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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Lothar Stempin

Ortnah

- Versuche einer menschen- und lebensraumnahen Diakonie -

Luftaufnahmen

Eine Fahrt mit dem Heißluftballon gilt immer noch als besonderes Geschenk für Geburtstagskinder oder andere Jubilare. Man kann diesen Trend als überflüssigen Gag der Erlebnisgesellschaft ansehen oder aber als eine Möglichkeit, eine vertraute Landschaft, durch die man sich täglich zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit Bus oder Bahn bewegt, aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten.

Ohne allzu große Mühe – so stelle ich es mir vor – gelingt es dem kirchlich Interessierten, die Marksteine des Glaubens im Braunschweiger Land aus der Vogelperspektive zu identifizieren: St. Andreas in Braunschweig, St. Vitus in Seesen oder Martin-Luther in Bad Harzburg. Aber wer könnte auf die vielen hundert Stätten zeigen, an denen der christliche Glaube zwischen Harz und Heide einen Ort findet? Es liegt nahe, auf die Kirchen und Kapellen, die Gemeinde- und Pfarrhäuser zu weisen. Darüber hinaus ist es aufschlussreich, und darauf soll im Folgenden der Schwerpunkt liegen, sich die vielen Räume christlicher Liebestätigkeit in dieser Region zu vergegenwärtigen: das Marienstift in Braunschweig, die Evangelische Stiftung Neuerkerode, das Evangelische Krankenhaus in Bad Gandersheim. Überaus zahlreich sind die diakonischen Orte: Teilweise sind sie herausgehoben und von ferne kenntlich, wie die genannten, teilweise sind sie eingebunden in die Lebensräume der Dörfer und Städte.

Kreuz und quer könnten die Flugrouten über die Landeskirche führen: von der Kaffeetwete in Glentorf bis zum Diakonissen-Mutterhaus in Bad Gandersheim, von der Diakoniestation in Braunschweig zur Diakoniestation in Braunlage, vom Diakonietreff in Salzgitter-Fredenberg bis zur Stiftung Clus in Schönigen, von der Gemeindepflegestiftung in Braunschweig zum Betreuten Wohnen im Mutterhaus Kinderheil in Bad Harzburg.

Über solche Luftaufnahmen können natürlich nur Gebäude identifiziert und Einrichtungen kenntlich gemacht werden. Aufschlussreicher ist es, in diese Räume einzutreten und mit den Menschen zu reden, die dort leben und arbeiten. Diese diakonischen Dienste spiegeln wider, auf welche Weise Christinnen und Christen sich von aktuellen gesellschaftlichen und sozialen Aufgabenstellungen rufen ließen und welche Antwort des Glaubens sie darauf gegeben haben. Im Marienstift sind bis heute die Anfänge der Inneren Mission spürbar und die Frömmigkeit der Diakonissen, für die das Ineinander von Heil und Heilung selbstverständlich ist. Aus den therapeutischen Aufbrüchen der 70-er und 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts entstand die in gleichem Maße therapeutisch ausgerichtete wie bürgerschaftlich motivierte Jugendberatung mondo X. Die erwähnte Kaffeetweete in Glentorf verbindet Aspekte einer therapeutischen Wohngemeinschaft mit Elementen einer erwecklichen Frömmigkeit. Die Beratungsdienste in Goslar widmen sich seelisch verwundeten Menschen und gestalten eine gemeinde- und gemeinwesennahe Diakonie. Die Gemeindepflegestiftung St. Georg im Braunschweiger Siegfriedviertel begleitet alte Menschen im Wohnquartier durch beruflich und ehrenamtlich Tätige.

Die Entstehungsgeschichte und die Ausgestaltung der Arbeit in den 109 diakonischen Einrichtungen in der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig führen vor Augen, wie nah an den hilfsbedürftigen Menschen und wie verwoben in die jeweiligen Kontexte christliche Liebestätigkeit gelebt und gestaltet wird.

Diakonie hat ihren Anfang im Braunschweiger Land keineswegs erst mit der Errichtung der ersten Anstalten um 1850 und der Gründung des Evangelischen Vereins für Innere Mission 1880 genommen, seit Jahrhunderten ist sie hier verwurzelt.

Zu sehen ist das z. B. an den mittelalterlichen diakonischen Einrichtungen in Goslar, wie dem Kleinen und dem Großen Heiligen Kreuz. Reichsstädtischer Sinn und bürgerliches Bewusstsein haben eine ganz eigene Prägung christlicher Verantwortung für das Gemeinwesen hervorgebracht. Erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang auch die Armenfürsorge und die Krankenpflege, die vor allem in den Klöstern der vorreformatorischen Zeit ihren Ort hatten.

Alte und neue Wege

Der letzte Gedanke erlaubt die Rückkehr zum Eingangsbild der Luftfahrt über die Region zwischen Harz und Heide. Aus der Höhe lassen sich nicht nur die Vielfalt der heutigen Lebensräume und Landschaften erkennen, sondern auch die Spuren der Vergangenheit. Viel eher als auf der Erde ist aus der Luft zu sehen, wo einst Wege liefen, Siedlungen lagen, Wälle aufgeworfen und Gräben gezogen wurden. Aus der Luft wird aber auch sichtbar, wie vorläufig menschliches Planen und Bauen ist.

