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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Download des Textes mit Fussnoten als pdf hier)


„Mit Gott? – Für Kaiser, Volk und Vaterland“

Vortrag am 19. März 2014 in der Akademie
von Dietrich Kuessner



Eigentlich fing alles sehr gut an. Die Bedingungen des Friedens für ein gelingendes Miteinander unter den Völkern Europas waren formuliert und veröffentlicht. Nämlich: 1) allmähliche Mitwirkung des Staatsvolkes an der Regierung; 2) schrittweiser Abbau der Armeen, 3) keine Einmischung in die Angelegenheiten des Nachbarvolkes, 4) Respektierung eines Völkerrechtes, das diese Bedingungen kodifiziert, 5) Schaffung einer internationalen Institution, die die Einhaltung des Völkerrechtes beobachtet und beaufsichtigt. So hatte es Immanuel Kant in seiner Arbeit „Zum ewigen Frieden“ vorgeschlagen.
Diese Bedingungen für einen Völkerfrieden in Europa wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts von drei Schichten überdeckt. Auf die Besetzung der deutschen Länder durch Napoleon reagierten die Deutschen mit einem pathetischen Widerstandsnationalismus auch gegen die Ideale der französischen Revolution.. „Deutsche Freiheit, deutscher Gott, Deutscher Glaube ohne Spott, Deutsches Herz und deutscher Stahl sind vier Helden allzumal“, dichtete Ernst Moritz Arndt, und vom Dichter und Musiker Theodor Körner blieben im öffentlichen Bewusstsein „Lützows wilde verwegene Jagd“ hängen und die Verse „Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen,“ und „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“.
Eine zweite, die Friedensinitiative Kants verdeckende Schicht wurde durch den attraktiven, jungen Juraprofessor an der Berliner Universität Friedrich Julius Stahl gelegt. Stahl war auch Mitglied des preußischen Oberkirchenrates und Verfasser grundlegender Werke über das Staatsrecht. Gegen die wachsende Säkularisierung und gegen die Entkirchlichung im 19. Jahrhundert entwarf er das Bild vom christlichen Staatsmann, vom christlichen Staat, von der christlichen Schule und das Leitbild der christlichen Familie und Ehe. Stahl polemisierte gegen Liberalismus, gegen republikanische Ansichten sowie gegen einen philosophischen Atheismus seiner Zeit. In diesem Gedankengebäude hatte auch der Krieg seinen Platz. Stahl begrüßte den von Preußen gegen Dänemark geführten Krieg (1848-1850).
Paradebeispiel eines christlichen Staatsmannes war in der Folgezeit Otto v.Bismarck. Bismarck verdeckte mit einer dritten Schicht durch seine Militärpolitik die Friedensvorschläge Kants.
Mit den drei sog. „Einheitskriegen“ gegen Dänemark, Österreich und Frankreich schuf er eine problematische, äußerliche, deutsche Einheit aus „Blut und Eisen“, das deutsche Kaiserreich. Darin entwickelten sich ein Radikalnationalismus, ein den Staatshaushalt dominierender Vorrang des Militärischen samt wachsender Aufrüstung und ein Christentum, das die Nation zum Heilsgut erhob. In dieser Atmosphäre erstand die Parole „Mit Gott für Kaiser, Volk und Reich,“ „mit Gott für Kaiser, Volk und Vaterland.“
Dieses friedensgefährdende Gemisch erstickte die von Kant genannten Bedingungen des Friedens. Es verbreitete sich durch Kriegerdenkmäler und Kriegervereine in Stadt und Land Braunschweig.. In Schladen , Hornburg , Broitzem , in Schöppenstedt, erinnerten sie mal mit einem gespreizten Adler, mal mit der siegreiche Germania und Lorbeerkranz an die „im Kampfe gegen Frankreich in den Jahren 1870/71 gefallenen Söhne“. „Dank an Gott, der uns den Sieg verliehen. Ehre und Ruhm den Braven, die ihn uns kämpfend errungen,“ ist unter die Germania in Schöppenstedt eingemeißelt. Das Friedenszentrum Braunschweig hat dazu 1989 eine Ausstellung im Altstadtrathaus veranstaltet und eine Informationsbroschüre herausgegeben.
Gepflegt wurden diese Kriegerdenkmäler von den Kriegervereinen, die nach 1871 die übliche dörfliche Vereinslandschaft von Turnverein und Gesangverein ergänzten und politisierten. Im Herzogtum Braunschweig verdoppelte sich fast die Zahl der Kriegervereine von 186 Vereinen im Jahre 1900 auf 322 Vereine im Jahre 1913 mit 28.023 Mitgliedern.
Zwischen Pfarramt und Kriegerverein bestand ein enges Verhältnis. Am Tag von Sedan, dem 2. September, fanden in den sonst schlecht besuchten Dorfkirchen rappelvolle Festgottesdienste statt, zu denen die Kriegervereine in Uniform und mit Traditionsfahnen zum Gottesdienst erschienen. Hier wurden die Heldengeschichten überliefert, wie sie der leitende evangelische Feld-Geistliche Bernhard Rogge ein Jahr nach dem Krieg, 1872, veröffentlicht hatte, z.B. diese: Als ein zurückflutender, fliehender Trupp deutscher Soldaten das heranmarschierende Regiment in Panik versetzt, bittet Divisionspfarrer Moldenhauer den Kommandeur einige Worte an das Regiment richten zu dürfen. Er galoppiert an den voranmarschierenden Soldaten vorbei und hält, sich umwendend, folgende kurze Ansprache: „Soldaten, wir gehen dem Feind entgegen. Seid getreu bis in den Tod. Kraft meines Amtes vergebe ich Allen, die bußfertig ihre Sünden bereuen und sich des Verdienstes Jesu Christi im Glauben getrösten, im Namen des dreieinigen Gottes ihre Sünden. Der Herr wolle euch gnädig und barmherzig sein. Haltet ein kurzes Gebet. Wählt euch als Losung: Gott mit uns, Immanuel, und dann: „Mit Gott für König und Vaterland. Vorwärts mit Hurrah“! Und dreimal stimmte das Bataillon ein dreimal donnerndes Hurrah an.“ Das habe ermutigend und beruhigend auf die aus Gravelotte herausgeflohenen Scharen gewirkt, meinte Rogge. Tatsächlich war diese Formel der Ausdruck einer von der politischen und militärischen Führung missbrauchten Generation.

