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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 41 - November 1989


LASST UNS BRÜCKEN BAUEN

von Kurt Dockhorn

Unter diesem Motto, als Umschrift um eine weiße Taube auf blauem Grund auf einem Anstecker zu lesen, trat am 26.Oktober für die Dauer der Herbstferien eine Gruppe der landeskirchlichen Friedensinitiative eine Bahnfahrt in die Sowjetunion an. Es war nach fast vierjähriger Pause die zweite Fahrt der FI "auf den Spuren der Väter", die den Krieg in dieses Land getragen haben. Die Stationen der Reise waren Smolensk, 45o km vor Moskau am Dnjepr gelegen, Minsk, die Hauptstadt Bjelorußlands, sowie die litauische Hauptstadt Vilnius. Schon auf der langen Zugfahrt erwies sich der Anstecker als Anknüpfungspunkt für Gespräche, als Anreiz zum Nachfragen: Was für eine Gruppe seid Ihr? Was wollt Ihr in der SU? Und während des Aufenthalts zeigte sich überall, daß unser doppeltes Interesse, uns dem im deutschen Namen begangenen Grauenhaften eines Vernichtungsfeldzuges gegen Untermenschen zu stellen und uns als Gruppe im Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bekannt zu machen, bei unseren Begegnungspartnern offene Ohren und Herzen fand.
Einige Stationen des namenlosen Schreckens und des Unfassbaren:
Das Museum des Großen Vaterländischen Krieges an der Kremlmauer von Smolensk. Realistische Darstellung des Nahkampfes in und über den Schützengräben. "War das wirklich so? So entsetzlich habe ich mir das nicht vorgestellt". Der Freispruch für den Frankfurter Arzt, der Soldaten potentielle Mörder genannt hat und dessen Freispruch unsere etablierten Kräfte ihre gut einstudierte Empörung ausspielen läßt, fließt in die Reaktionen ein. Fotos zeigen in einzelnen Phasen die Erhängung einer jungen Frau durch deutsche Uniformierte mit zufriedenen Gesichtern. Und jenes berüchtigte Gruppenbild der "strammen 6. Kompanie" mit dem Schild: "Der Russe muß sterben, damit wir leben". :eine neuen Bilder zwar, aber in diesem Land, an diesem Ort lösen sie endlich die Betroffenheit aus, die ihnen zukommt.
Die Gedenkstätte Chratyn bei Minsk, ein Ort, an dem die Erinnerung an 186 verbrannte Dörfer Bjelorußlands wachgehalten wird, verbrannt wie Chatyn selbst mitsamt allen Einwohnern. Am Ei gang die überlebensgroße Statue des einzigen Erwachsenen, der das Massaker überlebte, des Dorfschmieds Josef Kaminski mit seinen toten Kind auf dem Arm. Läßt sich das Entsetzen, das Verbrechen ästhetisch bewältigen? Sicher nicht, und doch spürt hier jeder, daß Trauer und Er-innern einen angemessenen Ausdruck bekommen haben. Welche Stärke muß dieser Josef Kaminski gehabt haben, daß er als alter Mann in den ersten Jahren nach der Einweihung der Gedenkstätte selber Gruppen geführt hat, vorbei an der in Granit symbolisch dargestellten Scheune, in der die Dorfbewohner zusammengetrieben und verbrannt wurden, und entlang an den Kaminen, die die Stellen markieren, an denen die Häuser der Familie Kaminski und der anderen Familien bis zu jenem 22.März 1943 gestanden haben, als das Kommando Oskar Dirlewanger 149 Bauersleute , darunter 75 Kinder, bei lebendigem Leibe verbrannte.
Die Synagoge von Vilnius, die einzig noch Übriggebliebene von 107 in dem einstmals blühenden Zentrum jiddischer Kultur in Osteuropa. Etwa 15 Männer beten im Gottesdienst am Vorabend des Sabbath. Der Synagogendiener, gebürtig aus dem litauischen Wilkomir, erzählt, wie er den Krieg überlebt hat: weil er als litauischer Soldat bei der Annektion der baltischen Staaten durch Stalin in die Zote Armee :mußte. Und dann, mit einer Stimme, die immer mehr stockt und in Tränen erstickt, erzählte der alte Mann auf jiddisch: "Als ich nach Hause kam, war niemand mehr da, keine Mutter mehr, kein Vater mehr, keine Schwestern mehr, keine Brüder mehr, keine Verwandten mehr, keine Freunde mehr. Alle erschossen".

