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[Kirche von unten]

Gott dem Herrn Dank sagen

Festschrift für Gerhard Heintze

Bernhild Vögel

Wie es weiterging

Sehr geehrter Herr Heintze,

vor mir liegt Ihr Schreiben, mit dem Sie sich vor 15 Jahren bei den Autorinnen und Autorinnen der Festschrift zu Ihrem 75. Geburtstag, zu denen auch ich gehörte, bedankten. Darunter hatten Sie handschriftlich notiert: "Ihr Artikel über das Schicksal polnischer Kinder in Braunschweig, den Sie zusammen mit Herrn Schaffrath in der Festschrift beisteuerten, hat mich besonders beschäftigt. Was Sie berichten, ist auch für unsere evangelische Kirche beschämend."

Dietrich Kuessner war hartnäckig geblieben, als ich im Frühjahr 1987 auf seinen Vorschlag, für die geplante Festschrift einen Betrag über das Schicksal der Zwangsarbeiterkinder beizusteuern, etwas zögerlich reagierte. Ich hatte darauf verwiesen, dass ich schließlich kein Kirchenmitglied sei, das Ganze kein Geburtstagsthema, und überhaupt würde ich Sie gar nicht kennen. "Das Thema ist wichtig", beharrte er. Und nun, nach 15 Jahren, kommt er wieder und fragt, und ich sage sofort "ja". – "Worüber willst du schreiben?" "Das ist doch klar", antworte ich, "darüber, wie es weitergegangen ist".

Ich will aber noch einmal kurz zusammenfassen, worüber wir in der Festschrift berichteten. 1985 stieß ich in einer Veröffentlichung polnischer Autoren auf eine schreckliche Geschichte. Aber niemand hatte je in Braunschweig davon gehört. Ich begann zu forschen, zwei Jahre lang.

In einem sogenannten "Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen" kamen zwischen 1943 und 1945 mindestens 365 Säuglinge, Kinder polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiterinnen ums Leben. Die meisten starben kurz nach der erzwungenen Trennung von ihren Müttern im Alter von zwei, drei Wochen. Katastrophale hygienische Bedingungen, Vernachlässigung und unzureichende Ernährung hatten Methode. Die Neugeborenen mussten sterben, weil die Nazis ihre Existenz als rassisch minderwertig und ökonomisch wertlos erachteten. Nur Kinder, die zusammen mit ihren Müttern das "Heim" verlassen konnten, hatten eine Chance zu überleben.

Die toten polnischen Kinder wurden ohne Beisein der Mütter auf dem alten katholischen Friedhof an der Hochstraße verscharrt, die Kinder sowjetischer Mütter im Krematorium verbrannt. Die katholischen Geistlichen, die in der Entbindungsbaracke Taufen vorgenommen, die die bereits in Verwesung übergegangenen nackten Leichen in Pappkartons in der Friedhofskapelle gesehen hatten, schwiegen und stellten nach dem Krieg Mitverantwortlichen Persilscheine aus; in Velpke, Landkreis Helmstedt, wo ähnlich Grauenhaftes geschehen war, erklärte der evangelische Pfarrer, er wäre nicht "zuständig" gewesen. Wir haben damals den Artikel sehr auf "Kirche" zugespitzt; das Problem des Verschweigens und Verdrängens aber ist ein allgemeines.

Ihre nachdenklichen Worte zu unserem Artikel hatten mir damals Mut gemacht. Darum möchte ich Ihnen, aber auch allen anderen, die mich in den vergangenen Jahren ermutigt und unterstützt haben, nicht nur berichten, wie es beispielsweise mit dem Friedhof an der Hochstraße weitergegangen ist, sondern auch ein wenig davon, wie die Beschäftigung mit dem Thema mich geprägt und verändert hat.

Auf einer Veranstaltung des Arbeitskreises Holocaust in der Evangelischen Studentengemeinde Braunschweig hatte ich im Februar 1987 zum ersten Mal über das "Heim" und den Friedhof berichtet. Die lokale Presse reagierte betroffen, Eckart Spoo berichtete in der Frankfurter Rundschau. Es kamen ein paar häßliche Briefe. Dann verebbte das öffentliche Interesse. Aber der Arbeitskreis Holocaust begann zu arbeiten, auch andere kirchliche Gruppen und Pastor Fay, Pfarrer von St. Magni, machten in den kommenden Jahren immer wieder auf den Friedhof aufmerksam, mit Gottesdiensten, Jugendkreuzwegen, Holzkreuzen und einer Informationstafel. Für den Arbeitskreis Holocaust erarbeitete eine Projektgruppe an der Hochschule für bildende Künste einen Entwurf für eine Mahn- und Gedenkstätte auf dem Friedhof Hochstraße. Vertreter der Stadt, Bedienstete des Stadtgartenamtes, lehnten ihn ab.