„Vorwärts mit Gott“ so hatte Kaiser Wilhelm II. seine Ansprache zu Beginn des 1. Weltkrieges am Mobilmachungstag 1914 beendet, „Vorwärts mit Gott für Deutschland“ so hatte Bischof Johnsen seinen Aufruf an die Braunschweiger Gemeindemitglieder zu Beginn des 2. Weltkrieges am 4. September 1939 beendet. „Vorwärts mit Gott“ war die Redeweise, die den Sieg garantieren sollte. „Gott mit uns“ bedeutete: „Gott hilft streiten und siegen“. „Franzosen und Russen im Bunde vereint/ und ihnen zur Seite der Brite/ sie haben uns zu zertreten gemeint/ mit schweren, wuchtigen Tritte/ wir aber stehen und heben das Haupt/ es kann ja nicht fallen, wer hofft und glaubt/ Gott hilft streiten und siegen.. die Söhne kämpfen der Väter wert/ für Deutschlands Freiheit und Ehre/ und über uns breitet vom Himmelszelt/ die segnenden Hände der Herr der Welt/ Gott hilft streiten und siegen“, reimte Pastor Ernst Fischer aus Gr. Vahlberg.
Wenn Gott genannt wurde, wurde zugleich der Kaiser mitgedacht. Die Formel „Mit Gott für Kaiser und Reich“ legte diese Gleichsetzung nahe. Zu Kaisers Geburtstag wurde der Bevölkerung von der Propaganda diese Identifizierung in den Mund gelegt. Im Kriegsjahr 1917 veröffentlichte das Braunschweiger Volksblatt zu Kaisers Geburtstag „des deutschen Volks Antwort an den Kaiser.“ „Wir stehen bis zum letzten Streich/ mit Gott für Kaiser, Fürst und Deutsches Reich/ Wir klagen nicht, wir zagen nicht/ wir schwören heut aufs neue/ dem Kaiser Wilhelm Treue“. „Werden wir siegen? Wie kannst du fragen! Werden wir siegen? Mit Gott! Mit Gott.“ Die banale Einsicht; dass der Sieg zugleich die Niederlage des anderen ist, der auch um den Sieg gebetet hat, blieb im Dunkeln.
Unter der Parole „Mit Gott für Kaiser, Volk und Vaterland“ endete der Deutsch-französischen Krieg 1870/71 mit seinem, Frankreich demütigenden Ergebnis, nämlich dem unfreiwilligen Ende des französischen Kaiserreiches, dem Verlust wirtschaftlich attraktiver Gebiete samt 5 Milliarden Goldmark Reparationen. Unter dieser Parole endete auch der Erste Weltkrieg mit einem für das Deutsche Reich demütigenden Ergebnis, nämlich dem unfreiwilligen Ende des deutschen Kaiserreiches, dem Verlust wirtschaftlich attraktiver Gebiete, samt Milliarden von Goldmark an Reparationen.

Die Redeweise „mit Gott“ ist noch heute für jeden Frommen eine Selbstverständlichkeit. „Mit Gott ins neue Jahr“, „mit Gott fang ich mein Tagwerk an“, „mit meinem Gott geh ich zur Ruh.“ Insofern sprach der Kaiser für die gläubigen Deutschen eine Selbstverständlichkeit aus. Wer „mit Gott“ sein Leben gestaltet, wird Behütetsein und Führung erleben, aber auch die Verschlossenheit, die Zurückgezogenheit, das Schweigen Gottes, also eine Phase ohne Gott. Das Verräterische der von Kaiser Wilhelm gebrauchten Formel ist die Instrumentalisierung Gottes für den Sieg der deutschen Seite.