Der Wandel ist unübersehbar: Noch vor wenigen Jahrzehnten prägten Zuckerfabriken das Ortbild viele Dörfer und Städte in der Region. Diese und sehr viele Industriebauten in den Städten sind inzwischen abgerissen worden. Aber auch das Gesundheitswesen erlebt einen tiefen Strukturwandel: In Bad Gandersheim stehen einige Kliniken für Rehabilitation leer. Möglicherweise werden in den nächsten Jahren auch Krankenhäuser dieses Schicksal erleiden.

Mit den Gebäuden schwinden auch Gewissheiten über die Ordnung unseres Gemeinwesens. Ich sehe deutliche Hinweise, dass sich das Beziehungsgefüge zwischen Staat, Kirche und Bürgern, das sich in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg ausgeformt hat, gegenwärtig wandelt. Die Bürger bekommen mehr Freiheit gegenüber dem Staat. Aus Sicht der Institutionen wird dieser Prozess als ‚Individualisierung‘ und Pluralisierung bewertet; aus Sicht der Subjekte wird der Gewinn an Freiheit geschätzt oder Orientierungslosigkeit beklagt. Erstmals in der politischen Geschichte der Neuzeit gibt es für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung – die Eliten von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur – eine reale Alternative zum konkreten Staat. Für diese gut ausgebildeten Bevölkerungsgruppen sind die Sicherungssysteme der Solidargemeinschaft von geringerer Bedeutung. Sie möchten sich aus der staatlichen Bevormundung befreien und selbstbestimmt über Maß und Umfang ihres Engagements für die Gemeinwesen entscheiden.

Für diese Entwicklung lassen sich vielfältige Gründe anführen. Gern wird die Globalisierung mit ihren ökonomischen Folgen genannt, aber das sind Sekundärphänomene. Vielmehr erleben wir, wie im Prozess der Entwicklung Europas andere Staatstheorien und Demokratieverständnisse, insbesondere das französische und das englische, auf Deutschland einwirken.

Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der sozialen Sicherung eine spezifischen Entwicklung genommen hat, durch die die Unterschiede zu den europäischen vor allem aber zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika zunächst vergrößert wurden, jetzt aber massive Schritte geplant sind, diese Tendenz umzukehren. Resümiert man die verfassungspolitische Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhunderts, dann besteht kein Zweifel, dass der Staat immer weitere Aufgabenfelder erfolgreich für sich reklamiert hat: Die stetig ansteigende Staatsquote spiegelt nur das quantitative und qualitative Wachstum der Staatsaufgaben. Aus dem von Kant und Humboldt konzipierten Not- und Verstandesstaat des 19. Jahrhunderts wurde immer mehr der "fürsorgliche Betreuungsstaat" des 20. Jahrhunderts, der in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erkennbar an die Grenzen seiner Steuerungs- und Leistungsfähigkeit geraten ist.

Auf Seiten des Bundes, der Länder und der Kommunen löst diese Situation eine radikale Infragestellung und Neubestimmung der Aufgaben sowie eine Überprüfung von Inhalt und Umfang der Leistungen aus. Die Bestimmung staatlicher Kernaufgaben führt dazu, dass er sich aus vielen Bereichen, in denen er bisher das Monopol hatte, allmählich zurückzieht. Gleichzeitig wird versucht, die staatlichen Mittel effizient, sparsam und ökonomisch einzusetzen. Oder anders gesagt: Alles staatliche Handeln muss in Zahlen umgerechnet werden können, auf dass man vergleichen, bewerten und gezielt fördern kann.

Dieser Prozess wird in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion als "Entstaatlichung des öffentlichen Lebens" beschrieben, und in seiner Folge werden Konzepte unter den Überschriften "Zivilgesellschaft" und "Bürgergesellschaft" insbesondere aus dem angelsächsischen Raum rezipiert.

Ein Blick in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland macht deutlich, dass dort schon eine Brücke geschlagen wird zu den heute diskutierten Ansätzen. Das Grundgesetz tritt für ein fruchtbares Spannungsverhältnis von Staat und Gesellschaft ein. Der dem Gemeinwohl verpflichtete Bürger, der sich freiwillig mit anderen Bürgern assoziiert, ist durchaus im Blick. Heute muss allerdings die Fragerichtung verändert werden: Zuerst sollten wir nach der Bindung des Bürgers an das Gemeinwesen fragen und erst in zweiter Linie nach den Rechtsansprüchen des Bürgers gegenüber dem Staat – wobei deutlich sein muss, dass es sich hier um ein Wechselverhältnis handelt. Denn auch der Staat ist auf das Gemeinwohl verpflichtet und tariert Ungleichgewichte bei der legitimen privaten Interessenwahrnehmung im gesellschaftlichen Bereich aus. So wirken die demokratisch legitimierte Staatsgewalt und die grundrechtlich legitimierte Freiheit der Bürger in nicht spannungsfreier Symbiose zum Besten des Gemeinwesens zusammen.

Will man den Begriff der Entstaatlichung vermeiden, so könnte man auch formulieren: Umfang und Intensität staatlicher Einwirkungen auf die Gesellschaft nehmen ab. Wenn aber staatliche Regulierung zurückgeht und der Betreuungsstaat herkömmlicher Prägung an Wirksamkeit verliert, drängt sich unvermeidlich die Frage auf, wie sich die Steuerung des Gemeinwesens in diesen vakanten Segmenten zukünftig darstellen soll. Der Bund und die Länder sehen ihre Aufgabe zukünftig stärker darin, die Bürgerinnen und Bürger zu eigener Aktivität anzuregen. ‚Fördern und fordern’ lauten die bekannten Schlagworte. Damit beschreibt der ‚aktivierende Staat’ seine zukünftige Rolle und Funktion.

