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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 41 - November 1989


EINLEITUNGSREFERAT DES NEUEN FORUMS AN 27.10.89 IN BLANKENBURG

von Frau Minkner

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal will ich Ihnen verraten, warum ich Sie sehr verehre. Weil Sie den Mut aufgebracht haben, heute hierher zu kommen in das Gebäude Kirche, obwohl weder Weihnachten ist noch die Feier der Goldnen Konfirmation, die übrigens im Jahr 1990 am 17. Juni ist. Warum also bringen Sie das Opfer und reihen sich heute hier ein in die Vielen? Was erwarten Sie vom NEUEN FORUM ? Da muß Ihnen doch irgendetwas auf den Nägeln brennen.
Ob es das ist? Sie wollen Veränderung. Sie staunen, wie auf einmal Herr Hinz und Frau Kunz, von der Sie es gar nicht gedacht hatten, bereit sind, sich zu engagieren, wie er und sie aufwachen aus dem Tiefschlaf der Unmündigkeit und Untätigkeit. Plötzlich fällt Ihnen auf, daß Sie sich diese Schlamperei im Laden, diese Unpünktlichkeit der Verkehrsmittel, diese schlechte Materialzufuhr in Ihrem Betrieb, diese ungepflegten Stadtbilder mit ihren verkommenen Fahrstraßen und Bürgersteigen, dieses Feindbild im Unterricht Ihres Kindes u.v.a.m. ja gar nicht länger gefallen lassen müssen. Sie haben entdeckt, daß Sie es überlebten, in der Elternversammlung Ihres Kindes sich zu wesentlichen Dingen gemeldet zu haben und das Wort ergriffen haben gegen die Nötigung, die Ihr Kind zum Mitmachen bei der Wehrerziehung erfahren hat. Und Sie haben den Mund nicht erst aufgemacht, als es um das Milchgeld oder den Wandertag ging. Sie erwarten, daß Sie sich einbringen können mit Ihren vielen, jahrelang aufgestauten Ideen und Forderungen. Nun erlaubt neuerdings die regierende Gruppe, daß Sie alles sagen. Das haben Sie diese Woche ausprobiert und haben dieses und jenes gesagt und sind auch mit viel Verständnis angehört worden. Als sie aber sagten, der Führungsanspruch einer einzigen Partei wäre zu hinterfragen, da ging das Visier herunter bei Ihrem Gegenüber. Es ist nicht die ganze Wahrheit, wenn es nun heißt: Wir alle müssen fleißiger arbeiten. Wir alle müssen alles mögliche so und so anders machen. Als erstes muß aufgedeckt werden, woran die Misswirtschaft liegt . Wenn dann aber bei der Ursachenforschung herauskommt, daß ein Schwätzer mit Parteibuch bei der Stellenbesetzung jemandem vorgezogen wurde, der Ahnung hat, dann muß dieses Konsequenzen haben, auch personelle Konsequenzen. Das NEUE FORUM meint, eine Partei kann nicht ideologisch lenken und zugleich die Wirtschaft lenken. Auch die geistig kulturellen Werte müssen in größter Vielfalt möglich sein. Die Wirtschaft hingegen muß von Wirtschaftlichkeit, Effektivität bestimmt werden. Ein Schlossereibetrieb weiß nun mal besser, was für seinen Betrieb wirtschaftlich ist und was nicht, und er weiß es besser als ein Ideologe. Ich fordere Trennung der Gewalten von Ideologie und Volkswirtschaft. Ich fordere Trennung der Ämter. Ich fordere ein Recht auf freies Recht bis hin zur Verfassungsdiskussion. In der Sowjetunion beschließt man laut Meldung vom 25.7. doch auch eine geänderte Verfassung in Sachen Wahlrecht. Warum gibt es bei uns heilige unantastbare Kühe? Oder: Wieso wird zu Künstlern gesagt: Schaffe realistische, den Sozialismus verherrlichende Kunst. Vielleicht ist ihm gar nicht danach! Vielleicht will er gerade Träumerisches schaffen oder ein Jahr lang in der weiten Welt herumstudieren, um Ideen aufzutanken. Warum ist dem Künstler, dem Wissenschaftler der Kontakt nach außen so lange versagt? Ich möchte Sie bitten, sich nicht vorschreiben zu lassen, was Sie fordern können und was nicht. Entweder Dialog oder keiner. Und bringen Sie es bitte auch vollinhaltlich vor und zwar dort, wo Ihr Umfeld ist, sei es nun in der Gewerkschaft oder bei der FDGB Wahl, sei es in der Ortsparteigruppe und bei deren Programmbesprechung.