Wie ist diese Formel zu deuten? Der Unterschied zwischen einem Chronisten und einem Historiker ist der, das der Chronist die Ereignisse aufzählt und beschreibt. Der Historiker deutet sie und gibt dem Leser ein Verstehensmuster an die Hand. „Deutung des Untergangs“ lautete eine Überschrift gestern in der Süddeutschen Zeitung zum Gesamtwerk eines Althistorikers. So verstehe ich meine Aufgabe an diesem Abend und greife auf eine Deutung des Weltkrieges aus dem Jahre 1919 zurück.

Martin Bücking, Pfarrer an der Braunschweiger Katharinenkirche, der im Auftrag des Herzogs noch während des Ersten Weltkrieges ein „Vaterländisches Kriegsgedenkbuch“ mit insgesamt 20/21 fortlaufenden Heften herausgegeben hatte, zog im letzten Heft 1919 folgendes deutende Resume: „..wer aber zugibt, dass der Krieg, den Deutschland durchmachte, nichts anderes als eine schwere Erkrankung gewesen ist, der wird noch nicht zu verzweifeln brauchen. Schon zu Beginn des Weltkrieges hatte der Magnipfarrer Emil Schomburg im Braunschweiger Sonntagsblatt Dezember 1914 ein Wort von Goethe aus dem Jahre 1806 veröffentlicht, wonach der Krieg eine Krankheit sei. Dieser Gedanke kehrte wieder in einer Arbeit eines Soldaten, der den ganzen Krieg 14 – 18 als Sanitätsarzt mitgemacht hatte, dann Kinderarzt in Prag wurde und 1931 eine Arbeit veröffentlichte unter dem Titel „Der Krieg als Krankheit“. Diese Abhandlung von Dr. Emil Flusser, seinerzeit mit einem Geleitwort von Albert Einstein versehen, wurde 2004 von der Dänischen Friedensakademie erneut herausgebracht. Schließlich hat Eugen Drewermann 2002 gegen die von Amerika ausgehenden Kriege die Abhandlung veröffentlicht „Krieg ist Krankheit, keine Lösung“. „Der Krieg ist eine Wunde in der Seele der Menschen, schreibt er, „deren Schmerz nach immer grausameren Taten ruft, doch kein Krieg schließt die Wunde, jeder neue Krieg, jede Fortsetzung des Krieges, macht sie von Mal zu Mal nur noch tödlicher.“
Zu einem Versuch, diese Wunde zu betäuben oder zu schließen, rechne ich die Lüge von der überwältigenden Kriegsbegeisterung der gesamten Bevölkerung. Gewiss, es gab Begeisterung bei der akademischen bürgerlichen Jugend., auch bei einem Teil der junger Künstler. Aber die vorwiegende Stimmung im Braunschweigischen war eher gedrückt. Die Braunschweiger Neuste Nachrichten berichten von der ersten Reaktion auf die Nachricht von der Mobilmachung bei der Menge vor dem Braunschweiger Schloß: „Im ersten Augenblick stockte einem jedem der Atem in der Brust. Trotzdem der Befehl ersehnt ist, jetzt, wo er gegeben ist, erschüttert er alle, läßt auch den Tapfersten erblassen..Die Frauen weinen. Bei ihnen spricht nur das Gefühl, sie ahnen das schwere Unglück, das über das deutsche Vaterland hereinbricht. Von der Stimmung in Wolfenbüttel berichtete das Kreisblatt: „So hatte alle Unterhaltung und alle Gespräche eine ernsten Unterton, gestimmt auf den bevorstehenden oder schon erfolgten Abschied“ . Pastor Schomburg bemerkte bei seinem Rundgang wenige Tage später durch die Stadt den täglich wechselnden Stimmungsumschwung. „Das Ergreifendste in diesen Tagen war mir der Ernst, der auf der Bevölkerung lag.“
Vor allem in den Landgemeinden war die Stimmung im Gegensatz zu der in den Städten „stiller und ernster“, berichtete Pastor Friedrich Sorge aus Hondelage. „Die erste Wirkung des Kriegsausbruches war niederschmetternd. Die Leute standen vor ihren Türen, als der Mobilmachungsbefehl bekannt gegeben wurde, wie vor den Kopf geschlagen,“ berichtete Pastor Oelze von seiner Gemeinde Wieda.
Die ausführlichste Schilderung dieser Tage stammt aus der Feder von Pastor Münster in Salder:
„Wenn unser stilles, abgelegenes Dörfchen auch nicht viel von dieser allgemein verbreiteten Geschäftigkeit und atemlosen Hast bemerkte, so war umso intensiver die Erregung, die jedes Haus und jedes einzelne Gemeindeglied erfüllte. Tausend Sorgen, tausend Überlegungen kreuzten sich in den Gedanken;. Plötzlich fehlten die Männer, die die Betriebe zu leiten oder im Gange zu erhalten gewohnt waren und die, die als Ersatz an ihre Stelle traten, brachten zwar den besten guten Willen mit, aber dafür die geringere Erfahrung oder körperliche Mängel und Fehler, die sie zum Kriegsdienst untauglich machten. Ungefähr 30 Pferde mussten innerhalb 3 Tagen an das Heer abgegeben werden, für die es absolut keinen Ersatz gab. Dazu stand die Ernte vor der Tür. Ähnliche Schwierigkeiten ergaben sich im Betrieb der Zementfabrik, wo über ein Drittel der Belegschaft innerhalb 4 Tagen die Arbeit verlassen musste und besonders die gelernten Arbeiter, Maschinenmeister, Brennmeister u.dgl. nur sehr schwer ersetzt werden konnten. Schwer empfunden wurde das Fehlen des Arztes.“ Das später besonders in den Schulbüchern verbreitete Bild einseitiger, ausschließlicher Begeisterung, die sich zum Bild von den „Ideen des August“ verdichtete, war eine Propagandalüge . Die ländliche Bevölkerung spürte instinktiv den verstörenden, krankhaften, unnatürlichen Charakter eines Krieges.

