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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Reformation und Gewalt

Eine neue Sicht auf Goslar und die Marktkirche
Gemeindevortrag am 14. November 2001 von Dietrich Kuessner
im Rahmen der Amsdorfhausabende im Rahmen der 850-Jahr-Feier

Werte Anwesende, liebe Schwestern und Brüder,

die Kirche hat in diesem Jahr die Dekade zur Überwindung der Gewalt begonnen. Bevor wir das Böse bei andern suchen, müssen wir als Christen das Böse bei uns ausfindig machen. Bevor wir die Gewalt bei andern überwinden, müssen wir prüfen, ob die lutherische Kirche selbst verstrickt ist in Gewalt, schärfer: in Terror. Und wenn es eine Verbindung von Luthertum und struktureller, staatlicher und terroristischer Gewalt gibt: ist dies eine zeitlich begrenzte Verirrung oder führt diese Verbindung weit zurück mitten ins Herz der Reformation: in die Hl. Schrift, in die Stadt? Und weiter: Wenn sich diese Linie zurückverfolgen ließe, sind die Verhältnisse in der Reichsstadt Goslar und an der Marktkirche ein Beispiel für das Grundthema Reformation und Gewalt?

Ich nenne fünf Beispiele für das Verhältnis von Luthertum und Gewalttätigkeit – ich würde sagen: Staatsterror.

Auf der Synode der Ev. Kirche in Deutschland 1958 erklärte der hochangesehene lutherische Theologieprofessor aus Erlangen anlässlich der Debatte über die atomare Bewaffnung der Bundeswehr:

Die Frage der Herstellung, der Verwendung, des Besitzes von Atomwaffen kann eine ethische Forderung von höchster Bedeutung sein, denn auch diese schrecklichen Mittel können in den Dienst der Nächstenliebe treten.„ (KJ 1958. S, 60)

Ein junger lutherischer Christ ist demnach in seinem Gewissen frei, im Dienst der Nächstenliebe die Atombombe zu werden. Alles andere könne gewissenslos, unethisch, in der Tat Sünde sein (Künneth).

Der auch für Goslar zuständige lutherische Landesbischof Marahrens bestätigte die Kriegsziele Hitlers im September 1939: Zu den Waffen aus Stahl hat die D.E.K. unüberwindliche Kräfte aus dem Worte Gottes gereicht: die Zuversicht des Glaubens. Stahl und Glauben.

In einem Schreiben an die Pfarrer seiner Landeskirche vom 8. Juli 1941, den auch die Goslarer Pfarrer erhalten haben, begrüßte der lutherische Landesbischof aus Hannover den Einfall der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion: Alle Deutschen vertrauen zu Gott, dass auch dieser Kampf mit einem vollkommenen Siege der deutschen Waffen enden wird. Die lutherischen Kirchen geloben, ihre Kraft restlos einzusetzen in diesem geistlichen Ringen... für die gottgeschenkten Kräfte des Glaubens, des Volkstums und der heimatlichen Erde. Gott segne Deutschland und seine Wehrmacht! Gott segne den Führer!

I. Glaube und Stahl – Segen und Vernichtungskrieg.

5.6.1945. Von der Südseeinsel Tinian soll das amerikanische Flugzeug mit der Atombombe nach Hiroshima starten.

Als dem General gemeldet wird, es bestehe Gefahr, daß bei einem Fehlstart die ganze Insel in die Luft fliegt, antwortet er "wir müssen beten, daß das nicht geschieht. Derselbe General erzählt dann von dem riskanten Start der Maschine: "Wir versuchten beinahe, sie mit unseren Gebeten und Hoffnungen in die Luft zu heben." Vor dem Abflug sprach ein lutherischer Feldgeistlicher ein "ergreifendes Gebet" (W.L. Laurence):
"Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen. Behüte und schütze sie, wir bitten Dich, wenn sie ihre befohlenen Einsätze fliegen. Mögen sie, so wie wir, von Deiner Kraft und von Deiner Macht wissen, und mögen sie mit Deiner Hilfe diesen Krieg zu einem schnellen Ende bringen. Wir bitten Dich, daß das Ende dieses Krieges nun bald kommt und daß wir wieder einmal Frieden auf Erden haben.
Mögen die Männer, die in dieser Nacht den Flug unternehmen, sicher in Deiner Hut sein, und mögen sie unversehrt zu uns zurückkehren. Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen; denn wir wissen, daß wir jetzt und für alle Ewigkeit unter Deinem Schutz stehen. Amen."