Was hatten all diese Aktivitäten bis Mitte der 90-er Jahre erreicht? Die katholische Propstei hatte das Gelände des Friedhofs nicht klammheimlich verkaufen können. Schließlich hatte sie es der Stadt vermacht, die 1994 das verwilderte Gelände etwas roden ließ und eine kleine Tafel am Zaun anbrachte.

In der Festschrift von 1987 steht als Autorenangabe hinter meinem Namen "Sozialpädagogin". Das war ich mitnichten. 1985 hatte ich mein Studium abgebrochen. Ich hatte mich in die Arbeit über das "Entbindungsheim" gestürzt. Danach war ich psychisch mehr als angeschlagen. Aber ich wusste auch, dass mich solche Themen nicht mehr loslassen würden. Rassismus, Antisemitismus, Herrenvolk-Mentalität – ich hatte die Beispiele in der eigenen Familie. Ich konnte das nicht länger wegdrängen, musste mich damit auseinander setzen. 1989 gesellten sich zur Festschrift immer mehr Bücher zum Thema Religion. Mein Urgroßvater war Pfarrer in einem schwäbischen Dorf gewesen, seine Frau Pietistin. Sohn Karl, mein Großvater, durchlief zur Vorbereitung auf den Pfarrerberuf die Seminare von Blaubeuren und Maulbronn. Doch er wollte Künstler, nicht Pfarrer werden, und sympathisierte eine Weile mit Sozialrevolutionären und Anarchisten. Wurde Kritiker anstatt Künstler, eigenbrötlerisch, verbittert, immer in Geldnöten. Während des Ersten Weltkrieges, an dem er nicht teilnehmen durfte, fand er sein "Heil" im Antisemitismus. Manche Notizen deuten darauf hin, dass er kurz vor seinem Tod gegen Ende des Zweiten Weltkrieges doch noch darüber nachdachte, was er als "völkischer Vorkämpfer" mit angerichtet hatte – zu spät auch für den Sohn, der als Universitätsprofessor in seine Fußstapfen getreten war. Ich saß im Landeskirchenarchiv in Stuttgart, ich durchforstete Aufzeichnungen und Veröffentlichungen; je mehr ich erfuhr, desto mehr Fragen stellten sich. Und ich erkannte: dass ich diesen Fußstapfen nicht gefolgt war, lag weniger an mir, denn an den etwas glücklicheren Zeitläuften Ende der 60-er Jahre. Und allmählich ließen stellvertretende Schuldgefühle und Selbstmitleid nach – und die allzu starke Identifizierung mit den von den Nazis gequälten Kindern. Ich war weiß Gott kein Kind mehr und hatte meine Schwächen und Fehler selbst zu verantworten.

Ich habe das abgebrochene Studium 1990 schließlich wieder aufgenommen. An der Fachhochschule Hildesheim durfte ich mich hauptsächlich mit der Geschichte der Sozialarbeit beschäftigen und mein Buch über das "Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen", das – 1987 fertiggestellt – zwei Jahre später erschienen war, wurde 1992 als Diplomarbeit angenommen.

"Der Teufel ritt mich", möchte ich ja nicht schreiben, aber etwas ähnliches war es wohl, als ich beschloss, mich zumindest für das Anerkennungsjahr – dessen erfolgreiches Absolvieren mir einen lebenslangen Platz in der Sozialarbeit offenhalten würde – in eine harte Schule zu begeben. Gerade war das neue Betreuungsgesetz verabschiedet worden, mit dem die bisher Entmündigten mehr Rechte und bessere Betreuung erhalten sollten. Nach einem halben Jahr, das nicht genügte, die vielbeschworene "professionelle Distanz" zu erlangen, flüchtete ich mich in die angefangene historische Arbeit eines jungen Kollegen, der an Leukämie erkrankt war. Wir redeten und debattierten, zuletzt an seinem Klinikbett in Kiel. Die Ärzte konnten sein Leben nicht retten. Ich wusste nicht mehr so recht, was in Braunschweig los war. Zwei, drei Jahre lang waren mir auch der Friedhof Hochstraße und die Kinderschicksale sehr weit weggerückt.