Zu einem geradezu seuchenartigen Ausbruch dieser Krankheit kam es, als deutsche Truppen Anfang August das neutrale Nachbarland Belgien überfielen und die Wahnvorstellung hatten, sie könnten durch ein neutrales Land unbehelligt durchmarschieren, um zum strategischen Ausgangspunkt ihrer eigentlichen Aggression, die belgisch-französische Grenze, zu kommen. Die Einwohner wehrten sich begreiflicherweise und eröffneten das Feuer auf die Aggressoren. Das wurde von den deutschen Truppen als Bandentätigkeit ausgelegt. Franctireurs lautete das Schlagwort für diese verständliche Abwehr der überfallenen Bevölkerung.
Unter den einrückenden Soldaten gehörte auch das Infanterieregiment 92 aus Braunschweig.
Im bereits zitierten Vaterländischen Kriegsgedenkbuch befindet sich im ersten Heft auf S. 23 eine Abbildung eines Gemäldes von Prof. v. Eschwege mit dem Titel „Feuertaufe des Braunschweiger Infanterie-Regimentes Nr. 92 - Straßenkampf in Roselies.“ Dazu folgende Tatbeschreibung eines Beteiligten: „Alle Häuser mussten gewaltsam erbrochen werden, es entspann sich im Innern ein wütender Kampf mit Kolben und Bajonett und da man mancher Hausbesatzung nicht habhaft werden konnte, weil die Verteidiger sich auf dem Boden versammelt hatten, so griff man zu dem einzig wirksamen Mittel in solchem Fall, man zündete die Häuser an. Bald stand dann die Dorfstraße an vielen Stellen in Flammen“. „Wir wurden in mehrere Dörfern von den Einwohnern beschossen. Diese Dörfer wurden gleich an allen Ecken angesteckt, die Bewohner, die geschossen hatten, abgemurkst,“ berichtete ein Gemeindemitglied an seinen Pfarrer Wilhelm Gagelmann in Lutter a.B.
Gustav Schmidt aus Bündheim dichtete nach einem ähnlichen Vorfall in der drittgrößten Stadt Belgiens Charleroi: „Das deutsche Blut, das hier hat fließen müssen/ schreit nach gerechter Rache, nicht nach Flintenschüssen/ Ein Flammenmeer die ganze Stadt hüllt ein/ Das ist des Deutschen Blutes Rache Widerschein“.
Damals erhielt der Pfarrer in Berklingen, Richard Diestelmann, einen Brief seines Sohnes, des damaligen Theologiestudenten , von der Front. „19. Oktober Regiment 235 soll Roulers angreifen....Bald haben wir die ersten Häuser der Stadt erreicht, aber kein Feind ist zu sehen. Wir liegen wiederum auf der Erde und warten. Da Peng fällt ein Schuss aus dem nächsten Hause und Peng Peng noch mehr. Wir stutzen, dann heißt es, in den Häusern müssen Franctireurs sein. Jedes Mal 5 Mann in ein Haus! Und die Bewohner herausgeholt. Und bald kommen die ersten. Die Taschen werden untersucht und bei wem Waffen oder Munition gefunden wird, der wird kurzerhand erschossen. Armes verblendetes Volk, das ruhig und unbehelligt hätte weiterleben können. Jetzt gehen auch Deine Häuser in Flammen auf. Nur das wird aus den Häusern herausgeholt, was an Nahrung zu finden ist und dann: Feuer hinein.“
Diese Kriegsverbrechen hatten ihre Geschichte. Schon im Krieg 1870/71 begegneten den deutschen Truppen erhebliche Partisanenverbände. Helmut v. Moltke, der Chef des Heeres, hatte daraufhin angeordnete, Partisanen standrechtlich zu erschießen und ihre Dörfer zu zerstören. Der Kronprinz notierte unter dem 28. August 1870: „Einzelne Schüsse, meist in hinterlistiger, feiger Weise fallen allerorts auf unsere Patrouillen, sodass uns nichts übrig bleibt, als durch Anzünden der Häuser, aus denen die Schüsse kamen oder aber durch Forderung von Geiseln Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“ Die Kriegsverbrechen von 1914 waren in der deutschen Öffentlichkeit bekannt und wurden als Warnung auf deutschen Postkarten abgebildet.
Die Kirche rechtfertigte diese Kriegsverbrechen, und zwar als ein Strafgericht Gottes. Im Oktober 1914 schilderte Pfarrer Ottmar Palmer , in einem Feldpostbrief an die Soldaten seiner Hauptkirche in Wolfenbüttel die Schrecken des Krieges, und dass die Soldaten ein strenges Strafgericht „bis zur Vernichtung“ ausführen müßten. „Es muß doch furchtbar sein, immer wieder zerstampfte Felder, zerstörte Städte, verwüstete Dörfer und zerrissene Menschenleiber zu sehen. Und Ihr müßt ja oft genug selbst die schwersten Strafgerichte vollziehen an der hinterlistigen Zivilbevölkerung, den Franktireurs oder auch feindlichen Soldaten, wenn sie Grausamkeiten verübt haben. Aber nicht wahr, wir dürfen beruhigt sein: ihr steckt doch das Schwert wieder rein in die Scheide, wie unser Kaiser sagte. Hart und streng müßt ihr sein, wo es not tut und befohlen ist, streng bis zur Vernichtung, - aber wo es geht, da läßt der deutsche Soldat auch wieder das Mitleid herrschen und die Milde zu Wort kommen.“ Palmer versuchte den Soldaten ein gutes Gewissen bei ihrem „vernichtenden“ Handwerk zu machen und appellierte zugleich an Mitleid und Milde. Das Problem der Verwischung von zivilen und soldatischen Opfern und die schauerlichen Folgen für die psychische Verfassung dieser, in der Heimat sonst friedlichen deutschen Bürger, kam nicht in Sicht.
Palmer verband mit dieser Rechtfertigung die Beschreibung eines christlichen, sittlich gefestigten Soldaten. Diese Bemühung um ein christliches Soldatenbild ging an der realen Frontsituation blind vorbei. Dass jeder Frontabschnitt zur Auffrischung der Truppe auch eine Etappe unterhielt, in der in registrierten Bordellen der Soldat seine Triebabfuhr besorgte und sich ansonsten mit Mengen von Alkohol über das Grauen der Frontsituation hinwegtröstete, war eigentlich Allgemeingut, passte aber nicht in die wahnhafte Vorstellung von einem durch den Krieg verbesserten, versittlichten Deutschland. Die immer wieder ausgesprochenen Hoffnungen, dass sich die Soldaten, aus dem Krieg kommend, den kirchlichen Männerkreisen anschließen würden, wirkte demgegenüber wahnhaft.
Die Synodalen der Inspektion Halle/ Ottenstein schrieben an ihre Soldaten einen Brief, in dem diese Hoffnung besonders unterstrichen wurde: „Wir gedenken Euer bei Ablauf des ersten Kriegsjahres...Nächst dem allmächtigen Gott, dem großen Schlachtenlenker, der da „waltet und haltet ein strenges Gericht“, steht auf Euch unsere Zuversicht auf endlichen Sieg und herrlichen Frieden in diesem Krieg voll Frevel und Blut. Gott lohne es Euch...
Ihr fehlt in den Gotteshäusern. Wie schön wird es sein, wenn Ihr zur Siegesfeier wieder daheim im Gotteshause sein werdet und nun den Herrn preisen und hoffentlich bekennen könnt: „Ich habe im Kriege meinen Gott und Heiland nicht verloren, sondern besser gefunden, habe auch in der Front die Treue gegen Weib und Kind nicht verletzt, habe in Versuchung gesiegt, Reinheit und Unbescholtenheit bewahrt. Das wird ein schönes Wiedersehen sein! Wir befehlen euch in Gottes Schutz und Schirm..In herzlicher Liebe die Geistlichen und Abgeordneten der Inspektionssynode Halle-Ottenstein.“
Die Hoffnung auf von Männern gefüllten Kirchen erscheinen mir wie bedauernswerten Phantasien eines Fieberkranken, keineswegs nur an der Weser, sondern in der ganzen Landeskirche.