Die Japaner nennen diese Bombe die christliche Bombe. Genauer müssten wir sagen: die lutherische Bombe. Durch dem Abwurf starben auf der Stelle 200.000 Menschen.

31.10.1917: Der deutsche Ev Kirchenausschuss erklärt zur 400.Wiederkehr des Thesenanschlages:

So sind es auch Kräfte reformatorischen Glaubens gewesen, die an ihrem Teile die beispiellose Kraftentfaltung und das sittliche Heldentum haben vorbereiten helfen, die unser Volk in ihrem blutigen Ringen des Krieges in unvergleichlicher Weise bewiesen hat.

Luthers 95 Thesen- sittliches Heldentum, blutiges Ringen, Vernichtungskrieg – Segen, Glaube und Stahl.

Lutherische Kirche und Gewalt haben im vorigen Jahrhundert der Weltkriege eine deutliche Spur hinterlassen.

17.9.1604 in Braunschweig. Der Jurist Braband erstrebt eine größere Beteiligung der Bevölkerung an den Entscheidungen des Rates der Stadt Braunschweig. Der Rat wird auch umstrukturiert. Die evangelische Geistlichkeit stellt sich begeistert auf die Seite des revolutionären Kirchenvolkes. Aber das Blatt wendet sich. Braband verliert das Vertrauen, wird gefangengesetzt und mit anderen auf dem Hagenmarkt in Braunschweig öffentlich hingerichtet.

Unmittelbar vorher findet in der knallvollen Katharinenkirche am Hagenmarkt ein mehr als zweistündiger Predigtgottesdienst statt, in dem Pfarrer Johann Wagner die furchtbare Hinrichtung in einer lutherischen Stadt durch einen lutherischen Stadtrat, rechtfertigt und das glaubende wie gaffende Volk auf das Schauspiel seelsorgerlich vorbereitet. Die Predigt wird gedruckt und auf Seite 1 der Vorgang am 17.9. folgendermaßen beschrieben:

Am 17. September 1604
An welchem Tage etliche Misstäter nahe bei derselben Kirche auf dem Hagenmarkt andern zur Abscheu auf einem aufgeschlagenen Pallaste mit sonderbarer Strafe sind belegt worden. Insonderheit aber einem wegen seiner hochsträfflichen Mißhandlung anfänglich zwei Finger abgehauen, vier Riss mit glühender Zangen gegeben, das Herz aus dem Leib geschnitten und etliche Mal aufs Maul damit geschlagen, ferner in vier Stücke zerhauen, das Eingeweide auf dem Markt öffentlich verbrannt und endlich der Kopf an einer eisernen Stangen vor dem Michaelistor hinausgesteckt, die vier Vierteil aber vor anderer Tor in eisern Körben ausgehängt.

Die Predigt geht über Josua 7, in der die Steinigung Achans beschrieben wird. Achan hatte bei der Eroberung Jerichos durch Israel gestohlen. Achan gesteht den beträchtlichen Diebstahl: einen kostbaren babylonischen Mantel, 200 Lot Silber und eine Stange Gold, die er unter seinem Zelt vergraben hat.