Wenn wir uns nachher in Interessengruppen für die Weiterarbeit in den nächsten Wochen aufteilen, dann werden wir nichts anderes in den zu bildenden Hauskreisen tun, als gegenseitig anhören, wie wir in den letzten Tagen Mündigkeit geübt haben, jeder an seinem Platz, jede an ihrem Platz. Und ein Sprecher wird das nächste Mal im Plenum aus seiner Kleingruppe das Interessanteste hier vorn berichten, damit wir einander Mut machen zur Offenheit. Wir sind dabei, Demokratie und Frieden einzuüben, denn wir haben diese Begabungen nur verschüttet und verdrängt, jedoch nicht verlernt in all den Jahren.
Wir haben begriffen, daß unser Land eine Parteienpluralität braucht und demokratische Verhältnisse. Wir möchten endlich wirklich einbezogen sein in unsere inneren Angelegenheiten. Ich will, wenn in meinem Ort keine oder zu wenig Taxi betriebe sind, einen aufmachen dürfen, wenn ich mir das zutraue. Ich will, wenn ich eine Gaststätte betreibe, auch wirklich mir selber ausdenken dürfen, was meine Gäste essen und trinken sollen und mich nicht nach Kontingenten strecken müssen. Und wenn ich eine Genossenschaft weiß, die mir auch im Winter Salat zu liefern in der Lage wäre, dann soll diese - verflixt noch mal - auch ihren Gewinn davon haben dürfen.
Und was ist, wenn wir den Eindruck haben, daß diese und die größeren zahlreichen Aufgaben in Politik, Wirtschaft, Kultur, Recht und Bildung nicht von einer einzigen Gruppierung, sprich Partei bewältigt werden können, daß die Aufgaben geteilt werden müßten? Ist es nicht vielmehr so, daß die Rolle der Parteien eine ideologische zu sein hat, daß die Parteien die Werte benennt und die Balance herstellen sollen zwischen Machbarem und Erstrebenswertem, daß aber das Durchführen den Fachkompetenten zu überlassen ist. Das heißt doch wohl: eine, sagen wir , metallurgische Wirtschaft wird von Metallurgen und Ökonomen verantwortet mit Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit und vollen Rentabilität. Und so übertragbar in jede Branche.
Wenn dann ganz und gar nur eine einzige Partei die Führungsrolle über 4o Jahre innehat, ist es da nicht logisch, daß die überfordert ist ? Ich fordere, daß dieser Partei und ihren unterstützenden 4 Trabanten einige Oppositionen entgegenzusetzen sind. Kontrolle ist einfach notwendig, Alternativen sind einfach erforderlich.
Warum funktionieren denn in den westlichen Demokratien so viele Dinge so gut? Weil die jeweils Herrschenden auch bangen müssen, daß sie abgewählt werden können. Größere Leistung ist das Ergebnis. Das hat natürlich zur Voraussetzung, daß sich verschiedene Gruppierungen von Parteien und mit verschiedenen Programmen zur Wahl stellen können. Wir fordern dieses in Vorbereitung der nächsten Wahlen. Das NEUE FORUM als anzuerkennende Bürgerbewegung möchte auch Kandidaten aufstellen. Dasselbe die SDP, die hier in diesem Ort bald gegründet wird, und die Bürgerbewegung "Demokratischer Aufbruch", "Demokratie jetzt" und die anderen Gruppierungen.