Anläßlich eines Vortrages in Berlin beschäftigte ich mich 1993 erstmals intensiver mit den Müttern, den jungen Frauen aus Polen und der Sowjetunion. Wie unterschied sich ihre Situation? Die polnischen Mädchen waren in traditionellen, katholisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen, während in der Sowjetunion gesellschaftliche Umbrüche mit gravierenden Auswirkungen auf die Situation der Frauen stattgefunden hatten. Ich will es hier nur andeuten: Dass die Nazis ihnen die staatliche und kirchliche Heirat verwehrten, hielten polnische Paare nicht für Gottes Willen. Dass auch ihr "soziales Umfeld", die polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Lagern, der Meinung waren, der eheliche Vollzug sei unter solchen Umständen keine Sünde, davon zeugen die zahlreichen Teilnehmer an den Taufen.

In der Sowjetunion hatte die Frauenemanzipation in den Jahren nach der Revolution einen hohen Preis: Scheidungen am Fließband, Freigabe der Abtreibung, zahlungsunwillige Väter, existenzielle Nöte, die viele Frauen in die Prostitution trieben. Dann eine radikale Wende in der Familienpolitik: Die Frau, die Stalins prüder Moral entsprach, sollte Arbeiterin, Ehefrau und Mutter zugleich sein. Die Zwangsarbeiterinnen, geboren meist zwischen 1921 und 1925, waren in der Zeit gesellschaftlicher Umbrüche aufgewachsen. Es ist die Generation, die als "Stalins Kinder" bezeichnet wird. Sie waren Jugendliche, als die Deutschen ihr Land überfielen. Hatten ihnen ihre Mütter mehr auf den Deportations-Weg geben können als den Rat, sich irgendwie durchzuschlagen um zu überleben?

Aber das alles waren theoretische Überlegungen. Ich kannte die Mütter nicht, in den 80-er Jahren hatte es keinerlei Chance gegeben, mit ihnen in Kontakt zu kommen.

Nur Marusja, eine ehemalige russische Zwangsarbeiterin, die in Deutschland geblieben war, hatte mir von ihnen berichten können. Sie erzählte von den Demütigungen, dem Hunger, dem Verlust der Weiblichkeit in den Zwangsarbeiterlagern. "Wir rechneten mit keiner Zukunft", sagte sie, manche litten, manche wurden gleichgültig, manche nahmen mit, was sie an Lebensfreude bekommen konnten. Sie war meine einzige Zeitzeugin und sie hatte Vorurteile gegen die Frauen, die sich mit Männern "eingelassen" hatten. Aber sie hat mir auch klar gemacht, was eine Rückkehr in die Heimat mit einem im Feindesland gezeugten und geborenen Kind bedeutete, auch wenn fast alle Väter selbst Zwangsarbeiter gewesen waren. Von Vorwürfen wie: "Wir haben gekämpft und Ihr habt Euch ein schönes Leben gemacht", der Beschimpfung als "Deutschenhure", als "Kollaborateurin" würde die Palette der Verdächtigungen reichen.

1995 hielt ich anläßlich einer Gedenkveranstaltung in Velpke einen Vortrag. Kurz habe ich in der Festschrift auch dieses Heim beschrieben, in dem 35 in Braunschweig geborene Kinder und über 50 weitere ums Leben gekommen sind. In den Akten zumindest findet sich die Spur einer Ukrainerin, die ihr Kind aus der Velpker Baracke entführt hatte und dafür mit Haft im KZ-ähnlichen "Lager 21" bestraft worden war. Dass das Kind überlebte, ist nicht anzunehmen, aber weder in Braunschweig, noch in Velpke, noch am Arbeitsort der Mutter ist sein Tod beurkundet. Aber es ist bis heute die einzige sowjetische Mutter, von der ich mehr weiß, als nur dürre Personaldaten.

In Velpke lernte ich den damaligen polnischen Vizekonsul kennen. Er bat mich um Unterlagen zu den Braunschweiger Kindern und zum Friedhof Hochstraße. Das Konsulat in Hamburg suchte dann den Kontakt mit der Stadt, um eine würdige Instandsetzung des Friedhofes zu erreichen. So wie mit den Gemeindevertretern in Velpke vereinbart, sollte auch in Braunschweig im Herbst 1996 eine zweisprachige Gedenktafel eingeweiht werden. Doch die Verhandlungen darüber verliefen – wie Pastor Fay und ich miterleben mussten – mehr als beschämend. Inkompetente Gesprächspartner erklärten dem Generalkonsul ruppig, es sei kein Geld da. Ich will diese leidige Geschichte nicht wieder aufwärmen. Nur soviel: Der polnische Rat zum Schutz des Gedenkens hatte beschlossen, mir eine Medaille zu verleihen, das Konsulat jedoch sah sich außerstande, dies nach den mißlichen Vorfällen in Braunschweig zu tun. Die bittere Dankesrede, die ich dann auf dem Velpker Friedhof hielt ist in "Kirche von unten", Heft 85 abgedruckt.