Josua 7, 24: Da nahmen Josua und ganz Israel mit sich Achan, den Sohn Serachs, samt dem Silber, dem Mantel und der Stange von Gold, seine Söhne und Töchter, seine Rinder und Esel und Schafe, sein Zelt und alles, was er hatte und führten sie hinaus in Tal Achor. Und Josua sprach: Weil du uns betrübt hast, so betrübe dich der Herr an diesem Tages. Und ganz Israel steinigte ihn und verbannte sie mit Feuer. Und als sie sie gesteinigt hatten, machten sie über ihn einen großen Steinhaufen. Der ist geblieben bis auf diesen Tag. so kehrte sich der Herr ab von dem Grimm seines Zorns.

Todesstrafe am Übeltäter und an der ganzen Familie, Sippenhaft – erst dann wendet sich Gott von dem Grimm seines Zorns. Diese Bibelstelle wird vom lutherischen Prediger nicht kritisch hinterfragt, sondern wörtlich auf die bevorstehende Hinrichtung Brabands angewendet.

Eine Obrigkeit lernet aus Gottes Wort, wie sie in ihrem Amt verfahren soll (S. 14). Für die zuschauende Gemeinde, Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist es wesentlich, dass sie solch äußerliche Strafe will recht ansehen. Es gelte, Gottes Gerechtigkeit in der Strafe zu erkennen; Gottes Zorn in der Strafe zu betrachten; die weltlichen Strafen sind mit nichts gegen die ewigen zu vergleichen. In der äußerlichen Straf der Misstäter ist Gottes Barmherzigkeit zu erkennen. Bei der Hinrichtung solle man für die Übeltäter beten und jung und alt selber Buße tun.

Und nun Pfarrer Wagner wörtlich:

Schließlich soll auch ein jeder auf sich selbst und seine Kinder ein Auge und gute Achtung haben, bedenken die Untaten, um welcher willen ein armer Sünder äußerlich wird zur Strafe gezogen, forschen und fragen sein Wesen und Leben, betrachten, ob er auch wohl derselbigen und gleichen Tat so nicht öffentlich doch heimlich schuldig. Mancher sieht einen Dieb hängen, eine Hure ausstreichen, ein Kindmörderin ersäufen, einen Aufrührer den Kopf vom Rumpfe nehmen, einen Verräter in Vierteil zerstücken und ist selber ein Dieb, eine Hure, ein Mörder, ein Aufrührer oder: ist er derselbigen Tat nicht schuldig, so ist er vielleicht dergleiche Sünden unterworfen, der soll lernen in der zeit Buße tun und von Sünden abstehen.......... Ich will nur noch eins vermelden. Einer, genannt Georg Zechelius hat sich wider seine ordentliche Obrigkeit aufgelehnt und einen Aufruhr angerichtet, der ist, nachdem er mit seinen Gesellen überwunden nach folgender Weise gestraft worden. Erstlich hat man ihn bloß nackt ausgezogen, mit Ketten gebunden und eine eisern glühende Krone aufs Haupt gesetzt und also auf ein eisern glühendes Pferd erhoben. Danach hat man ihm etliche Adern aufgeschlagen und hat sein Bruder das Blut saufen müssen. Ferner, als man die Adern wieder verbunden, hat man zwanzig seiner Gesellen, denen man zuvor in dreien Tagen nichts zu essen gegeben, über ihn geschickt, die hat man gezwungen, dass sie ihn mit den Zähnen zerrissen und was sie mit den Zähnen abgebissen, fressen müssen, zuletzt hat man ihm das Eingeweide herausgerissen, und was vom Leibe übrig gewesen , hat man in Stücke zerhauen und in Kessel und Bratspießen gesotten und gebraten, und seinen Gesellen fürgesetzt, die habens auffressen müssen.... So viel sei für diesmal genug. Damit aber nun unsere Arbeit im Herrn getan, nicht möge vergeblich sein, sondern heutigen Tages in den Herzen der Zuhörer vielfältig Frucht schaffen und wirken, und die armen Misstäter, so heute vor der Welt sollen empfangen, was ihrer Taten wert sein, einen seligen Abschied aus dieser Welt mögen nehmen, so wollen wir für sie Gott den himmlischen Vater anrufen, er wolle sie mit dem Schächer am Kreuz zu Gnaden annehmen und bei seinem lieben Sohn im ewigen Paradies lassen Wohnung haben, und unser neben unsern Kindern und Gesinde vor allerhand Sünden und Ungerechtigkeit bewahren und behüten auf dass wir nicht allein hier zeitlich in diesem sondern auch in jenem Leben Gottes Huld und Gnade mögen haben zu genießen und seliglich zu gebrauchen. Amen.