Diese Programmatik wird in den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege mit Skepsis aufgenommen, weil sie dem Eindruck Vorschub leisten, der Staat würde sich nun von mühsam errungenen Rechtsansprüchen der Bürger gegen ihn freistellen. Diese Vermutung wird sogar durch eine systemtheoretische Betrachtung dieser Entwicklungen ein Stück weit bestätigt, denn die strukturelle Koppelung von Recht und Politik, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat bundesdeutscher Prägung über Jahrzehnte bestimmend war, wird heute zugunsten einer Verbindung von Politik und Wirtschaft zurückgedrängt.

Die Dominanz der wirtschaftlichen Betrachtung ist in den Verhandlungen des Diakonischen Werkes mit den Vertretern der kommunalen Gebietskörperschaften ganz offensichtlich. Nicht nur in der Stadt Braunschweig werden die so genannten ‚freiwilligen Leistungen’ der Kommune für soziale Aufgaben erheblich beschnitten. Bei den Verhandlungen mit dem Land Niedersachsen für einen Landesrahmenvertrag für die Behindertenhilfe und für Menschen in besonderen Lebenslagen scheinen die Vorgaben des Finanzministers größeres Gewicht zu haben als die Maßgaben des Bundessozialhilfegesetzes.

Maßgebliches Kriterium für soziale Leistungen wird also zunehmend die Finanzierbarkeit. Das Kostenbild einer Einrichtung wird zur bestimmenden Größe. Dadurch droht die Zuwendung zu den Personen durch das Kostendenken kontaminiert zu werden. Atmosphäre, Lebensqualität, Beziehungen und die Kultur des Umgangs stehen nicht im Zentrum der Wahrnehmung und Würdigung einer Einrichtung, weil sie sich nicht quantifizieren lassen. Vielmehr wird von den Kostenträgern lautstark die Forderung nach dem externen Vergleich erhoben; doch dieser rückt alles auf die Ebene des Messbaren und Materiellen.

Zwiespältige Gefühle hinterlässt diese gesamtstaatliche Entwicklung, deren Ende längst nicht erreicht ist. Ganz offensichtlich zieht sich der Staat aus der Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen mehr und mehr zurück. Gleichzeitig nehmen die Kostenträger weiterhin durch ein Übermaß an Formalisierung und Regulierung Einfluss auf soziale Hilfefelder. Wie aber sollen sich die diakonischen Einrichtungen weiterentwickeln, wenn einerseits alles dem Markt überlassen wird und andererseits die Akteure an der kurzen Leine gehalten werden?

Die Vermutung liegt nahe, dass im Rahmen der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme von staatlicher Seite auch die Rolle der Freien Wohlfahrtspflege neu bestimmt werden soll. Dem muss widersprochen und deutlich gemacht werden, dass alle frei gemeinnützigen Träger wesentliche Partner und Leistungserbringer auf dem sozialen Sektor sind und dem Gemeinwohl in hohem Maße dienen. Die Freie Wohlfahrtspflege hat maßgeblich zur Gründung des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland beigetragen. Die Überzeugungen und Wertvorstellungen der Wohlfahrtsverbände spiegeln sich im Sozialstaatsprinzip der Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes wider. Dieses wiederum ist integraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Soziale Leistungen sind deshalb als gemeinschaftlich gestaltete Lebensstandsicherung im Interesse der Gesellschaft zu verstehen.

Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bekennen sich zum Sozialstaat und setzen sich für dessen Weiterentwicklung ein. Aber dies ist kein einseitiges Bekenntnis. Durch die grundlegende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1967 und Bestimmungen im Bundessozialhilfegesetz wie auch im SGB VIII ist der Grundsatz partnerschaftlicher Zusammenarbeit des Staates mit den anerkannten gemeinnützigen Trägern der Sozial- und Jugendhilfe normiert. Die Freie Wohlfahrtspflege auf der einen Seite und der Staat auf der anderen Seite sollen also bei der Entwicklung der Sozialordnung gleichberechtigt zusammenwirken.

Es ist erforderlich, auf diese grundlegenden Prinzipien der Gemeinwesengestaltung hinzuweisen, weil diese Grundsätze scheinbar nicht mehr in allen Rathäusern und kommunalen Verwaltungen im Braunschweiger Land handlungsleitend sind.

Welche Schritte führen trotz schwieriger Rahmenbedingungen zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit? Am Anfang sollte die Einsicht stehen, dass soziale Partnerschaft unausweichlich von Interessenkollisionen bestimmt ist. Diese lassen sich nur in geordneten demokratischen Prozessen lösen. Das Gespräch und der Austausch der Argumente müssen obenan stehen und Entscheidungen unter weitgehender Beteiligung der dazu demokratisch legitimierten Personen zustande kommen. Vor allem aber müssen sich die Entscheidungen ethisch verantworten lassen. Ihre Kriterien müssen mit den Grundsätzen des Sozialstaates kompatibel sein: Solidarität, Gerechtigkeit und Menschenwürde.