Der Rat zum Schutz des Gedenkens in Warschau (eine halbstaatliche Institution, etwa vergleichbar der Kriegsgräberfürsorge) ließ im folgenden Jahr den Entwurf für eine Gedenkstätte Hochstraße erarbeiten.

Um die Jahreswende 1997/98 rief mich Andrea Röpke, eine freie Journalistin an, die etwas zu den Kinderschicksalen machen wollte. Ich war skeptisch, es war nicht das erste Mal, dass sich Journalisten gemeldet hatten, dann aber vor dem Thema zurückgeschreckt waren. Andrea Röpke aber erwies sich als eine leidenschaftliche und hartnäckige Rechercheurin. Sie las sich ein, erarbeitete ein Konzept und stieß beim "Stern" auf Interesse. Es sollte eine Geschichte über vier solcher "Heime" werden, eines davon war das Braunschweiger.

An einem strahlenden Frühlingstag stand ich mit Jan Wiechmann, dem Redakteur, der die Geschichte schreiben wollte, vor dem Braunschweiger Rathaus. Er war wütend. Unter vielen Schwierigkeiten hatte er einen Interview-Termin beim damaligen Oberbürgermeister erhalten und mich mitgenommen. Mürrisch und sichtlich desinteressiert hatte sich das Stadtoberhaupt präsentiert.

Dennoch, es war nicht zu übersehen, dass in der Stadt etwas in Gang gekommen war. Das lag an einer jahrelang schwelenden und 1994 eskalierten Situation um das 1837 errichtete Schilldenkmal, das 1955 zum Gedenken an die gefallenen Braunschweiger Soldaten des Zweiten Weltkrieges neu geweiht worden war. Am Schilldenkmal fanden alljährlich die Feierstunden zum Volkstrauertag statt – unmittelbar neben dem Gelände eines ehemaligen KZ-Außenlagers. Direkt aus Auschwitz hatte man die jüdischen Häftlinge antransportiert. Ihr Leiden und Sterben war ebenso vergessen wie das der osteuropäischen Kinder. Auch hier hatte es Anfang der 90er Jahre Initiativen gegeben – eine Holztafel, Schweigekreise – bis 1994 autonome Gruppen laut und vernehmlich gegen das Gedenken an die Täter protestierten. Die Stadt kam in Zugzwang und schrieb 1996 einen Wettbewerb zur Gestaltung einer Gedenkstätte aus. Ende 1997 nahm die Hamburger Künstlerin Sigrid Sigurdsson ihre Arbeit in Braunschweig auf. Was ich darüber in der örtlichen Presse las, bestätigte mein Vorurteil: Was konnte man von der Stadt anderes erwarten als die Entscheidung für einen schlechten Entwurf? Einige Zeit später – im widerwillig aufgenommenen Dialog mit Sigrid Sigurdsson – merkte ich rasch, dass ich mich getäuscht hatte. Allerdings hatten sich auch einige Leute in der Stadtverwaltung getäuscht. Die Künstlerin erwies sich zunehmend als unbequem und hartnäckig. Sie suchte und fand den Dialog mit allen, quer durch die politischen Fraktionen und Meinungen, um einen Prozess des Erinnerns in Gang zu setzen. Weil die Stadt die autonomen Gruppen nicht zur Eröffnung der Gedenkstätte einladen wollte, hätte sie die Veranstaltung beinahe platzen lassen. Sie erreichte, dass alle da waren.

Ich war bei diesen Geschehnissen nur Zaungast. Ich recherchierte 1997 für eine biographische Studie über einen Romanschriftsteller, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelebt hatte, ein konvertierter Jude, der Zeit seines Lebens unter dem Konflikt, Jude und Christ zu sein gelitten hatte, ein Schriftsteller ohne materiellen Hintergrund, immer am Rande des Abgrundes, ein Unsteter, den man schließlich wegen Hochstapelei und Wechselfälschung ins Gefängnis warf. Ein Mann, dessen letztes Buch "Der Jude des 19. Jahrhunderts" hieß, erschienen im Revolutionsjahr 1848. Es gab nur noch ein einziges Exemplar – in der Universitätsbibliothek von Los Angeles. Ich flog hin, um es zu lesen. Ich hatte mich bewusst in eine andere Zeit "geflüchtet", um nicht immer um das Thema Nationalsozialismus zu kreisen – allerdings waren auch im frühen 19. Jahrhundert Hass und Vorurteile gegen jüdische Bürger virulent, wenn auch noch religiös verbrämt.