An dieser Hinrichtung nehmen acht- zwölf- vierzehn- achtzehnjährige teil, die die Bilder dieser Hinrichtung ihr Leben lang nicht vergessen werden.

Dieses Beispiel ist kein Sonderfall, Hinrichtungen waren keine Ausnahme.

Ich will diesen ersten Abschnitt mit drei Beobachtungen abschließen:

Gewalt und Evangelium ist ein städtisches Ereignis – auf dem Lande war das wegen der fehlenden Volksmassen und der damit verbundenen geringeren Abschreckung nicht so organisierbar. Die Reformation ist ebenfalls ein städtisches Ereignis. Es gibt darüber einen Streit: wo stand die Wiege der Reformation: in den Klöstern, oder in den Städten, oder in den Universitäten – oder auf dem Markt?

In Braunschweig war es ohne Frage ein städtisches Ereignis.

Die Stadt ist ein uraltes Symbol für Terror und Gewalt: Babel, Ninive, Jerusalem, Rom, New York. Das Land ist das Symbol für einfaches Leben und Armut. Jesus kam vom Lande, Herodes und Pilatus aus der Stadt. In der Stadt wurde Jesus gekreuzigt.

Wenn die Reformation ein städtisches Ereignis ist – liegt das Thema Gewalt und Reformation auf der Hand.

Die Bibel ist eine Quelle von Gewaltgeschichten. Füchsen werden die Schwanze mit brennenden Fackeln zusammengebunden und ins Korn geschickt. Feindlichen Soldaten werden die Genitalien abgeschnitten und als Siegestrophäen herumgereicht. Die Entdeckung der ungeteilten, ganzen Heiligen Schrift ist der Kern der Reformation. Holt sich das reformatorische Christentum den Virus der Gewalt in den lutherischen Glauben?

Die Mitte des sakralen Raumes ist das Kreuz mit den aufgehängten Christus, Wir haben uns daran gewöhnt. Unbefangene Betrachter empfinden dies als Gewaltdarstellung. Gibt es kein anderes Symbol für das am Kreuz geschenkte Heil? In der feministischen Theologie wird diese Frage viel diskutiert. Die Theologie des Kreuzes ist ein Zentralpunkt reformatorischer Theologie.

II. Die Sicht auf Goslar und die Marktkirche

Das lyrische Bild, Luther habe das Evangelium in der Klosterzelle entdeckt und verbreitet, die Massen von Analphabeten in Deutschland hören und singen es nach auf Gassen und Plätzen, die Wahrheit verbreitet sich in Windeseile in ganz Deutschland: dieses lyrische Bild ist jahrhundertelang in den Schule und auf Kanzeln so gemalt worden. Es hält der historischen Realität nicht stand.

Die Quelle der Reformation ist nicht nur eine neue theologische Einsicht, die Entdeckung einer befreienden Wahrheit, sondern sind vor allem auch die sozialen Umstände, Hunger und Arbeitslosigkeit, in Goslar durch das stillgelegte Bergwerk, fehlendes Geld, stagnierende Geschäfte.

Die Bevölkerung Goslars – ca 11.000 Bewohner - war zur Zeit der Reformation stark zerklüftet. Auf der einen Seite die Leute vom Rat und solche, die Anteile an dem Bergwerk besaßen. Auf der anderen Seite die 1000 Bergwerksarbeiter, die die wirtschaftliche Krise als erste und hart zu spüren bekamen.