Unser anderes Anliegen: auf dieser Reise Stationen des Konziliaren Prozesses zu erleben. i1eij, Stationen wäre zu viel gesagt. Aber Momente waren da. Wie z.B. in der goldglitzernden Uspenskij-Kathedrale von Smolensk bei einem improvisierten Gespräch mit einem der dort amtierenden Priester. Immer mehr Russen scharen sich um die Gruppe mitten in der Kirche und hören dem Dialog zwischen dem Priester und uns zu, wollen selber dann auch zu Wort kommen. Ein Mann in Uniform, ein Offizier der Sowjetarmee, sagt: "Daß ich hier bin, ist möglich durch die Perestroika". Ein anderer, auf Englisch, stellt sich vor als Biologe aus Krasnojarsk in Sibirien, der eine Jugendgruppe anleitet, die sich gegen Umweltzerstörung in der Region durch Industrieprojekte wendet. Draußen, auf den Treppen der Kathedrale, der Gottesdienst hat drinnen begonnen, geht das Gespräch um den Kampf in der Bewahrung der Schöpfung in der Sowjetunion und bei uns noch lange weiter. Es endet mit einer Einladung nach Braunschweig.
Oder bei der Begegnung mit Minsker Schülerinnen und Schülern in ihrem "politischen Club", der ein Forum für freien Meinungsaustausch über alle Probleme von Perestroika und Glasnost ist und in dem die jungen Leute sehr insistierten, daß Gerechtigkeit geschehen muß in der schonungslosen Aufdeckung der Verbrechen, die unter Stalin gegen Millionen von Menschen, namentlich auch in Bjelorußland, begangen wurden.
Und nicht zuletzt beim Gespräch mit Vertretern der litauischen Volksfront Sajudis und der frisch gegründeten Grünenpartei in Vilnius mit der typischen Mischung von Forderungen nach ökologischer Umkehr, wirtschaftlicher Gerechtigkeit gegenüber der mächtigen Sowjetunion und politischer Unabhängigkeit von ihr. Hier stießen wir mit unseren skeptischen Fragen, ob denn Separatismus, neue Kleinstaaterei oder das "schwedische Modell" von Wohlfahrtsstaat denn zukunftweisend sein könnten, auf Unverständnis und Ablehnung. Freilich wollte und konnte sich auf unserer Seite auch niemand die Rolle des klugen Ratgebers von außen anmaßen. Ein Stück Weiterarbeit für die Gruppe wird in der Auseinandersetzung damit bestehen, daß wir auf dieser Reise Menschen getroffen haben, die das, was der Stalinismus ihnen angetan hat, für schwererwiegend und vordringlicher zurückzuweisen halten als das, was ihnen der Hitlerismus zufügte.

Wenig Gelegenheit bot die Reise, um Einblick zu nehmen in das, was über Gelingen oder scheitern des welthistorischen Aufbruchs von Gorbatschow doch wohl entscheiden wird: Umfang und Tempo des wirtschaftlichen Umbaues gegen 7o Jahre vorherrschende Strukturen, die nun zu einer Wirtschaft der leeren Regale mit wachsender Unzufriedenheit der Menschen in vielen Teilen der Union geführt haben.
Ich glaube, in unserer Gruppe gab es niemanden, der nicht mit glühendem Herzen wünschte, daß das gewaltige Experiment einen guten Ausgang nimmt und zu einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" führt, in dem die materiellen Bedürfnisse der Menschen ebenso befriedigt werden wie daß die unveräußerlichen Rechte der Menschen, auch im Sinne der(westlichen)bürgerlichen Freiheitsrechte zum Zuge kommen. Zur Zeit scheint das zweite Verhangen eher zu erfüllen zu sein als das erste.
Wir sind sehr neugierig, bald von den neu gewonnenen Freunden, die wir zu uns eingeladen haben, weitere authentische Einblicke in den Prozeß der Erneuerung der Gerechtigkeit, der Erhaltung der Schöpfung und der Bewahrung des Friedens in der SU zu bekommen. Kurt Dockhorn




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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu041/brueckenbauen.htm, Stand: November 1989, dk