Ende 1997 waren die Recherchen beendet, ich versuchte zu schreiben und scheiterte im Ansatz. Der Abstand fehlte. Die Gedenkstätte Schillstraße faszinierte mich, der spröde Ort mit dem Podest, von dem man in das Postgelände sehen kann, dorthin wo ehemals die Baracken des KZ-Lagers standen. Die leeren Tafeln an der Mauer mit der Aufforderung von Sigrid Sigurdsson: "Braunschweig eine Stadt in Deutschland erinnert sich". Und das "Invalidenhäuschen", ein Bau aus Jahre 1840, eine Minikapelle mit Wärterwohnung für das Schilldenkmal. Schill, ein preussischer Offizier hatte – gegen den Willen des preußischen Königs 1809 ein Freikorps gegen Napoleon aufgestellt und war in Stralsund gefangen genommen und enthauptet worden. 14 seiner Offiziere hatten die Franzosen in Braunschweig hingerichtet. In dem Invalidenhaus, das die Stadt zur Verfügung stellte, arbeitete ich nun mit Schülergruppen zum Ort: Napoleonische Zeit, Nationalismus, Nationalsozialismus, Konzentrationslager.

Sigrid Sigurdsson hatte ihre Arbeit nach der Eröffnung der Gedenkstätte intensiviert, ihr Projekt "Offenes Archiv" drängte Braunschweiger Bürger und Organisationen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Über 60 Personen und Institutionen hatten Kassetten erhalten mit der Aufforderung, die darin enthaltenen Blätter mit Erinnerungen, Gedanken und Reflexionen zu füllen. Auszüge aus den Texten erscheinen nach und nach auf den vordem leeren Tafeln der Gedenkstätte."Braunschweig eine Stadt in Deutschland" erinnert sich.

Zu schreiben, wir hätten in den vielen Jahren zuvor nichts erreicht, wäre sicher nicht richtig. Aber der Druck von außen, sei es nun durch die Arbeit von Sigrid Sigurdsson oder die Stern-Recherche, bewirkten doch eine sichtliche Beschleunigung. So war es auch beim Friedhof Hochstraße. Die Stadt hatte den polnischen Entwurf für eine Gedenkstätte abgelehnt, nun aber, noch vor Erscheinen des Stern-Artikels (das sich bis November 1998 verzögerte) kamen ernsthafte Gespräche mit dem polnischen Konsulat zustande. Ein Gremium wurde gebildet, das eine Ausschreibung unter deutschen und polnischen Künstlern für eine Gestaltung der Gedenkstätte Friedhof Hochstraße durchführen sollte. Meine Meinung in dieser Frage stand fest: ich war für den vorliegenden polnischen Entwurf, dieses "Implantat". Unsere Chance war nach mehr als zehn Jahren folgenloser Debatten vertan. Die Vertreter der Opfer sollten nun selbst die Form des Gedenkens bestimmen.

Während der Recherche zum Stern-Artikel bestand meine Aufgabe unter anderem darin, eine Liste mit Orten zu erstellen, in denen sich die von Himmler zynisch als "Ausländerkinderpflegestätten" bezeichneten Kinderlager befunden hatten, bzw. auf Grund von Kindergräbern, Aktenhinweisen etc. vermutet werden konnten. Es waren in den 90-er Jahren einige Forschungsarbeiten entstanden, für Niedersachsen war ein fast flächendeckendes Netz solcher Einrichtungen nachgewiesen, andere Bundesländer aber waren kaum oder gar nicht erforscht. Über 300 Hinweise bzw. konkrete Einrichtungen konnte ich finden – eine erschreckende Bilanz, doch längst noch nicht die ganze Wahrheit.

Unterdessen arbeitete Sigrid Sigurdsson an einem lange gehegten Projekt. Eine historische Karte des Großdeutschen Reiches, übersät mit schwarzen Markierungspunkten: "Deutschland – ein Denkmal". Stätten der Haft, des Leidens, des Todes, KZ-Lager, Ghettos, Haftstätten der Gestapo. Eine Arbeit, die auch deutlich machen sollte, dass ein zentrales Mahnmal nicht die Lösung sein konnte. Wir diskutierten, ob die Kinderlager in diese Karte aufgenommen werden konnten; aber hier gab es zu viele Fragezeichen, zu viel Unerforschtes. Zusammen mit meinem Sohn machte ich mich an die Erarbeiten eines Computerprogramms, das Informationen über die Kinderlager und Kartenausschnitte enthielt. Auf den Karten konnte man Orte anklicken und erhielt Daten über das jeweilige Lager oder Hinweise, dass an dem Ort weitergeforscht werden müsste. Als Leihgabe an das Projekt "Deutschland ein Denkmal" war das Programm "Krieg gegen Kinder" bei der Ausstellung "Archive des Erinnerns" dabei, die im November/Dezember 1998 in der Burg Dankwarderode die Beiträge der Braunschweiger zum Offenen Archiv präsentierte.