Die sozialen Gegensatze sollen u.a. in den Bruderschaften aufgefangen werden, von denen es in Goslar 18 gab. Auf diese sozialen Unterschiede weist bereits Uve Hölscher 1902 in seiner Geschichte der Reformation in Goslar hin, nämlich: ..dass diese Erhebung ebenso des Bürgers wie des gemeinen Volkes nicht so stark aus religiösem Bedürfnis oder aus dem Verlangen nach dem reinen, lauteren Wort Gottes an sich, sondern vielmehr aus der berechtigten Unzufriedenheit mit dem äußeren Regiment der Kirche und vor allem aus der sozialen Not entsprungen ist, die auch in Goslar bitter geführt wurde. Ulrich Winn verschärft in seinem Aufsatz in 450 Jahre Reformation in Goslar 1978 diese These: Es hat keine frühe reformatorische Predigt in Goslar gegeben und interpretiert die Unruhen von 1525 als soziale revolutionäre Unruhen.

Die sozialen Gegensätze durchschnitten auch die Kirchen Goslars. Da waren auf der einen Seite die fünf Pfarrkirchen Markt (2.250 Gemeindemitglieder), Peter und Paul auf dem Frankenberg (2.350), Jacobi (2.150), Stephani (2.600) und Thomaskirche (650).

Auf der andere Seite die drei reichen Kollegiatstifte Dom, und die vor der Stadt gelegenen Stifte: auf dem Petersberg und das Georgenbergstift. Alle drei Stifte sind älter als die Pfarrkirchen, die im 12. Jahrhundert errichtet worden sind. Dort leben die Chorherren unter der Leitung eines Dekans oder Propstes. Sie sind direkt dem Papst unterstellt. Sabine Graf hat in ihrem grundlegenden Buch Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter 1997 diese Spannungen, das Konkurrenzverhältnis zwischen den Pfarrkirchen und den Stiften anschaulich beschrieben.

Wer darf mit dem Läuten anfangen, wer darf bei der Prozession vorangehen, wer hat die meisten Pfarrer u.v.a..m.

Der unterschiedlich verteilte Reichtum wirkt sich innerhalb der Pfarrerschaft aus. Nach Henning Brunk Das kirchliche Leben in Goslar am Vorabend der Reformation hatte Goslar zwischen 1500 und 1528 142 Geistliche, davon allein 60 am Domstift. In den Stiften sammelte sich finanziell, personell, architektonisch das Kapital.

Die alteingesessenen Burger schickten ihre Söhne 1500-1528 auf die Universitäten Erfurt (64 Jugendliche), Leipzig (32), Wittenberg (16) und Köln (5). Zehn von ihnen wurden Geistliche am Domstift. Von ihnen gehen begreiflicherweise keine reformatorischen Initiativen aus.

Hier aber wird Luther gelesen. Später sind die Bücher in der Marktbibliothek gesammelt worden. Hugo Dünsing hat dankenswerter Weise in einem bereits 1952 erschienenen Aufsatz zusammengestellt, was an katholischer und evangelischer Literatur bis 1525 in Stiften, Klöstern und Studierstuben angeschafft wurde unter dem Titel Der Widerstand gegen die Einführung der Reformation in Goslar, wieder abgedruckt in der Abhandlung 450 Jahre Reformation in Goslar. Es gibt zahlreiche katholische Schriften, die den katholischen Glauben verteidigen, aber auch Luthers Schriften, z.B. den Prierias. Luther gibt darin eine gegen ihn gerichtete Schrift heraus und macht dazu bissige Randbemerkungen. Im Nachwort schreibt Luther, der Papst sei der Antichrist und über die Gewalt:

Mir aber scheint, wenn die Raserei der Romanisten so fortfährt, dass kein anderes Heilmittel überbleibt, als dass der Kaiser, die Könige und Fürsten, mit Gewalt und Waffen ausgerüstet, diese Pest des Erdkreises angreifen und die Sache nicht weiter mit Worten sondern mit Eisen entscheiden...Warum greifen wir nicht diese Lehrer des Verderbens, diese Kardinäle, diese Päpste und jenes ganze Mischmasch des römischen Sodom, welche die Kirche Gottes ohne Ende verdirbt, mit allen Waffen an und waschen unsere Hände in dem Blut jener?„

Die Schrift stammt aus dem Jahre 1520. Luther ist 37 Jahre. Solche Zitate sind ein Sprengsatz in einer sozialen Krise wie Goslar und bekräftigen die römisch-katholische Sicht von damals: die evangelische Bewegung sei eine gewalttätige, terroristische Bewegung.

