalb der Kirche und speziell auch der Braunschweiger Landeskirche anerkannt sein. Die Bruderschaft hat es als große Bestätigung ihres Weges nach Goslar erfahren, daß diese Regelungen in gutem Einvernehmen getroffen werden konnten. Sie weiß sich dem Landesbischof und allen weiteren Nachfolgern im Amt in besonderer Weise verpflichtet.

Für den Trägerkreis war der Umzug nach Goslar wie eine Befreiung aus engen Verhältnissen. Er wuchs aber auch in eine neue Dimension von Herausforderung. Die Zahl der Gästezimmer war auf über 40 verdoppelt. Sechs Hektar Park- und Grünfläche wurden von der alten Klostermauer umschlossen. Die Brüder zeigten sich bereit, ihre Berufstätigkeit dafür einzubringen und für Küche, Gästebetreuung, Hauswirtschaft, Technik und Verwaltung sich vom Trägerkreis anstellen zu lassen. Erstmalig sollten sie hier unter einem Dach zusammenwohnen.

Schon bald lag im neuen Kloster ein Faltblatt mit diesen Zeilen aus:

"Ein Kloster ist ein LEBENSRAUM zur inneren Veränderung und Erneuerung des Menschen. Im Schutz der Klostermauern soll geistiges und geistliches Leben besser wachsen und sich entfalten können. Im Kloster steht der innerlichste Lebensvollzug des Menschen, das Gebet, in der Mitte.

Ein Kloster ist keine Idylle, in die man vor den Nöten unserer Zeit flieht. Es möchte gerade vor einer Innerlichkeit bewahren, die das Gebet benutzt, um Subjektivismus und Individualismus religiös zu überhöhen oder um Angst und Abwehr fromm zu überdecken. Im Kloster stellt sich der Mensch sich selbst und Gott. Er stellt sich seiner eigenen Not, weil er weiß, daß die meisten äußeren Nöte der Welt Folge der inneren Nöte des Menschen sind. Deshalb ist ein Kloster ein Ort wacher Selbstkritik und Erkenntnis, ein Ort innerer Auseinandersetzung und Reinigung.

Im Schutze der Klostermauern möchte sich das Leben verwandeln und erneuern wie die Schmetterlingspuppe im Kokon: Mit Christus sterben, um mit ihm zu leben - bis zur Erfahrung, "nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal.2,20). Eine solche Lebenserfahrung verändert das ganze Sein. Sie befreit aus den engen, leidvollen Grenzen des Ichs zur unendlichen Weite und Kraft Gottes.

Die Klostermauern dienen zwar äußerlich zur Grenzziehung gegenüber der Welt, aber innerlich zur Befreiung zur Welt, wie sie in ihrem Wesen ist: Schöpfung Gottes. Es gibt nicht mehr dieses Ich, das sich von der Welt distanziert, sie genießerisch konsumiert oder zum manipulierbaren Objekt seiner eigenen Wünsche macht. Ein geheiltes Ich beginnt ein neues Leben aus dem Geist, mitten in der Welt und für sie."

Seit zwölf Jahren nutzen Gäste diesen Ort als ihr Refugium. Sie kommen allein oder in Gruppen. Ihre Zahl ist gegenüber den Gästezahlen in Ratzeburg deutlich gestiegen und wächst von Jahr zu Jahr. Die Auslastung geht inzwischen öfter an die Grenzen der Belastbarkeit. Aber die Bruderschaft hat sich mit ihrem jährlichen "Klostertag" und dem Ausbau der Scheune für Jugendgruppen in den letzten Jahren auch deutlich in ihr Umfeld hinein geöffnet. Daraufhin ist gerade der Anteil der Menschen aus der Braunschweiger Landeskirche sehr gewachsen. Wer wollte ermessen, welche Segenskräfte darin beschlossen liegen, bleibt doch alles geistliche Leben letztlich "verborgen mit Christus in Gott" (Kol. 3,3).


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