In Niedersachsen gibt es seit langem ein bewährtes Verfahren der Abstimmung zwischen den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und dem Land in allen wichtigen sozialpolitischen Fragen. Angesichts der sogenannten Kommunalisierung der Sozialleistungen sollte erwogen werden, auch auf der Ebene der Gebietskörperschaften einen intensiven Abstimmungsmodus zu installieren. In einigen Städten haben die kommunalen Verantwortungsträger und die Vertreter der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege gute Erfahrungen mit einer gemeinsamen mittelfristigen Sozialplanung gemacht. Es ist zu hoffen, dass diese Beispiele auch an anderen Orten Schule machen.

Bodenschätze

Ein drittes Mal kehre ich zu dem Bild der Luftfahrt über das Braunschweiger Land zurück. Als produktiv haben sich Luftaufnahmen auch bei der Erschließung von Bodenschätzen erwiesen. Die Entdeckung der Kalivorkommen, der Erzlagerstätten und der Braunkohlereviere haben zwischen Gifhorn und Osterode, zwischen Helmstedt und Alfeld wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen ausgelöst, die bis heute nachwirken.

Was sind nun die spirituellen Quellen und die theologischen Bodenschätze, aus denen wir schöpfen können, um angesichts der skizzierten Veränderungen im Sozial- und Gesundheitswesen zu entscheiden, ob und wenn ja an welcher Stelle diakonisches Handeln seinen Ort findet. In der Tat befindet sich die Diakonie in Deutschland hinsichtlich ihrer Grundlagen und Zukunftsperspektiven in einem der gravierendsten Orientierungsprozesse seit dem Beginn ihrer neuzeitlichen Ausübung.

Vergleichbar ist die heutige Situation allerdings mit dem Entstehen der Inneren Mission in Deutschland. Vor etwa 150 Jahren vollzog sich eine ähnlich grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Die Innere Mission kann als die Bewegung in der evangelischen Christenheit Deutschlands beschrieben werden, die auf die sozialen Missstände des Industriezeitalters, die beginnende Trennung von Staat und Kirche und den Verlust religiöser Bindung gestaltend reagiert hat. Oder noch einmal anders gesagt: Die Menschen, die sich der Inneren Mission verpflichtet fühlten, wollten das kirchliche Leben erstens mit einer neuen Theologie und Frömmigkeit, zweitens mit alternativen Strukturen und Rechtsformen und drittens mit neuen Arbeits- und Organisationsformen reformieren.

Aber möglicherweise unterscheiden sich die damalige Innere Mission und die heutige in die Freie Wohlfahrtspflege eingebundene Diakonie im Blick auf die genannte Zielformulierung grundsätzlich. Während der Verein für Innere Mission in der Nachfolge Johann Hinrich Wichern auf eine generelle, organisierte und sachkundige Reaktion des evangelischen Christentums auf die sozialen Notlagen und gesellschaftlichen Veränderungen zielte, werden die Diakonischen Werke und großen diakonischen Einrichtungen kritisch auf ihre Kirchlichkeit befragt.

An dieser Stelle soll in Erinnerung gerufen werden, dass dieser Auseinanderentwicklung von Landeskirche und Diakonie 1970 durch die Bildung des Diakonischen Werkes der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig e. V. Einhalt geboten werden sollte. Dem Diakonischen Werk wurde über das Diakoniegesetz und die Satzung des Diakonischen Werkes eine integrierende Funktion zugewiesen. Es sollte die Innere Mission des 19. Jahrhunderts mit dem Hilfeansatz der Evangelischen Kirche nach 1945 in Gestalt des Ev. Hilfswerkes verbinden. Auf diese Weise sollten die verschiedenen Ansätze diakonischer Arbeit im Braunschweiger Land gebündelt werden: die der Stiftungen und Anstalten, die der Kirchengemeinden und Propsteien, die der Sozialberatung und Fürsorge. Diese Zusammenführung zielte darauf, Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche sichtbar zu machen.

Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Landeskirche und die Kirchengemeinden auf der einen Seite und die diakonischen Einrichtungen samt dem Diakonischen Werk auf der anderen Seite sich gleichwohl sehr unterschiedlich entwickelt haben. Die Rahmenbedingungen der Tätigkeiten, die Refinanzierung, die Vorstellungen von Effizienz und Erfolg, schließlich aber auch die Entscheidungs- und Führungsstrukturen sind deutlich andere.

Bedauerlicherweise kommt es aus dieser Situation heraus immer wieder zu vereinfachenden Entgegensetzungen: hier die Landeskirche, die durch Verkündigung und Gemeindearbeit Garant des Evangeliums ist, dort die dem Mammon und dem Markt verfallene Diakonie.

Richtig ist, dass die diakonischen Einrichtungen und Werke sich in einer Übergangsphase befinden. Die Selbstverständlichkeit staatlicher Finanzierung der Arbeit, mit der man über Jahrzehnte rechnen konnte, ist nicht mehr gegeben. Jetzt wird möglicherweise sichtbar, dass man trotz eigener Profilbildung "staatliche Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft" betrieben hat. Auch diese Einsicht könnten sich Möglichkeiten eröffnen, der staatlichen Vereinnahmung und ordnungspolitischen Überformung des christlichen Glaubens Einhalt zu gebieten. Eine Diakonie, die sich dieser Option öffnet, wird kritischer und eigenständiger sein. Diakonie wird unter dieser Zielsetzung kritischer, politischer, vielleicht auch streitbarer werden müssen.