Wie etwa der Sturm auf den Dechantenhof im Februar 1524. Eine rasende Volksmenge dringt auf das Gebiet des Domstiftes, holt den Domdechanten Dietrich v. Rohrbeck aus dem Haus, führt ihn am 25. Februar gefesselt aus dem Stadttor und ermordet ihn im Harz. Der Dechantenhof wird geplündert. Der unmittelbare Anlass war, dass das Domstift die Besetzung einer geistlichen Stelle in der Thomaskirche angefochten hatte und in einem Prozess in Rom durchsetzen wollte. Die eigentlichen Ursachen liegen vielleicht doch tiefer. Nämlich in dem Hass der hungernden Bevölkerungsteile auf die reiche Kirche. Keinner der Täter wird bestraft.

Schon ein Jahr später reichen Gilden und Gemeinden eine ausführliche Beschwerdeschrift an den Rat. Sie befasst sich teils mit kirchlichen Reformen, nämlich der Forderung nach einer schriftgemäßen Predigt des Evangeliums und dass die Geistlichen Steuern bezahlen sollten, zum größeren Teil mit wirtschaftlichen Forderungen wie ordnungsgemäßen Brauzeiten, Festpreisen für Hühner und Eier, Verkaufszeiten, Mindestpreisen beim Kornankauf, der Knochenhauergilde dürfe durch Privatschlachten keine Beschwer entstehen.

Bei der üblichen Interpretation der Gravamina werden kirchliche und wirtschaftliche Reformforderungen auseinandergehalten, anstatt zu sehen, mit welchen hohen sozialen Erwartungen die Bevölkerung der kirchlichen Reformbewegung begegnet. Das Evangelium ist nichts wert, wenn es sich nicht im Alltag niederschlägt – richtig bis zum Hühnerpreis. Das ist die berechtigte Hoffnung der hungernden und verarmten Schichten Goslars damals. Evangelium ohne sozialethische Grundlage und soziale Folgen taugt nichts – sagen und denken die Gilden und Gemeinden Goslars von 1525 und stoßen eine Diskussion an, die heute immer noch nicht beendet ist. Auf der EKD Synode letzte Woche ging es genau um dieses Thema der Globalisierung und ihrer furchtbaren Folgen für die Massen in Afrika, Indien und Lateinamerika. Da müsse eine starke soziale Schiene eingebaut werden, war die protestantische Antwort der EKD Synode. Evangelium mit einer starken sozialen Schiene bis zum Verkaufszeiten und Kornpreis ist die grundlegende Aussage der Beschwerdeschrift von 1525.

Es gibt gute Gründe, mit dieser Schrift den Beginn der Reformation in Goslar zu sehen. Nicht von Kirchenordnungen und der sog. reinen Lehre lebt der Protestantismus, sondern von der entschiedenen Parteinahme für die Armen, Rechtlosen, Verhungernden, Friedlosen aus dem Wort Gottes heraus. Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, so beginnt die Beschwerdeschrift und weist auf den geistlichen Grund der Forderungen hin.

Eine genaue Interpretation dieser Schrift Punkt für Punkt und eine Auseinandersetzung mit der ganz anderen Interpretation Hölschers wäre ein lohnender Abend.