Erwin Blumenfeld war 1917 Sanitäter an der Westfront und wurde dann Feld-Freudenhaus-Buchhalter. Er beschreibt seine Situation folgendermaßen: „Das Bordell, das morgens um 10 Uhr öffnete, beschäftigte 18 Prostituierte, von denen sechs ausschließlich nur Offiziere empfingen. Der Bordellbesuch kostete den Einheitspreis von vier Mark. Die Prostituierten erhielten davon eine Mark, eine Mark verdiente die Besitzerin des Hauses und zwei Mark gingen an das Rote Kreuz, das die „medizinische Verantwortung“ für das Bordell übernommen hatte. Jede Prostituierte hatte pro Tag 25 - 30 Kunden, nicht selten mussten die örtlichen Kommandanten sogar Wachsoldaten abordnen, die vor und in den Bordellen für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatten“ Während die Ehemänner in der Etappe Schlange stehen, beantragte Pfarrer Freytag vor der Inspektionssynode Timmerlah , die Bordelle in der Stadt Braunschweig zu schließen. Sie seien für die Wehrkraft verderblich.
Ich finde es nicht in Ordnung, dass die vier für Niedersachsen zugelassenen Geschichtsbücher für die jetzige gymnasiale Oberstufe die deutschen Kriegsverbrechen in Belgien völlig ausblenden.
Anders ein deutsch-französisches Geschichtsbuch. Dort heißt es unter der Überschrift „Die Zivilbevölkerung als Ziel der Kriegsgewalt“ „Es kam zu Vergewaltigungen, zur Plünderung von Häusern und zu Geiselnahmen. Die deutschen Truppen exekutierten 6.500 belgische und französische Zivilisten. Überall floh die Zivilbevölkerung vor den Kämpfen und Übergriffen.“ Noch deutlicher ist ein belgisches Geschichtsbuch aus unseren Tagen, dort heißt es: „Das Entsetzen war groß, als Deutschland am 4. August 1914 die belgische Grenze überschritt. Mit dem Einfall missachtete Deutschland die Neutralität Belgiens. Gegen alle Erwartungen im Voraus gab es beim deutschen Einfall nicht den geringsten militärischen Widerstand. Das Auftreten der „Franctireurs“ (Partisanen) säte Verwirrung und führte zu Repressalien gegen die Zivilbevölkerung. Diese Gewaltakte (Exekutionen, Brandstiftungen und Beschießungen) schufen das Schreckensbild der „barbarischen Hunnen“ und inspirierten die alliierte Propaganda. Ein Fünftel der belgischen Bevölkerung ergriff die Flucht.“
In dem für die gymnasiale Oberstufe in Niedersachsen zugelassenen Geschichtsbuch „Mosaik Geschichte auf der Spur“ heißt es dagegen auf S. 64: „Im Westen gelang den deutschen Truppen ein rascher Vormarsch. Die Armee stieß durch das neutrale Belgien ziehend nach Frankreich vor. Erst an der Marne, gleichsam vor den Toren von Paris, gelang es den Franzosen...“ War in Belgien was passiert? Darüber werden die Schülerinnen und Schüler im Unklaren gelassen.
Wenn wir nicht lernen, Geschichte auch aus der Sicht der Nachbarvölker zu beschreiben und zu verstehen, hat auch die Geschichtspädagogik Anteil an einer unrealistischen, wirren Optik und marschiert im Geiste mit Gott für Kaiser, Führer, Volk und Vaterland, wie die Darstellung der Regimentsgeschichte es nahelegt.
Die Regimentsgeschichte der Braunschweiger Husaren und des Regiments 92 aus dem Jahre 1959 verliert über ihre Kriegsverbrechen kein Wort, denkbar wäre ja eine Art Partnerschaft mit einem der in Asche gelegten Dörfer. Verwaltungspräsident Knost bescheinigt dagegen den Infanteristen und Husaren Standhaftigkeit, Freiheitssinn und „glühenden nationalen Stolz“. „Glühend“ – wie treffend. Vom Kriegsanfang berichtet Leutnant Behrend auf S. 24: „Trotz seiner Friedensliebe musste Kaiser Wilhelm II im August 1914 die Mobilmachung anordnen.“