Gleichzeitig findet in der verfassten evangelischen Kirche eine breite Diskussion über ekklesiologische Leitbilder, über das Pfarrerbild und christliche Lebensformen statt, die zeigt, wie intensiv über kirchenreformerische Projekte und die Ortbestimmung des Christentums in der Gegenwart nachgedacht wird.

Die Landeskirchen und ihre Gemeinden und die Diakonischen Werke und Einrichtungen stehen vor einer gemeinsamen Herausforderung. Deshalb muss es das Gebot der Stunde sein, von den Abgrenzungen zu lassen, sich gegenseitig zu stärken und das Verbindende zu suchen.

Durch die Begegnung mit den Schwestern und Brüdern aus den östlichen Gliedkirchen der EKD ist der Gedanke der Dienstgemeinschaft wieder ins Bewusstsein gehoben worden. Dieser theologische Begriff bietet einen Zugang zu einem vertieften Verständnis von Diakonie und einer diakonischen Grundlegung aller kirchengemeindlichen Arbeit.

Die Zusammenarbeit von Menschen und ihr Tätigsein sind unmittelbarer Ausdruck einer geistlichen Wirklichkeit, sie sind Vergegenwärtigung des Werkes und der Person Jesu Christi. Insofern ist der eigentliche Auftraggeber aller Diakonie der in den Armen und Elenden begegnende Christus selbst. Dienstgemeinschaft definiert auch die Beziehung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer neu: Beide sind in gleicher Weise in der Nachfolge Christi in diesen Dienst gerufen, sie haben eine gemeinsame durch Christus selbst formulierte Aufgabe.

Der Begriff "Dienst" ist die Kurzformel für die besondere und unverwechselbare Weise, wie Christinnen und Christen in der Welt sind und zu sich und anderen in Beziehung stehen.

‚Dienst’ beschreibt eine Bewegung – die der offenen Hand – oder alle anderen Gesten der Hingabe. Gabe ist Teilgabe – dies ist die intensivste Form der Begegnung und Beziehung.

Diese Geste ist verstehende und anrührende Antwort auf die Hingabe Christi an uns, seine Gegenwart – für mich im anderen. "Diakonie" ist zunächst und zuerst der biblische Ausdruck für die umfassende Geschichte und Sendung Jesu Christi zum Heil der Menschen: "Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für die vielen." (Mk 10,45)

Nichts anderes ist die Bewegung der Nächstenliebe: Sie ist Hingabe an die Welt, wirklich und ernsthaft, ganz der Welt hingegeben, in der die Nöte, die herrliche Schönheit des Kosmos und des Eros ruhen. Gefragt werden wir nach unserem Glauben an die Inkarnation Gottes. Wenn wir glauben, dass Gott sich der Welt zugewandt hat, dann geht es um die Aufmerksamkeit für seine Präsenz und für sein Wiederkommen in der Welt. Was uns hier zugemutet und geschenkt wird, ist die Aufmerksamkeit für den in die Welt versunkenen Christus. Alles ist wichtig, das Brot der Armen, die Arbeit der Menschen, ihr Schmerz und ihr Glück. Dies sind die geistlichen Orte, weil es Orte der Gottesliebe sind.

Wenn wir diese Perspektive zulassen, dann werden wir von der Neigung der Selbstprofilierung und Überforderung befreit, vielmehr sind und werden wir andere: nicht mehr Instrumente des Machtwillens anderer, nicht mehr Kunden, nicht mehr Konsumenten und Klienten, sondern Kunde von Gottes Gegenwart. Dann rückt auch der Bedürftige nicht als der Schwache in das Blickfeld, sondern als Geschöpf und Ebenbild Gottes. Auch in seinem Mangel kann uns das verdunkelte Angesicht Gottes begegnen. Die Christus- und Gottesbeziehung ist die Quelle diakonischen Tuns, aus ihr strömen die Taten der Liebe und Barmherzigkeit.

Christen tragen die Botschaft handelnd in die Welt. Sie tun das, was Jesus tat. Sie reden nicht nur von der Liebe, sie üben sie auch. So verwurzelt sich der Glaube in der Wirklichkeit. Dieses Tun hat den Grund seiner Möglichkeit in der Zuwendung Gottes zur Welt. Die Aufspaltung von Glaube und Tat wird damit aufgehoben. Glauben muss den Alltag erreichen, in der Tiefe des alltäglichen Lebens seine praktische Lebenskraft entfalten. Eine Religion, die das tägliche Leben ihrer Gläubigen nicht in der Tiefe zu bestimmen vermag, ist als Religion erledigt. Diakonie dient der Kirche mit dieser Einsicht – und ist oft selbst fern von einer solchen alltagstauglichen Theologie und Spiritualität. Gleichwohl kommt alles auf diese Perspektive an: Sie eröffnet den in sich verschlossenen Welthorizont für Gott. Der göttliche Hintergrund allen Tuns, aller Werte, aller Gesetze wird so sichtbar. Ethik und Religion sind Geschwister, Diakonie ohne religiöse Verwurzelung undenkbar.