Während der Ausstellung erschien in zwei Teilen der Stern-Report. Ich übernahm es, die Leserbriefe zu beantworten. Die meisten bezogen sich auf die Karte und die genannten Orte. "Was war bei uns? Wissen Sie Näheres?" Über 60 Briefe, Emails, Anrufe kamen – eine Resonanz, mit der wir nicht gerechnet hatten. Es kamen auch Hinweise auf bisher nicht bekannte Lager. Wir mussten das Programm überarbeiten, bevor es im Frühjahr 1999 mit "Deutschland ein Denkmal" ins Karl-Ernst-Osthaus-Museum nach Hagen wanderte. Dort arbeiteten Museumsmitarbeiter an einer Fassung von "Deutschland – ein Denkmal" fürs Internet. Schließlich auch stellten wir uns um: die Arbeit an dem Programm war mühsam, die Nachfrage nach der CD-ROM gering. Das Internet bietet die Möglichkeit, dass jeder am Thema interessierte, jeder Forschende insbesondere, hier Informationen, Daten und Literaturhinweise abrufen kann. Inzwischen gibt es pro Monat ca. 600 Zugriffe auf die Seite. Sicher sind darunter auch etliche, die sich auf der Suche nach anderen Themen vertan haben, viele aber kommen sehr gezielt, denn die Seite ist gut "verlinkt" (von einem Buch würde man sagen, es wird vielfach zitiert; nur hat man im Internet das Verlinkte nach einem Mausklick auf dem Bildschirm). Derzeit enthält www.krieggegenkinder.de 388 Ortseinträge, neue werden hinzukommen.

Ich war nicht dabei gewesen, als Frau Pfeiffer in Stettin für den Stern-Bericht interviewt wurde. Karl Liedke, ein in Polen geborener Historiker, der über polnische Zwangsarbeiter in Braunschweig gearbeitet hatte, hatte sie gefunden und den Kontakt hergestellt. Frau Pfeiffer, Zwangsarbeiterin bei Büssing, hatte sich mit einem deutschen Arbeiter befreundet. Ihr Kind musste dennoch im "Entbindungsheim" bleiben. Es erkrankte und starb. Ich war auch nicht in Stettin, als wir mit Volker Steinhoff zusammen einen Fernsehbeitrag für das ARD-Magazin Panorama erarbeiteten. Es war nicht nur das begrenzte Budget, ich drängte auch nicht darauf. Gespräche mit den Müttern zu führen, hätte zur Konsequenz gehabt, das seit langem vergriffene Buch zu überarbeiten und zu ergänzen. Davor schreckte und schrecke ich zurück.

Während wir an der Fernsehdokumentation arbeiteten, war die Auseinandersetzung um die Entschädigung in eine entscheidende Phase getreten. Amerikanische Anwälte bereiteten Sammelklagen gegen deutsche Firmen vor. Eine Klägerin hatte ihr Kind im VW-Kinderlager in Rühen verloren. Über dieses Heim berichteten wir und auch über die Klage. Ich kam mit der Historikerin Linda Bixby, die für den Anwalt Hausfeld arbeitete, in Kontakt, sie benötigte Informationen zu Rühen und den historischen Kontext. Im nach hinein ist mir klar, dass sie mehr wissen wollte, als für die Sammelklage nötig war und ihre Wissbegier brach auch nicht ab, als die Klage eingereicht war. Ich beantwortete ihre Emails und schickte Unterlagen. Ich traf sie nie, obwohl sie während der zähen Auseinandersetzung um den Entschädigungsfond oft in Berlin war. Das, was ich nie zu hoffen gewagt hatte, musste dann irgendwann während der langen passiert sein. Ich habe es erst erfahren, als ich Anfang letzten Jahres – also lange Zeit nach den Verhandlungen – ein Antragsformular in Händen hielt. Dort gibt es eine gesonderte Rubrik, in der Personen eine erhöhte Entschädigung beantragen können, wenn sie ein Kind in einem Kinderlager verloren haben oder wenn sie als Kind in einem Kinderlager psychische oder physische Schäden davongetragen haben.