Die Erkrankung traf die kirchliche Verkündigung im Kern: das Bibelverständnis, das Gesangbuch, das Kirchenjahr, das Gottesbild. Die biblischen Texte wurden ungeniert und unkritisch militärpolitisch verdreht. „Wer beharret bis ans Ende, der wird selig“ (Mt. 24,13) wird als Durchhalteparole zur Weiterführung des Krieges umgedeutet.
„Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft“ (Jes. 40,2) deutete Pfarrer Stosch in einer Predigt bei einer Waldandacht am Grünen Jäger im Sommer 1917 als einen Aufruf, statt auf einen Verständigungsfrieden auf einen Frieden erst nach einem deutschen Sieg, dem sog. „Siegfrieden“, zu setzen.
Zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns erschien im Sommer 1915 ein Gottesdienstentwurf, in dem die zahlreichen Zweifel an dem Krieg aufgenommen und mit Bibelzitaten erwidert werden.
Auf das immer wieder verschobene Kriegsende vom Weihnachten 1914 auf das Frühjahr 1915 antwortete Ps. 33,8 „Alle Welt fürchte den Herrn, so Er spricht, so geschiehts.“
Die Frage „ Warum kann Gott das zulassen? beantwortet Joh. 13,7 „Was ich tue, das weißt du jetzt nicht“
Den Einwand: „Auch die Feinde beten und erwarten von Gott Sieg“ beantwortet Spr. 10,28 „Das Warten der Gerechten wird Freude, aber der Gottlosen Hoffnung wird verloren“.
Den Zweifel am Sieg beantwortet Hebr. 10,35: „Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat“.
„Und wenn ich etwa als Krüppel in die Heimat zurückkehre?“ Antworte des Apostel Paulus in Röm. 8,28. „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.“
„Was kommt schließlich heraus fürs ganze liebe Vaterland nach all den unersetzlichen Verlusten?“ Des Herrn Rat ist wunderbar und führet es herrlich hinaus (Jes. 28,29)
Aus dem Zusammenhang gerissene Bibelverse werden als „Beweisstücke“, als dicta probantia missbraucht, was in der orthodoxen Theologie eine lange Tradition hatte. Hier dienen sie der Selbstrechtfertigung der Kirche.
Als aber der Tod durch die Fenster der Pfarrhäuser kroch, blieb der Trostcharakter der Bibel stumm. Pastor Dosse aus Erkerode verzichtete auf ein Bibelwort, als er den Tod seines 19 jährigen Sohnes Anfang Januar 1918 annoncierte. Als alle drei Söhne des Paulipfarrers Warnecke auf dem Schlachtfeld geblieben waren, quittierte er frühzeitig den Pfarrdienst. Als Kirchenrat Kellner auch den dritten Sohn im Krieg verloren hatte, setzte er auf den Grabstein kein Bibelwort sondern das Wort „Warum?“