Freilich gerät das fromme Tun so in die Zweideutigkeit menschlichen in der Welt Seins – daraus gibt es keinen Ausweg. Scheinbar sekundäre Phänomene, wie die Sorge um Arbeit, um Frieden, um Verfolgte, um die Freiheit des Menschen, seine Verwundungen, seine Krankheiten, sind nicht fern vom Eigentlichen, sondern sind dieses selbst. Die Vermischung ist die Weise Gottes in der Welt zu sein – und in seiner Nachfolge werden wir keinen anderen Weg gehen können. Wir Menschen vergeben Gott viel, aber wir vergeben ihm nicht, dass er sich in unseren eigenen Masken und Schicksalen in der Welt herumtreibt, als Heimatloser, als Fremder, als Geschlagener, als einer, der unsere Tränen weint und unseren Tod stirbt. Und doch steht es so geschrieben, dass er in Christus seinen Glanz, seinen Namen verloren hat und unseren Namen angenommen hat, den Namen der geschändeten Frau, des geschlagenen Kindes, des verjagten Fremden.

Dieser diakonische Glaube erkennt und sieht im anderen nicht das Elend, sondern das Heil und Glück seines eigenen Lebens: Christus, der durch den Tod zum Leben führt. Diakonie von Christinnen und Christen ist zuerst und vor allem diese Bewegung. Christen lassen andere teilhaben an sich.

Dienst ist also ein zentraler Inhalt des Christseins, oder das Christsein selbst. Der in der Taufe verliehen Geist begabt jede Christin und jeden Christen zu je eigenem Dienst zum Nutzen aller in der Gemeinde ( 1. Kor. 12,7).

Für das Verhältnis von Verkündigung und Diakonie folgt daraus: Der Diakonieauftrag gehört genauso in den Missionsbefehl nach Matth. 28 wie der Verkündigungsauftrag. Jedes steht neben dem anderen auf eigenen Füßen und in seinem eigenen Recht. Absoluten Vorrang hat in der Kirche nur der Diakonat Jesu Christi selbst. Darum sind die verschiedenen Zeugnisgestalten der Kirche grundsätzlich von gleichem geistlichen Rang. Dennoch gibt es einen relativen Vorrang der Wortverkündigung, weil Diakonie als Diakonie im Namen Jesu nur kenntlich wird im Zusammenhang der ausdrücklichen Anrufung und Verkündigung des Namens Jesu.

Zugleich wird dadurch der inneren Zusammenhang von Mission und Diakonie deutlich: Die Kirche kann nur dann missionarisch werden, wenn sie auch diakonisch wird – und umgekehrt!

Schließlich fördern die Quellen, aus denen wir in der Landeskirche, in den diakonischen Einrichtungen und im Diakonischen Werk schöpfen, Kriterien für die Beurteilung gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu Tage. Auf der Tagesordnung stehen gegenwärtig drei Themen: Die Würde des Menschen – in Gestalt der bioethischen Debatte; Gerechtigkeit – in Form der Teilhabe an den gesellschaftliche Ressourcen; Gemeinschaft – in Gestalt der Zuwanderungsdiskussion.

Ortsnah

Ein letztes Mal komme ich auf die Vogelperspektive zurück, die der Orientierung für eine künftige Ausrichtung diakonischer Arbeit im Landes Braunschweig dienen sollte. Nicht die luftige Höhe des Spitzenverbandes der Freien Wohlfahrtspflege eröffnet Perspektiven für die zukünftige Arbeit. Viel niedriger sollte die Flughöhe gewählt werden, so das die Lebensräume erkennbar bleiben und die Menschen in ihren Fragen und Hoffnungen erreichbar sind. Hier, zwischen Harz und Heide, kann ein orts- und menschennahes Christentum gelebt und gestaltet werden.

Das Diakonische Werk der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig e. V. ist vom Braunschweiger Land geprägt, in diesem Landstrich ist es unverwechselbar gewachsen, aus dieser Region schöpft es seine Stärke, hier liegen die Ressourcen seiner zukünftigen Entwicklung.

Diese Aussage lässt sich durch die eingangs beschriebene Vielfalt diakonischer Initiativen und Einrichtungen belegen. Noch sehr viel könnte und müsste ergänzt werden: die regionalen Arbeitsfelder und Projekte des Diakonischen Werkes, z. B. offene Sozialberatung für Menschen in Notlagen, Schuldner- und Insolvenzberatung, Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung, Kurberatung, Krankenhaussozialdienst, Beratung von Migranten. Hinzu kommen die folgenden Arbeitsfelder: Bahnhofsmission in Braunschweig und Kreiensen, Mittagstisch in Braunschweig, Koordination und pädagogische Begleitung junger Menschen im freiwilligen sozialen Jahr, Beratung und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kindertagesstätten.

Zum anderen beinhaltet der einleitende Satz auch eine Zielbeschreibung für die künftige Arbeit des Diakonischen Werkes. "Diakonie im Braunschweiger Land" lautet die Formel, die Konturen einer orts- und lebensraumnahen Ausrichtung des Diakonischen Werkes einschließt.

Erkennbare Lebensräume werden auch Regionen genannt, in denen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht neue Formen des Miteinanders entwickelt werden. Gerade hieraus ergeben sich Aufgaben für das Diakonische Werk.

Im Kern zielt die Botschaft des Evangeliums in Wort und Tat auf die Wiederherstellung von Gemeinschaft. Menschen werden aus ihrer persönlichen oder sozialen Entfremdung herausgerufen, dass sie wieder ‚Mitbürger der Heiligen’ sein können. Christinnen und Christen sind Experten bei der Konstitution von Gemeinschaft. Und diese gestaltet sich immer konkret, bezogen auf Lebensorte und Lebensräume.