Als der Panorama-Beitrag "Todeslager für Babys" im Mai 1999 ausgestrahlt wurde, hatte ich mich gerade auf ein Projekt eingelassen, an dem ich noch heute arbeite. Für das Bergbaumuseum Der Rammelsberg in Goslar begann ich über Zwangsarbeit im ehemaligen Erzbergwerk zu forschen. Im Dezember 1999 hatte ich das erste Mal in der Ukraine ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter besucht und im Frühjahr 2001 bereitete ich die zweite Reise vor. Dabei gingen mir die Frauen, die ihre Kinder verloren hatten, nicht aus dem Kopf. Ich hatte in den Archiven der Region, ich hatte auch bei VW nachgefragt: Hier hätten ihre Anfragen nach Bescheinigungen über ihre Zwangsarbeit und den Verlust der Kinder eintreffen müssen. Ich hatte meine Karteikarten und Listen nach und nach in eine Datenbank eingearbeitet, und die Daten der Frauen den Archiven zur Verfügung gestellt. Aber die Frauen meldeten sich nicht, um ihre Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

Es war ein günstiger Zufall, dass einen Tag nach unserer Ankunft in Kiew ein Treffen der regionalen Vertreter des ukrainischen Zwangsarbeiterverbandes stattfand. Ich konnte dort kurz das Thema ansprechen; eine Diskussion darüber aber wurde nicht zugelassen; wir mussten sofort nach der Rede den Saal verlassen. Ich ließ einiges Material und Namenslisten dort und bat, die Frauen zu suchen, die in der Region Braunschweig gearbeitet haben und von denen ein Teil (dies war aus den Listen nicht ersichtlich) Kinder verloren hat. Aber an den Reaktionen merkte ich, dass nur wenige bereit waren, ernsthaft nach den Frauen zu suchen. Unsere Gespräche mit den ehemaligen Zwangsarbeitern des Rammelsberges, ausführlicher und vertrauter als beim ersten Besuch, machten mir überdies klar, dass das Etikett "Volksfeind", mit dem alle aus Deutschland zurückgekehrten Zwangsarbeiter in der Stalinzeit belegt wurden, an ihnen haften geblieben war – bis auf die heutige Zeit. Viel schlimmer waren aber die Frauen dran, die man dazu noch als "Deutschenhuren" diffamierte. Wenn es einer Frau gelungen war, Geburt und Tod des Kindes zu verheimlichen, schwieg sie darüber – bis heute. Eine verächtliche Geste oder Bemerkung war die erste Reaktion bei fast allen Menschen, mit denen ich in der Ukraine über diese Frauen sprach. Wenn ich dann erklärte, dass nahezu alle Väter selbst Zwangsarbeiter gewesen waren, wenn ich die Situation in den "Heimen" schilderte, wurden die Reaktionen verständnisvoller. Aber eine Reserviertheit, eine Scheu sich mit dem Thema zu beschäftigen, blieb.

Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, dass es keine öffentlichen Informationen über den Entschädigungsanspruch dieser Frauen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gab. In Polen bestand, so wurde mir von verschiedenen Seiten versichert, das Problem mangelnder Information und gesellschaftlicher Stigmatisierung nicht. Allerdings ist es auch hier so, dass sich kaum Frauen meldeten.

Kurz nachdem ich aus der Ukraine zurückgekehrt war, wurde die Gedenkstätte Friedhof Hochstraße eröffnet. Der von der Stadt eingesetzte Gedenkstättenarbeitskreis hatte sich entschieden, den Entwurf nur unter polnischen Architekten und Künstlern auszuschreiben. Unter diesen Voraussetzungen hatte ich mich bereit erklärt, bei der Erarbeitung der Texte und der Erstellung der Namenslisten mitzuarbeiten. Der prämierte Entwurf der Gruppe Solyga sagte mir zu. Er erstreckte sich über das gesamte Gelände des Friedhofes. Der Waldorfkindergarten, der in den 70-er Jahren von der katholischen Propstei einen Teil des Friedhofes erworben hatte, räumte das Gelände; die Stadt stellte ein Ersatzgrundstück bereit. Plötzlich ging alles reibungslos. Plötzlich spielten keine Kinder mehr in einer Sandkiste, unter der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kindergräber befunden hatten.

Die Übergabe der Gedenkstätte Friedhof Hochstraße am 8. Mai 2001 war eine feierliche und bewegende Veranstaltung. Auch wenn dabei Personen auftraten, die lange Jahre nichts anderes getan hatten, als ihr Desinteresse am Friedhof und damit an dem Schicksal der Kinder zu bekunden.