Populäre Gesangbuchmelodien wurden mit textfremden Strophen unterlegt. Auf die Melodie „Jesu geh voran“ sollte die Gemeinde singen: „Täglich weiter fort/ heißt das Losungswort/ nicht ermatten, nicht verzagen/ bis der letzte Feind geschlagen/ hört das Losungswort/ täglich weiter fort“. 3. Strophe: „nur nicht rückwärts gehn/ nur nicht stille stehn“ Die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 war nämlich gerade stecken geblieben. Letzte Strophe: „Sind der Schritte viel bis zum letzten Ziel/ endlich werden’s wir erreichen/ endlich wird der Feind schon weichen/ sind auch bis zum Ziel/ noch der Schritte viel“.

Das Kirchenjahr wurde seiner ursprünglichen Erinnerung an das Leben Jesu beraubt und statt der Auferstehung Jesu die Auferstehung des deutschen Volkes, statt der Passion Jesu die triste Kriegslage
und statt der Ausgießung des Hl. Geistes das „Augusterlebnis“ von 1914 beschworen.
„Deutschland unter Kampf und Wunden/ lebe deine Osterstunden/ Sonne strahlt auf deine Wunden/ Über Wehe, Haß und Fehle/ siege, deutsche Osterseele.
Zum Erntedanktag: „Nun scheint über deutschen Landen/ der Erntesonnenglanz/ Der Feind wird doch zuschanden/ uns winkt des Sieges Kranz.“
Das ist mehr als das Absinken zu einer Trivialtheologie, es bezeichnet einen gefährlichen, ansteckenden Krankheitszustand der Kirche, eine kranke, unter dem Dogma des Sieges vergiftete Kirche.

Auch das Gottesbild wurde von den Krankheitserregern angesteckt. Auf die vielfach gestellte Frage „Wie konnte Gott diesen Krieg zulassen?“ antwortete ein Verfasser überraschend: „Gott ist die Liebe und seine Liebe habe auch diesen Krieg zugelassen“ und zwar als „Heimsuchung. „Ihr Völker Europas, erkennt die Stunde eurer Heimsuchung. Dann gibt Gott euch offene Augen, dass wir die wirkliche Liebe Gottes erkennen.“

Die Kirche versank in eine trübe Stimmung, als die Gemeinden gezwungen wurden, die Orgelpfeifen als „Metallspende“ auszubauen und die Kirchenglocken abzuhängen. Man lädt zu Abschiedsgottesdiensten ein. In einem solchen Gottesdienst in Vorsfelde heißt es: „Man erinnere sich, wie die Glocken uns in den Kriegsanfangstagen zur Kirche geladen haben. Sie haben alle unsere Siege im Westen und Osten laut verkündigt und bejubelt. Sie haben unsere teuren gefallenen Helden beklagt. Nun sollen sie zu todbringenden Geschossen für unsere Feinde werden. Von solchem Zweck hat noch nie eine Glockeninschrift etwas gesagt. Wir geben unsere Glocken hin mit dem Gebete „Mach End o Herr, mach Ende mit aller unserer Not.“

Auf die Ernüchterung folgte Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Ging es „mit Gott“ abwärts, oder war der Krieg von Anfang an eine Angelegenheit „ohne Gott“? Superintendent Schütze berichtete den Mitgliedern der Inspektionssynode Königslutter am 5. Juli 1917 tagungsordnungsgemäß von den sittlichen Zuständen:
„Die sittlichen Zustände sind im allgemeinen nicht günstig durch den Krieg beeinflusst. Der Opfersinn im Anfang des Krieges ist stark zurückgegangen, die Selbstsucht macht sich breit, für die staatlichen Verordnungen auf dem Gebiet der Streckung der Lebensmittel ist oft gar kein Verständnis. In größeren Gemeinden sind Feld- Garten und Geflügeldiebstähle am Platze. Sonntagsheiligung ist im größten Teil der Jahres nicht mehr oder kaum vorhanden. Durchweg verwilderte Jugend . Vereinzelt hat das sittliche Verhalten der Kriegerfrauen Anstoß erregt, im ganzen sind sie ernst und arbeitsam.“
Gegen die „Verwilderung der Jugend“ verfaßte die Inspektionssynode Campen ein altväterliches Wort an die Gemeinden, ermahnte zu sorgfältiger Erziehung und stellten den „verwilderten“ Jugendlichen als leuchtendes Beispiel die Helden an der Front dar.