Der Rat reagiert hinhaltend. Es ändert sich nichts, die Lage verschärft sich durch die Einmischung Herzog Heinrich d. J. und dessen territoriale Forderungen. Heinrich d.J. hatte sich bedrohlich nahe an die Stadt herangeschoben. Petersberg und Georgenberg, die beiden alten prachtvollen, kaiserlichen Stifte, liegen auf seinem Territorium, vorher auf dem Territorium des Hildesheimer Stiftes, dessen Bischof er besiegt hatte. Der Herzog löst alte Pfandschaften und will die Stadt aushungern.

Eine Kulturrevolution entlädt sich im Sommer 1527. Die Wut über die sich verschärfende soziale Lage richtet sich gegen die Klöster der Stadt. Bilder und Altäre in den stadtischen Pfarrkirchen werden eingeworfen. Die Wirtschaftsraume der Reichsstifte auf dem Petersberg und Georgenberg geplündert, die großartigen Kirchen eingeäschert. Der Anlass: Heinrich d.J. wolle von den Klöstern und Stiften aus die Stadt militärisch besetzen. Auch die Kirchen St. Johann in Bergdorf und die Kapelle zum Hl. Grabe werden niedergebrannt.

Eine genaue Bilanz dessen, was vernichtet ist, liegt nicht vor.

Goslar ist kein Einzelfall. In Braunschweig wird das Cyriacusstift in den 40iger Jahren geplündert und eingeäschert. Kunstschätze, viel kostbarere als etwa im Braunschweiger Dom, werden vernichtet. Es ist also anzumahnen das Thema Reformation als Kulturevolution – Glaube und Gewalt.

Nun wird Nikolaus v. Amsdorf im März 1528 nach Goslar an die Marktkirche geholt. Er hält am 8. März dort seine erste Predigt. Aus seiner Feder stammen die sog. articuli Jacobitarum vom 18. März 1528. U. Hölscher schreibt sie Pfr. Klepp, dem dortigen Pfarrer, zu. Der Inhalt dieser Artikel ist die Vereinheitlichung des kirchlichen Lebens unter der Leitung des Rates, kurz: alles soll evangelisch werden. Das bedeutet zugleich eine Polarisierung: 5) alle andere Lehre und Gottesdienst, so wider Gottes Wort, nicht aus Gott sondern vom Teufel ist, dürfe vom Rat nicht länger geduldet werden.

Diese Artikel lassen den katholischen Christen, den sog. Altgläubigen, keine Luft und keinen Platz. Es gibt offenbar nur den Zwangsanschluss und kein geregeltes Nebeneinander, wie z. B. später in Hildesheim. Die Artikel nehmen außerdem überhaupt keinen Bezug auf die soziale Not. Die soziale Schiene der Beschwerdeschrift von 1525 fehlt.

Der Rat der Stadt befragt die Gilden und Gemeinden. Die Schmiede antworten: bitte keinen Zwang, wer zur Kirche gehen will, soll gehen, aber es soll niemand, weil das Wort Gottes frei ist, dazu gezwungen werden. Ähnlich antworten die Schuhmacher. Die Frankenberger Gemeinde spricht sich für die Annahme der Artikel aus jedoch mit dem bezeichnenden Zusatz: keine Gewalt in den Kirchen. So ok einer gewaltsam in kerken, Klusen mit lechten, altären, bildern edder suswegen sik understende tho breken edder gewalt dede, dat desulve gestraffet werde. (Hölscher S. 28). Die Antwort der Marktkirche ist gespalten. Es gibt dort jene, die die Artikel vorbehaltlos unterstützen und jene auf dem Rate, die sich scharf gegen einen Bildersturm wenden. Amsdorf und sein Kaplan allerdings sollten Goslar besser verlassen. Er solle die Marktkirche und die Ratskirche lieber meiden.

Amsdorf verlässt tatsächlich noch im März nach drei Wochen wieder Goslar, der Rat beschließt nach Einholung aller Antworten eine Übereinkunft, wonach die Predigt einheitlich evangelisch sein solle und dem Rat Gehorsam zu leisten sei.

Der Rechtsberater der Stadt, Dr. Konrad Dellinghusen, lehnt die Vereinbarung strikt ab, schreibt aber an den Kaiser einen bezeichnenden Vermerk: die Ursache liege allein in der Arbeitslosigkeit.