Uns ist wichtig eine unabhängige Rechtspraxis, Mitbestimmung bei Lehrinhalten in Kindergärten, Schule und weiterführenden Bildungseinrichtungen ; ein am Markt orientierter Handel, eine an der Umwelt orientierte Wirtschaft, und Menschenrechte. Wir wollen freie geheime Wahlen ohne Vorherrschaft irgendeiner Partei. Wir wollen nicht ein bißchen Öffnung, ein bißchen verbesserte Medienpolitik, ein bißchen Mitreden. Nein. Wir wollen mitbestimmen. Freie, geheime Wahlen werden eine Grundvoraussetzung dafür sein. Darum der gemeinsame Wahlaufruf aller neuen Gruppierungen, den wir nachher noch verlesen bekommen. Die Gewerkschaften sollen wieder in erster Linie die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber wahrnehmen. "Volkseigentum" ist ein irreführender Begriff. Über Eigentum ist neu nachzudenken, ohne die Erfahrungen der letzten 4o Jahre außer Acht zu lassen. Im Sinne des NEUEN FORUMS ist es, wenn alles überprüft wird und überprüfbar wird. In der Zeit, die jetzt unsere Regierenden beanspruchen, um sichtbare Reformen durchzuführen, in dieser Zeit wollen wir uns alle, die wir heute hier sind, sachkompetent machen. Wir wollen in kleinen Gruppen über unser Spezialinteresse diskutieren und unsere Ergebnisse mittels jeweiliger Spreche wieder einbringen in unsere nächste Vollversammlung hier am 14.11. um 1945. Von Ihrer Aktivität wird abhängen, zu welchen Forderungskatalogen wir gelangen und zu welchen Vorsätzen.
Zu Beginn meiner Ausführungen sagte ich, daß ich mich freue, wenn heute Leute aus allen Denk- und Tätigkeitsrichtungen hier versammelt sind. Sie haben das Gebäude Kirche, also einen nicht neutralen Raum betreten, weil Ihnen die Sache der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung unserer Welt um uns herum so wichtig sind, daß kleinliche Hindernisse nicht mehr zählen.
So lassen Sie uns als Blankenburger und deren Gäste, die unter uns sind und die Menschen aus den umliegenden Dörfern die Gemeinschaft der Vielfalt empfinden als eine Stärke, die uns zum Aufbrechen beflügelt.
Wer noch nicht den Aufruf zum NEUEN FORUM unterschrieben hat, möge es heute tun, damit wir hingehen können zum Rat der Stadt und können sagen: "Es sind nun nicht nur 214 Unterzeichner, sondern soundsoviele. Es besteht eine gesellschaftliche Notwendigkeit zur Legalisierung. Alle diese Leute wollen verantwortlich mittun aber bei fairen Bedingungen und einer Politik, die Pluralismus zuläßt und wirklich demokratisch ist."
Vielleicht ist das vielstrapazierte Wort "Sozialismus" dann weil das Wörtlein sozial, sprich Gerechtigkeit darinenthalten ist. Der Antrag auf Legalisierung wurde gestern von mir Herrn Mossier, Abteilung Inneres, überreicht. Ich bin froh, daß diesmal auch die Kirche mit im hoffentlich richtigen Boote sitzt. Das Fahrwasser schlägt, es poetisch zu sagen, an die Planken. Die Ruder wollen wir gemeinsam handhaben, und zwar gleich.
Nach diesem Einleitungsreferat von Frau Pfarrer Minkner wurde der Aufruf des NEUEN FORUM verlesen und von Aktivitäten in Wernigerode, Halberstadt und Magdeburg berichtet. Es wurden Gruppen, deren Leiter/innen und ein Sprecherrat gebildet. Die Zusammenkunft schloß mit meditativen Worten und Orgelspiel. Es haben sich folgende Gruppen gebildet: 1. SDP in der DDR (Frau Minkner), 2. Ökologie(Jugendwart Spiegel), 3. Wirtschaft (SED Mitgl. Schlichting), 4.Gesundheit (Lehrerin Bethke) .5. Bildung (Frau Pfarrer Herrmann), 6. Recht u. polit. Ordnung (Diakon Hartung), 7.Kunst ( Schriftstellerin Lautsch), 8. Jugend (FDJ-Jugendlicher), 9. Frau in unserer Gesellschaft (Diakonenfrau Hartung)




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