Gegen diese kranke Kriegsgesinnung erhob sich Protest. Der Marburger Theologieprofessor Martin Rade beschrieb in der „Christliche(n) Welt“, dem führenden Blatt des protestantisch-liberalen Deutschland, die Lage der Kirchen in Europa 1914 als „Der Bankrott der Christenheit“ „Wenn ich an diese Christenheit der europäisch- amerikanischen Kulturwelt denke, da kann ich diesen Krieg nicht anders verstehen denn als ihren offenkundigen Bankrott.“
Rade meinte nicht einen Bankrott persönlicher Einzelfrömmigkeit sondern das Gegeneinander des protestantischen Deutschland, des anglikanischen England, des katholischen Frankreich und des orthodoxen russischen Zarenreiches. Der Bankrott der europäischen christlichen Völker sei unabwendbar, „er ist schon Tatsache.“
In der gleichen Ausgabe erinnerte er an eine Stellungnahme des Ständigen Ausschusses der Edinburgher Weltmissionskonferenz, dessen Sekretär am 1. Mai 1913 in Bremen erklärte hatte, „ein Weltkrieg wäre ein Verbrechen gegen die Zivilisation, gegen die Humanität und gegen Gott.
Die „Christliche Welt“ wurde auch im Braunschweigischen gelesen. Die Bibliothek des Predigerseminars hält alle Bände von 1887 bis 1932 für den Leser bereit.
Die Bemerkung vom Krieg als Bankrott der Christenheit wurde von Superintendent Schulze vor der Inspektionssynode Halle Ottenstein im Sommer 1915 aufgenommen, immerhin, und mit dem orthodoxen Argument, die Bibel habe auch gegen den Augenschein immer recht, zurückgewiesen.

Die kranke Kirche spürt nicht ihren vom Dogma des Sieges und von der Vorstellung einer Offenbarung Gottes im Krieg vergifteten Körper. Die Abwendung der Gemeinden und Gemeindemitglieder von dieser Kirche, von ihrem vermeintlichen Trost und von ihren Gottesdiensten war die begreifliche Reaktion, um sich selber nicht anzustecken.
Die Formel „Mit Gott für Kaiser, Volk und Vaterland“ wurde 20 Jahre später leicht verändert fortgeführt: Mit Gott für Führer, Volk und Vaterland, und wieder. Und wieder zehn Jahre später nicht wörtlich aber sinngemäß: Mit Gott und den USA gegen den atheistischen Kommunismus und seit dem September 2002 Mit Gott und Amerika für christliche Werte, Demokratie und freie Wirtschaft und neuerdings darf die deutsche Regierung dabei keine Nebenrolle an der Außenlinie einnehmen.

Als einen ersten praktische Schritt zu einer Entgiftung und Gesundung der Kirche sehe ich ein „Nein ohne jede Ja“, auch ohne jedes „Ja aber“ zu kriegerischer Gewalt und zu militärischer Rüstung, also eine ausdrückliche Ächtung des Krieges und der Rüstung . Die Zeugen Jehovas und die Quäker können dabei ein Vorbild sein. Eine solche Entgiftung würde weit in die Gesellschaft ausstrahlen. Die kürzlich erschienen Denkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für den gerechten Frieden sorgen“ tut diesen Dienst nicht. Es fehlt jede Stoßrichtung in die Gesellschaft.

Also „zurück zu Kant“ und seinen Bedingungen des Friedens? Das wurde 1914 durchaus diskutiert. Die Schrift war von Karl Vorländer, einem Kantspezialisten, in Leipzig 1914 erneut mit einer ausführlichen Einleitung herausgebracht. Sie fand schneidenden Widerspruch von Werner Elert , dem späteren Frontmann der lutherischen Theologie in Deutschland mit der Folge einer Einpassung der lutherischen Kirche in die nationalsozialistische Gesellschaft. Im Blatt der deutschen Lutheraner, der Allgemeinen Ev. Luth. Kirchenzeitung, veröffentliche Elert einen Grundsatzartikel „Kant und der ewige Friede“ und verwarf die Position Kants als unerträglich. Es sei ein Anachronismus, Kant als Politiker auszuspielen. „Die Art, wie man ihn trotz seiner blutleeren Religionsphilosophie, seines moralischen Formelkrams, seiner ungermanischen Rechtsphilosophie, seiner aufklärerischen Philisterpolitik zum „Philosophen des Protestantismus“, zum „wahren Befreier der Menschheit“, zum „deutschen Philosophen“ machen möchte, fängt nachgerade an unerträglich zu werden.“
Heute stellt sich mir die Frage, ob der sog. Missionsbefehl, dass die Kirche alle Völker zu Jüngern Jesu machen soll, mit einer grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Religion vereinbar ist und nicht eher friedensstörend wirkt? Bedarf das Bild vom „Weltgericht Gottes“ nicht einer gründlichen Überprüfung? Stört der Gegensatz von Volk Israel und Heiden, von Christen und Nichtchristen nicht empfindlich das fällige Miteinander von Christen und Atheisten?

Die Kirche hat das ptolemäische Weltbild der Bibel und die patriarchalische Gesellschaftsordnung der damaligen Zeit überwunden, heute stellen sich neue theologische Aufgaben zur Bearbeitung in einer Zeit, in der es nie wieder heißen soll „Mit Gott für irgendeinen Kaiser und irgendein Reich, auch nicht für demokratische Werte.“ Statt des heute beim pompösen Zapfenstreich noch üblichen „Helm ab zum Gebet“: ein für alle Mal und für immer „Helm ab“ ohne Gebet.




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