Wer einen solchen theologischen und gesellschaftsreformerischen Höhenflug scheut, kann auch nüchterner formulieren: ‚Region’ ist schlicht ein Alternativbegriff zu den bekannten staatlichen und kommunalen Gliederungseinheiten wie z.B. Regierungsbezirk oder Landkreis. Anders als diese Begriffe bezeichnen Regionen Lebensräume in denen sich Menschen kulturell, sozial, wirtschaftlich orientieren. Die Rede von Regionen ist ein Reflex auf die zunehmende Mobilität von Menschen und die nachlassende Bindekraft alter Ordnungseinheiten, wie z. B. Gemeinden oder Städte.

Neue Verhaltensstrukturen und alte Verwaltungsstrukturen reiben sich gelegentlich kräftig aneinander. Im öffentlichen Raum dominiert immer noch eine deutliche Funktions- und Aufgabenteilung. Die Rollen- und Aufgabenzuweisung von Gebietskörperschaften, von Verbänden, Unternehmen, von Wissenschaft und Kirche ist funktional getrennt. Statt durchlässige und kompatible Schnittstellen zwischen diesen Systemen zu schaffen, lassen gelegentlich noch hohe Schwellen den mobilen und flexiblen Bürger stolpern.

Statt der Strukturen sollten deshalb die Menschen im Blick sein mit ihrer Fähigkeit, Lebensräume lebenswert zu gestalten. Die Adressaten von sozialen und politische Programmen müssen in die Politikgestaltung einbezogen werden. Ein kooperativer Stil der Gemeinwesenentwicklung vollzieht sich über Teilhabe und Teilgabe an Planungen. Dabei wird vorausgesetzt, dass alle Teilnehmenden Kenntnisse und Wissen besitzen, das für die Entwicklung der Region von Bedeutung ist. Regionalentwicklung ist also im Kern sozialräumliche Entwicklung und Wissensmanagement, denn die Ressourcen an sozialer, technischer und wirtschaftlicher Kompetenz sind da. In einer Region, die lange Zeit vom Bergbau geprägt war, sollte das Bild einleuchten: Die Bodenschätze der Regional- und Gesellschaftsentwicklung sind im Grunde da, man muss sie nur erschließen.

Auch der Kooperationsgedanke hat eine Entsprechung in christlichen Grundüberzeugungen und Erfahrungen. Kooperation kann als ‚Wiedergewinnung von Gegenseitigkeit’ beschrieben werden. Sowohl im Beziehungsgefüge von Zuwendungsempfänger und Zuwendungsgeber stellt der Gedanke der Gegenseitigkeit eine kritische Herausforderung dar, sondern auch im Blick auf den gesellschaftlichen Interessenausgleich insgesamt. Lobbygruppen und Verbandsvertreter, die vorrangig Eigen- und Einzelinteressen durchzusetzen versuchen, werden an Einfluss verlieren. Jetzt schlägt die Stunde derer, die das Große und Ganze im Blick haben und für die Neugestaltung der Sozialpartnerschaft Verantwortung übernehmen.

Die mit Regionalisierung und Kooperation verbunden Ziele haben nur Aussicht auf Erfolg, wenn alle Akteure in der Region, die sich diesem Thema verpflichtet fühlen, zusammenwirken. Dazu gehört insbesondere die Diakonie.

In den Augen der Bevölkerung und der sozialpolitischen Partner wird dabei nicht zwischen dem Diakonischen Werk und den Mitgliedseinrichtungen unterschieden. Wenn die Diakonie als wesentlicher sozialpolitischer Akteur für die Entwicklung der Region zwischen Harz und Heide eintreten will, dann ist Gemeinsamkeit in der Strategie, im Auftreten und in der Erscheinung notwendig. Das geschieht u. a. durch ein gemeinsames Corporate Design, durch das das Markenzeichen Diakonie nach außen und innen deutlicher als Identifikationspunkt hervortritt.

Diese Vorstellungen haben Folgen für das Verhältnis des Diakonischen Werkes zu seinen Mitgliedseinrichtungen und zur Landeskirche. Das Miteinander von Landesverband und Mitgliedseinrichtung sollte gestärkt werden. Theologische und strategische Gründe sprechen gleichermaßen dafür, sich stärker aufeinander zu beziehen als sich voneinander abzugrenzen. Nur in einem kooperativen Modell werden wir unserem Auftrag und den heutigen Herausforderungen gerecht werden können. Unter der Wahrung der Rechtsformen, der Entscheidungsbefugnisse und Prägungen werden wir das Gespräch suchen und das Bewusstsein des gemeinsamen Auftrages fördern.

Auch mit der landeskirchlichen Ebene ist die Vernetzung als Gebot der Stunde anzusehen. In den Kreisstellen entwickeln sich in Gestalt der gemeinde- und gemeinwesenorientierten Arbeit Querverbindungen zwischen dem Diakonischen Werk und den Kirchengemeinden. In Wolfenbüttel werden die Alltagshilfen gemeinsam getragen, in Goslar die Freiwilligen-Agentur. Die Überlegungen in der Propstei Braunschweig zur Quartierbildung lassen sich verknüpfen mit den gemeinwesenorientierten Projekten des Diakonischen Werkes und den Initiativen zur ‚sozialen Stadt’. Die Öffnung von Kirchengemeinden in das Gemeinwesen hinein erschließt neue Beziehungen und führt näher an die Lebensrealität der Bewohner und Gemeindemitglieder heran.