Des alles ist ursprünglich eine ursache. Dass das berg- u. hüttenwerk stille liegt und die bergknappen und gemeine mann keine arbeit haben: darum sie so mutwillig werden und ist noch weiteres zu besorgen, dadurch die stadt in gründlichen fall und verderben kommen, das aber alles mit gottes hilfe leicht mag verhütet werden, wo die arbeit des berg- und hüttenwerks wieder in gebrauch keme und der popel nit also müßig ginge.

(Hölscher S. 39)

Das ist richtig erkannt und doch einseitig. Wie bei dem Amsdorfartikel die Erkenntnis von der Notwendigkeit der sozialen Dimension fehlt, so fehlt hier die Erkenntnis von der geistlichen Dimension. Beides gehört zusammen.

Die Vereinbarung soll vom Superintendenten Johann Amandus durchgeführt werden. Inzwischen besucht auch der Hildesheimer Bischof Balthasar im Mai 1528 die Stadt Goslar und sucht den Rat zu bewegen, sich nicht den evangelischen Städten anzuschließen. Es erfolgt keine Verbesserung der sozialen Lage und die Not entlädt sich im furchtbaren Kirchensturm 1529. Die Klosterkirche Frankenberg mit ihren 13 Altären wird zerstört, in der Marktkirche Altäre und Bildwerke niedergerissen und zerstrampelt. Dot gibt es ebenfalls 13 Altäere. Die 11 Altäre der Stephanikirche werden demoliert. Die arbeitslosen und hungernden Goslarer toben sich aus. In der Geschichte des Bistums Hildesheim von Adolf Bertram heißt es dazu: Der maßlos wütende Superintendent Amandus und sein Anhang von Prädikanten und unruhigen Volksmassen trugen die Schuld an den schmachvollen Zerstörungen der bedeutsamen Kunstschöpfungen. Was bis jetzt die Reformation in Goslar gezeigt hatte, war nicht Besserung des Volkes in Zucht und Ehre, sondern Unfriede, Aufruhr und Verwüstung der Kirchen. (S. 87) Bertram übernimmt hier die Wertung von U. Hölscher. Otmar Hesse zitiert in seinem Aufsatz Die Superintendenten Goslar 1528-1552 im JfNKG 1996 Hugo Dünsing. Amandus sei ein mutiger und aufrechter, aber Unruhe stiftender Volksredner gewesen. Mir scheint bei dieser Beurteilung eher der übliche Vorwurf des Politischen erhoben zu sein. Es könnte auch sein, das Amandus die soziale, sozialpolitische Seite des Evangeliums, die Amsdorf vernachlässigt hatte, wieder entdeckt hat. Er verweist nämlich auf die unerledigten vermögensrechtlichen Fragen der Stifte und Klöster in Goslar, die der Rat nicht antasten will. Die Stiftsherren z.B. verfügten trotz ihrer abgebrannten Kirchen über beträchtlichen Ländereien. Einem Meierbuch zufolge verfügte z.B. das Domstift Goslar noch 1650 über Pachtland in unterschiedlicher Größe in 27 Orten.

Ich breche hier ab und schließe mit folgenden Sätzen für eine folgende Diskussion:

Ein Evangelium , das nicht in den Alltag dringt, ein Evangelium, das zwar in alle Welt geht aber das globale Elend übersieht, taugt nichts.

Ein Evangelium, das sich nicht von der Gewalt in der Bibel, in der Liturgie und im kirchlichen Handeln trennt, stiftet selber Gewalt und Terror.

Wo sich eine Konfession, Religion, Kultur, Politik als ausschließlich bestimmt, einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber anderen erhebt und ein gleichberechtigtes Nebeneinander nicht duldet, wird es selber zur Quelle von Unfrieden, Gewalt und Terror.

Das zeigt ein Blick in die Kirchengeschichte Goslars.


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