Viele Braunschweiger waren auf den Friedhof gekommen, wo aber waren die Angehörigen der Kinder? Angereist waren eine Mutter in Begleitung ihrer Tochter und zwei Halbschwestern von Kindern, die hier begraben lagen. Frau Mieczkowska hat noch jahrelang das Strampelhöschen mit sich herumgetragen. Ihr Sohn Robert war bereits tot, als sie es ihm bringen wollte. Karl Liedke hatte sie seinerzeit interviewt; ich wollte sie nicht auch noch mit Fragen behelligen. Es gab auch nichts zu fragen. Der Schmerz der 80-jährigen Frau sprach für sich.

Frau Pfeiffer war gesundheitlich nicht in der Lage anzureisen. Es kam Krystyna, ihre Tochter. Erst nach der Veröffentlichung der Geschichte ihrer Mutter im "Stern" hat sie von Rozalia, der toten Schwester, erfahren.

Tamaras Mutter, die bereits vor vielen Jahren verstorben ist, hatte ihrer Tochter früh vom Schicksal des kleinen Ryszard erzählt. Allerdings war sie nach dem Krieg nicht nach Polen zurückgekehrt, sondern hatte sich in Deutschland verheiratet. Jahrzehnte lang hatte sie versucht, eine Entschädigung für die Zwangsarbeit und den Tod ihres Sohnes zu erlangen. Das endgültige Aus sprach 1970 das Bundesverwaltungsamt mit folgender zynischen Begründung: "Ihre Verbringung zum Arbeitseinsatz erfolgte nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem fremden Staat oder zu einem nichtdeutschen Volkstum. Sie war vielmehr eine Maßnahme zur Beseitigung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften, von der Personen aller Nationalitäten betroffen wurden. Die von der Antragstellerin vorgetragenen Umstände des Arbeitseinsatzes sind nach eingehender Würdigung auf die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen im Verlauf des Krieges zurückzuführen. Die von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen haben die von der Antragstellerin vorgetragenen unmenschlichen Bedingungen während ihres Arbeitseinsatzes nicht bestätigen können. Auch die von der Antragstellerin vorgetragene auf behördliche Anordnung hin erfolgte Tötung ihres Sohnes am 13.7.1944 ist nicht nachgewiesen worden."

Ob Tamaras Mutter, Frau Pfeiffer oder Frau Mieczkowska, sie haben ihr Leben lang unter dem Verluste des Kindes gelitten. Es sind drei Frauen von mindestens 365 Müttern, die in der Brauschweiger Baracke ihre Kinder verloren haben. Viele von ihnen sind nicht mehr am Leben. All die anderen haben wohl nie über die traumatischen Ereignisse geredet und sind nun nicht in der Lage, ihrem Ehemann, ihren Kindern zu erklären, was damals geschah. Wenn sich die eine oder andere doch, etwa durch veränderte Lebensumstände, dazu entscheidet, wird es zu spät sein, Entschädigungsansprüche zu stellen.

Ich kann die Frauen verstehen, aber ich kann mich nicht damit abfinden. Wie einige andere Personen und Institutionen in der Bundesrepublik habe ich vor Ende der Antragsfrist, dem 31.12.2001, stellvertretende Anträge auf Entschädigung gestellt für über 650 Zwangsarbeiterinnen, die in Braunschweig und Umgebung beschäftigt waren. Wir haben eine Frist bis Mitte Juni erhalten, die Menschen zu finden. Die Listen mit den Namen sind an die nationalen Stiftungen, die die Entschädigungsanträge bearbeiten, versandt worden. Wir werden nicht viel mehr machen können. Ein paar Monate reichen nicht, um mangelnde Information, Stigmatisierung und Scham zu überwinden. Für alle Antragsteller gilt, dass die Frist zu kurz war. Für die Frauen aber, die ihre Kinder verloren haben, darf es keinerlei Begrenzung der Antragsfrist geben.

Ich bin am Ende meines Berichtes. Wenn ich die 15 Jahre noch einmal überblicke, bleibt für mich als wichtigste Erkenntnis: Gerade wenn man sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt, darf man vor den Folgen und Wirkungen, die bis heute und darüber hinaus reichen, nicht die Augen verschließen. Mir fällt auf, dass sich meine Blickrichtung änderte: von den Toten zu den Lebenden, von der Historie zur Gegenwart. Und das ist, glaube ich, eine notwendige Entwicklung.


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