Gemeindestrukturen, wenn sie denn abgrenzbare Lebensfelder abbilden, können Zellen einer neuen Sozialkultur werden. In den Wohnquartieren finden sich Ressourcen der Unterstützung und Hilfe, wenn wir in der Lage sind, diese zu aktivieren. Es ist weder sinnvoll noch nötig, Menschen in besonderen sozialen Notlagen an zentrale Stellen zu verweisen, wo ihnen Hilfe zu Teil wird.

In den Anfangsjahren der Diakonie nannte man solche zentralen Orte ‚Anstalten’, die häufig von ihrem Umfeld deutlich abgegrenzt waren. In den letzten Jahrzehnten wurden diese Systeme geöffnet und zu ‚Orten zum Leben’. Heute wird von verschiedenen Seiten gefragt, ob ‚Heime’ zukünftig noch sinnvolle Formen der Hilfe sein können.

Es gibt deutliche Impulse die Hilfesysteme in Zukunft stärker dezentral und flexibel aufzubauen. Die Bedürfnisse der Menschen sollen dabei Vorrang haben vor den formalen Anforderungen z.B. der ‚Heimmindestbauverordnung’. Bei dieser Diskussion, die unter der Überschrift ‚Community Care’ geführt wird, sollte im Blick sein, dass es um weit mehr geht als um angemessene Orte für Menschen mit Beeinträchtigungen. Auf der Tagesordnung steht die Aufgabe der Neugestaltung der Orte, an denen wir alle leben. Die städtebaulichen Konzepte lassen sich durchaus kritisch befragen auf die sich darin ausdrückende soziale Verantwortung.

Der Aufbau von ortsnaher unterstützender und fürsorgender Gemeinschaft gehört zu diesen Konzepten einer neuen Kultur des Miteinanders. In diesem Modell wird vor allem unterstellt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Kontrolle über ihr eigenes Leben ausüben können und über den Umfang der für ihre Unterstützung notwendigen Dienste mitentscheiden können.

Solche Handlungsansätze fordern ganz neue Wege der Sozialplanung unter Beteiligung der Stadtverwaltungen, der Landkreise und der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege. Der in diesen neuen Überlegungen vorausgesetzte Netzwerkgedanke muss sich aber zunächst im vorhandenen Sozialsystem durchsetzen. Denn das Sozialsystem unserer Gesellschaft ist extrem segmentiert. Hier die Jugendhilfe und dort die Suchthilfe, hier die Schuldnerberatung und dort die Familienberatung, hier die ambulante Pflege und dort die stationäre, hier das Krankenhaus, dort der Rehabilitationsbereich. Hinzu kommt, das sich einzelne Hilfefelder strikt nach ambulanten und stationären Angeboten scheiden. Nachdem die Diakonie aus guten Gründen diesen Weg über Jahrzehnte mitgegangen ist, kommt nun der Zeitpunkt, übergreifende Zusammenarbeit einzufordern und modellhaft zu erproben. Ein Modellfall integrierter Beratung können evangelische Beratungszentren sein. In Braunschweig wird ein solcher Projekt versucht, indem die ambulante Beratung von Lukaswerk, Elisabethstift und die allgemeine Sozialberatung in einem Gebäude zusammengefasst werden. Vielversprechend sind aber auch Modellprojekte in Salzgitter und in Bad Gandersheim, die auf eine vernetze Altenhilfe zielen.

Die Struktur des Diakonischen Werkes bietet also nicht nur die Möglichkeit, durchlässige und flexible Therapieketten zwischen ambulanten, teilstationären und stationären Arbeitsformen zu bilden, sondern darüber hinaus die Therapieketten hilfefeldübergreifend zu verknüpfen.

Solche Entwicklungsschritte sind sinnvoll und werden auch von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im diakonischen Dienst gewünscht, denn eine ökonomische Optimierung des bestehenden Gesundheits- Beratungs- und Sozialsystems stellt kein überzeugendes diakonisches Ziel dar. Das Diakonische Werk kann und wird Akteur und Impulsgeber für neue Formen des sozialen Miteinanders im Gemeinwesen sein: Beispiele einer durch christliche Impulse geförderten Bürgergesellschaft stehen vor Augen. In Zusammenarbeit mit Bürgerstiftungen und Spendenparlament, sowie in Gestalt sozialräumlicher Arbeit zeigen sich neue Formen sozialer Verantwortung und gesellschaftlicher Entwicklung. Dies ist umso mehr erforderlich, weil die klassischen Wege der Sozialförderung und ihre Mechanismen in ihrer Wirksamkeit nachlassen.

Das Diakonische Werk der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig unterscheidet sich in der dargestellten ortsnahen Ausrichtung deutlich von den anderen Diakonischen Werken in Niedersachsen, aber auch von fast allen Diakonischen Werken in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Evangelische Diakonie wird anschaulich in ortsnaher Verankerung, sie entwickelt ein Netzwerk der in der Region diakonisch Tätigen und ist eingebunden in das Netzwerk der ökumenischen Diakonie. Oder um es einfacher zu sagen: Konkret und menschennah und gleichzeitig unter weitem Horizont verleiblicht sich das Evangelium. Dieser Bewegung versucht das Diakonische Werk Braunschweig zu folgen, indem es sich in gleicher Maße erdet wie öffnet.

 


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